Im Bulli verreisen
Nicht von Swift


 



 

 

17./18./19.4. Ladenburg. Straßburg. Tournus. Aude.


Lopodunum. 

Ich schaue auf das Schild, das vor den Bruchstücken der römischen Stadtmauer Ladenburgs aufgestellt ist, und kann mich eines gewissen Unbehagens angesichts des antiken Namens des Neckarstädtchens nicht erwehren. Für mich klingt Lopodunum wie ein Mittel gegen Durchfall, und das ist kein gutes Omen, wenn man auf Reisen geht und bei seinem ersten Halt nach einem Lokal sucht. Und was für ein Vorzeichen erst, sollte es über den kommenden zwei Monaten stehen!

Es ist Mitte April, Sonntagabend kurz vor dem Tatort. In den Fenstern der Fachwerkhäuser springen Lichtvierecke von Graublau zu Blaugrau, verströmen zart wogende Helligkeitswellen oder schalten ruckartig von grell auf gedämpft und wieder zurück.

Es nieselt. Um die Straßenlaternen schweben Globen aus gelbem Lichtgespinst, deren feuchte Tröpfchensporen wimmeln, flimmern, schimmern. Eigentlich ein poetischer Anblick, jedenfalls solange wir zuversichtlich das Restaurant ansteuern, in dem wir vor Jahren einmal sehr anständig gegesssen haben. Doch als wir dort ankommen, macht der Koch schon klar Schiff, und wir werden von der Bedienung, die jetzt Feierabend machen will, wieder hinausgescheucht in den kräftiger fallenden Regen. Schließlich müssen wir mit einer Gaststätte vorlieb nehmen, die unter Essen nicht viel mehr als die notdürftige Begleitung für den Verzehr von Getränken versteht. 

Der Koch dort hat sich allerdings etwas ausgedacht, das der Speisekarte den Ruf von Originalität einbringen soll, nämlich diverse Nationalvariationen des globalen Burgers. Die italienische Abwandlung ist mit Mozzarella und getrockneten Tomaten beschickt, die spanische hingegen mit Serranoschinken und Manchegokäse, und da wir ja nach Spanien reisen wollen, nehme ich zur Einstimmung auch den entsprechenden Burger.

Beim ersten Bissen begreife ich zweierlei: der Name Lopodunum leitet sich wahrscheinlich aus einer Verballhornung von Lobotomie ab, und zu den Folgen einer solchen Gehirnoperation, der sich der Koch offenbar unterzogen hat, scheint zu gehören, dass er dieses Gericht auftischt, das dem Gast eine zähe Scheibe Serranoschinkens zumutet, die auf dem Bratling liegt und an der man mit den Zähnen herumzerren muss wie ein Hund, der sich in ein Fensterleder verbissen hat. Der Manchegokäse obenauf ist vollkommen zerstörerisch mit Ketchup besudelt wie nach einem Massaker, und ich bin drauf und dran, in die Küche zu marschieren, um dort gleichfalls ein Massaker anzurichten. Aber was wäre an einem Koch, dem man große Teile des Gehirn bereits entfernt hat, noch groß zu massakrieren? Zudem ist sein Talent zum Übeltäter zweifellos größer als meins, was durch seinen Burger hinreichend unter Beweis gestellt ist. Ich sollte mich besser nicht mit einem solchen Finsterling anlegen; wahrscheinlich wär er imstande, mich in zwei Minuten komplett zu haschieren und als Mittagsgericht zu verbraten.

Tags drauf sind wir schon in Straßburg und staunen wieder einmal das Münster an. Der Bau wirkt wie eine dieser hochwohlgeborenen Jungfern, die von vorne ganz auf schlank getrimmt sind, aber untenrum ein mächtig auskragendes Hinterteil dahinschieben. Dies hier wird von Spitzbögen umfasst, die tatsächlich stark an Spitzenunterwäsche erinnern: Hüftgürtel und Strumpfbänder, Strapse aus gotischem Maßwerk. Bei Gelegenheit werde ich eine Petition einreichen, um die Umbenennung der Stadt in Strapsburg zu erwirken; das könnte helfen, einige bestimmte Geschäftsbereiche der Kommune zu fördern.

Auf dem Rückweg zum Parkplatz passieren wir das Denkmal, das man zu Ehren Johannes Gutenbergs errichtet hat, der ein gutes Jahrzehnt in der Stadt verbrachte. Er hält ein Blatt mit der Inschrift "Und es ward Licht" (Et la lumière fut) in Händen, doch nicht, wie man erwarten würde, als triumphales Banner der Aufklärung, sondern ganz handwerkerhaft, wie eben ein Drucker, der die Qualität seiner Arbeit prüft. Das hat eine sympathische Nüchternheit: der Moses des Michelangelo wühlt gravitätisch grübelnd in seinem Bart, die Statue Giordano Brunos am Campo di Fiori zu Rom grollt und zürnt, aber Gutenberg schaut einfach, ob sich auch kein Fliegenkopf oder Zwiebelfisch in den Druck geschlichen hat. Noch sympathischer als Gutenbergs bescheidenes Handwerker-Ethos ist freilich, dass gleich neben dem Standbild ein klassisches Karussell mit springenden Pferdchen und scheppernder Orchestrionmusik aufgebaut ist, an dem die Kinder juchzen. Der Platz ist ein Ort, an dem das Horazische prodesse et delectare, Nützen und Ergötzen, eng beieinander sind. Licht und Kinderjux - eine schöne Kombination.

In der Brasserie de la Bourse gehen wir zu Tisch: die Kellner servieren in Anzug und Fliege, am Plafond schweben nackte fette Puten durch einen Schäfchenwolkenhimmel al fresco, und der Kalbskopf mit sauce gribiche ist ausgezeichnet. Ich ertappe mich trotzdem bei dem Gedanken, dass es noch schöner wäre, wenn die Kellner oben zwischen den Lüstern schwebten und die nackten Putten hier unten bedienten.

Wieder auf der Autobahn sucht mich ein Sekundentraum heim, der so ungefähr diesen Wunsch verwirklicht (zuzüglich einiger schwieriger binomischer Gleichungen und der Suche nach sogenannten Rollholz-Wickeln, was auch immer das sein mag). Dagmar fällt mir grade noch in den Arm, bevor ich den Wagen an die Leitplanke setze. Wir halten auf dem nächsten Parkplatz ein Nickerchen; Dagmar in Embryonalstellung auf dem Rücksitz, ich in Schnarchposition mit erschlafftem Gaumensegel vorne. Zwei Stunden später, irgendwo in der Franche-Comté, brauche ich noch ein Nickerchen, und nach jedem dieser Tauchgänge in den Schlaf bin ich benommener als zuvor. Wir haben von zuhause eine tiefe Erschöpfung mitgebracht.

Abends machen wir Halt in Tournus, wo es ein paar verheißungsvolle Restaurants gibt, in denen wir schon seit Jahren versuchen, einen Platz zu ergattern, was uns aber nie gelingt. Das Lammhirn mit Petersilie und die geschmorten Schweinsfüße kriegen immer die Hiesigen, und wir werden fast jedesmal mit einem banalen Entrecôte oder fettigen Froschschenkeln abgespeist. 

Diesmal landen wir im Nebengelass eines Restaurants (im Hauptsaal schmausen die Baccalauraten des Jahrgangs 1976), wo die für uns zuständige Kellnerin einen Marc nach dem andern wegschnasselt und schließlich, während wir noch beim Hauptgang sitzen, zum Kassieren kommt. Es war ein harter Tag für sie, jetzt kann sie nicht mehr. Immerhin hat sie den Chaource im Filoteig und das Schneckensüppchen malheurfrei angeliefert, und auch das poulet à la creme ohne Überschwappen zu Tisch gebracht, doch jetzt ist ihre Batterie alle. Sie plumpst auf den leeren Stuhl an unserem Tisch, ein Fraternisieren, das ich hierzulande noch nie erlebt habe. Bislang war es in Frankreich eiserne Regel, dass die Kellner stehen und nur die Gäste sitzen. Aber der Marc ebnet ein; die Promille machen promiskuitiv. Seit sechzehn Stunden sei sie auf den Beinen, murmelt sie: c'est la galère. Und schlurft davon, ihrem Bett entgegen. 

Unser eigenes Bett am Saône-Ufer ist eisig. Draußen sind fünf Grad. Ich schlafe in langen Unterhosen und mit dicken Wollsocken an den Füßen. 

Der Morgen darauf ist freilich strahlend schön. Die stämmigen Platanen, die den Uferweg säumen, sind noch vollkommen kahl. Ihre Äste ragen in kräftigen Bögen empor, ein jeder besetzt mit einem knorrigen Endknauf, der wie ein Kopf auf einem schlangenartig langen Hals thront. Es könnten Nachkommen der Hydra sein, jenes vielköpfigen mythischen Ungeheuers, dem Herkules schließlich den Garaus machte, bis es in den Propagandadrucken der Französischen Revolution wieder seine Häupter erhob. Dort waren solch abscheuliche Hydren zu sehen, die von Bauern und Arbeitern mit Harken, Äxten, Sicheln zerhackt, zerstückelt, geschlachtet wurden - denn der dritte Stand schlug der Hydra der Aristokratie ebenso stark und mutig die Köpfe ab, wie Herkules es mit der Lernäischen Schlange getan hatte.

Doch dies ist kein Morgen, um die kriegerischen Töne der Marseillaise anzustimmen und an das Blut der Volksfeinde zu denken, das die Ackerfurchen tränken soll. Die Auen der Saône liegen in taufeuchtem Frieden, und auch auf der Autobahn geht es entspannt und durchaus lässig zu. Wir rollen ruhig gen Süden, durch die eigens für diese Fahrt umbenannten Départements Glaciale, Nivôse und Ventôse.

Die Etappe endet am frühen Abend unweit von Narbonne in Cabanes-de-Fleury, wo die Aude ins Mittelmeer mündet. An den letzten Quais des Dorfs stehen junge Männer mit nacktem Oberkörper und angeln. Die Burschen haben offenbar defekte Thermosensoren; auch der Wirt des Lou Cabanière trägt nur ein T-Shirt über seinem mächtigen Bauch, während ich selbst in meiner Tweedjacke und meinem dicken Schal bibbere. Ist die mangelnde Kälteempfindung der Einheimischen einem mutierten Gen geschuldet? Oder verfügen sie, wie manche arktische Fische, über gewisse Proteine, die ihnen als Frostschutzmittel oder sogar als Heizgelées dienen? 

Oder sind wir nur noch nicht synchronisiert? Der kühle deutsche Frühling sitzt uns in den Knochen. Unsere Leiber haben’s noch nicht begriffen, dass das Jahr hier schon weiter ist als wir glauben.

Am Ufer der Aude ist das Gras hoch aufgeschossen und wiegt sich unter der Last hell schimmernder Ähren, die dicht an dicht stehen wie fette, haarige Raupen. Herrgott, für uns ist fast noch Winter, und da steht schon Korn, als sei's Juni. Auch das Insektenaufkommen ist gewaltig. Es wimmelt und krabbelt und surrt, dass es eine Art hat. Warum da noch essen gehen? Man könnte einfach mit offenem Mund durch die Tierchenwolken schlappen wie ein Wal durchs Plankton und hätte problemlos seine Ration Proteine beisammen. Wir gehen dann aber trotzdem ins Cabanière auf einen Wolfsbarsch vom Grill. Wir brauchen was Warmes im Bauch.


Côte Vermeille. Portbou. Colera. Figueras. Montserrat. Tarragona. Vinaros. Morella. Peniscola.


Entlang der Côte Vermeille, in Argelès, Collioure, Banyuls, begegnen wir nun immer häufiger den katalanischen Farben Rot und Gelb. Überhaupt wird es nun farbenfroher, wenngleich längst nicht so bunt wie auf den Gemälden, die Matisse hier gemalt hat. Die Häuser sind pastelliger, gedämpfter als man es nach Matisses knalligen Darstellungen erwarten sollte. Warum kann denn bitte nicht einmal das Leben die Kunst imitieren und wie Matisse ein bisschen kräftiger in die Palette greifen? Wenn es schon nach wie vor kühl ist - könnten da nicht wenigstens die Farben ein wenig Wärme in die Welt zaubern?

Die Fahrt an der Küstenstraße ist so spektakulär, dass wir in jeder zweiten Parkkbucht halten müssen, um (überwältigt, von Schönheit übermannt, hin und weg vor Wundern, oder einfach vollkommen erschöpft) ein Zehnminuten-Nickerchen zu halten. Als wir in Portbou ankommen, sind wir ausgeschlafen, aber die alte Grenzstadt hält Siesta. Als wir vor zehn, fünfzehn Jahren einmal hier waren, herrschte reges Treiben in der Stadt. Aus Frankreich kamen Ausflügler, um sich mit spanischem Brandy einzudecken, der in jedem Laden palettenweise feilgeboten wurde, auch Schinken, Kuhfelle, Zigaretten fanden reißenden Absatz. Jetzt sind alle Läden zu, die für den Schnaps und die vor den Fenstern. Der Wind fegt auseinandergerissene Zeitungen über den Platz wie raschelnde Rochen, eine leere Coladose klötert eine abschüssige Straße herunter, in einer Wohnung klingelt unablässig ein Wecker, den niemand ausmacht. Es ist eine Szenerie, die geradezu danach schreit, dass man Irgendwo bellte ein Hund schreibt, aber selbst die Hunde schlafen. 

In einem Örtchen mit dem unheilvollen Namen Colera nehmen wir Quartier auf einem Campingplatz, und erfahren dort, dass das schöne, wenn auch kalte, Wetter morgen schon wieder zu Ende ist. Auch für Barcelona, wo wir ein paar Tage zubringen wollen, stehen die Zeichen nicht günstig. Es ist Regen angekündigt.

Der Regen beginnt am nächsten Vormittag in Figueras. Salvador Dalí ist hier geboren, weil wir beim ersten Gang durch die Stadt auf eine blankpolierte Metallsäule stoßen, oder vielleicht sind wir auch hier, damit Dalì geboren werden konnte, oder die Säule hat ihn Jahrzehnte nach seiner Geburt hier gezeugt, auf dem Marktplatz vor aller Augen, das ist schwer zu sagen. Wenn’s nach Dalì ginge, würden sich die geläufigen Bestimmungen kausal, konditional, final allesamt auf scheißegal reimen. Dalìs Denkfaulheit rettet sich immer gern in das bloße Beieinander eines Traums, in dem die Fülle der Bestandteile schon irgendeinen Sinn ergeben wird, auch wenn es bisweilen nur der irgendeines beliebigen Zeichengerümpels ist, das es auf Originalität abgesehen hat. 

Auch hier soll die Installation originell sein: zu Füßen der Säule ist auf einer Steinplatte eine Pinselei angebracht, wie das Bild eines Schädels, der von einem darüber hinwalzenden Mühlstein zu einer streifig zermalmten Physiognomie verschmiert worden ist. Erst als Spiegelung auf der darüber aufragenden Säulenrundung kontrahiert sich das Geschmier zu einem Porträt der ikonischen Visage Dalís mit seinen gezwirbelten Schnurrbartspitzen. 

Das ist nicht unwitzig, auch wenn solche Anamorphosen nicht unbedingt von Genie, sondern vor allem von einer profunden Kenntnis der Kunstgeschichte zeugen. Solche optischen Späßchen waren im manieristischen 16. Jahrhundert en vogue; Hans Holbein hat sie etwa in den Gesandten in einer hintersinnigen Reflexion über Macht und Sterblichkeit zum Einsatz gebracht, und gegen ein solches Beispiel gehalten, ist Dalí dann doch nur ein pinselfertiger und effekthascherischer Faxenmacher, der mit seinem Pfund Talent wuchert und mit allen Mitteln einen Zentner daraus machen will…

Das Museum, das er sich hier bauen ließ, hat mit all den Eiern, die als heraldischer Schmuck auf die Zinnen gesetzt sind, etwas derart Jahrmarkthaftes und Zirzensisches, dass der Bau mir vorkommt wie ein infantiler Vergnügungspark, ein Palast, der zu keinem anderen Zweck errichtet ist als dem, Kindergeburtstage darin zu feiern. Doch wären wir wohl trotzdem hineingegangen, um ein bisschen in dieser paranoisch-kritischen Hupfburg herumzuspringen. Die Besucherschlange ringelt sich allerdings über den ganzen Platz, derweil es heftig zu gießen beginnt. Die Prognose des konsultierten Regenradars zeigt einen blauvioletten Wolkenwirbel, der in der anamorphotischen Gestalt von Dalìs Antlitz um Figueras kreist und weiter kreisen wird. Eine Stunde Schlangestehen im Dauerregen würden wir noch nicht einmal in der Hoffnung aushalten, dass währendessen die Dalíschen Eier aufweichen und vom Mauerkranz heruntertropfen wie seine zerlaufenden Uhren: also beschließen wir, weiter nach Süden auszuweichen. Nach Barcelona müssen wir ein andermal; es ist ohnehin keine gute Idee, Städte dieser Größe und dieser touristischen Heimsuchungsquote mit dem Bulli anzusteuern. Leute wie uns will man sich dort vom Leibe halten. Solchen Städten sollte man Respekt erweisen, indem man ein anständiges Hotelzimmer bucht, statt den Mietwohnungsmarkt mit steuerhinterzieherischen AirB’n’B-Unterkünften zu ruinieren oder kostbare Parkflächen für Wohnmobile zu missbrauchen. (Inwieweit letztere ein urbanistisches Problem darstellen, ist allerdings durchaus fraglich; denn anders als AirB’n’B bedrohen Wohnmobile nicht den regulären Wohnungsmarkt. Gleichwohl erwecken sie bei schlichten Gemütern oft den Eindruck von Invasion und Usurpation. Auch das ist ein anamorphotischer Effekt - die Dinger sehen viel größer und schädlicher aus als sie tatsächlich sind.)

Zu Mittag kehren wir einer Gaststätte an der Nationalstraße ein. Noch bevor der erste Gang serviert wird - dicke Bohnen mit Blutwurst - zwacken meine Gedärme. Ich ahne Unanannehmlichkeiten (schon gestern war mir nicht ganz wohl), aber noch kein Unheil. Doch Unheil wird's. Nach heftigen kritisch-diarrhoetischen Attacken auf der Lokaltoilette scheint das Unwohlsein zwar behoben, doch später, auf dem Montserrat, dem heiligen Berg der Katalonen, wird mir plötzlich so übel, dass ich es noch nicht einmal schaffe, die Tür hinter mir zu schließen, bevor ich eine gute Viertelstunde lang in ein Klosett kotze. 

Was mir da so auf den Magen geschlagen ist? Vielleicht waren's die Sardinen in Collioure oder Dalís faule Eier, vielleicht auch der Fluch des Namens Colera oder immer noch der Lopodunums, der uns nun dazu bringt, in der Reiseapotheke hastig nach den Lopedium-Tabletten zu kramen…

Eine Tasse Tee lässt mich ein wenig Haltung wiederfinden, auch wenn die Kniee weich bleiben und ich wie ein kranker Pilger, der um Linderung seiner Leiden fleht, auf die schwarze Madonna in der Basilika zuwanke. Doch mögen alte Weiblein ihre feuchten Lippen auf die Füße der Madonna drücken oder ihr eine Kerze stiften - so tief zu sinken, dass ich in der Not dem Aberglauben in die Arme falle, kommt mir dann doch nicht in die Tüte, und wenn’s eine Kotztüte wäre. Aber ich hätte es vielleicht tun sollen, denn mein Körper hat noch längst nicht alles exorziert, was an Übel in ihm grollt: auf der Fahrt nach Tarragona müssen wir alle halbe Stunde anhalten, damit ich über die Leitplanke speien kann, und auch mit zwei, drei Tankstellentoiletten auf dem Weg mache ich Bekanntschaft.

Ich fürchte fast, dass ich es mir, um im Bild zu bleiben, mit Katalonien verschissen habe. 

Was müssen die guten Katalanen von mir denken? Dass ich ihren Heiligen Berg zum Kotzen fand? Um ehrlich zu sein - zum Kotzen wäre zu viel gesagt, aber schön ist das Monasterio wirklich nicht. Um das zu verkennen, müsste ich schon in Agonie liegen.

Die alte Anlage haben die Franzosen unter Napoleon zerstört; die neue wurde im Geschmack eines auftrumpfenden Historismus aufgebaut, was der sicher einmal ehrfurchtgebietenden Wirkung nicht gut bekommen ist. Das Kloster liegt auch heute noch beeindruckend in seinem Felsennest, doch ist es jetzt vor allem groß und ähnelt halb einer riesenhaften Mietskaserne, halb einem monströsen Aktenschrank, in dem ein akribischer und gnadenloser Prälat seine Spitzelberichte und Dossiers gesammelt hat. 

Der Vergleich kommt mir in den Sinn, als wir in Tarragona an der Rezeption des Campingplatzes stehen. Gegen die Genauigkeit der Personalienaufnahme dort muss ein Visumsantrag für Nordkorea eine geradezu unbürokratische Lappalie sein. Hier werden die Personalausweise eingescannt, unsere heimische Telefonnummer wird notiert, Fahrzeugtyp, -farbe, -kennzeichen, und ich fürchte schon, gleich eingestehen zu müssen, dass ich keinen Impfpass habe und obendrein einen akuten Magen-Darm-Virus mit mir herumtrage. Doch schließlich bekommen wir ein Armbändchen, das wahrscheinlich einen Funkchip enthält, der über jeden unserer Schritte Auskunft gibt, und einen konspirativen Plastikumschlag voller Material für die Vergnügungsparks, Badestrände und Nachtclubs der Umgebung. Dass mein Interesse heute nur auf nahegelegene Sanitäranlagen gerichtet ist, verschweige ich; als wir endlich einen Platz zugewiesen bekommen haben, gilt mein erster Gang den Toiletten.

Wir logieren neben spanischen Rentnern, die hier fest installiert sind. Ihr Terrain ist mit einer Sitzgruppe aus Plastikfliegenpilzen möbliert. Elfen mit güldenem Haar kraxeln in einem plastiklaubberankten Spalier herum, joviale Igelmännchen in asturischer Tracht und ein anderthalb Meter hohes Marsupilami bewachen die Szene. In einem Fieberanfall bibbernd schaue ich nach draußen und muss mich sehr unvermittelt übergeben. Die Zeit reicht grade noch, eine Tüte zu schnappen. Es sollte mir leidtun, dass die Nachbarn mein lautstarkes Gewürge mit anhören müssen; aber tut ihnen etwa das infame Vorgärtchen leid, mit dem sie die Welt quälen?

Vormittags in Vinaròs an der Küste. Die Markthalle hat wunderschönen Fisch zu bieten, dem ich aber, obwohl auf dem Weg der Besserung, konstitutionell noch keineswegs gewachsen bin. Ein schleimglänzender Seeteufel reißt sein Maul auf wie die fleischgewordene Parabel würgender Qual. Auch in der Bar an der Strandpromenade kehren wir nicht etwa ein, weil ich Appetit hätte, sondern nur, weil ich ein Klo brauche. Dagmar schaut derweil bei einem Tee der Köchin zu, die einen Tintenfisch putzt und häutet. Die Köchin trägt eine ausladende Kochmütze, die im Prinzip einem baskischen Berett nachempfunden ist, bei ihr aber eher so aussieht, als sei eine Qualle aus weißer Baumwolle auf ihrem Kopf gelandet, deren Ränder nun schlaff über ihre Ohren hängen. Dazu hat sie ein Schürzchen mit Rüschensäumen um, die an die Schmuckflossen irgendeines dicklichen Zierfisches erinnern. Vermutlich würde die Frau, wenn man sie in einem großen Aquarium versenkte, zwischen Medusen und Schleierschwänzen gar nicht sonderlich auffallen.

Ein Abstecher in die Berge von El Maestrat und zum Städtchen Morella. Die Häuser der Siedlung scharen sich um eine schroff ansteigende Felsenkuppe, die von einer großen Kastellruine gekrönt wird. Unser Rundgang dort oben führt durch leere Gelasse, auf Balkone und in Wehrtürme, und es ist alles von ergreifender Trostlosigkeit und Ödnis. Die Stierkampfarena unten in der Stadt ist ein vernachlässigter Bolzplatz voller Gestrüpp; unablässig treiben düstere Wolken heran. Irgendwo meckert eine Ziege. Irgendwo bellt ein Hund.

Die Basilika ist allerdings entzückend. Von außen ein kantiger und nüchterner Bau aus Sandsteinblöcken, dessen Portal mit ein paar gotischen Elementen aufgehübscht ist - einfachen Archivolten, Rosettenfenstern, ein wenig Steinmetzlaub am Tympanon -, ist sie innen eine reizend zusammengewürfelte Mischung aus barock goldstrotzender Pracht am Hochaltar und einer Wendeltreppe mit sehr viel älteren, plumpen und rustikal bemalten Reliefs an der Treppenwange. Mir wird in dieser bäuerlichen Kirche gleich ganz behaglich zumute. Der Baumeister hat offenbar die Eleganz gotischer Kathedralen kennengelernt, und er wusste, wie kanellierte Säulen und Kreuzgewölbe aussehen können, aber die Mittel, selbst so zu bauen, reichten nicht aus, und so sind die Säulen eher Stempen und die Gewölbe niedrige Decken geblieben, wie sie dem Kirchenvolk aus den Scheunen vertraut waren; die Empore hat trotz aller Steinmetzbemühungen auch heute noch die deutliche Anmutung eines Heubodens. Das alles ist in seiner stämmigen Gedrungenheit weit entfernt von aller lichten, schlanken Gotik der Städte, aber ich fühle mich sofort so heimelig, dass mir, durch welchen Zauber auch immer, ein wenig Kraft zuwächst und ich nach der Viertelstunde in diesem Kirchenstadel sogar ein wenig Appetit spüre. 

Das Restaurant, in dem wir dann einkehren, ist ein von Klarsichtplanen abgesperrter Winkel in einem rödeligen Patio. Der Wirt ist leutselig angeschickert, eine Familie mit drei kleinen Kindern sorgt für kakophone Dudelei aus den Gameboys, die ihren Zweck, sich die Blagen vom Hals zu schaffen, für die Eltern besser erfüllen als für die anderen Gäste, die das Gedudel nicht so habituell wegfiltern können. 

Die Tische sind mit abwischbaren Decken versehen; die Hände pappen sofort mit einem schmatzenden Geräusch darauf fest. Ich begreife, dass "abwischbar" manchmal nicht "leicht abzuwischen" bedeutet, sondern dass etwas auf ewig bar allen Abwischens bleibt. Das Essen freilich ist hausgemacht und durchaus ordentlich. Vor allem macht es nicht den Eindruck, als würde es meinen Körper gleich wieder verlassen wollen.

In Morella soll sich einmal ein Wunder zugetragen haben. Wie so oft ist es nur der Zweitaufguss eines griechischen Mythos; die christliche Hagiographie, vor allem die Legenda aurea, hat ja schamlos aus dem antiken Geschichtenfundus geschöpft, und in diesem speziellen Fall den Mythos von Pelops plagiiert. Eine Witwe also opferte dem nachmaligen Heiligen Vincent Ferrer, dem sie etwas Gutes kochen wollte, aber nichts dafür in der Speisekammer hatte als ihren eigenen Sohn. Sie zerschnitt ihn und sott ihn und servierte ihn dann dem ehrwürdigen Gast. Der nahm einen Bissen, entdeckte sogleich den Frevel und setzte kraft seiner Heiligkeit  das Kind wieder ad vivum zusammen, abzüglich eines Fingerglieds, das die Frau beim Abschmecken schon aufgegessen hatte. 

Das Wunder mag zweifelhaft sein wie alle Wunder, aber die Vorstellung, Kinder zu schlachten, ist angesichts der dudelnden Gameboys grade nicht ohne einigen Reiz.

Der Regen treibt uns wieder an die Küste zurück, wo es trockener werden soll. Ich habe einen Tag körperlicher Verflüssigung hinter mir, Aussickern, konvulsivisches Gespucke und Zerrinnen. Es ist genug Feuchtigkeit gewesen. Ich muss, wie stockfleckig gewordene Wäsche, an die Sonne.

Penìscola an der Costa del Azahar hat eine kleine Altstadt, die von einem dicken Schorfgürtel von Ferienappartments umzingelt ist. Schön ist das nicht, kann uns heute aber egal sein. Wir stellen den Wagen an der Strandbucht ab und schlendern in die Amüsierzone hinauf, in der es mehr Kneipen als Kundschaft gibt. (Der Ort hat kaum 8000 reguläre Einwohner; in der Hauptsaison hausen hier zwanzig mal so viel Leute; kein Wunder, dass die Kneipen jetzt, im April, leer sind.) Überall stecken Schinkenkeulen in ihren Halterungen, gniedeln Flamenco-Gitarristen, machen Kellner Stimmung, aber das alles will bei mir nicht recht verfangen. 

Auf der Rückseite des Kastells thront die Statue Papst Benedikts XIII., der einer der Gegenpäpste aus der Zeit des Großen Abendländischen Schismas war. Dieser Heilige Zweitvater zog sich nach seiner Absetzung nach Penìscola zurück und beharrte bis zu seinem Tod darauf, der einzig legitime Nachfolger Petri zu sein. Sein Denkmal sieht mit dem wallenden Pluviale und der Tiara auf dem Haupt recht würdig aus; die erhobene Hand würde ihn als entschlossenen und weise richtenden Mann ausweisen, wenn er nicht derart an die Hinterwand der Burg verbannt wäre, wo kein Volk ist, dem er predigen könnte. Eigentlich ähnelt er eher einem alten Narren, den man hier in dieser Abseite abgestellt hat, damit sein unablässiges Genörgel keinem auf die Nerven fällt.

Wir sind froh, wieder am Bus anzulangen und auf das Lichterband zu schauen, das sich um die Bucht schlingt. Meine Übelkeit ist zwar fort, und den Durchfall haben die im Übermaß eingeworfenen Pillen zur Ruhe gebracht; aber alle Gelenke schmerzen, von den Fingerknöchelchen bis zu den Zehen, als seien Glassplitter drin. Ich habe nicht daran gedacht, die ausgeschwemmten Mineralien wieder zu ersetzen. Vielleicht wär es jetzt an der Zeit, ein paar tüchtige Schlucke Meerwasser aus der Bucht saufen?


Valencia.


Am Morgen haben sich die Wolken irgendwo ins Landesinnere verzogen. Erst in diesem strahlenden Morgenlicht sehe ich deutlich, welch massive Ferienkasematten die Bucht von Penìscola umlagern. Aus der Ferne hat das sogar etwas Reizendes, das an Korallenriffe erinnert, aber ich erinnere mich noch gut an unsere Ankunft gestern abend, als wir diese geisterhaften Betonburgen von Nahem gesehen haben. In der Vorsaison ist die Leere erschreckend; wahrscheinlich ist es, wenn alle Läden für aufblasbare Schwimmtiere, Strandliegen und Sonnenöl geöffnet sind, nicht weniger grausig, nur eben voller.

Nach Valencia ist es nun nicht mehr weit. Der Weg dorthin führt an Orangenhainen vorüber, die weniger weitläufig und eintönig sind als erwartet. Es hat sich eine gewisse Kleinteiligkeit, hier und da fast gartenhaften Zuschnitts, erhalten, zudem stehen immer wieder Mandel- und Olivenbäume zwischen dem Zitrus, die das Plantagenhafte abmildern. Aber ich habe den Verdacht, dass solche Vielfaltsinseln nur noch bestehen, um Einfaltspinseln wie mir zu suggerieren, dass Orangen und Oliven hier noch von den fürsorglichen Händen einer großen Familie Stück für Stück vom Baum gepflückt und in weich ausgeschlagene Kiepen gebettet werden. Etwas weiter hinten werden große Rüttelmaschinen stehen, Förderbänder und Begasungsanlagen, die gröber und industrieller mit dem Erntegut verfahren.

Bald kommen Valencias Hafenanlagen in den Blick. Die großen Kranbrücken und Containerverladestationen imponieren mir nicht nur ästhetisch, sondern auch, weil sie von der wirtschaftlichen Lebendigkeit der Stadt zeugen. Nach unseren (freilich sehr oberflächlichen) Blicken auf Tarragona und Penìscola, die sich vorwiegend von Touristengrillfleisch ernähren, tut es gut, in eine Stadt zu kommen, die auch noch etwas anderes auf dem Speisezettel hat.

Valencias Umtriebigkeit bringt freilich recht lebhaften Verkehr mit sich, was bedeutet, dass wir eine gute halbe Stunde oder mehr über Carrers und Avenidas irren, ohne einen nur halbwegs legalen oder brauchbaren Parkplatz zu finden. Doch das hat sogar sein Gutes, denn die wunderbar reiche belle époque-Architektur Valencias springt traumhaft und flimmernd vor unseren Augen auf, ohne dass wir irgendetwas in Ruhe beschauen könnten. So ist der erste Eindruck der einer flüchtigen Phantasmagorie, eines aufglänzenden und vorüberrauschenden Zauberspektakels - einer wirbelnden Revue, die erst zu Ende geht, als es uns schließlich gelingt, in einer Garagenhalle unterzuschlüpfen.

Auf einen Schlag ist es still wie im Berg Semsi. Wir verschnaufen noch ein paar Minuten im kühlen Dunkel dieser Höhle, ohne uns von der Stelle zu rühren, den Blick auf die graue Betonwand gerichtet und der Stille des Raums lauschend, damit sich das Dröhnen und Wimmeln in unseren Ohren und auf der Netzhaut allmählich beruhigt und langsam in den Hintergrund absinkt.

Aber es braucht nur ein paar Schritte Richtung Innenstadt, und schon hat uns der Trubel wieder am Wickel. An der Markthalle von Rojas Clemente ist eine Bühne aufgebaut, vor der Mädchen in Flamencokleidern aufgeregt tuscheln; haufenweise Leute stehen drumrum, süffeln Wein aus Plastikbechern und naschen Kleinigkeiten von Papptellern; Mütter benetzen sich die Fingerkuppen mit Spucke, um eine Locke an der Frisur der Tochter zu festigen. 

In der Halle hat sich zur Feier des Tages jeder Marktstand ein paar Tapas ausgedacht, die er jetzt für kleines Geld verkauft, bis auf einige Sonderanfertigungen, die nicht für die Kundschaft, sondern nur zum Tausch der Marktleute untereinander bestimmt sind. Wir schleckern uns fröhlich durch Salpicon und Garnelen, durch Pulpo, Pollo, Pilze, Paprika, Paté, dazu trinke ich Bier, das mit Meerwasser gebraut ist, sodass ich mir um meinen Mineralienhaushalt bald keine Sorgen mehr machen muss. Die Stimmung ist rauschhaft und generös, sehr plauderig, während man nebeneinander seine Bissen pickt. Dann schiebt sich die Menge allmählich nach draußen, wo die Flamenco-Mädchen inzwischen Aufstellung genommen haben, und aufgeregt wie junge Hühner mit den Köpfen wippen. Der Gitarrist schrabbelt testweise seine Arpeggios runter; jeder deutsche Fußgängerzonenpropagandist hat bessere Mikrophone und bessere Boxen, aber der kann dafür nicht Gitarre spielen, sondern verkauft nur Gemüsehobel. Dann beginnt die Vorführung. Die Mädchen sind abscheulich geschminkt und von der profunden, madenhaften Häßlichkeit ihres Backfischtums gezeichnet, in dem der Babyspeck langsam abschmilzt und auf einer langen, beschwerlichen Wanderung an die richtigen Stellen ist. Vor ihrem Tanz bewegen sie sich wie Trampel und Dorftrutschen, nachher auch, aber während der Aufführung tragen sie ein derart selig stolzes Lächeln im Gesicht, dass jede Mäkelei hinfällig wird. Da sind sie schlichtweg entzückend: dralle Tanzmaden mit dicken Ärmchen, die sie in plumper Laszivität zum Geklapper der Kastagnetten regen, schlampig im Rhythmus, vergesslich in den Figuren, aber ihr Enthusiasmus überstrahlt alle Fehler.

Die Gruppe der Vierzehn-, Fünfzehn- Sechzehnjährigen, die danach auftritt, verfährt schon sehr viel präziser und energischer; zudem wiegen sie sich in dem (allerdings irrigen) Glauben an ihre erotische Ausstrahlung. Doch die Kastagnetten handhaben sie tatsächlich mit einer gewissen klapperschlangenhaften Bissigkeit, während diese Instrumente bei den Kleineren weniger an gefährliche Reptilien als an Babyrasseln erinnerten.

Als die Aufführung vorüber ist, wird das Fest zur familiären Nachbarschaftsfeier, bei der wir nichts zu suchen haben. Also wandern wir weiter der Innenstadt entgegen und steigen auf den Torre des Quarts, von dessen Zinnen aus die Stadt gut zu überschauen ist. Kirchenkuppeln und Türme ragen nur ein wenig über das entropische Einerlei der Wohnblöcke hinaus, was schade ist, denn es sind ein paar schöne Silhouetten darunter, die mehr Alleinstellung verdient hätten, darunter auch die Kathedrale, auf die wir dann zusteuern, nicht ohne vorher noch einzukehren, denn irgendetwas in mir lechzt immer noch nach mehr Mineralien, und ich vermute, dass in dem rötlichen Gesöff, das an vielen Tischen getrunken wird, eine Menge davon enthalten ist. Tinto de Verano, in dunstbeschlagenen und eiswürfelklunkernden Gläsern serviert, ist eine Mischung aus Rotwein und schwach gesüßter Limonade, also ein spanisches Radler von verhängnisvoller Süffigkeit, wenn einem nicht grade die industriell abgefüllte und mit allerlei Süßstoffen verhunzte Plörrenversion vorgesetzt wird. 

Danach bin ich stark genug, die Kathedrale anzuschauen, die mir gefällt, solange ich drin bin, und die ich sofort vergesse, kaum dass ich sie verlassen habe. Im Gedächtnis ist mir eigentlich nur der mehrstöckige Arkadenkranz geblieben, der sich außerhalb um die Rückseite des Baus legt und aussieht, als hätte sich ein Stück des römischen Kolosseums an die Kirche herangerobbt, um sie mit seinen steinernen Kauleisten anzuknabbern. Das Ensemble ist eine merkwürdige Hybridform von Kirche und Zirkus, die mich anfangs durchaus irritiert. Aber letztlich gedenkt man in einer Kirche ja auch nur der Hinrichtung eines galiläischen Predigers; warum also nicht gleich die Remineszenz an die Blutbäder der römischen Zirkusspiele wagen? Könnte denn all das Blut, das dort vergossen wurde, die Sünden der Welt nicht mit noch mehr Druck abwaschen als die Rinnsale, die aus Christi Seite sickerten? 

Doch wir wollen diese Frage den Theologen überlassen. Lieber gehen wir in einem kachelausgekleideten Lokal Horchata trinken, eine Erdmandelmilch, zu der man Fartons essen muss, Biskuitstangen mit süßer Zuckerglasur. Die Horchateria Santa Catalina ist ein wahres Schmuckstück aus bourbonischer Zeit: der Boden ein marmornes Schachbrett, die großen Fliesenbilder an den Mauern zeigen farbenfrohe Szenen mit Notablen in Kniebundhosen und Rokoko-Dreispitzen. Die Herren haben mit Sonnenschirm und Schürze ausgerüstete Damen untergefasst und führen sie am Strand dahin. Daneben arbeiten tüchtige Landmänner, fröhlich, wie es auf solchen Bildern eben so ihre Art ist, Jäger, Fischer, Halunken; Frauen rühren in einem Topf über offenem Feuer oder trinken aus einem Weinschlauch, derweil ein knieender Bursche im Begriff scheint, ein erlegtes Rebhuhn ungerupft in den Topf zu werfen, wahrscheinlich der wertvollen Mineralstoffe wegen, die in den Federkielen stecken. 

In der Horchata soll es übrigens auch davon wimmeln, von Mineralien, meine ich, nicht von Federkielen. Aber allmählich scheinen meine Depots ohnehin gefüllt. Die Schmerzen in Gelenken und Muskeln haben deutlich nachgelassen, und so können wir nun munter weiter durch die Stadt marschieren.

Nach und nach bemerken wir, dass die belle époque die Stadt zwar durchaus geprägt hat, doch oft in einer Abwandlung, die schon jugendstilhafte Züge trägt oder gar auf das Art déco in seiner eleganten Klarheit vorausweist. Es gibt freilich noch genug historistischen Pomp mit tobenden Zuckerbäckerschlachten, lastenden Dekormassen mit allerlei mythologischen Ungetümen darin, aber das wird selten beengend. 

Der spanische Modernismo hat für Belüftung gesorgt, und sogar, wenn er, wie beim Bahnhof, noch von jenem Virus befallen ist, der sich im gründerzeitlichen Deutschland zu einem handfesten morbus teutonicus wilhelminicus mit den typischen Symptomen von architektonischer Adipositas, Klumpfüßigkeit und Stiernacken auszuwachsen pflegte, so sind seine Wirkungen hier doch durch eine gewisse sonnige Heiterkeit gemildert. Der Estació del Nord (der in valencianischer Pfiffigkeit wohl so heißt, weil er im Süden der Stadt liegt) scheint mit seinen Säulenzinnen und dem seine Schwingen ausbreitenden Adler über dem hohen Portalgiebel zwar der Idee des Martialischen und Burghaften nicht ganz abgeneigt, aber im Detail zeigt sich dann, dass die Zierbänder der Fassade doch nicht mit kriegerischen Insignien geschmückt sind, sondern mit Goldorangen, die im Laubwerk glänzen - und auch die von fern so wehrhaft wirkende Schlachtordnung der Zinnen und Pilaster löst sich beim Näherkommen in ein kleinteiliges Spiel von geometrischer Anmut auf. Vor allem aber die Bahnhofshalle ist ganz reizend: holzverschalte Fahrkartenschalter, eine Rippendecke, deren Fächer mit Mosaiken gefüllt sind, und elfenleicht florale Jugendstilornamente im Bahnhofsbufett. Es muss eine Freude sein, hier mit dem Schlafwagen anzukommen und nach einer muffigen Nacht hinter zugezogenen Vorhängen auszusteigen und in die lichte Heiterkeit dieser Bahnhofshalle zu treten. Das ist ein freundliches Willkomm.

Überhaupt wirkt die Stadt in der Ausdrucksqualität ihrer vorherrschenden Bauweise freundlich und entgegenkommend. Ich kenne keine andere Stadt, in der sowenig der rechte Winkel und die scharfe Ecke regiert, sondern fast alles Rundung und Kurve ist: wie viele Häuser verzichten hier nicht darauf, spitz und scharfkantig in den Raum zu ragen! Man zieht die gefällige Wellenform vor, die sanft einschwingende Parabel, den geschmeidigen und weichen Übergang, der die Ecke umspielt, statt deren Kanten schroff aufeinandertreffen zu lassen. Sollte sich das nicht auch auf die Umgangsformen der Valencianer ausgewirkt haben?

In der Tat machen die Leute einen sehr höflichen und liebenswürdigen Eindruck, wenn sie nicht in Massen auftreten und Wut zeigen müssen. Aber ausgerechnet heute ist einer dieser Tage.

Schon eine Weile kreist ein Hubschrauber über den Dächern. Mit Helmen und Schutzwesten armierte Polizistentrupps halten strategische Punkte besetzt. Vereinzelt stehen Absperrgitter, um die anschwellende Masse von Demonstranten zu kanalisieren, die ihre Abneigung gegen etwas bekunden, von dem ich nicht genau verstehe, was es ist, denn zum einen werden die skandierten Parolen sowohl von dem Hubschrauberlärm als auch von den Verzerrungen der Megaphone zunichte gemacht, die gegeneinander anbrüllen; und zum anderen erzeugen auch die Demonstranten selbst ein kakophones Krakeelen, das zu verstehen meine dünnen Spanischkenntnisse nicht gestatten. Ich muss mich darauf beschränken, die wichtigsten Gruppierungen zu identifizieren. Da sind Feministinnen, und gleich daneben eine christliche Vereinigung, die der Nächstenliebe wegen die Zurückweisung oder Misshandlung maghrebinischer Flüchtlinge anklagt. Kommunisten wettern gegen die EU, und ein Block von Leuten, die ich ihrer Aufmachung nach eher als rechtsextrem ansehen würde, schreit mit. Kleinere Auseinandersetzungen finden zwischen einem um eine Regenbogenfahne gescharten Trupp und traditionell gekleideten Muslimen statt, die vermutlich der geflüchteten Glaubensbrüder wegen hier sind, aber möglicherweise etwas dagegen haben könnten, mit anderen, nämlich warmen Brüdern die Ziele zu teilen und sich dadurch spirituell zu beschmutzen. Die Gewerkschaften sind für Solidarität, aber angesichts der ideologisch durchaus zersplitterten Mitmarschierer fragt man sich, wem genau diese Solidarität eigentlich gelten soll. Slowakischen Arbeitern, die, mit EU-Geldern gefördert, in den Karpaten Autos zusammenbauen, den Separatisten, die genug davon haben, dass illegale Flüchtlinge die valencianischen Orangen pflücken, und sie fortan lieber selber vom Baum holen wollen (die Orangen, oder auch die Flüchtlinge)? Wollen sie mit jenen solidarisch sein, die Arbeit haben, mit jenen, die gerne welche hätten, oder gar mit jenen, die lieber nicht arbeiten und trotzdem Fartons zur Horchata essen wollen? Und kämpfen Feministinnen wirklich für die gleichen Ziele wie diese Frauen im Hijab dort?

Ich verstehe immer weniger von all dem Krakeel. Das alles überfordert mich. Ich krieg es nicht zusammen. Möglicherweise ist es immer noch der Mineralienmangel, der mich verwirrt, und dann geraten wir auch noch in einen Junggesellenabschied, dessen Gelärme sich als uncharmante Interferenz in die Demo einwebt. 

Es wird Zeit, dass wir uns einen Übernachtungsplatz suchen; ich muss das alles unverstanden zurücklassen.

Wir enden in den Außenbezirken, in Mislata auf einem Parkplatz an irgendeiner Sportanlage, wo wir wohl eine ruhige Nacht haben werden. Das Abendessen nehmen wir in einer Kneipe, in der man keine Fußspitze vom Altbewährten abweicht, was immer noch besser ist als abzuweichen und zu scheitern. An einer langen Tafel sitzen vier Generationen einer Großfamilie. Die Frauen palavern, die Männer schauen nebenbei Fußball - Sevilla/Real - und der Kellner kümmert sich rührend um uns. Er hat selten Deutsche zu Gast, und weil er einmal beim Oktoberfest war, kann er Grüßgott sagen und Prost. Ich soll ihm ein paar Zeilen eines deutschen Gedichts beibringen, aber Mit gelben Birnen hänget / und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See ist zu schwierig. Wir belassen es dann bei In München steht ein Hofbräuhaus / Oans zwoa gsuffa, was vielleicht nicht so schön, aber einprägsamer ist.


Sonntagmorgen. Auf dem Weg zur U-Bahn kehren wir im nahegelegenen Historischen Museum ein. Die Tore aus rostigem Eisen scheinen in einen Bunker oder in tiefe Katakomben- oder Schatzkammerfinsternisse zu führen, was man sinnfällig finden könnte. Denn ist Geschichte nicht immer ein Abstieg in die Tiefen, in die Keller der Zeit, in denen sich die Vergangenheit als Sediment abgelagert hat, als ein Schatz, der immer noch Zinsen bringt? Auch hier ist dieses Gefühl, als beträte man eine Schatzkammer und einen Tresor voll geerbten Goldes auf den ersten Blick sehr stark spürbar. 

Wahrscheinlich hatten die Museumsdidaktiker einen bestimmten Parcours im Sinn, doch wir werden zu oft durch andere Besucher daran gehindert, ihm zu folgen, und springen darum von den Almoraviden zu den Westgoten und von Franco zu El Cid und von Aragon zu den Römern, manchmal, weil eine geführte Gruppe uns den Blick blockiert, manchmal aber auch, weil wir falsch in einen Seitengang abbiegen, und so den chronologischen Faden verlieren. Irgendwann überlassen wir uns dieser Verwirrung und finden sogar Gefallen an ihr. 

Man neigt ja aus Bequemlichkeit dazu, in der Geschichte eine Art von Fluss zu sehen, der sich seine Bahn durch das Gestein der Zeit gräbt, oft genug abgelenkt und von irgendeinem Hindernis blockiert oder plötzlich einen Durchbruch öffnend, der ihm einen neuen Weg auftut. Aber es ist doch immer der selbe Fluss, und wenn er einmal breit genug dahinströmt, behauptet er sein Bett. In Europa entspricht dem Gewühl und Gedränge des Flusses lange Zeit die Ausbreitung des Christentums; Karl der Große ließ die heidnischen Sachsen hinschlachten, um sie zum Gott der Nächstenliebe zu bekehren, König Blauzahn zerstörte das Walhall der Wikinger und baute ihnen dafür hölzerne Stabkirchen mit einem Kruzifixus darin; Bonifaz hieb eine heilige Eiche um, auf dass die Machtlosigkeit der germanischen Götter offenbar werde. Doch als das Werk der Missionierung einmal vollbracht war, blieben die bekehrten Völker unter dem Kreuz, und sie blieben es über so viele Jahrhunderte, dass wir auch heute noch aus reiner Trägheit heraus daran glauben, wir seien mit dem Wasser aus jenem alten Fluß getauft, in dem schon Johannes sein Täufergeschäft verrichtete. 

Abgesehen von der Tatsache, dass die meisten von uns das Vaterunser aufsagen können, sind die wesentlichen Glaubensinhalte längst perdu und zu bloßer Folklore versickert. Wer glaubt schon ernsthaft an die Dreifaltigkeit, an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben, wer an das Jüngste Gericht, an die von Heiligen gewirkten Wunder, und wer an die reale Gegenwart Christi nach der Wesensverwandlung der Hostie? Wer sich zu all dem bekennt, plantscht in einem stockigen Altwasser, aus dem einen Schluck zu nehmen man ihm kaum raten kann. Das ist nicht mehr unsere Welt. Und schon gar nicht mehr von unserer Welt ist die Idee von der Vorhersehung Gottes, die Idee also, dass der Weltenschöpfer (der gleichfalls längst verabschiedet ist, mach's gut, alter Herr) von Anbeginn der Zeiten die Geschicke dieser Welt vorweg geregelt hätte. Die Menschheit hat zuviele Überraschungen erlebt und zuviele zufällige Wendungen, zuviel Umwege und vielzuviel Sackgassen. An einen fein ausgefinkelten Plan Gottes glaubt niemand mehr, auch das ist perdu. Wir glauben an Erfindungen, an das Neue und Unerwartete, die brüske Veränderung. Wir glauben an das, was Schumpeter die schöpferische Zerstörung nannte, Disruption als Gelegenheit zur Erneuerung.

Das Museum selbst ist kein schlechtes Beispiel dafür. Es liegt im Grüngürtel Valencias, den man angelegt hat, nachdem in den Fünfziger Jahren die Turia über die Ufer getreten war und große Verwüstungen angerichtet hatte. Der Fluß wurde danach an der Stadt vorbeigeleitet, sein altes Bett begrünt. Jetzt wird die einstmals an Grünanlagen ärmste Stadt Spaniens von einem breiten Parkstreifen durchzogen, der von Mislata im Westen fast bis an den Jachthafen im Osten führt und den hustenden und röchelnden Einwohnern soviel Sauerstoff beschert, als hätte man dem urbanen Organismus leistungsfähige Kiemen eingepflanzt.

In der Innenstadt herrscht sonntäglich lässiger Betrieb. Die meisten Läden haben geöffnet, und die Leute gehen ohne Hast und Zeitdruck einkaufen, selbst wir stöbern ein wenig durch die Auslagen. 

In einer breiten Gasse kommt eine Folkloregruppe auf uns zu, voran ein Standartenträger neben einer weißgekleideten Frau, deren Rüschenschleppe durch den Straßenschmutz schleift, dann, in einiger Entfernung, als gehörten sie gar nicht dazu, die Musikanten: vorweg ein mageres Greislein mit einer Art Bandana ums Haupt, einer offenen Weste, breiter, roter Bauchbinde und knielangen Hosen, unter denen seine weißbestrumpften Waden auf hochgeschnürten Espardenyes krummbeinig dahinschreiten. Zwei Frauen - eine vielleicht achtzehnjährige, schwarzhaarige Madonna in einem altrosa Kleid, unfassbar bezaubernd in ihrer ländlichen Lieblichkeit, und eine etwas ältere in hibiskusroter Mantilla - gehen lächelnd und schwatzend nebenher, derweil ein gutes Dutzend Männer mit unterschiedlichen Gitarrentypen (mandolaartige Bauformen, Zehnsaiter mit flachem Korpus, etwas Bauchiges wie eine Oud) ihnen folgen und dabei fröhlich klimpern und zirken wie auf Hackbrettern. Die Männer tragen ebenfalls diese Kopfbedeckungen, die ich fahrlässigerweise Bandana genannt habe, die aber genauer besehen eher den schlaffen Zipfelkappen ähneln, wie Schlümpfe sie tragen. Erst singen die Männer; beim nächsten Stück die Frauen, so durchdringend und so sehnsuchtsvoll, dass ich an mich halten muss, um nicht loszuschluchzen. Sie halten vor einem Haus, in dem sich das Centro Aragonés befindet. Aragon liegt keine hundert Kilometer entfernt; aber das Heimweh, das in diesem Gesang anklingt, hat mit Entfernungen im Raum nichts zu tun; es richtet sich allein auf all das, was unwiederbringlich verloren ist: sie beklagen den ewigen Skandal der Vergänglichkeit.

Bei unserem ziellosen Herumwandern stoßen wir immer wieder auf entzückende Plätze und reizende Bauten, wie etwa das Haus der Banco de Valencia, das ein fragil hohes und langgestrecktes Tortenstück aus Erdbeerquark und Baiser ist, dem die Unredlichkeit schon an der Nasenspitze anzusehen ist (die Bank ist denn auch vor einigen Jahren wegen zu vieler fauler Kredite verstaatlicht und dann verkauft worden), oder das Keramikmuseum mit seiner zauberischen Rokokofassade, in der jedes Fenster mit feinstem Geschnörkel umringelt ist, als hätte es ein Porzellancrèmier dorthingestrichen.

Irgendwann am späten Nachmittag landen wir im Museum für zeitgenössische Kunst, in dessen Foyer ein riesiges geschnitztes Regal steht, voller Bücher, Kladden, Aktenbündel: ein Archiv aus Wurzelholzdossiers und grob gesägten Sammelmappen. 

Das Stück taugt durchaus als Emblem für das Museum, das sich (von einer Sammlung mit Skulpturen Julio Gonzáles' abgesehen, eines Künstlers, der seinem Freund Picasso das Schweißen beibrachte) vor allem sozialkritischer Kunst widmet. Im Erdgeschoss gibt es eine Ausstellung zum Thema Migration, deren Werke in der Mehrzahl das Leid der Flüchtlinge beschwören oder die Hartherzigkeit der westlichen Behörden anprangern. Nur weniges geht über schlichte, moralisierende und bisweilen rührselige Dokumentation hinaus, etwa die Erhebung einer Flüchtlingsroute mit den Stationen Aleppo, Rom, Utrecht und München zu einer Figur, wie man sie von Sternbildkarten kennt, oder das Video, das einen arabischen Mann zeigt, der an einem Arbeitstisch etwas verfertigt, was möglicherweise ein Sprengstoffgürtel werden soll - vielleicht auch etwas ganz Profanes - und dabei immer wieder von Stromausfällen unterbrochen wird, sodass er seine Laterne anzünden muss wie einst Diogenes, und man irgendwann nicht mehr weiß, ob man für die Verzögerung seines tödlichen Tuns dankbar sein oder die schwierigen Arbeitsbedingungen beklagen soll, denen die Handwerker im Nahen Osten ausgesetzt sind.

Ein Stockwerk darüber sehen wir Fotografien aus der Zeit der Großen Depression in Amerika, das ganze Elend des Kapitalismus und derer, die als seine Opfer präsentiert werden. Dann, in einem Seitenflügel, Harun Farockis Filme über Shopping Malls, ihre Finanziers und deren Handlanger, und ich werde das Gefühl nicht los, linkspopulistischem Agitprop ausgesetzt zu sein, der mir weismachen will, dass wir nicht in der besten aller möglichen Welten leben.

An den Büchertischen gibt es dann auch nichts von Leibniz. Hier herrschen Hardt und Neri, Deleuze und Foucault, Adorno. Kein Ricardo, kein Schumpeter, schon gar nichts von Hayek. Wahrscheinlich ist das Bücherregal im Foyer nur aus Holz, damit es irgendwann verbrannt werden kann und die Werke missliebiger Denker auf dieser Unterlage schnell Feuer fangen.

Zurück in Mislata müssen wir feststellen, dass die Kneipe von gestern zu hat und keine andere uns lockt. Wir begnügen uns mit Brot und Käse.


Montag. Die Markthalle ist ein ziemlich vollständiges Kompendium des hierzulande Essbaren. Schnecken jeder Größe werden in Netzsäckchen präsentiert, Bohnen von fadendünnen Exemplaren bis zu breitgewalzten dicken Streifen, daneben die getrockneten Varietäten, gescheckte Borlottis, grünspanfarbene Sorten, beige Perlen und nierenförmige, dicke Knubbel. Schweineköpfe, Hühnerfüße, Rinderherzen. Nur die Fischstände sind am Montag leer: über die geschrubbten Edelstahlrampen, auf denen sonst ein Teppich aus Eisbruch und silbernem Fisch liegt, sind heute Planen gebreitet. Aber eine Nothelferin hält Wacht. Hier gibt es Seeigel, die aussehen wie Klöße, die man in Piniennadeln gewälzt hat. Die Frau schneidet mir die Igel auf, räumt die grauen Innereien heraus und serviert die in der halbierten Schale verbleibenden orangefarbenen Gonaden auf einem Plastikteller. Sie freut sich ersichtlich über meine Begeisterung und schaut mir wohlgefällig zu, wie ich das Corail herauslöffle. Sie liebt diese Näscherei: me encantan los erizos. Wenn es sich ergibt, nimmt sie gern ein, zwei Dutzend mit Weißwein am Strand, und auf keinen Fall mit Zitrone, wie manche incultos es tun, Banausen, die Angst vor der leichten Bitternote der Eier haben.

Ich verstehe nicht alles, was die Frau sagt, aber die Sympathie zwischen zwei aficionados lässt die Konversation dennoch gelingen. Sie verabschiedet mich mit einem rührenden Adios, cariño. Wie lang bin ich nicht mehr von einer Wildfremden so zärtlich benamst worden?

In die Ausläufer Valencias. Eigentlich wollen wir in die Wissenschaftsstadt, aber es verschlägt uns bis hinter die Hafenanlagen im Südosten nach Pinedo, wo wir am Strand drei Restaurants finden, von denen eins sogar schon die Saison eröffnet hat.

Der Kellner grinst uns zahnlückig an. Trotz seines vorgerückten Alters ist er von wunderlichem Ungestüm. Aus Tellerabräumen und Tellerhinstellen macht er ein perkussives und flamencotänzerisches Solo, dass es eine Pracht ist. Später wird er dabei allerdings so über einen Sonnenschirmständer stolpern, dass er sich den Ellbogen blutig schrammt und den Handballen aufschürft; man bekommt eine Ahnung, warum ihm ein Schneidezahn fehlt. Aber es ist nicht der fehlende Zahn, der seine Artikulation so schwer verständlich macht. Er ist einfach zu fix: pan tomate wird bei ihm zu einem pamat beschleunigt, und sein sala ist eine Abkürzung zur ensalada mixta.

Das Meer schwillt und spritzt unablässig heran; links die Hafenanlagen, Quais und Kräne, weit genug entfernt, um als abstraktes Muster eine Art Schmuckborte am Bildrand darzustellen. Große Frachter dümpeln träge vor sich hin.

Ältere Herren sitzen zusammen, trinken Bier und rauchen, während sie chopitos, kleine frittierte Sepien, vom Teller picken. Ein einsamer Gast, ebenfalls älterer Herr, qualmt eine imposante Havanna und klappt seine Miesmuscheln auf, ohne die Zigarre aus den Fingern zu lassen. Seine Jacke ist von einem Ferrarirot, das nicht jeder 70-jährige sich zu tragen traut, aber mit der Goldkette, der verspiegelten Pilotenbrille und einer fetten Breitling am Handgelenk ergibt das etwas ganz Stimmiges. Schließlich kommt ein Bekannter an, Typ bulliger Silberrücken; sie tauschen ein paar gutturale Laute aus und zwei dicke Umschläge, die ganz entschieden genau so aussehen, als seien in dem einen ein Geldbündel und in dem anderen Vorverträge für ein unlauteres Immobiliengeschäft oder belastende Fotos, und schon ist der Havannaraucher weg, weil noch andere schmutzige Geschäfte zu erledigen sind. 

Die weibliche Begleitung des Neuankömmlings ist ungefähr zwanzig Jahre jünger als er, hat aber durch allerlei chirurgische Maßnahmen noch einmal zwanzig Jahre zu subtrahieren versucht. Die geschätzt acht Liter Hubraum ihres Wagens waren vom Parkplatz zu hören; auch die Frau hat mit Oberlippenschweller und Pektoralspoiler ihr Chassis kräftig aufgemotzt.

Ich drehe meinen Stuhl ein bisschen, damit ich die zwei nicht ansehen muss; ich käme aus einem unhöflich faszinierten Glotzen nicht heraus.

Gut, dass die Paella gebracht wird, das lenkt ab. Die Servierpfanne ist außen von einer pekigen Rußschicht überzogen; innen ist der Reis kräftig angebackt, was eine schöne röststoffreiche Krustigkeit ergibt.

Ob man mit schöner Krustigkeit auch die Ruine bezeichnen könnte, die gut fünfzig Meter entfernt liegt? Das war einmal eine Stranddisco, die jetzt ausgebrannt, geplündert, verwüstet ist, auch wenn manches so aussieht, als sei der Schutt nicht einfach Folge eines Brandes, sondern als hätte man nach der Zerstörung der Anlage eine Gelegenheit erkannt, seinen Sperrmüll nicht zu einer Deponie zu bringen, sondern stattdessen, günstiger, hier zu entsorgen. Doch noch irritierender als der Sperrmüll ist der Umstand, dass der Komplex nicht im Ganzen, von einem Brandherd ausgehend, abgebrannt ist. Die Feuer scheinen hier und dort ausgebrochen zu sein, nirgendwo lebensgefährlich, nirgendwo alles niederwalzend, aber doch an allen Ecken und Winkeln genug Schaden anrichtend, um die Anlage als ganze zu ruinieren. Eine präzise pyrotechnische Syntax hat hier offenbar alle Versicherungs- und Baurechtsbedingungen erfülllt, um auf lange Sicht Profit daraus zu schlagen.


Valencia. Xativa. Alcoy. Elche. Murcia. Ubeda. Baeza.


Nächstentags besuchen wir das Oceanografic, einen Teil der hochtrabend so genannten Ciudad de las artes y de las ciencias. Stadt der Künste und Wissenschaften hört sich anspruchsvoll an, es handelt sich dabei aber eher um Spektakel mit Imax-Kino, Planetarium, Technoclub, alles im Stil eines postmodernen Gigantismus erbaut, mit Betonschalenbauten, die an länglich ovale Augäpfel erinnern, an Rippenbögen mit stachligen Knorpelreihen, an Riesenfischmäuler, Riesenharfen, Riesenhelme. Man hat hier auf Effekthascherei entschieden nicht verzichtet; das meiste davon sieht aus wie aus dem Kulissenpark eines Science-Fiction-Blockbusters entwendet, und wie bei Filmkulissen ist es besser, nicht allzu nahe ranzugehen, um den Effekt nicht zu zerstören. Der ganze Komplex hat etwas von einer Jahrmarktsarchitektur, die nur für eine kurze Saison hingeklotzt wurde. Vielleicht schätze ich auch darum Kathedralen so sehr. Manche stehen seit 500, 800, 1000 Jahren. Diese Spektakelarchitektur aber, gimmickhaft und aufgedonnert, wird in 50 Jahren vor dem Abriss stehen.

Aber jetzt sind wir schon mal da, nun müssen wir auch durch. Im Oceanogràfic, Europas größtem Aquarium (denn ohne Superlative geht es hier nicht), hat das Spektakuläre der Anlage sein Gegenstück in der Schäbigkeit der Details. Das geht schon vor den Kassen los, wo die Gestänge, die die Wartenden kanalisieren sollen, wacklig sind wie aneinandergepappte Stricknadeln. Das Empfangsgebäude ist dann von einer Geräumigkeit, die einem den Atem rauben soll, aber all die Größe imponiert und überwältigt nicht, weil man sich dann doch nur vorkommt wie in der Eingangshalle eines Spaßbads. Eine mickrige Treppe ohne all die Grandezza, die der Größe des Raums angemessen wäre, führt abwärts, und einen Stock tiefer verläpppert der Raum gleich ganz zu allerlei kleinteiligen Souvenir-Kiosken. Der Architekt hatte für das Äußere eine flamboyante Idee; für die Inneneinrichtung hat er dann bloß auf die Konventionen einer shopping-mall zurückgegriffen.

Diese Diskrepanz setzt sich fort. Allein, dass das ganze Terrain mit den Hits der 80er, 90er und dem Besten von heute wie aus dem Formatradio beschallt wird, ist entweder von abscheulicher Einfallslosigkeit oder von abscheulicher Anbiederung an die Publikumseinfalt; im Delfinarium, in dem es eine Vorführung der erstaunlichen Fähigkeiten der Tiere gibt, wird es ganz und gar widerwärtig. Sechs Delfine zeigen ihre Kunststücke, sie springen und paddeln, schlagen Salti, schwimmen mit ihren Dompteuren, und all das wird als fröhliches Liebesverhältnis zwischen Mensch und Tier angepriesen, während es in Wahrheit nichts ist als Zurichtung und grobe Dressur. Im Zirkus stört mich derlei weniger; da wird wenigstens nicht so getan, als hätten die Tiere von kleinauf nur darauf gewartet, Kunststücke vorzuführen. Aber hier wird unter hymnischen Pop-Getöse die innige Verbundenheit aller Kreatur beschworen. Ich sehe förmlich Michael Jackson mit Orca, dem Killerwal, schmusen. Aber nun - besser, er schmust mit einem Killerwal als mit den Kindern, die er sich sonst ins Bett holte.

Die Becken und Gehege sind zumeist abgrundtief traurig. In der Halle für die Tiere der Arktis klingen die an die Betonbänke klatschenden Seelöwen wie Fleischhälften, die im Schlachthof aufeinandergeworfen werden; ihr Muhen tönt wie Klagerufe unter dem niederhackenden Beil.

Die Aquarien in den Souterrains allerdings sind dann bezaubernd. Haie und Rochen schweben hinter verglasten Decken über uns hinweg, Fische, deren Namen ich längst vergessen habe, maulen mit dicken Lippen durch ihr Terrain, gründeln im Sand, knabbern an porösen Steinen. Seepferdchen treiben wie Integralzeichen in Frakturschrift durch blau beleuchtete Wasser, und die zarten Schirme von Medusen schimmern träumerisch fluoreszierend dahin, höflich die Hauben ihrer Baskenmützen lüpfend; andere zeigen wie in einer Zeichnung aus dem Anatomieatlas die violetten Schleifen ihres Innenlebens. Hier ist es bunt und zierlich, behutsam; Seeanemonen strecken ihre türkisfarbenen Antennenhärchen aus, manchmal auch altrosa um ein gleißend weißes Herz; fächerförmige, lamellengleich aufeinandergeschichtete Gestaltungen lassen offen, ob es sich dabei um launige Versteinerungen oder um lebendige Pflanzen handelt; rauhe Steinklumpen erwachen plötzlich zum Leben und schnappen ein Wölkchen Krill. Ein niedertaumelndes Blatt tut mit einem Mal ein paar Flügelschläge und strebt auf einen Korallenstreifen zu. Kaum hat sich diese Blattmimikry darauf niedergelassen, gräbt sich die vermeintliche Versteinerung mit zwei, drei Rucken noch etwas tiefer in den Sand. Eine Muräne, grobporig, die Haut wie gepunztes Leder, schnellt mit peitschenden Bewegungen ihres Schwanzes aus einer Felsspalte. Fische mit neongrünen, grellgelben, stahl- oder türkisblauen Bändern schwärmen dahin, dazwischen stehen wie dickliche Matronen in wallenden Rüschenröckchen behäbige Exemplare in gedämpftem Orange, die in aller Ruhe vor sich hinmampfen... Das alles ist wunderbar, und es wäre noch viel wunderbarer, wenn man über diesen weitverzeigten Räumen ein Schweigegebot verhängt hätte, sodass dieses unterseeische Zauberreich in der träumerischen Stille erkundet werden könnte, die ihm gemäßer wäre als der beständige Lärm, den Reisegruppen, Schulklassen und krakeelende Jugendliche veranstalten.

Das Aquarium sollte spezielle Besuchsstunden einrichten, in denen mürrische und schweigsame alte Herrn ganz unter sich bleiben, um die Wunder der Schöpfung anzubeten.

Nach einem späten Mittagsimbiss am Jachthafen brechen wir gen Süden auf. 

Als wir, nachmittags um fünf, in Xativa ankommen, ist grade Schulschluss. Kinder in manierlichen Schuluniformen wandern heimwärts. Der nicht immer ganz so manierliche Rodrigo Borgia, der nachmalige Papst Alexander VI., wurde hier anno domini 1431 in einem recht bescheidenen Patrizierhaus geboren, das sicher kein angemessener Rahmen für die Feste gewesen wäre, die er später in Rom zu feiern pflegte. Berühmt geworden ist das von seinem Sohn Cesare ausgerichtete sogenannte Kastanienbankett, bei dem nackte Kurtisanen über den Boden krabbeln und ausgestreute Kastanien mit dem Mund aufsammeln sollten. Ob die verruchten Borgias dabei die kastanienfressenden Schweine ihres Heimatlandes im Sinn hatten? Zur Schweinerei, jedenfalls nach den Maßstäben klerikaler Keuschheitsgebote, artete das Kastanienbankett aus, als auch die Männer sich ihrer Kleider entledigten und sich grunzend über die Huren hermachten.

Da Spanien ja mit Leidenschaft seine Traditionen und seine Geschichte pflegt - und auch wenig Scheu hat, das Unschöne zu bewahren, man denke nur an das Mausoleum Francos, zu dem Jahr für Jahr fast eine halbe Million Menschen pilgern - könnte man doch auch hier in Xativa des berühmtesten Sohnes der Stadt gedenken. In einem Städtchen bei Valencia bewerfen sich die Leute mit Tomaten, im Rioja bespritzen sie sich bei Weinschlachten mit Abertausenden von Litern Wein, beschmeißen sich bei Alicante mit Mehlbomben oder bei Barcelona mit Baiser. Warum da nicht auch einmal ein Fest zum Gedenken der orgienfrohen Borgias ausrichten?

In Alcoy, unserer nächsten Station, hat das Stadtfest grade am vergangenen Wochenende stattgefunden. Jedes Jahr feiert man hier die Festes de Moros y Cristians, um an die Wiedereroberung der maurischen Stadt durch christliche Truppen zu erinnern. In einem entscheidenden Moment der Schlacht war der Heilige Georg erschienen, um das Glück zugunsten der Christen zu wenden. Der Heilige Jakob, der in Spanien sonst für derlei Eingriffe zuständig ist, war wohl anderweitig beschäftigt; die Heiligen hatten in der Reconquista alle Hände voll zu tun.

Die Stadt ist immer noch geschmückt. Die Balkone sind mit weißen Tüchern verkleidet, auf denen rot das Georgskreuz prangt, über die Straßen spannen sich Bogenreihen mit stilisierten Zinnen. In einem Schaufenster sehen wir Bilder von der letztjährigen Prozession: edle Ritter natürlich auf ihren Rössern, Knappen und Pfaffen, noch edlere Mauren, die beturbant und in wallenden Gewändern auf buntgeschirrten Kamelen einherreiten, schwarze Teufel mit loderndem rotem Haar, eine Schar von Wesen, die aussehen wie einem Hollywoodkracher über assyrische Eroberungszüge entsprungen, mit Bärten aus getriebenem Kupfer, Kronen aus mehrfachen Hörnerpaaren, schweren Ketten aus tellergroßen Relieftondos, die ihnen bis auf die Kniee hängen, und Bögen aus Horn, die eher jüdischen Schofars ähneln als Waffen. Dann sind da Possenreisser und Feuerschlucker, Schalmeibläser im Samtwams, und weil ich nicht alles notiert habe, was da zu sehen war, gebe ich aus der Vorstellung noch Tänzerinnen in Pluderhosen aus Seide dazu, die nackten Bäuche mit Goldkettencharivaris behangen: die Phantasie von Serailtänzerinnen, wie man sie am Moulin Rouge aushecken würde oder für eine Bühne in Las Vegas.

Das Fest wird auch dieses Mal prächtig gewesen sein; doch jetzt ist der Zauber vorüber. Die Burgkulisse auf dem Hauptplatz ist noch nicht abgebaut; man sollte sich beeilen, sonst wird der Regen die lackierten Pappmachée-Wände auflösen.

Wir setzen uns auf einen Tinto Verano unter die Schirme einer Bar an einem Platz im kastilischen Stil. Rechteckig, von Häusern umschlossen bis auf einen Portalzugang, erinnern diese Plätze immer ein wenig an einen Kasernenhof, wenn nicht Prunk und Pomp diesen Raumeindruck überspielen. Hier gelingt das nicht; nur die Kinder, die darüber hinflitzen, während ihre Eltern Gin Tonics schlürfen, mildern die Kasernenhofatmosphäre ein wenig zu der einer Pausenhofs ab. Wir machen noch einen kleinen Bummel durch die Stadt, aber schon bald treibt uns der stärker werdende Regen zum Bus zurück. Wir wollen uns lieber in unsere Bücher versenken als in diese Stadt.

Auf dem Weg nach Murcia unternehmen wir einen kleinen Abstecher nach Elche. Die Stadt ist berühmt für ihre riesigen Palmengärten. Um ehrlich zu sein: wir finden die Stadt in diesen ausgedehnten Palmenhainen nicht. Sie wird wohl irgendwo da sein, gut verborgen hinter den Pflanzungen, die Basilika und der Altamirapalast, der auf den Plakaten, die wir im Vorüberfahren sehen, wie die armselige Burg eines Ritters wirkt, den es nach Timbuktu verschlagen hat, und der seinen Vorstellungen von standesgemäßem Bauen treugeblieben ist, obwohl er dort nichts mehr aufzubieten hatte als Bretter aus Palmholz und feuchten Lehm. Wir machen ein paar halbherzige Versuche, in die Altstadt zu gelangen, irren aber doch nur zwischen Palmgartenausläufern, Palmgartenverdichtungen, Palmgartenparks umher. Mag auch der Navigator, der Eroberer in mir gekränkt sein ob seines Versagens: als Liebhaber von Zaubermärchen berückt mich unser Kreuzen in dieser Zwischenform aus Hain und Stadt, die so schön von Palmwedeln befächelt wird, berückt mich der Weg durch Schraffuren aus Licht und Schatten und durch all die Säulenwälder, deren Gewölbe aus staubigen Blattrippen bestehen. Irgendwann beschließen wir, dass Elche genau dies ist: ein Traumgespinst aus Palmen, hinter dem noch eine richtige Stadt zu suchen nur Enttäuschendes zutage brächte. Wir lassen das von ihren Palmenpalisaden so gut beschirmte Dornröschen weiterschlafen und ziehen weiter nach Murcia.

Im Rio Segura streckt ein riesiger Fisch sein Maul aus dem Wasser und schnappt nach Luft. Der Fluss ist zu seicht für ihn. Nicht aber für die Kanuten, die geschmeidig vorüberpaddeln und interferierende Wellenschleppen hinter sich ausfächern lassen. Der Fisch rührt sich nicht; Bronzeskulpturen tun das selten.

Wir haben bereits einen café con leche in einer Studentenbar genommen, in der zwar bis auf die Kellnerin keine Studenten waren, doch die allein hatte soviel Piercings am Leib, dass man bequem zwei Dutzend handelsüblicher Eleven damit hätte ausstatten können. Eine hübsche Person, ohne Zweifel. Vielleicht waren all die Metallhäkchen und -knöpfchen in ihrem Gesicht nur Überbleibsel all der Versuche, sie zu harpunieren und an Bord zu ziehen, und sie hatte diese Köder nur steckenlassen, um zu demonstrieren, dass sie sich nicht ergeben hatte, ungefähr wie Moby Dick, dessen Schwarten ja auch gespickt waren mit den Harpunenspitzen und all dem Walfängerwerkzeug erfolglos gebliebener Jagdversuche. Der Vergleich der jungen Dame mit einem Wal ist, zugegeben, etwas uncharmant für diese hübsche Person; ich nehme ihn in aller Form zurück.

Jenseits des Flusses, aus dem der Bronzefisch seinen Kopf streckt, liegt das Rathaus Murcias. Die Mauern sind in einem warmen Altrosa getüncht, Giebeldreieck und Säulen und Friese des klassizistischen Baus hell abgesetzt wie weiße Baiserstreifen auf einer Torte aus Erdbeercreme, was fatal den Farben der betrügerischen Banco de Valencia ähnelt. Gleich daneben der Bischofspalast, der von der Flussseite aus eine Fassade von ausgebleichtem Ocker zeigt, sehr elegant und nobel grade in ihrer Schlichtheit, sodass noch nicht einmal der barocke Portikus protzig oder überladen wirkt. Erst am Platz dahinter, an dem auch die Kathedrale sich erhebt, lässt die Rückseite des Palasts jede ästhetische Zurückhaltung fahren und trumpft groß auf: auf dieser Seite ist der Bau ein Stockwerk höher und einige Meter breiter; die Fensterläden sind von kräftigem Türkis, und die verputzen Mauerflächen zwischen den Pariser Fenstern sind nicht mehr in ländlich-bescheidenem Ocker gestrichen, sondern in einem Rot, in das ein guter Schuss Kardinalspurpur eingerührt wurde. Die Mauerflächen, jeweils von einem Rahmen hell eingefasst, mit Muschelornamenten an den Rändern und dicken Wolkenklecksen in der Mitte verziert, wirken ein wenig wie Perserteppiche, die der Bischof zum Lüften nach draußen gehängt hat.

Die Kathedrale zur Linken zeigt ein prächtiges Getümmel von Heiligen, die in ihren säulengefassten Nischen und Erkern, manchmal auch frei auf Geländerpfosten stehen. Die ganze Zeit über grüble ich darüber nach, woran mich diese Fassade erinnert - schließlich fällt es mir ein: es ist die große astronomische Uhr in der Kathedrale von Beauvais. Doch nicht die Form der von Gesims zu Gesims sich in Voluten verjüngenden Fassade lässt mich daran denken, sondern eher all die in ihren Nischen lauernden Heiligen, die nur darauf zu warten scheinen, dass sie sich, wie die Spielfiguren der astronomischen Uhr, gleich aus ihrer steinernen Erstarrung lösen dürfen, um ein paar zierliche Pirouetten zu drehen, einen Arm zu heben oder sich zu verbeugen. Ach, was gäbe ich darum, wenn sich die ganze Kathedralfront unversehens zu einer Art von Orchestrion verwandelte, bei dem einmal nicht nur mechanische Dirigenten mit dem Taktstock fuchteln und Äffchen mit den Tschinellen schlagen, sondern Augustinus seinen Stift zückt, Simon die Säge singen lässt und Thaddäus mit der Keule auf die Pauke haut. Das wäre eine Kirche! Aus Heiligem und Profanen zusammenmontiert, aus Jahrmarktsgeschepper und Karfreitagsratschenklappern, buntem Spektakel und düsterem Ernst... Es wäre zumindest mal eine Abwechslung.

Andererseits bemerke ich jetzt, da ich dies schreibe, dass es von der Bretagne bis  Kantabrien und von Tarifa bis Brandenburg, und wahrscheinlich auch in vielen Gegenden, die ich nicht kenne, eine solche Menge von Altarretabeln gibt, bei denen der Heiland als Kapellmeister eines Heiligenorchesters fungiert, ebenso farbig angepinselt wie seine Musikantentruppe, und vielleicht ebenso fähig zu einem Auftritt wie jede x-beliebige Karnevalscombo, die in den Kirchen durch zusammengestückelte Starschnitte beworben wird, die halt nicht der Bravo entstammen, sondern der Legenda aurea des Jacobus de Voragine.

Wir begegnen bei unserem Bummel durch die Stadt römischen Legionären, die in vollem Wichs aus Schuppenpanzer, Mantel, rotem Helmbusch auf Segways über die Wege gleiten und Touristen jagen. Einen Moment lang denke ich, dass sie für Ordnung sorgen und Strafzettel wegen irgendwelcher Ungebührlichkeiten verteilen wollen, aber die Papiere, sie den Touristen aufnötigen, sind nur Werbung für irgendein historisches Spektakel, das am nächsten Wochenende in einem nahegelegenen Dorf stattfinden soll. Eigentlich schade, dass die Soldeten nur Werbefuzzis sind, denn mein Herz hatte in der Erwartung, eine Probe römischer Züchtigungspraktiken zu bekommen, durchaus höher geschlagen. 

Aber Murcia ist denn doch zu nett dafür, und Höhepunkt der Nettigkeit ist dann das kleine Restaurant, in dem wir zu Mittag essen. Es gibt nur ein paar Tische, von denen grade mal ein Drittel belegt ist. Unter den Gästen ist auch eine etwa vierzehnjährige Muffeltrine, die offenbar zur Familie gehört, und die Köstlichkeiten, die wir voller Andacht und mit kaum unterdrückten Begeisterungsrufen am Gaumen zerdrücken, in vollkommener Wurschtigkeit wegmampft. Mama kocht, der Sohn - Mitte Dreißig - bedient, und wir futtern ein Näpfchen nach dem anderen: ein Portiönchen Stierschwanzragout im Filoteig, eine mit Gänseleber gefüllte Artischocke, aus der wie ein grotesk transplantiertes Bein ein langgestreckter Garnelenkorpus herauswächst, ein Blutwursthäufchen mit Spinat und Parmesan und einer Infusion von Apfelkompott. Ein Schälchen Schweinebacke mit Blätterteig, ein Filobeutel mit wenig Mariscofüllung und einem Gambaspiegel drumrum, der alles, was an Masse fehlen könnte, durch die geschmackliche Fülle dieses Spiegels ersetzt, dessen nicht mit der Gabel aufpickbare Reste wir mit der Fingerspitze wegputzen. Es wäre auch zu schade drum.

Das alles ist auf den ersten Blick kaum teurer als die Konfektionsware, die sonst feilgeboten wird, doch von einer Experimentierfreude und Sorgfalt der Zubereitung, die uns so begeistert, dass wir die halbe Speisekarte abweiden. So wird es doch teurer als sonst, aber wir bereuen nichts. Wir grasen über Essenzen und verdichtete Geschmackspralinés; das ist kein Mastfutter, sondern die Alchimie einer Aromenkombinatorik, die hier durch eine überraschende Kreuzkümmelnote, dort durch Zimt und Muskat, dann wieder mit Ingwer und Zitronenzesten oder der süßlichen Säure eines Spritzers aus Pedro Ximenes-Essig die immer wiederkehrenden Grundprodukte der spanischen Küche wie mit einem Feenstab zu neuem Leben erweckt.

Die Gegend um Murcia ist Plantagenland: Obstbäume und Gemüsefelder säumen den Weg nach Nordwesten. Zwischen die Gärten sind immer wieder Wüsteneien und Berge aus Pappmachée eingesprengt, deren kahle Lehnen mit grünen Streuseln beflockt sind, wie man sie im Modelleisenbahnbau verwendet. Wir finden einen herrscherlichen Aussichtspunkt zum Übernachten: vor uns dehnt sich eine Weite aus Buckeln und terrassierten Hängen, hinter uns erhebt sich wie ein Prachtkragen ein Höhenzug aus lamelliertem Stein.

Am frühen Morgen ähnelt der Himmel einem gutem Schinken: fettweiße Wolkenstriemen neben fein marmorierten Gespinsten, von hellrotem Muskelfleisch umgeben. Kondensstreifen ziehen sich wie Sehnen hindurch. Später, als wir draußen frühstücken, steigen in den Hügeln Rauchsäulen auf: die Bauern verbrennen das im Winter ausgeschnittene Holz.

Aufbruch. Bald wechseln sich tiefe Täler mit Hochebenen ab. Unter den Olivenbäumen blühen gelbe Lupinen, auf den Weiden und manchmal auch im jungen Getreide steht Klatschmohn. Die Dörfer auf dem Weg sind fast beängstigend menschenleer, als seien die Einwohner Hals über Kopf geflohen. Nur ein paar Großmütterchen hat man in der Eile zurückgelassen. In Ferez, Letur, Casas del Pino überall das selbe Bild, die gleichen verwaisten Häuser, die gleichen verwaisten Straßen und verwaisten Plätze. Erst in Yeste verstehen wir, warum die Dörfer so leergefegt sind. In dem Örtchen, dessen Häuser sich um die alte Burg scharen, ist Markttag. Die Straßen sind bis in die Ausläufer des Orts zugeparkt; die ganze comarca scheint heute in Yeste versammelt. An den Marktständen ist dann allerdings wenig Betrieb. Kaum jemand, der sich für die Kanarienvögel in ihren Käfigen, die Kaninchen, die Süßigkeiten und die Rüschenkleider, Arbeitshandschuhe und Bohnensäcke interessiert. Kein Wunder auch; es ist Aperitivzeit. So gemütlich es draußen zugeht, so betriebsam ist es in den Kneipen. An den Theken drängen sich dicht an dicht die Männer, alle Tische sind besetzt. Der Lärmpegel ist gewaltig, der Alkoholpegel einiger Herren steht dem nicht nach. Um sich Appetit zu machen, werden eifrig Tapas gefuttert. 

Für uns ist es noch zu früh für einen Happen; das wird sich als Fehler herausstellen, denn von nun an geht unser Weg durch Bergeinsamkeiten, und die Orte, die wir berühren, sind wieder wie ausgestorben. Nur in einem, der noch nicht einmal klein ist, sehen wir ein paar alte Männer in Schiebermützen, die unter einer Pergola sitzen und gemeinsam zwei Eimer Saubohnen putzen. Als ich sie frage, ob es hier ein Lokal gäbe, wo man etwas zu essen bekäme, schütteln sie schweigsam den Kopf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Mit dem Daumennagel schlitzen sie die Naht der Schote auf und räumen die Bohnenkerne in eine Schüssel: "Érase una vez..." sagt einer: Es war einmal. Dann hustet er, und es klingt, als bräche ein Riese durchs Unterholz. Wahrscheinlich sieht's in seiner Lunge genauso aus: ein flechtenüberzogener Wald toten Gezweigs, mit Reisigmassen von abgestorbenen Bronchialästen, die langsam verrotten.

Wir sehen zu, dass wir wegkommen. Schließlich finden wir an der Nationalstraße ein Restaurant, wo wir die einzigen Gäste sind und trotzdem keinen Platz am Fenster bekommen, weil dort für vier eingedeckt ist, und wir ja nur zu zweit sind. Der Gastraum ist eine Art Rittersaal, der Boden gefliest (wahrscheinlich, damit man nach den Schwertkämpfen das Blut leichter aufwischen kann), Balken, heraldische Blechschilde an den Wänden, ein Buffet-Ungetüm aus gebeiztem Holz mit Zinnen und allerlei gezackten Zierfriesen, die offenbar von Vauban'scher Festungskunst inspiriert sind und die Künetten und Escarpen dieser Schrankfortifikation darstellen, in der Teller und Tischtücher eingelagert sind. Die Kellnerin ist in einem Hinterzimmer verschwunden, aber sobald ich nur suchend meinen Kopf wende, kommt sie sogleich hinter einem Vorhang hervor und nähert sich unhörbar wie auf Filzschlappen (nein, kein wie, sie hat tatsächlich welche an), als hätte sie uns aus ihrem Versteck heraus die ganze Zeit über im Auge behalten.

Das Mahl hat auf diese Weise etwas durchaus Verwunschenes; von einem schweigsamen, meist unsichtbaren und nahezu unhörbaren Geist bedient, wirkt jedes Klappern des Messers am Tellerrand und jedes Abstellen des Glases fast ungehörig, als läge in irgendeinem Gemach des Hauses ein neurasthenischer Amfortas, dem jedes Geräusch Leiden bereitet. Wir unterhalten uns nur flüsternd, tranchieren behutsam die Forelle und trinken in mäßigen Schlucken; doch gegen Ende des Essens kommen vier Spanier herein, denen die Gebresten des Anfortas scheißegal sind und die mit lautstarkem Stakkato sofort den Zauberbann brechen, mit dem die Halle belegt schien.

Bald danach beginnen die Olivenplantagen; wir nähern uns Jaén, der Kapitale des spanischen Olivenöls. Die Landschaft wird zugestrickt, zugesponnen, zugewoben mit dem endlosen Köper der Pflanzungen.

Gegen vier kommen wir dann in Ubeda an. Kastilischen Notabeln, die sich Verdienste bei der Reconquista erworben hatten, wurden ihre  Mühen Ende des 15. Jahrhunderts mit Ländereien und Ämtern entgolten; Ubeda trieb daraufhin reichlich Renaissanceblüten. 

Das Ensemble der Paläste und Kirchen ist sehr harmonisch, was manchmal nur ein Zeichen dafür ist, dass nach einer Blütezeit die schwieligen Hände der Geschichte von einer Stadt abgelassen und sich in Frieden gefaltet haben. Die zona monumental liegt denn auch als stille Nekropole vor uns. Die Taxushecken sind akkurat geschnitten, und die Zypressen erheben sich wie Gouvernantenfinger, die zu gemessenem Benehmen mahnen. Immerhin gibt es ein paar Kinder, die sich nicht dran halten, sondern auf den zwischen Buchs und Stein abgestellten Skulpturen herumkraxeln. Aber die Kinder werden schnell zur Ordnung gerufen, und der Platz sinkt wieder in die andächtige Respektabilität einer Renaissance-Vignette zurück.

So schön die Kirchen im Innern sind (barocker Überschwang hier, Renaissance-Nüchternheit da) - kaum sind wir nach draußen getreten, um ihre Fassade noch einmal zu mustern, überkommt mich wie eine Zwangsvorstellung das Gefühl, dass all diese Sandsteinbauten nicht aus Stein, sondern nur aus Sand gefertigt sein sollten, weich und hinfällig: bröckelnde Gebilde, an denen die Zeit herabrinnen könnte wie nasser Matsch.

In der Stadt unten ist Mordsbetrieb. Da wird flaniert, eingekauft, gepichelt und palavert. Nach den Stunden in der weihevollen Stille der zona nehmen wir in der brabbelnden Lebendigkeit der Unterstadt einen tüchtigen Atemzug Luft.

Einen Platz zum Übernachten finden wir indes nicht. Überall dort, wo erfahrungsgemäß ein ruhiges Eckchen für die Nacht bereitstünde, wimmelt ein emsiges Völkchen von Joggern, Spaziergängern, Gassigehern; wer hätte geahnt, dass diese Stadt, deren altes Zentrum uns als so mortifiziert erschienen ist, einen solchen Sack voller Flöhe beherbergt, die nach Feierabend gleich ausschwärmen und überall herumspringen? Sie verschonen noch nicht einmal den Friedhof, der sonst immer unsere ultima ratio für einen ruhigen Abend ist. Hier dehnen und strecken sich die Jogger sogar vor den Grabkreuzen, machen vor Gevatter Tod ihre Kniebeugen. Hier ist kein Bleiben für uns. 

Baeza liegt kaum eine halbe Stunde entfernt, und dort gibt es auch vor der Stierkampfarena einen fast leeren Parkplatz. Ein Tor der Arena öffnet sich; nach und nach trudeln Leute auf Fahrrädern ein, und bald schallt Gesang und partisanenhaftes Gitarrengeschrammel aus der Stallung: ein Chor schmettert Lieder, die mir entfernt bekannt vorkommen. Bei Ministrantenfreizeiten habe ich selber solche Stücke gesungen, angeleitet von einem tüchtig klampfenden Jugendpfarrer in Zivil, der ein cowboyhaftes, rotes Tuch um den Hals geknotet hatte, ein Taizé-Signet vor der Brust.

Baezas Renaissancebauten liegen nicht wie in Ubeda in einer abgetrennten Zone, sondern lässig in der Stadt verstreut. Ich fühle mich wie in einer der schönen norditalienischen Städte, in denen ein gemütliches Kleinstadtleben ganz entspannt mit den Zeugnissen einer großen Vergangenheit möbliert ist, ohne dass es sich davon einschnüren ließe.

Die Kathedrale hat offenbar gotische Wurzeln, aber man hat nach Kräften versucht, die Kuppeln, Bögen und Gewölberippen so zu verkleiden, dass der Raum fast die Anmutung eines höfischen Ballsaals zur Schau trägt, mit einem riesigen Glaslüster in der Vierung, der sich auch in einem Opernhaus gut machen würde. Mir scheint fast, als seien manche Gewölbe nur mit Stuckaturen überblendet, um vergessen zu lassen, dass die Bögen große Lasten tragen müssen. Wollte man dem Auge dieses Zeugnis vom Gewicht der Welt ersparen?


Jaen.


In Jaén, wohin wir nach einer ausgiebigen Besichtigung von Baezas Palästen aufbrechen, hat der selbe Architekt seine Idee ins Große gewendet. Auch in Jaéns Kathedrale ist das Kirchenfürstliche und Höfische prägend. Doch hier hatte Andrés de Vandelvira noch mehr Marmor und Gold zur Hand, um seine Vorstellung eines Kirchenbaus als weltliche Herrscherresidenz umzusetzen. Bei allem Detailreichtum der Steinmetzarbeiten, bei aller Liebe zum korinthischen Geschnörkel der Kapitelle, macht die Fassade den Eindruck, als würden dahinter keine Gottesdienste gefeiert, sondern allenfalls Arbeitsessen unter hochrangigen Ministerialen abgehalten. Es ist eine freudlose Pracht, die die Wände ziert; die Zier ist eigentlich nur da, um die Bedeutung und Macht derer zu demonstrieren, die dahinter über die Geschicke der Welt bestimmen; sie haben keine Zeit, sich an der Schönheit zu ergötzen; es gibt Wichtigeres zu tun, man muss Erlasse, Dekrete, Bulletins diktieren, Weisungen unterzeichnen, diplomatische Noten, Gutachten, Haftbefehle. Worte, die lebendiges Fleisch werden, und Worte, die lebendiges Fleisch auf den Scheiterhaufen schicken - Amen.

Drinnen empfangen den Eintretenden links und rechts je sechs Apostel auf Tafelbildern: eine Galerie mitrengekrönter Geschäftsträger und Staatssekretäre in Seidenhandschuhen; die Attribute ihres Martyriums halten sie weniger im Gedenken an ihren eigenen Tod als an die Torturen, die sie den Ketzern zufügen wollen: Säge, Beil und Keule.

Ich bin etwas voreingenommen und voller Feindseligkeit gegen diese Kirche; ihre ganze Ausstrahlung administrativer Wohlhabenheit ist mir zuwider. Ästhetisch aber ist sie nicht ohne Raffinesse; die Art, wie sich hier die feinblättrige Rechtwinkligkeit der Kapitelle den Kuppelrundungen annähert, ist als Überführung der Kurve in eine Summe von Rechtecken beinahe schon eine Vorwegnahme des Leibnizschen Infinitesimalkalküls, und die polygonale Füllung der Gewölbe mit steinernem Flechtwerk ist ein wunderbares Spiel von Formen.

Im Kathedralmuseum unter Sakristei und Kapitelsaal sehe ich ein Bild des tot hingestreckten Christus, und mir kommt wieder jene Kombination in den Sinn, die mich in Baeza so amüsiert hat. Auf dem Bild an einem Seitenaltar stach der Erzengel Michael dem Luzifer die Lanze in die Seite und verstieß ihn aus dem Himmel. Doch unter dem Bild lag in Holz geschnitzt ein lebensgroßer, toter Christus auf einem Samtpolster und zeigte an der selben Stelle die blutige Wunde wie der gestürzte Luzifer. Ob der Künstler sich wohl etwas dabei gedacht hat, Jesus so zu plazieren, als hätte Michael zuerst ihn aus dem Himmel geworfen, bevor er sich dann Luzifer vorknöpfte?

An der Plaza del Posito kehren wir ein. Es gibt dort zwei Bars, deren eine La Plaza heißt, und die andere El Posito, was nicht sehr einfallsreich ist, aber nun. Wir essen eine Artischocke, einen Teller Herzmuscheln und einen mit frittierten Kalmaren, deren Beinchen zu einem krausen Gelock ausgebacken sind. Unser Tischnachbar bemerkt unseren Enthusiasmus beim Schmaus, beugt sich herüber und dekretiert, dass wir unbedingt die boquerones al limón probieren müssen, hier gäbe es die besten der Stadt, und kaum haben wir uns einverstanden erklärt, hat er sie auch schon für uns bestellt. Dass er sie auf seine Rechnung schreiben lässt, begreifen wir erst, als er sich mit einem warmen Schulterklopfen verabschiedet und noch eine schöne Reise wünscht.

Die boquerones sind in der Tat vorzüglich, fleischig, weich, hocharomatisch - kein Vergleich zu den starrgebackenen, grätigen und verdorrten Dingern, die in den spanischen Restaurants unter diesem Namen in Deutschland serviert werden, und dass sie nicht nur mit Zitrone, sondern auch mit einem guten Schuss großzügiger Gastfreundlichkeit gewürzt sind, macht sie uns doppelt wert.

Wir sitzen fast drei Stunden hier, bevor wir zu den Baños Arabes aufbrechen, die zu einem Kulturzentrum mit Museum umgebaut sind. Auf dem Weg dahin können wir uns versichern, dass Julien Green nicht übertrieben hat, als er Jaén eine Stadt von seltener Häßlichkeit nannte. Ich kann nicht ermessen, was daran auf das Sündenkonto der deutschen Legion Condor geht, die Jaén bombardierte, drei Wochen, bevor sie über Guernica herfiel. Das Bombardement ist vollkommen unentschuldbar; aber auch das spanische Baugewerbe wird sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen, wenn es dereinst vor dem Richtstuhl Gottes steht und in der Waage des Engels all der Beton die Schale Richtung Hölle drückt.

Doch Jaén muss einmal eine Perle gewesen sein; zumindest einer der Museumswächter ist davon überzeugt, denn immer, wenn wir versuchen, in der Ausstellung eine Abkürzung zu nehmen, um uns vor den Ölpressen, Spinnrocken, Silberbechern oder Töpferwaren zu drücken, die hier in wahrhaft erschöpfender Vielfalt präsentiert werden, steht der Wächter da und schüttelt gekränkt den Kopf: nein, dies ist nicht der Parcours. So zwingt er uns in den Raum mit Holzkarren hinein, den wir mit einem schnellen Blick als uninteressant abgehakt hatten, scheucht uns danach, als wir die Treppe abwärts schleichen wollen, zu den Amphoren, Flachshecheln, geflochtenen Körben, die allesamt nicht zu den Objekten gehören, denen ich leidenschaftliches Interesse entgegenbringe, und er steht dann auch schon wieder als gespenstischer Mahner vor den Treppen, um uns ein weiteres Mal  den Fluchtweg zu versperren und uns in die Kollektion von Sägen und Meißeln, Blasebälgen und Schleifsteinen zu nötigen. Es ist uns unmöglich, diesem Drängen, das nichts anderes ist als ein Flehen um Aufmerksamkeit und Respekt für seine Heimat, zu widerstehen, und so wandern wir gefügig alle Vitrinen und Exponate ab, bloß um den armen Kerl nicht zu betrüben.

Auch danach fällt es nicht leicht, die Stadt zu verlassen. Die Frau im Touristenbüro hat uns einen Stellplatz für die Nacht empfohlen, aber der ist unauffindbar. Wir irren lange herum, und selbst, als wir kapitulieren und Cordoba ins Navi eingeben, um irgendwo auf dem Weg dorthin zu übernachten, gibt uns Jaén nicht frei und bugsiert uns in eine Art von Endlosschleife. Die Stadt benimmt sich wie ein Mauerblümchen, das - einmal einen höflichen Tänzer am Haken - diesen nicht mehr loslässt, bis dessen Widerwillen alle Höflichkeit übersteigt und er sich brüsk davonmacht.

Wir übernachten schließlich am Rand eines Olivenhains. Es regnet. Wir könnten ohnedies nicht draußen sitzen. Sobald wir auch nur die Tür öffnen, beginnt ein Hund zu kläffen, der gegen unsere Anwesenheit protestiert. Also bleiben wir drin, lesen und schreiben, bieten den Trost der Worte gegen eine unwirtliche Welt auf.


Cordoba.

Morgens ist die Windschutzscheibe mit Tropfen gesprenkelt wie mit Diamentensaat. Der Hund kläfft, kaum aufgewacht, schon wieder.

Wir steuern Cordoba an. Schon bald ändert sich das Landsschaftsbild. Die endlosen Olivenhaine weichen Weizen, Wäldchen, Kartoffeläckern; im Vergleich zum Solitär-Gesteck der Oliven wird es nun mild und sanft, es wellt und wogt; der Guadalquivir wiegt von fern das Land mit seinen Säften.

In Cordoba steht der 1. Mai bevor. Auf Plätzen und Höfen ragen schon die cruces de Mayo auf, riesige und aufwendig geschmückte Blumenkreuze, von Topfpflanzen und bunten Dekorationen umgeben, von Teppichen und Samtdraperien, manchmal Silbertabletts mit maurischen Teegläsern und polierten Shishas, Kupfergeschirr, Laternen aus durchbrochenem Bronzeblech und farbigen Glaseinsätzen... Die barrios wetteifern miteinander um den prächtigsten Aufbau, und selten fehlt ein Ausschank, ein Tresen mit Häppchen, Musik. Auch der Wettbewerb für den schönsten Patio findet den ganzen Mai über statt; das Publikum drängt sich vor den Eingängen zu den Höfen, und viele der Neugierigen halten ein Jurorenheft in der Hand, um ihre Bewertungskreuzchen hineinzumalen.

Und wir? Wir wollen natürlich essen gehen. Ob im Fusion an der Plaza del Potro noch ein Tisch frei ist?

Doch erst muss ich der Mezquita noch einen Besuch abstatten, die mich im vergangenen Jahr so überwältigt hat, dass ich den Verdacht hege, vor lauter Verblüffung und vor Bewunderung des Ganzen zahllose Einzelheiten übersehen, und vielleicht sogar das Ganze selbst nur wie benommen und in glotzender Trance erlebt zu haben.

So schlimm kann es dann aber doch nicht gewesen sein; meine Erinnerung ist genauer und tiefer als ich mir zugetraut hätte. Und jedenfalls habe ich dem Bau größere Aufmerksamkeit gewidmet als jene Asiatin, die soeben rückwärts durch den Palmenhof spaziert. Vor sich trägt sie den Pilgerstab unserer Epoche, den Selfiestick; der Bildschirm ihres Handys lotst sie in dieser schwierigen Rückwärtsbewegung einigermaßen sicher an allen Hindernissen vorbei. Es ist kaum wahrscheinlich, dass sie irgendetwas von der Architektur mitbekommt; ihre ganze Konzentration gilt der Schwierigkeit der Navigation und der Mühe, ihr Gesicht immer im Zentrum des Displays zu halten. Die Sache ist bizarr; so bizarr, dass mir erst scheint, es müsse sich um ein Kunstprojekt handeln, das den fanatischen Narzissmus unserer Zeit zum Gegenstand hat. Aber die junge Frau erweckt nicht den Eindruck einer Künstlerin, die sich solche Gedanken macht oder vielleicht auch nur die Schwierigkeit dokumentieren möchte, sich rückwärts durch Menschengruppen zu bewegen; aus ihren Zügen spricht stattdessen reiner, unverfälschter Stumpfsinn.

Ich grüble noch darüber nach, als wir schon durch die Hufeisenbögen und Joche der Mezquita wandeln. Auch hier wird eifrig fotografiert: kaum ein Besucher, der nicht ein Handy hält. Aber wozu sind solche Bilder gut? Die Mezquita kann ich heute aus allen Winkeln, in hochauflösenden und gut ausgeleuchteten Bildern im Netz ansehen; sie auf privaten Fotos zu dokumentieren, ist ganz und gar überflüssig, und das Einzige, was private Fotos den öffentlich zur Verfügung stehenden voraus haben, ist der persönliche Daumenabdruck, das eigene Porträt, das Ort und Ich verknüpft. Selfies, vielgeschmäht und trotzdem vielverfertigt, sind möglicherweise doch die letzte Möglichkeit im Zeitalter der allgegenwärtigen Bildverfügbarkeit, einen Rest von Individualität, oder wie Duns Scotus sagen würde, von haecceitas zu bewahren. Ich hier; das da.

Erstaunlich ist nur - und dies wird mir auf dieser Reise immer wieder auffallen - dass es ausgerechnet die Asiaten sind (Chinesen zumal und Koreaner), die sich dem Selfiekultus stärker hingeben als irgendeine Volksgruppe sonst. Man denkt ja, dass es sich da um bescheidene und demütige Konfuzianer handeln müsste, die ordnungsliebend und gefügig sind und als ihre Gottheit den sozialen Frieden anbeten. Es gehört zu den kulturgeschichtlichen Binsenübereinkünften, dass in China das Individuum seit je nichts gelte, und die Einpassung in übergeordnete Strukturen - Familie, Korporation, Staat - weit wichtiger sei als die freie Entfaltung des Einzelnen. Doch wie ist dann zu deuten, dass die Chinesen heute so versessen auf Selfies sind? Entwickelt sich da ein fernöstlicher Individualismus, dessen posaunenlautestes Okzidentalpendant auf der ersten Seite von Roussaus Bekenntnissen zu lesen ist: "Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben."  Ich wage allerdings nicht zu glauben, dass unter irgendeinem der Selfies eine solch vollmundige oder vielmehr großmäulige Behauptung eingemeißelt sein wird. Schon eher wird dort stehen: "Ich war da, wo viele waren, und ich habe getan, was alle tun. Ich bin ein Diener im Gefolge des Herrn der Gepflogenheiten." 

Das Essen im Fusion ist wie immer ein Vergnügen - zuerst ein Thunfischtataki mit einer Ajoblanco aus eingeweichtem Weißbrot, gemahlenen Mandeln und Knoblauch sowie einer Nocke Paprikaeis, danach ein andalusisches Flamenquin - eine panierte und frittierte Rolle aus Serranoschinken, Paprika, Schweinefleisch und Brotkrumen. Der Name soll dieser Speise, die wir hier und da schon einmal im obszönen Format eines Eselsglieds auf Wirtshaustischen gesehen haben, aufgrund des panadeblonden Haars der flämischen Begleiter Karls V. verliehen worden sein. Ich bin mir da nicht so sicher; es könnte genausogut ein hünenhafter Flamenpriap Pate gestanden haben. Uns wird das Gericht allerdings in der weniger anzüglichen, in Scheiben geschnittenen Version serviert. 

Eine Offenbarung ist dann eine einzelne Auster, die ein klein wenig gegrillt und dann mit einem Ochsenschwanzfond übergossen wurde, sodass das Fleischkissen in seiner Schale liegt wie eine fondumspülte Insel: der sehr intensive und markante Fond ist im Mund anfangs sehr dominant, doch nach und nach, während man die Auster kaut, taucht aus dem tiefen Rinderbrühenaroma ihre helle Jodigkeit auf wie eine Venus, die einmal nicht aus dem Meerschaum geboren wird, sondern aus einem großen Schmortopf, bis am Ende alle Brühespuren von ihr abgetropft sind und sie rein und weiß und strahlend dasteht wie aus Silber gemeißelt.

Der erste Mai: es ist Sonntag, aber die Stadt hält nicht viel von Feiertagsruhe. Es wird viel gefeiert. Großfamilien finden sich zu Heiraten und Taufen zusammen, tafeln in Kneipen, begehen Omas Neunzigsten oder Goldene Hochzeiten, und immer haben sich alle festlich herausgeputzt, dass es eine Pracht - öfter aber noch ein Graus - ist. Besonders bei Hochzeiten lassen die Frauen alle Zurückhaltung fahren und zwängen sich in wenig dezente Kleidchen, deren Nähte ächzen, balancieren auf streichholzdünnen Stilettos einher, die unter der Last erzittern, und tragen parasolgroße Hüte, auf denen Störche nisten könnten. Das Makeup sieht oft hinreißend aus; es empfiehlt sich allerdings nicht, näher als fünf Meter heranzugehen; der Effekt ist auf Distanz berechnet, verliert bei näherem Herankommen und kehrt sich ganz und gar um, sobald man auf Armlänge davorsteht.

Irgendwann landen wir wieder beim Potro, wo auf einer Bühne am Platz zwei Paare tanzen. Es ist keine Vorführung;  sie haben einfach die Gelegenheit ergriffen und einen Tanzboden, der sich grade anbot, nicht ungenutzt gelassen. Da war Musik, warum nicht dazu tanzen? Blaue Hosen, eine rote Bauchbinde, weißes Oberteil; es sind traditionelle Farben, aber die Hosen sind einfach Jeans und das Oberteil mal Hemd, mal T-Shirt: eine lässige Verschmelzung von Folklore und modernem casual. Auch beim Maikreuz um die Ecke tanzen die Leute, Frauen mit Männern und Frauen mit Frauen. Der Duft von gebratenen Hähnchen weht über den Platz, eine caña gibt's für einen Euro, Kinder tollen herum. Ein paar junge Männer mit ledernen Bauchgurten und einer Art von gepolsterter Kufiya auf dem Kopf stehen angespannt beisammen. Nach und nach füllt sich die Gasse mit Leuten: da sind Honoratioren, die samtene, goldbestickte Banner tragen, dralle Frauen in Minikleidern und schwarzen Spitzenhauben; da sind Männer und Frauen mit Seidenschärpen, die beflaggte Lanzen oder Hirtenstäbe mit geschmiedeten Aufsätzen halten, feiste Männer mit Medaillons und dicken Ketten um den Hals, Frauen in hautengen, violetten Sporttrikots, die vielleicht nur eine Bekannte getroffen haben, die in dieser Prozession mitmarschieren wird. Denn es ist - die wuchtige Blech- und Paukenmusik, die jetzt anhebt, signalisiert es - eine Prozession, ein pompöser Marsch durch die Pfarre von San Francisco. Durch die engen Gassen schiebt sich die Heilige Jungfrau auf einer Triumphsänfte voran, das heißt, nicht die Madonna schiebt sich, sondern die jungen Burschen in ihren Stützgürteln schleppen, von Schabracken verborgen, den tonnenschweren Aufbau dahin, unsichtbar und auch ohne zu sehen, wohin sie gehen, denn diese blinden Büffel haben keine andere Orientierung als die, die ihnen ihr Steuermann von außen zuruft.

Die Madonna steht scheinbar auf dem Halbrund einer Mondsichel; aber dem Initiierten ist gleich klar, dass die Mondsichel die Verkleidung eines bovinen Hörnerpaars ist: christliches Getue, das kaum kaschiert, dass hier nach wie vor der Stier angebetet wird wie zu Zeiten Aarons.

Für das archäologische Museum an der Plaza Jeronimo Paez kommen wir zu spät. Schade, und auch wieder nicht, denn wir sind so erschöpft, dass wir die Sammlung kaum hätten würdigen können. Wir sind nicht die einzigen Erschöpften am Platz. An den Tischen im Schatten dösen die Leute; zwei ältere Pärchen halten gleich ein Nickerchen, sickern sanft in Müdigkeit und Vergessen, ohne sich von dem alten Flamencomusiker stören zu lassen, der hier in virtuos lässiger Souveränität ein paar Stücke spielt und singt. Wir werden ihm Wochen später erneut begegnen.

Carmona, Sevilla

Die Landschaft westlich von Cordoba im weiten Becken des Guadalquivir ist von der milden Gelassenheit einer flachen Dünung. Ein Flickentuch aus verschiedenen Grüntönen, lichtes Grüngelb und Smaragd, die abgewetzte Schraffur von grünen Schussfäden auf rötlicher Erde, karge Weide und sattes Kartoffelkraut, dazwischen auch frischer Weizen, ab und zu Mandelbäume und Oliven, aber das sind allenfalls Wäldchen, nicht solch großflächige Plantagen, wie sie um Jaén herum Meile um Meile mit einem Raster aus gleichmäßigen Baumreihen überziehen.

Wir halten in Carmona, das wie ein Riegel auf einen der raren Hügelkämme in der weiten Ebene gesetzt ist. Vom Turm der Kirche aus kann man bis Cordoba sehen und bis zu den Silhouetten der Sierra Morena, aber dieser weite Blick, der andere Seelen aufatmen lässt, erfüllt mich nur mit dem Gefühl trostloser Einsamkeit. Doch das ist noch nicht einmal der wahre Grund für mein Unbehagen. Schwerer wiegt die Diskrepanz zwischem dem reichen architektonischen Erbe des Städtchens und dem stockenden Leben darin. Es scheint mir wie ein prunkvolles Service, das der letzte Spross eines Adelshauses der treuen Magd der Familie vermacht hat. Da hütet sie es nun und poliert es regelmäßig, aber sie würde sich nie trauen, es zu benutzen. Die Stadt ist eine aristokratische Hinterlassenschaft, edel und schön, und sie hätte wimmelnde Betriebsamkeit verdient und nicht bloß die paar alten Herren, die auf Parkbänken beieinandersitzen und palavern, eine Frau, die ein kläffendes Köterchen über die glatte Pflasterung des Platzes zieht wie einen Spielzeughund auf Rädern, und einen Ladenbesitzer, der auf einen Besen gestützt der Kundschaft harrt, die vielleicht einmal kommen wird. Es gibt sogar einen petit train, eins dieser als Lokomotive verkleideten Fuhrwerke mit fünf, sechs offenen Waggons hintendran, um Touristen an den wunderbaren Renaissancefassaden vorüberzukutschieren, aber den Staub auf den Polstern hat schon lange kein Touristenhintern mehr weggewischt. In der Unterstadt ist ein winziger Flohmarkt aufgebaut, auf dem Ware angeboten wird, von der ich mir kaum vorstellen kann, dass sie noch Abnehmer findet: Videokassetten, Ersatzteile für Spinnräder, zerlesene Illustrierte aus den Achtzigern, Wollmäntel mit Mottenfraß, verbogene Harken und Kinderspielzeug mit gebrochenen Verschalungen. Es schnürt mir das Herz ab, dass eine solche Perle von Stadt so der Verödung preisgegeben ist. Schnell weiter nach Sevilla, um darüber wegzukommen!

Im letzten Jahr hatten wir dort an einem großen Parkplatz unweit des Hafens übernachtet. Es war umständlich, von dort aus in die Stadt zu kommen, der Platz war gräßlich, aber immerhin war das Personal von einer wahrhaft auserlesenen Flegelhaftigkeit, die uns Gelegenheit gab, einen Blick auf eine Bürokratenmentalität zu tun, die wir eigentlich schon ausgestorben wähnten. Solch mürrische Exemplare sind selten geworden, seit der Dienstleistungsgedanke in den Amtsstuben Einzug gehalten hat und der Hilfesuchende nicht mehr als unwürdiger und dreister Störenfried angesehen wird, sondern als Kunde, den es zu umwerben und zu hätscheln gilt. Umso schöner war es, noch einmal Beamten zu begegnen, die eine Ahnung davon vermittelten, wie es einst, im ruppigen Mesozoikum der Bürokratie, zuging. Aber so interessant diese Erfahrung war - wir müssen sie nicht wiederholen. Also machen wir's uns diesmal einfacher und plazieren uns hinter dem Nordbahnhof, wo wir den Parkplatzwächter in dem Verschlag aufspüren, in dem sich dieser kleine Schlawiner zu verstecken sucht. Ein aromatischer Duft quillt heraus, als er den Schalter öffnet. Seine Bewegungen folgen dem Rhythmus, den im Hintergrund die synkopischen Verschleppungen von Sly & Robbie vorgeben. Jeder Griff nach Stift, Zettel, Kassentaste ist eine Abfolge von erfolgreich absolvierten punktierten Triolen. Seine Hände schwimmen durch ein ölzähes, harziges Medium, und ich frage mich, aus welchen Fernen ihm mein Gesicht wohl plötzlich erschienen sein mag, und ob ich selber in der Zeit, als ich noch dem Gras zugetan war, dieses Kiffergrinsen bemeistern hätte können, das er mit einiger Mühe, aber letztlich doch erfolgreich kontrolliert. Jedenfalls glaube ich mich auf einmal mit seinen Augen zu sehen, einen Mann, der im knttrigem Leinensakko, kragenlosem Hemd und Panama dem Klischeebild eines impressionistischen peintre nachzueifern sucht, als ein aus der Zeit gefallener Geck durchaus geeignet, dass man sich darüber amüsiere, und so amüsieren wir uns gegenseitig, ich mich über seine monadische Kifferwelt, er sich über mein Monet'sches Dandytum, während der Verkehrslärm in meinen Ohren allmählich alle Spitzen verliert und sich zu einem entropischen europäischem Rauschen abmildert.

Im Bus Richtung lnnenstadt singt ein Mädchen Adeles Someone like you, ganz in ihren iPod verloren und mitgerissen, eine gute Minute lang weiß sie nicht, dass sie laut zu hören ist, und sie weiß wohl auch nicht, dass ich still dahinschmelze, und dass mir jeder falsche Ton vor Glück und Mitgefühl die Tränen in die Augen treibt. Die Stimme, ohne die Pianobegleitung des Originals, nackt und schutzlos und gebrechlich, in manchen Zeilen eher eine Phantasiesprache als Englisch, manchmal in bloßes Knurren abrutschend, manchmal nicht mehr als ein Quietschen, rührt mich tief an - das ganze verknorkste und flügelverklebte Teenagerelend, das da jault, schlägt einen tiefen Schacht in meine fossilen Seelenteile und lässt einen blubbernden, matschigen Erinnerungsschlamm herausquellen, den ich lange nicht mehr gekostet habe, der mir aber mit einem Mal vorkommt wie der fruchtbarste Erdbrei, den ich mir denken kann, die Peinlichkeiten und Nöte, das Sehnen und die Wut, Verzweiflung und Gier, in einer Dichte, die mich plötzlich erfüllt wie eine lang gereifte und kraftvolle Infusion - nicht gerade der Lindenblütentee und die Madeleine, die Prousts Erinnerung erweckten, aber diesem Erlebnis doch nah verwandt. Ich lasse das alles stumm aufwallen, bewegt und ergriffen, und fast bin ich schon soweit, dass ich zu dem Mädchen gehe und ihr irgendwas sage, ohne zu wissen, was, vielleicht etwas von Brüderlichkeit oder Verständnis oder Wiedererkennen, was alles vollkommen sinnlos und rätselhaft wäre, aber noch bevor mir irgendetwas weniger Abseitiges einfällt, bemerkt das Mädchen plötzlich, dass sie sich vergessen und laut mitgesungen hat, wird trotz ihres dunklen Teints flammrot, packt ihre Tasche und springt grade noch aus dem Bus, als dessen Türen sich soeben schließen, und weg ist sie, eine babyspeckige Fee mit Zahnspange, Hello-Kitty-T-Shirt und Bollerhosen.

Mag dies Erlebnis auch aufrüttelnd gewesen sein, sodass ich gleich zur Feder greifen sollte wie Rousseaus Saint-Preux nach Julies erstem Kuss - als wir im Duo Tapas zu Tisch gehen, verhallt dieser Ruf aus den Sedimenten meiner Seele bald wieder. Nunc est edendum

Ich will nicht schon wieder Speiselisten niederschreiben; darum nur eine Würdigung eines Tellers, vielmehr einer schwarzen Schieferplatte, auf der ein Spieß aus zwei nachgebratenen Pellkartoffeln mit einem Rinderfiletkubus neben einer geschmorten halben Zwiebel auf einem Guacamoleklecks aufragte, Paprikapulver dazu wie hingespritztes Blut, und schwarzes Salz und Schmierer einer tintenfischtintigen Mayonnaise. Es ist ein Bild von Gericht, genauer: eine abstrakte Collage aus Spurensicherungsfotos in einem Hardboiled-Krimi, die von dem Paprikablut über die Schrotkugeln des schwarzen Hawaiisalzes bis zu dem aufgeschnittenen Lamellenfächer der Zwiebel (bei der Sektion des Opfers geknipst) die wesentlichen Elemente des Verbrechens erfasst, einschließlich der tintenschwarzen Gummiabriebstreifen des Fluchtfahrzeugs. Das Ganze zu essen könnte als Vernichtung von Beweismitteln strafbar sein, es aber nicht zu essen, wäre auch ein Verbrechen, also essen wir und reiben das Salzschrot in das tote, rote Fleisch und tupfen das Blut weg und verwischen die Reifenspuren, und als wir fertig sind, ist der Teller so sauber, dass die KT ziemliche Schwierigkeiten haben würde, da noch etwas Gerichtsverwertbares zu finden.

Ist es ein Zufall, dass wir nach einem langen Gang durch die Stadt an der Arena landen? Wohl kaum. Wir haben Blut geleckt und wollen mehr Blut. 

Die Real Maestranza, nach Las Ventas in Madrid die größte Stierkampfarena Spaniens, wirkt von außen allerdings fast kindlich. Das Hauptportal mag man sich als eine Art von Papageienkopf vorstellen: die roten Tore, die den Schnabel abgeben, sind gelb gerahmt, und die Fenster über den Wangen der Frontfassade ähneln kreisrund glotzenden Augen mit gelbem Lidschatten. Es ist ein Hausgesicht wie mit Lego zusammengesteckt, harmlos und kindgerecht. Die durchbrochenen Geländer und gelb gerahmten Arkadenbögen im oberen Umgang sehen sehr patissierhaft aus, Baiser und helles Karamell, und niemand würde bei diesem Anblick sogleich daran denken, dass im Inneren dieser sahneweißen Torte jede Woche fässerweise Blut vergossen wird.

Juan José Padilla wurde hier die selten gewährte Auszeichnung gewährt, bei einer Corrida den Stieren insgesamt drei Ohren abzuschneiden. Sowas kommt in die Annalen des Stierkampfs. Seit zwei Jahrzehnten wurde in Sevilla keinem anderen Matador diese Ehre zuteil. Padillas Beiname El Pirata ist dem Unfall geschuldet, der ihn ein Auge kostete, als ein Stier es mit der Hornspitze ausstach. Padilla ist links blind, links taub, fühlt links nichts mehr, doch er kämpft weiter wie Käptn Ahab: ein Mann von wahrhaft mythischem Format.

Der Frau, die uns durch die Ränge und die Museumsgelasse leitet, bebt die Stimme, als sie davon erzählt. Sie ist nicht die einzige Verehrerin dieses Helden; schon letztes Jahr haben wir mehrfach Frauen den Ruhm Padillas singen hören, was recht erstaunlich ist angesichts dieses grausig zugerichteten Mannes, dem das Stierhorn nicht nur das Auge ausgestochen, sondern auch Jochbein und Kieferknochen zermalmt hat; selbst seine Zunge musste mit Haut geflickt werden. Doch das torear gibt er nicht auf; als ich diese Zeilen schreibe, ist es keinen Monat her, dass er in Saragossa von einem Stierhorn erwischt wurde, das hinter der Augenklappe nach einem Auge suchte. Der Stier trampelte ihn nieder, 650 Kilo auf zwei kaum bierdeckelgroßen Vorderhufen. Padilla wurde von Helfern weggezogen, hinter der Bande verarztet, und stand nach wenigen Minuten wieder auf dem Sand, um Rache an der schwarzen Bestie zu nehmen. Auch Padilla wird sein Porträt im Museum bekommen, goldgerahmt und in Öl, neben den Romeros und Pepe-Hillo, dem hier ein beängstigendes Bild gewidmet ist, ein Mann, der mit Irrsinn in den weit aufgerissenen Augen und einer grotesk hermaphroditischen, roten Schleife im Haar auf einem Stier reitet, der schwarz wie Teer ist, und unter der verdunkelten Firnis und den Krakelüren kaum zu erkennen, auf dem schreckerregenden Weg in den Tod, alle beide.

Am nächsten Morgen wandern wir zum Flamenco-Museum im Barrio Santa Cruz, wo es viel Folklore gibt und wenig Aufklärung, eine ganze Menge farbenprächtiger Paraphernalia, aber nichts, das die Säume der Flamencokleider lüpft, um zu sehen, was darunter ist; nichts, das den symbolischen und volkskundlichen Schoß des Tanzes offenlegte. Ich hatte einen Aufsatz von Lévi-Strauss erhofft, und bekomme nur Bilderstrecken aus der Gala. Das amüsiert zwar, belehrt aber nicht. Gottsched wäre enttäuscht; ich bin es auch. Da mein Wissensdurst ungestillt bleibt, verlege ich mich danach auf die Stillung des anderen, des leiblichen Dursts, und bin nach zwei cañas auch wieder bereit, die Fassaden und Kirchen des Viertels zu bewundern. Die Kirchen indes sind hier oft von hutzeligen Weibchen okkupiert, die ihre Rosenkränze kneten und andächtige Gebete murmeln, sodass wir nur zu leicht davor zurückscheuen, die Friese und Retabeln zu diskutieren, und ich frage mich, ob solche Gotteshäuser nicht gesonderte Nutzungszeiten haben sollten, die den Gläubigen die frühen Morgenstunden zuweisen, etwa von sieben bis neun, um spirituell für den Tag, und dann wieder von acht Uhr abends bis Mitternacht, um für die Nacht gerüstet zu sein; tagsüber wären die die Kirchen dann frei für beflissene Touristen wie mich, die lieber über Gotik sprechen als mit Gott.

Ein Hutladen zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Schaufenster sind voll mit klassisch andalusischen Sombreros - flache runde Krempe, die Krone rund und eben wie ein Topf -, aber auch mit allerlei spanischen Trachtenutensilien vom Poncho über Reitanzüge, Bauchbinden, Sitzkissen für die Arena, Lederstiefeln und schweren Ledergamaschen. Mein eigener brauner Filzhut ist zuhause bei der Überarbeitung verhunzt worden; wenn es regnet, läuft mir das Wasser über die vorn einklappende Krempe gradewegs auf die Nase. Hier wäre eine Gelegenheit, sich Ersatz zu verschaffen, und ich finde auch ein bezahlbares und schönes Modell, das allerdings so ausladend ist, dass es eher für einen vollbärtigen und korpulenten Operntenor mit einem wallendem Seidenschal um die empfindliche Kehle taugt, einem Pavarotti auf dem Weg zu La Bohème. Kein Problem, sagt die Verkäuferin, wir beschneiden einfach die Krempe um zwei Zentimeter, in einer halben Stunde ist es erledigt. Wie schön. Wir werden ausgiebig essen gehen und kommen danach wieder, um das gute Stück abzuholen.

Eine Marisco-Bar, die aussieht wie ein Fischladen, weißgetünchte, kaum dekorierte Wände, bis auf ein Azulejo, das eine Herkuleskeule zeigt, die man hier mit dem mir ehrenrührig scheinenden Namen canailla belegt: eine spindelförmige Purpurschnecke, die auf dem langen spitzen Fuß einen stachelbesetzten Korpus trägt, sodass sie einem Morgenstern ähnelt oder eben einer groben, mit Nägeln gespickten Keule. So schlicht die Dekoration der Bar ist, so schlicht ist auch die Küche; der Koch hat nicht viel zu tun, brät große Sardellen, gibt Muscheln in die Brühe, kocht Meeresschnecken, wirft Gambas auf die Plancha. Doch was für Sardellen sind das, was für Muscheln, was für Garnelen! Die Qualität der Ware ist stupend, und solche Garnelen habe ich mein Lebtag lang noch nicht gegessen. Wir haben gelernt, ihre Köpfe auszulutschen oder einfach die rote Flüssigkeit aus dem Schädel zu pressen; es ist der delikateste Teil des Tiers, sein aromatisches Herzblut, und nur, weil wir auch alles andere noch probieren müssen, belassen wir es bei einer bescheidenen Portion davon.

Trotz postprandialer Trägheit wandern wir zur Kathedrale, die bei unserem letzten Besuch wegen der Fronleichnamsfeiern teilweise abgesperrt war. Jetzt nehmen wir uns ausgiebig Zeit, klettern auf die Giralda hinauf, unter der der riesenhafte Kirchenbau mit all seinen Strebebögen und Zinnenkränzen, Schwibbögen und Fialen sich erhebt. Von dort aus sind die Burgmauern des Alcazar zu sehen, das gewaltige Indienarchiv des spanischen Kolonialreichs, das schimmernde Band des Guadalquivir, und da ist auch das Metropol Parasol, die Station, an der wir unseren Spaziergang heute morgen begonnen haben, eine beeindruckende Holzkonstruktion, deren geschwungenes Wabendach auf sechs stämmigen Säulen ruht, was dem Bau den Namen Las Setas - die Pilze - eingetragen hat. Auf Bildern eine höchst elegante und dynamische Überspannung des Platzes, ist er, wenn man sich leibhaftig unter seine Schirme begibt, von beklemmendem Gigantismus und wirkt wie dem Ort brutal aufgestülpt - in seinem Schatten hat mich das Gefühl nicht verlassen, ein riesiger Raubvogel oder ein monströser Flugsaurier breite seine Schwingen über mir aus, bereit, herabzustürzen und mich mit einem Happs zu verschlingen.

In diese Richtung brechen wir nun auf. Es wird Zeit, den Hut abzuholen. Die runde Schachtel, die es dazu gibt, hat eine ingeniöse Kordelkonstruktion, die den Deckel auf dem Korpus hält und es zugleich erlaubt, sich das Ding über die Schulter zu hängen, auch wenn man damit aussieht, als trüge man ein eigens erfundenes, türkisblaues Verkehrssschild mit dem stilisierten Profil eines Hutträgers herum, das nachfolgende Passanten zu besonderer Rücksichtnahme auffordert, wie Bitte nicht zu dicht auffahren!  oder Vorsicht, enthält gefährlichen Ersatzkopf!


Rio Tinto, Aracena

Am nächsten Tag geht es weiter nach Westen. Unser Ziel ist ja eigentlich Portugal - hab ich das eigentlich schon erwähnt? 

Bald verändert sich die Landschaft. Die weiten Ackerflächen des Guadalquivirbeckens wandeln sich zu Dehesas, den baumbestandenen Weiden, die um diese Jahreszeit frühlingshaft mit Blüten betuscht sind, allerdings nicht überall: der Frühling folgt sehr ungleichmäßigen Kurven, vermutlich den Schleifen und Auswölbungen irgendwelcher Isobaren, Isothermen und Isohypsen, sodass in einem Tal die Bäume bereits in vollem Laub stehen, während es kaum einen Kilometer weiter noch ganz zaghaft knospt und die Bäume fröstelig ihre kahlen Äste ausstrecken. Aber in den begünstigten Gegenden blühen schon Schafgarbe und Schopflavendel, Wicke und Zistrose, Klatschmohn und Kornblumenblaues und Löwenmäulchenfleischiges in Rosa bis Violett.

Dann passieren wir, wie im letzten Jahr, die kolossalischen Abraumhalden von Rio Tinto, die im Vorüberfahren so brutal wirken. Doch heute sehe ich, was mir beim letzten Mal entgangen ist: die Vielfalt der Steinfärbungen, diese Schichtung von Braun und Rot, Grau und Schwarz und Weiß und kupfernem Orange, wie mit einer Spachteltechnik dort aufgetragen und ineinanderschraffiert. Grünspanstriemen, Türkis, gelber Glimmer: hier feiert der Stein seinen diskreteren Frühling.

In Aracena besuchen wir die Grutas de las Maravillas, eine Abfolge von Tropfsteinhöhlen, die sich über zwei Kilometer durch die Tiefen winden. Wir machen samt einer Gruppe von spanischen Rentnern die Führung mit, stapfen durch Rinnsale und schlittern über schmierig glatte Pfade; es ist ein Wunder - und von daher rührt wahrscheinlich der Name dieser Wundergrotte - dass sich keine der alten Damen den Oberschenkelhals bricht oder von einer der glitschigen Treppen in den Tod stürzt. Nicht, dass ich der einen oder anderen Frau das nicht wünschen würde (denn einige schnattern unablässig, meckern, quengeln, maulen, und neben Hals- und Beinbruch würde ich besonders einer gönnen, von einem Stalagmiten aufgespießt zu werden, damit sie darauf wie ein Exemplar einer besonders widerwärtigen Motte hier kalziniere). Aber soweit reicht die wundertätige Kraft der Grotte dann doch nicht. Es genügt der Natur, hier großartige Draperien und gewellte Vorhänge aus Kalzit hinzustellen, kristalline Ausblühungen wie an Korallenriffen, Riffelungen, Lamellen: kaldaunenartige Zottenfinessen.

Es fehlen nicht einige Anzüglichkeiten fossiler Art, die den Herrschaften dröhnendes Kegelclubgelächter entlocken, wegen strotzender Felsenphalli und Steintitten, klaffender Vulven aus Kalk; ich will mir gar nicht vorstellen, wie es zugeht, wenn hier Schulklassen durchgeführt werden. Aber ungeachtet dieser Sottisen, die an Vulgarität nicht sparen, spüre ich doch auch, dass eine Wahrheit darin liegt und dass die Erde ihre Genitalien hat, die an Orten wie diesem sichtbar werden, subterrane Mösen und Schwänze und Gebärmütter und Hoden, eine Werkstatt, in der das tätige Schaffen der Welt sich offenbart; ein Koitus von Elementen, der Jahrtausende braucht.

Zeit. Zeit, die ist ein sonderbar Ding, wie die Marschallin im Rosenkavalier singt, so sonderbar, dass hier noch fast Winter ist und ein paar Meter weiter schon Frühling, so sonderbar, dass hier unten in den Grotten ein Tropfstein einen Zentimeter pro Jahrhundert wächst und ein Ibericoschwein in den Dehesas in einem halben Jahr einen Meter Höhe erreicht.

Aracena ist eins der Zentren der spanischen Schinkenproduktion. Man hat dem jamon hier auch ein Museum gewidmet, in dem wir viel über die Dehesas, die Nahrungsgewohnheiten, Körperbau, Züchtung des cerdo ibérico erfahren (und das Meiste davon gleich wieder vergessen). Immerhin taugt das Museum als Appetitanreger; die Aufrisszeichnungen der Anatomie und der Schlachtzuschnitte der Tiere haben meinen Speichelfluss kräftig in Gang gebracht. Und was für ein Zufall: als wir zu Mittag einkehren, entdecke ich etwas Unbekanntes auf der Tafel, castañuelas, und der Kellner, der weiß, wie man sich mit Spanischradebrechern unterhalten muss, erklärt mir, zur Illustration auf seine Halslymphen piekend und mit feuchter Zunge schlabbernd, das seien die Speicheldrüsen des Schweins, muy ricco, se hacen alla plancha, sehr lecker, werden gebraten, und natürlich will ich als Innereienaficionado sowas probieren. Allmählich nähere ich mich dem Punkt, an dem mir zur Vollendung meiner kulinarischen Forschungsreisen durch den Tierkörper nur noch gegarter Schließmuskel fehlt, und vielleicht sautierte Augen.

Die Augen bekommen wir nachher. Na gut: symbolisch, aber wir bekommmen sie. Ein Teller Waldpilze, die hier nicht nur im Herbst Saison haben, sondern auch im Frühjahr, gebraten und dann reichlich mit Öl übergossen. Am Tellerrand sind in cartesianischer Präzision vier Wachtelspiegeleier angerichtet, und jede gelbe Iris trägt in der Mitte eine schwarze Balsamicopupille und glotzt halb beängstigend, halb selbst verschreckt den Esser an. Nur in der Mitte des Tellers - dem cartesianischen Nullpunkt - ist das Lid des Spiegeleis geschlossen - einmal auf der Plancha gewendet und weißgeronnen - und statt der punktgenauen, schwarzglänzenden Pupillen ist hier schwarzes Salz zu schrotigen Tränensplittern darübergesprenkelt. Wenn ich Rätselbilder konstruierte, hätte ich diesen Teller nicht tiefsinniger gestalten können, und dass das zerfließende Eigelb mit den Pilzen auch auf der Zunge bestens harmoniert, verleiht dem Enigma einen fast musikalisch genießbaren Charakter. 

Oberhalb von Almonaster la Real kennen wir einen schönen Platz, um Abend und Nacht dort zuzubringen. Aber es wird bald merklich kühl dort oben. Liegt's nur an der Höhe über Null, an Isohypsen und Isobaren, oder ist das ein veritabler Wetterumschwung? Die Bergzüge der Sierra Morena, die sich vor uns erstrecken, verlaufen sich in trübem Grau. Kaum ist es dunkel, werden drunten im Dorf Böller gezündet und Raketen. Der Ort wird von Lichteruptionen erschüttert und durchgeschüttelt; wir sehen ein zittriges und rüdes Pulsieren, das über das Dorf herfällt. Morgen ist Christi Himmelfahrt, und die Glocke aus Licht, die dort unten aufgespannt wird und pocht, ist wie das strahlende Aufbegehren des Messias gegen seine Erdenschwere.


Nordwärts. Burgos, San Sebastian, Pays basque. Bayonne

Gegen drei Uhr nachts weckt uns dann der Regen, der schwer auf das Dach eintrommelt. Als der Tag anbricht, prasselt er immer noch nieder, wäscht ab die Schönheit der Welt. Wir sind nirgendwo, im schäumenden Nichts. Um acht konsultiere ich den Wetterbericht im Handy. Für die gesamte iberische Insel ist eine gute Woche lang Regen gemeldet, Stürme über Portugal, Dauerregen über Spanien. Wir sehen zu, von der Grasnarbe wegzukommen, auf der wir stehen; sie weicht allmählich durch, verschlammt, suppt zu. Noch eine Stunde solchen Regens, und wir werden im Matsch versinken und nie wieder rauskommen. Ich sehe schnell zu, uns auf festen Grund zu bringen, und tue das vermutlich grade noch zur rechten Zeit, denn die Reifen schlabbern schon in der Erde herum und graben schmatzend tiefe Spuren ein. Wir brauchen keine fünf Minuten, um zu entscheiden, was zu tun ist. Zoomen die Wetterapp auf Europaformat und klicken uns durch die Tagesprognosen. Wenn wir uns vor anderthalbwöchigem Starkregen in Sicherheit bringen wollen, müssen wir auf jeden Fall über den Pyrenäenkamm. 

Schon sind wir auf der Straße und paddeln nordwärts, durch Waschlappenschläge von Regen und grobe Böen, die über die Steineichenhaine und Täler der Extremadura fegen. Zafra, Merida, Cáceres bleiben heute nur Namen auf den Autobahnschildern, kaum zu lesen hinter dem hastigen Schlag der Wischerblätter. Bei Plasencia, wo es eine kurze Regenpause gibt, halten wir auf einen Happen, dann weiter vorüber an Salamanca, Tordesillas, Valladolid. Abends um sechs kommen wir in Burgos an, wo es noch trocken ist, aber über der Stadt liegt schon ein grauer Wolkenschleier, in den die tiefschwarzen Keime baldiger Regengüsse eingestickt sind. Wir können grade einen Aperitiv am Paseo nehmen und später ein paar Pinchos in der Calle de San Lorenzo, bevor auch hier der Regen kommt.

Das Vormittagslicht, das hie und da durch die Wolken bricht, lässt manchmal fast übernatürliche Grüntöne aus den Fluren des Rioja aufstrahlen, Seladon und Smaragd, Grünspan und Neon. Die Wölbungen und Wellen der Hügel sind manchmal von fast unverschämter haptischer Erotik; man möchte mit der Hand über diese Kurven und Furchen streichen, die nicht üppig sind, sondern eher mädchenhaft, schlank, von keuscher Zurückhaltung. 

Hinter Vittoria geht es dann durch schroffes Bergland auf San Sebastian zu; das Chauffieren wird merklich anstrengender, was nicht nur der kurvigen Strecke geschuldet ist, sondern auch dem dichteren Straßennetz; der Weg wird komplizierter. Das hat auch damit zu tun, dass die Schilderdichte hier im Baskenland um einiges höher ist als in Spanien üblich. Zudem sind die Schilder nun zweisprachig, was es zusätzlich erschwert, sich schnell zurechtzufinden; ich gewinne fast den Eindruck, dass die Basken sich nicht nur hinter Bergen, sondern auch hinter ihren Schildern verschanzen - ein Eindruck, den die baskische Schrift mit all ihren X'en und T's und Z's noch verstärkt: Etxabarri und Eskoriatza und Askarruntz. Schon die Ortsnamen lesen sich wie Wehranlagen aus Zinnen und Zacken und Panzersperren.

San Sebastian allerdings ist alles andere als abweisend. Man spürt, dass es nicht mehr weit zur Grenze ist. Oder denke ich das nur, weil auch der Namenspatron der Stadt in gewisser Weise eine Grenzfigur ist? Die Skulpturen und Bilder des Geiligen Sebastian zeigen fast immer einen schönen, nahezu nackten Jüngling, begehrenswert sicherlich nicht nur Frauen, sondern auch für Männer, die an nackten Knaben Gefallen finden. Seine Darstellungen sind oft deutlich homoerotisch getönt - am Unverblümtesten wohl bei der aus Guido Renis Pinsel - wozu sicher beiträgt, dass Sebastian die Pfeile, die seinen Leib durchbohren, fast zu genießen scheint und sein Körper sich oft windet wie in orgasmischen Entzücken, das ihm nach dem überkommenen Geschlechterverständnis eher weibliche und passive Züge verleiht und an eine Frau denken lässt, die sich weich und erschauernd ihrem lustvollen Höhepunkt hingibt. In Sebastian treffen sich Weibliches und Männliches, Lust und Schmerz, Geilheit und Tod: eine Figur, die durch das Zusammenfallen von Gegensätzen fasziniert.

Es ist ein Zufall, dass wir, noch bevor wir mit irgendjemandem ein Wort gewechselt haben, am Zurriola-Strand hinter einer langhaarigen und neoprenbekleideten Gestalt hergehen, die ein Surfbrett unter dem Arm trägt. Dagmar sagt: "Der Kerl hat aber einen ganz schön weiblichen Gang", während ich in genau diesem Moment denke, wie burschikos doch diese junge Frau hier dahinstapft. Es ist ein Schwellen- und Übergangswesen: bevor wir uns Aufklärung verschaffen können, läuft das Neopren auf das Wasser zu und verschwindet im Schaum.

In der Altstadt wimmelt es von Franzosen: anders als in Spanien ist Christi Himmelfahrt in Frankreich - der Kirche ältester Tochter - offizieller Feiertag, und die Franzosen nutzen das gern für ein langes Wochenende, um über die Grenze zu fahren und in den Bars der Stadt über die reiche Palette der Pinchos herzufallen. Manchmal tun sie das durchaus mit der Attitüde einer Herrenrasse, die sich herablässt, den inferioren Nachbarn einen gnädigen Besuch abzustatten, und die Kellner werden bisweilen mit einer dreisten Arroganz herangepfiffen, die mich unangehm berühren würde, wenn diese nicht so souverän wären, nicht nur jede Unverschämtheit, sondern auch jeden Unverschämten zu ignorieren.

Die Pinchos sind atemberaubend in ihrer Vielfalt, ihrer Kombinationslust und ihrem Vergnügen am Dekor, aber ich habe mir vorgenommen, nicht andauernd vom Essen zu sprechen und ermüdende Listen des Thekenangebots zu erstellen. Geschrieben - um einen flügge gewordenen Satz Roland Barthes' abzuwandeln - schmecken Speisen nicht, und deswegen sollte ich davon schweigen. Mal sehen, wie lange ich das durchhalte.

Doch auch in San Sebastian ballen sich nun immer dunkler die Wolken zusammen. Die Concha-Bucht wird zum Kessel, in dem finstere Dämpfe ausgekocht werden, Rappenhälse und -mähnen, düstere Wolkenbäuche, schwarz aufgebauschte Schweife. Auch das fin-de-siècle-Karussell im Strandpark kann nicht mehr dagegen anrennen, die galoppierenden, goldgeschirrten Schimmel und die Schwäne drehen sich vergebens in ihrer Mühle: der Regen wird kommen.

In der naiven Annahme, die Pyrenäen bildeten irgendeinen Schutzschild und eine Grenze gegen das schlechte Wetter fahren wir weiter gen Nordosten nach Frankreich, passieren St-Jean-de-Luz und landen schließlich auf einem Campingpatz im baskischen Hinterland. 

Der Patron heißt Peyo, hat kornblumenblaue Augen und ein Herz, das so groß ist, dass jeder Versuch, Ordnung zu halten, zwangläufig scheitern muss. Über seinen Campingplatz strolchen Ziegen, fressen junge Triebe und kötteln überall hin. Der Hund des Hauses scheint so eng mit den Ziegen aufgewachsen, dass er sich - abgesehen von seinen Nahrungs- und Hygienegewohnheiten - selbst wie eine benimmt, zutraulich, ein wenig neugierig und verspielt. Nur das Blöken bekommt er nicht hin und hat sich darum auf eine Art von Quietschen und Brummeln verlegt, das seine caprinen Spielgefährten nicht verschreckt.

Vor den terassierten Hängen dehnt sich etwas wie ein baskischer Regenwald, strotzend vor Nässe und Saft. Auch Mimosen und weitläufige Bambusgesträuche sind darunter, die der Aussicht eine fast tropische Atmosphäre verleihen könnten, wenn es dafür nicht doch bald zu kühl würde.

Bayonne. Wir stellen das Auto außerhalb des Vaubanschen Forts ab, das heute weitgehend in Parks umgewandelt ist: aus den alten Glacis hat man Wandelgänge gemacht, aus den Kronwerken Boskette und aus den Remparts Rabatten. Die einst so wehrhafte Stadt ist ein Blumenkind geworden.

Heute wird das Fest der Schokolade begangen. Patissiers bereiten unter den Arkaden Pralinen zu, Kinder dürfen mit dem Palettenmesser Glasuren verstreichen und flüssige Schokolade in Förmchen gießen, es gibt ausladende Schokoladenskulpturen und Vitrinen von einem Dutzend Meter Länge mit süßem Zeug in allen erdenklichen Farben und Formen. Sogar der Gott der Schokolade selbst läuft durch die Gassen; er wird von ein paar im baskischen Rot-Weiß-Grün gekleideten Musikanten begleitet (Akkordeon, Tamburin, Flöte), hat selbst kein Instrument, sondern nur ein befranstes Kostüm, eine Hakenkeule (vielleicht die archaische Vorform des Patissierspatels) und trägt eine aztekisch anmutende, hohe Kegelmütze auf dem Kopf, und ich frage mich, ob die Basken damit nicht nur der südamerikanischen Herkunft der Schokolade, sondern auch all jener Völker, welche die garstigen Spanier unterworfen und fast ausgelöscht haben, gedenken wollen, um ihre eigene, sich stets bedroht fühlende baskische Kultur zu stärken. Mag sein, dass die Basken ihre Gründe haben, ihre Kultur so entschlossen zu verteidigen; dennoch erscheint mir dieses Beharren auf ihrer Volksidentität ein wenig obsessiv. Wir sind auf der Fahrt vom Campingplatz hinunter an den Adour nicht nur einmal an Hartriegelhecken vorübergekommen, die abwechselnd in patriotischem Grün und Rot gefärbt waren, und Anwesen umgaben, deren Balken und Simse ebenfalls mit diesen baskischen Farben eingelassen waren. Selbst Altglascontainer werden manchmal mit dem Lauburu bemalt, dem baskischen Kreuz, das an eine Swastika erinnert, bei dem die rechtwinkligen Haken durch kommaartig gerundete Ausleger geformt sind. Auch sonst herrscht an Bekundungen stolzen und bisweilen auch kämpferischen Baskentums kein Mangel. An Mauern gesprühte Slogans wirken wie Graffitis, die nachts von maskierten Partisanen angebracht werden, und die Vorstellung liegt nahe, dass nächtens Suchscheinwerfer des despotischen und baskenfeindlichen Terrorregimes die Dörfer bestreichen, die Franzosenbullen Razzien abhalten, die Türen eintreten und dann gleich blindlings um sich ballern, Männer und Frauen foltern, und man tagsüber Kinder, denen ein baskisches Wort entschlüpft ist, sofort in Umerziehungscamps verfrachtet, sodass sie ihre Eltern nie wiedersehen werden.

Es ist nur merkwürdig, dass das baskische Museum in Bayonne keine dieser Szenen, die ich mir so ausmale, im Repertoire hat. Es ist einfach ein betuliches Folkloremuseum voller Grabstöcke und Pflüge, Truhen, Dreschflegel, Forken. Steine und hölzerne Gerätschaften stehen herum, man erfährt einiges über die baskische Seefahrt, baskische Tänze und Spiele, doch kaum etwas über die Verfemung und Unterdrückung baskischer Gebräuche oder der baskischen Sprache. Noch erstaunlicher ist der Umstand, dass die historischen Relikte dieses Volks, das so stolz auf seine Identität ist und so beharrlich seine Einzigartigkeit verteidigt, eigentlich nicht viel anders aussehen als in anderen Gegenden Europas auch. Die meisten Exponate könnten auch in bayrischen Bauernmuseen, bei Sorben und Bretonen, in Kalabrien oder Ungarn herumstehen. Was soll also denn nun so besonders an den Basken sein, dass sie es so verbissen verteidigen?

Espelette, Lac de Saint-Pée

Am nächsten Tag erfahren wir mehr darüber. Auf dem Weg ins Piment-Dorf Espelette passieren wir immer wieder Zufahrten zu irgendwelchen unsichtbaren Parkplätzen, die von Einweisern mit Armbinden bewacht werden. Schilder mit unentzifferbarem euskara lassen ein Großereignis vermuten, also stellen wir den Bus ab und wandern dorthin, wo alle hinwandern. Es ist fast eine halbe Stunde Wegs, bis wir an einem See in der Talmulde anlangen. Große Zelte sind dort aufgeschlagen, Bühnen, Marktstände. Transparente an hohen Gerüsten, von denen Wimpel und Banner wehen.

Ich frage einen Helfer, der eine Wegkreuzung betreut, worum es sich hier eigentlich handele. Es sei ein Fest, sagt er, mit dem ein baskophones Gymnasium finanziert werden soll, und es gebe Musik und Tanz und Essen und Trinken; wir würden uns sicher vergnügen.

Vor dem Eingangsportal stürzen Kinder in Scharen auf die Neuankömmlinge zu und krähen, ihre Spendenbüchsen schüttelnd, grelle Heischerufe hervor. Eine Broschüre, die wir am Eingang bekommen, trumpft mit Zahlen auf: 5 Bühnen, 2500 freiwillige Helfer, 50 000 Besucher. 

Es ist elf Uhr morgens, und das Fest ist noch nicht recht in Gang. Wir tun, was alle tun: wir wandern um den See. An Markständen entlang, die baskische T-Shirts, baskische Bücher, baskische Schlüsselanhänger und baskische Flaschenöffner mit dem baskischen Lauburu verkaufen, auch baskische Seife, baskische Konserven und baskische Charivaris werden feilgeboten, es fehlen eigentlich nur baskische Basketbälle und baskische Bassklarinetten zur Vervollständigung des Sortiments. Das Fest besteht einstweilen fast nur aus solchen Einkaufsangeboten und der Wanderung um den See; eine recht profane Prozession. Doch hoppla: unversehens mischt sich trockenes Geglocke in den Lärmteppich, ein rhythmisches Da-dong, Da-dong, das näherkommt, und dann sehen wir am Ufer strammen Schrittes vier Männer entlangmarschieren, vor deren entschlossenem Drauflos die Menge auseinanderweicht. Die Männer sind in Schaffelle gehüllt; darunter tragen sie weiße Baumwollröcke, schwarze Kniebundhosen und weiße Gamaschen, über denen die schwarzen Senkel ihrer Schuhe kreuzweise die Wade hochgeschnürt sind. Am imponierendsten aber sind ihre hohen und flammbunt bemalten Kegelhüte, die mich an jene kegelförmigen Papiermützen erinnern, die in Kellers Grünem Heinrich die Köpfe der derben Karnevalsgesellen zieren, welche an den heidnischen Fastnachtsbräuchen zu Ehren der animalischen Begierden festhalten, während die Schweizer Bürger die alte Frühlingsfeier der Natur zur aufgeklärten und politischen Propagandaveranstaltung des Tellfests entstellt haben. Hier sehe ich die Brüder dieser alten Heiden, 900 Kilometer von Zürich entfernt, aber doch einer sehr verwandten Tradition entstammend…

Von den mit Adlerfedern gekrönten Kegeln flattern Büschel farbiger Bänder. Ein Ring von geklöppelter Spitze säumt ihre Stirnen, und in der Rechten tragen sie eine Art von Fliegenwisch aus Pferdehaar. Die Männer bewegen sich trotz ihres zügigen Voranschreitens durchaus merkwürdig und stoßen bei jedem Schritt wie in einem angedeuteten Koitus die Hüften voran. Mag sein, dass dieser parabolische Unterleibsschwung nicht lasziv gemeint ist; er hat ja den auf den ersten Blick unverfänglichen Zweck, die beiden ziegeneuterförmigen Glocken, die jedem der Männer hinten auf die Lenden geschnallt sind, rhythmisch zu läuten, da-dong, da-dong. Aber da solch altem Brauchtum fast immer ein Fruchtbarkeitsritus oder Geisteraustreiberei zugrundeliegt, wird es wohl auch hier nicht anders sein. (Obendrein ist auch das Geisteraustreiben ein Versuch, der rachsüchtigen und zerstörerischen Kräfte der Vergangenheit ledig zu werden, um die Erneuerung des Gemeinwesens, der Fluren und der Weiden zu befördern - letztlich handelt es sich bei diesem spirituellen Unkrautjäten auch um nichts anderes als einen Fruchtbarkeitszauber.)

Nach einer Stunde Wanderung begegnen wir den Glockenmännern am gegenüberliegenden Ufer wieder. Ihr Gang hat - anders als der meine - nichts von seiner ausgreifenden Kraft verloren, aber ihre Gesichter sind stark gerötet und sie schwitzen wie die Teufel. Das könnte allerdings auch damit zu tun haben, dass sie grade die Zone der Bier- und Cidretheken passiert haben, an denen auch Patxaran (ein Likör aus Anis und Schlehen) ausgeschenkt wird, der ihre Blicke etwas stier geraten lässt…

Wir sind schon eine Weile hinter einem wandelnden Akkordeonorchester hergelaufen, Mädchen und junge Frauen vor allem, die zusammen mit ein paar alten Leithammeln ostinate Läufe aus ihren Instrumenten melken. Ihr Rhythmus wankt ein wenig, als das Da-Dong, Da-dong der Ziegenmänner naht, aber gleich haben sie sich wieder gefangen und marschieren im Gleichschritt von Beinen und Triolen weiter, die Gesichter noch entschlossener und herber als zuvor. Der aragonesische Musikantenzug, den wir in Valencia gesehen haben, kommt mir in den Sinn - die Frauen dort waren schöne Blüten, lieblich hergerichtet und voller Anmut: Prinzessinnen, um derentwillen solche Züge veranstaltet werden. Von solcher Minne ist hier keine Spur - diese Baskinnen brauchen eigentlich kein Geleit und keine Männereskorte; fest und sicher führen sie den Zug an, mit einem beinah kriegerischem Ingrimm im Blick, der selbst den kaum zehnjährigen Mädchen schon zueigen ist. 

Auf einer Landzunge zur Linken  tut sich ein berückendes Bild auf: eine Feuerrinne von etwa 50 Metern Länge, die von zwei Reihen eiserner Dreifüße eingefasst ist, über die Eisenstangen gelegt sind. Daran baumeln an Haken hekatombenweise Hammelkeulen und andere Fleischstücke, die regelmäßig gewendet werden. Große Holzstöße nahebei lassen vermuten, dass die Feuerrinne noch bis in die Nacht unterhalten werden kann. Die Luft über den Flammen flimmert wie eine Fata Morgana.

Bis die Keulen fertig sind, ist es allerdings noch ein Weilchen hin. Wir müssen uns mit einem schlechtem Solomillo in schlechtem Baguette begnügen, dazu ein Glas Cidre, der aus drei Meter hohen Fässern ausgeschenkt wird. Der Saft kommt in einem weitem Bogen aus dem Hahn, der Zapfkellner hält das Glas in den Kreisbogen des Strahls und serviert. Wenn der Cidre Kohlensäure hatte, hat er sie auf diesem anderthalb Meter langen Flug durch die Luft verloren. Er ist schal, und wenn man etwas wie fruchtigen französischen Cidre erhofft hat, ist man enttäuscht: seine aromatische Enge ähnelt eher dem Äppelwoi als den süffigen Gebräuen des Pays d'Auge. Doch dies hier ist eben nicht Frankreich; dies ist das Baskenland, und auch der Kellner spricht, wie die Leute an vielen anderen Ständen, kein Wort Französisch. Von Zugarramurdi, von Berrizaun, von Altzibar-Karrika jenseits der Grenze kommt man in einer guten halben Stunde nach Saint-Pée alias Senpere.

Vier Männer singen auf einer Bühne baskische Balladen, sehr schmelzend, mit anrührenden harmonischen Reibungen (was die vier Heiden im Grünen Heinrich zu Ehren der schönen Judith übrigens auch getan haben). Eine männliche Gestalt steht mit dem Rücken zu uns vor der Bühne und tut, als ob er dirigiere; doch jede Geste ist falsch, weder Rhythmus noch Dynamik passen im Mindesten zum Gesang. Erst denke ich, dass ein enthusiasmierter Behinderter sich von der Musik mitreißen lässt, aber dann entpuppt sich die Behinderung bloß als betrunkenes Teenagertum; der junge Bursche will sich über den Gesang lustig machen und ist ganz außer sich vor Stolz auf seine armselige Parodie. Das ist ein Misston; etwas Höhnisches und Verächtliches ist da zu spüren, das umso mehr auffällt als die Pflege baskischer Kultur hier derart forciert wird. Doch so billig und dümmlich der Hohn des Teenagers auch wirkt: vielleicht ist auch ein nicht ganz unverständliches Aufbegehren gegen das Übermaß an baskischer Volkstümelei dabei.

Wir kauen unser staubtrockenes Baguette und den Lederlappen darin, und wehmütig denke ich an die katalonische Feria letztes Jahr, wo wir um einiges kultivierter gegessen haben. 

In Céret haben mich auch die lokale Tanzmusik und die Tänze dazu beeindruckt. Die Sardana Kataloniens wird zu einer feingliedrigen Musik getanzt, der Klangkörper des Orchesters ist glattpoliert und von großer Finesse, und der Tanz beruht auf einer sehr rücksichtsvoll aufeinander abgestimmten, kooperativen Einträchtigkeit. Als wir später vor der Hauptbühne stehen und den baskischen Tänzen zusehen, ist wenig von dieser katalonischen Delikatesse zu merken. Die Musik besteht aus einfachen repetitiven Figuren, die hier auch noch von einer Laienkapelle recht unsauber exekutiert werden. Doch sind es vor allem die Tänze, die mir Unbehagen bereiten. Bei den Einzeltänzen schnarrt ein Ansager die Kommandos heraus, wann man sich nach wohin zu wenden oder zu drehen hat, und es hört sich an wie auf dem Exerzierplatz. Bei der Sardana sind die Schrittfolgen verinnerlicht, und der Führer des Reigens begnügt sich für den nicht unkomplizierten Takt mit zarten Andeutungen, wogegen es hier, trotz der simpleren Rhythmik, gröberer Befehle bedarf. Die Sardana ist behutsam und höflich, von liebenswürdiger Bürgerlichkeit. Was aber hier auf der Bühne gespielt wird, ist Freischärlermusik, und die Kommandos des Ansagers sind wie der Versuch, einem disziplinlosen Haufen von Stallknechten ein wenig militärischen Drill beizubringen.

Der Unterschied zwischen den Katalanen und den Basken ist mit Händen zu greifen. Ob wohl die Meere, an deren Küsten sie liegen, etwas zur Ausbildung dieses Unterschieds beigetragen haben? Das Baskenland liegt an der Außenseite Europas, die atlantische Unendlichkeit vor sich, während Katalonien der wimmelnden Innenwelt des mare nostrum zugewandt ist, das seit Menschengedenken von vielen Völkern befahren wird und immer schon die Bühne für Austausch und Begegnung, Handel und Wandel war. Offenheit, Durchmischung und Anverwandlung im Mediterranen, Abschließung und strenges Bewahren der Eigenheiten an der Atlantikküste.

Wir jedenfalls fühlen uns ein wenig als Fremdkörper, und sind es faktisch auch. Als wir schließlich zum Bus zurückwandern, haben von den 1000 Autos, an denen wir vorbeikommen, sicher 800 ein Nummernschild mit der 64 für das Département Pyrénées-Atlantiques, weitere 99 stammen aus den benachbarten Landes, dem Gers oder aus den Hautes-Pyrénées, 99 Spanier sind über die Grenze gekommen; dann sehen wir eine belgische Rostlaube mit einem Lauburu-Aufkleber am Heck. Der Rest sind wir.

Wir treffen den Mann wieder, der uns zu Beginn erklärt hat, was hier gefeiert wird, und kommen mit ihm und seinem Begleiter ins Gespräch. Wir reden lange über die Männer im Schaffell mit den Glocken auf dem Rücken und über bayrische Perchten, alemanische Fastnachtssitten und über die Wilde Jagd, die in den Rauhnächten auch in manchen Gegenden Frankreichs umgeht: Bräuche, deren Gemeinsamkeiten alle Landesgrenzen überschreiten und an uralte Universalien anknüpfen.

Der Mann ist sympathisch und humorvoll, nicht ungebildet. Ich spüre, dass er ein paar freundliche Sticheleien aushält, und erzähle, wie sehr mir als Bayern irgendwann - genauer: nachdem ich Bayern verlassen hatte - die sture Verhocktheit und Identitätstümelei meiner Heimat auf die Nerven gefallen sei, die Abwehr und Geringschätzung, die man dort den Norddeutschen entgegenzubringen pflegte, die forcierte Ausstellung einer Folklore, die sich de facto schon weitgehend überlebt hat. Keine zwei Prozent der Bevölkerung sind noch Bauern, aber bei Festen laufen auch Versicherungsvertreter und Systemadministratoren herum, als kämen sie grad von der Alm. Kaum noch jemand hört privat die bayrische Humtata-Blasmusik, aber bei Festen wird fröhlich in die Tuba gemuht. Da wird ein Bayerntum behauptet, das angesichts der realen Völkervielfalt im Land und auch angesichts der modernen Lebensweise merkwürdig erkünstelt wirkt. Ob die jungen Basken hier nicht auch manchmal die Folklore ihres Volkes als einschnürend und einengend empfänden, als altmodisch und überlebt? Er versteht, was ich meine, doch sei in Bayern die Sache wohl eine andere. Die Basken hätten eine lange Geschichte der Unterdrückung hinter sich; seit Hunderten von Jahren versuche man, ihre Kultur und ihre Sprache auszumerzen. Angesichts dessen wird Folklore zur Selbstbehauptung. Noch als sein Vater zur Schule ging, war die Regel in Kraft, dass dort nicht Baskisch gesprochen werden dürfe. Wer es doch tat, bekam den Schulschlüssel ausgehändigt und musste am nächsten Morgen eine Stunde vor allen anderen dasein, um die Öfen anzuheizen. So versuchten sich die Jungen gegenseitig zu einem baskischen Wort zu verführen: die Muttersprache wurde zum Mittel von Heimtücke und Verrat. Schon seit Ludwig XIV. war es üblich, Lehrer, Verwaltungsbeamte, Polizisten aus ihren Regionen ans andere Ende Frankreichs zu versetzen, um regionale Besonderheiten zu tilgen, das Französische als Einheitssprache zu installieren und alle anderen Sprachen - das Bretonische, das Okzitanische, das Pikardische etc. - zu marginalisieren. Aber es sei wichtig, diesen Reichtum und diese Vielfalt zu erhalten. Das gilt für den Variantenreichtum der Natur ebenso wie für den der Kultur, denn jede Sprache ist eine besondere Sicht der Welt und eine besondere Art, die Welt zu durchdringen und zu klassifizieren und Unterschiede zwischen den Dingen zu machen und Gemeinsamkeiten festzustellen, und das ist doch ein kostbarer Schatz von Individualität. Oder etwa nicht?

Ich bin vollkommen verblüfft, wie knapp er Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie zusammenfasst; noch verblüffter bin ich allerdings, dass er von Humboldt noch nie gehört hat, von eben dem Humboldt, der ein ganzes Buch über die Vasken schrieb und zu den Mitbegründern der baskischen Sprachwissenschaft zählt. Vixente ist ebenfalls verblüfft ob dieser baskologischen Bildungslücke. Er wird sie schließen: versprochen.

Doch dann können wir das Gespräch nicht weiter vertiefen; seine Kollegen rufen ihn zu sich; es hat irgendeinen Unfall gegeben, Verkehrschaos droht, sie brauchen alle Kräfte, um die Umleitungen zu regeln. Die Zeit reicht nur noch, um sich herzlich die Hände zu schütteln, und schon ist er weg, eine neongelbe Ordnerweste zwischen geparktem Blech, und wir gehen zu unserem eigenen Blech und fahren weiter nach Espelette, um dort unsere Piment-Vorräte aufzufüllen.

Abends dann, wieder auf unserem Campingplatz, können wir die Musik von der Hauptbühne des Lac de Saint-Pée hören: dröhnender Überall-und-nirgends-Pop und jubelnde Massen. Diffuse Eruptionen von Licht.


San Sebastian, Elantxobe

Es ist Montag. Eine Katze oder was auch immer hat die Mülltüte aufgerissen, die wir außen am Bus angehängt hatten. Jetzt knabbern die Ziegen an Kronkorken und Papierfetzen, und der ziegenhafte Hund schnuppert nach den Schinkenschwarten.

Wenn wir klug wären, würden wir stracks nach Deutschland zurückfahren, wo sich ein stabiles Hochdruckgebiet eingenistet hat, aber schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier, und um uns in der Sonne zu aalen. 

Zweite Attacke auf Spanien, ein zweites Mal San Sebastian. Das lange Wochenende der Franzosen ist vorüber, jetzt geht es in der Stadt gemächlich zu. In den Bars drohen die Pinchos (nein: Pintxos, allmählich glaube ich, dass es kein baskisches Wort ohne x gibt) einzutrocknen. Aber wir sind ja da, um wenigstens ein bisschen vor dem Verfall zu bewahren, wir retten hier einen zwiebelbestreuselten Seehechtrogen, der aussieht wie eine Mischung aus Gehirnwülsten und einer blassen Fäkalie, dort eine frittierte, mit Ziegenkäse und Schinken gefüllte Artischocke, hartgekochte Eierscheiben auf eingelegten Sardellen und Bratpaprika, doch soviel wie hier zu verrotten droht, können wir gar nicht wegessen.

Danach, bei einem ausgiebigen Bummel durch die Stadt, gehen wir über die Kursaalbrücke, und der Duft, der aus dem Brackwasser des Urumea aufsteigt, ist mit einem Mal atemberaubend. Es riecht nach Jod und Algen, nach Muscheln und Krabben, ein muffiger Grundton mit einer Kopfnote maritimer Frische, und mich springt wie eine voranschnellende Muräne die Sehnsucht an, jetzt gleich an eine unbesiedelte Küste aufzubrechen, um den Geruch von Tang und Salz ohne all die brackigen Beimischungen zu atmen. Ein wunderbarer Plan. Aber dummerweise sind wir kaum aus den Randbezirken der Stadt, als der Himmel sich eintrübt. Bei Itxaspe tauschen wir die Autobahn gegen Küstenstraße und Regen ein. Bald dampft die Welt: unten schäumt Gischt, über die Straße spült Regen, Dunst wallt zwischen den Bäumen die Hänge empor. Binnen weniger Minuten hat es keinen Sinn mehr, weiter durch diesen Brodem zu schlingern. Im Hafenstädtchen Ondarroa halten wir an, um das Ende des Gusses abzuwarten. Das Onda im Ortsnamen hat vermutlich nichts mit dem romanischen Wortstamm für Welle zu tun, er würde aber passen. Die Wogen klatschen an die Mole und bäumen sich steile drei, vier, fünf Meter auf, bevor sie sich vornüber werfen und über die Kistenstapel herfallen, die schon für die Anlandung des morgendlichen Fangs bereitstehen. Wir retten uns zwischen die hohen Häuserkorridore der Stadt. Der bebaubare Grund ist hier knapp; zwischen Meer und Berg ist wenig Platz, darum baut man hoch und eng, und die Häuser stehen wie Riegel gegen die schwappende Flut. 

Die Bar, in der wir abwarten wollen, bis der Sturzregen nachlässt, ist eher ein Sozialclub. Ondulierte alte Damen spielen auf einer grünen Filzunterlage Karten mit den alten Tarotfarben Stab, Schwert, Kelch und Münze. Kelch und Münze haben sie auch in Form von Weinglas und Kleingeld vor sich; die Stäbe sind mit dem Stockgriff über die Stuhllehnen gehängt; ich frage mich nur, wo die Schwerter geblieben sind, doch dann höre ich sie schwatzen, und verstehe, dass sich die Schwerter in Zungen verwandelt haben, die sie nun im klirrendem Diskant ihrer Redegefechte aneinander wetzen. Bei einem café con leche schauen wir durch die Panoramafenster auf die vom Regen genadelte Bucht, die Bäume, an denen der Wind zerrt.

Vor vielen Jahren waren wir bereits einmal an dieser Küste entlanggefahren. Mittags hatten wir in Elantxobe haltgemacht. Im Restaurant am Hafen konnten wir die (baskische und spanische) Speisekarte nicht entziffern; das alte Weibchen, das uns bediente, verstand kein Französisch, kein Englisch, kein Latein, wahrscheinlich überhaupt kein Indogermanisch, also bestellten wir auf gut Glück irgendwas. Das Irgendwas entpuppte sich dann als ganzer Steinbutt, sündteuer (wir hatten nicht begriffen, dass der Preis auf der Karte auf jeweils hundert Gramm gerechnet war, und der Fisch brachte gut seine 800 auf die Waage), aber letztlich war er sein Geld wert. Wir saßen mit Blick auf den Bootshafen, in dem sich von einer Molenzunge eine sehr surreal wirkende Treppe erhob, die in einer Aussichtskanzel endete, eine Art Treppenfreischwinger mit Podest, die den Jachtbesitzern, die ihre schicken Schiffe hier ankern ließen, aus ihrer Villenmöblierung heraus vermutlich ästhetisch vertraut war. Auf dem Treppenpodest sonnte sich ein Gunther-Sachs-Abklatsch, begleitet von seiner Gespielin, die irgendwann nach einem Blick auf die Uhr das Bikini-Oberteil herunterzog und ihre Brüste entblößte, als hätte soeben ihre Schicht begonnen.

Heute sonnt sich dort kein Magnat, der aufgegeilt werden muss. Heute sind im Hafen nur ein Dutzend junger Burschen zugange, die in einem Boot in die Bucht hinausrudern: Training. Ein leuchtrot gekleideter Steuermann führt die Pinne, die Jungs legen sich in die Riemen. Wir sehen ihnen von der Mole aus zu, während wir an einem gemauerten Schrein lehnen, der von einem Metallkruzifix gekrönt wird. Im Schrein war vermutlich einmal ein Heiliger, Petrus etwa als Schutzpatron der Fischer oder Vinzenz von Valencia als der der Seeleute, aber man hat ihn inzwischen durch einen Mülleimer ersetzt, was wahrscheinlich auch praktischer ist, denn der Heilige Vinzenz hat vermutlich noch nie einen Ertrinkenden gerettet, während so ein Mülleimer sicher schon zahllose Raucher vor dem Ungemach bewahrt hat, eine leere Zigarettenschachtel einfach so in die Gegend zu schmeißen.

Das Lokal von ehedem gibt es noch, mittlerweile schick renoviert, und wenn mein Spanisch nicht reicht, kann man mit der jungen Wirtin sogar ein Gesprächsmosaik aus Pidginenglisch und Französisch zusammenpuzzlen. Aber billig wird's auch heute nicht, obwohl wir uns mit dem prächtigen Arm eines Pulpo und einem halben Dutzend Gambas begnügen. 

Draußen versinkt die Bucht in blauen Dämmer; die Freischwingertreppe auf der Mole verwandelt sich im diesigen Licht immer mehr in das Denkmal einer Garnele oder einer Seepferdchenabstraktion.

Die Nacht über regnet es durch; doch am Morgen sind von den Wolken nur noch ein paar Zirren geblieben; weiße Kratzer an der blauen Himmelsschale.


Bermeo, Bilbao, Berrika

Frühstück am Playa de Laga. Das Restaurant am Strand wird für den Sommer ausgepackt; Frauen spritzen die Dreckkrusten, die der Winter dort hinterlassen hat, von den Fenstern, Männer kraxeln über das Dach und suchen nach gesprungenen Ziegeln. Andere holen die Korbsessel aus der Scheune, schütteln Sand aus den Markisenkästen und  machen deren Gelenke gangbar. Ein Traktor hat mit seinen Reifenprofilen dem Strand ein feines Muster eingestickt. Ich setze meine nackten Sohlen in die Leerräume; dann in den Sandstreifen, der von den Wellen überspült und geglättet wird. Als die erste Welle freundlich auf meine Schienbeine trifft, horche ich in mich hinein, ob ein ozeanisches Gefühl in mir aufsteigt. Aber vermutlich verhindert die Sorge, dass meine hochgekrempelten Hosenbeine nass werden könnten, all die tieferen Empfindungen, die Menschen so offenstehen. Ich habe einfach nur nassen Sand zwischen den Zehen.

Der Küstenweg wird vom Riá de Gernika zerschnitten. Wir werden dem Fjord eine Weile südwärts folgen müssen, um überzusetzen. In Ibarrengelu, wo der Fluss ins Meer mündet, halten wir auf einen Kaffee auf der Barterrasse. Ein Traktor zieht seine Bahnen über den Strand, ein Räumgerät angehängt, das die von der letzten Flut angespülten Algenbüschel, die Planken und Gesträuche aufforkt und in seinem Mahlwerk kleinkaut.

Es ist Ebbe; die breite Flußmündung hat einen breiten, braunen Saum aus Schlick und Schlamm, in den Boote gepinnt sind wie Broschen in einen abgewetzen Samtkragen. Erst in Gernika, der heiligen Stadt der Basken, führt eine Brücke über den Fluss. Müssten wir dort einen pietätvollen Halt machen? Vielleicht hätten wir müssen und sollen, aber uns war nicht nach staatstragenden Gesten zumute, die ohnehin niemanden interessieren: die Toten nicht, die Lebenden nicht, und auch die Engel, Rainer Maria, merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zuhaus sind in der vergangenen Welt.

Der Fluss ist gefleckt von grasbewachsenen Inseln, die aussehen wie die Skizze einer Weltkarte, wie sie die Kontinentaldrift eines fernen Tages nötig machen würde. Ich erkenne Bruchstücke des italienischen Stiefels, ein Britannien, das sich Irland fast wieder einverleibt hat, Afrika bis auf einen schmalen Spalt wieder mit Südamerika vereint, das indische Dreieck mit dem Tropfen Sri Lanka von Asien losgerissen und auf Nordamerika zutreibend - eine träumerische Phantasie vom endlosen Wandel eines grimassierenden Erdenantlitzes.

Das Hinterland der Küste ist sehr bäuerlich; eine kleinteilige, hügelige Landwirtschaft mit Bauernhäusern und massiven Gehöften, oft schon trutzig. Es werden hier nicht grade schwere Schneelasten sein, gegen die man sich wappnet, aber der Stürme wird es genug geben, und diese Häuser werden einem jeden standhalten. Sie klammern sich so fest an die Erde wie der Baske an sein Land. Ich denke an Süditalien, die Baracken und schnell hingepfuschten Behausungen dort und die verfallenen und dem Wind preisgegebenen Villen und Wohnblöcke in dieser Weltgegend, die seit Jahrtausenden Völker und Abervölker gesehen hat, Griechen und Normannen, Albaner und Araber, Byzantiner und Vandalen, die das Land besetzten und es wieder verloren, es eroberten und dann wieder verjagt wurden, und in manchen Gegenden dort scheint niemand in den Dörfern zu glauben, dass es sich lohnt, etwas Bleibendes und Überdauerndes zu errichten. Die baskischen Gehöfte aber strahlen genau diese Zuversicht aus, die den apulischen, lukanischen, kampanischen so oft fehlt: die Sicherheit, immer schon hier gesiedelt zu haben und bis ans Ende der Zeiten hier zu bleiben.

Die alte Bauweise ist allerdings auch hier auf dem Rückzug; was neu gebaut wird, wirkt schon sehr viel brüchiger und flüchtiger als die traditionelle Architektur. Man fügt sich der Moderne.

Das gilt auch für die Wälder. In Gernika mag man der heiligen Eiche huldigen; aber die Forste im Hinterland und an der Küste sind meist Eukalyptusplantagen. Der Eukalyptus wächst schnell und liefert gutes Holz, braucht allerdings mehr Wasser als dem Boden gut tut, verdrängt das heimische Unterholz und die heimischen Arten, zudem fördert er mit seinen Ölsamen und anderen Unarten die Gefahr von Waldbränden. Der Eukalyptus ist ein schlecht integrierter Fremdling, ja ein Gefährder. Wie er schon aussieht! Die mächtige baskische Eiche ist muskulös und weit ausgreifend, ein Bild von einem Baum. Der Eukalyptus aber, hochgeschossen, schmalschultrig, gescheckt, wirkt mit dieser Rinde, die sich in fasrigen Streifen ablöst und den Stamm mit struppigen Zotteln umgibt, eigentlich immer ungepflegt - er hat etwas Schludriges und Verwahrlostes an sich, und die Haine ähneln oft einem Schindanger voller ausgemergelter Inhaftierter. Das ist die neue Zeit, bestimmt von schnellem Verdienst und verbrannter Erde. Der Eukalyptus ist der Wappenbaum dazu: der hölzerne Paladin von Auspressung, Verwertung und Zerstörung.

Wir halten in Bermeo, einem Hafenstädtchen, in dessen Mitte in ein paar Werften eifrig Boote geschliffen und neu eingelassen werden. Am Quai liegt ein Schiff, das ich als Kogge bezeichnen würde, aber die Nomenklatur von Schiffstypen ist sehr differenziert und nicht grade mein point fort. Es gibt viele gedrechselte Pfosten und Geländer, keinen Mast, aber der fehlt wahrscheinlich nur, weil niemand, der bei Trost ist, sich mit einem solchen Ding noch auf die hohe See wagen würde, und man bei kleinen Ausflugstouren lieber dem Dieselmotor vertraut, der unsichtbar im Schiffsbauch untergebracht ist. Ein wenig ähnelt das Boot dem venezianischen Bucintauro, von dem aus der Doge alljährlich die Serenissima mit der Lagune vermählte, indem er einen Ring ins Wasser warf, aber ich vermute, dass man hier keine solchen bedeutungsvollen Rituale pflegt; wenn's hochkommt, wird allenfalls einmal ein betrunkener Ausflügler über die Reling kotzen.

Ein kleiner Rundgang an der Mole. Die Häuser - jedes in seinem eigenen Farbton - stehen eng zusammengedrängt, fast lückenlos, hintereinandergestaffelt wie eine militärische Phalanx, oder doch eher wie Kinder auf einem Klassenfoto - es ist nicht viel Platz, man muss alle irgendwie aufs Bild kriegen, und jeder muss seine Visage zeigen. Das wirkt wehrhaft und und ist doch zugleich von naiver, fröhlich kolorierter Harmlosigkeit - eine merkwürdige Mischung. Wir setzen uns auf einen frühen blanco und schauen. Schließlich meine ich zu verstehen; die Häuserfront schaut einen an wie jemand, der Angst hat und versucht, mit einem fröhlichen Lächeln gut Wetter zu machen, während der Aggressor bereits mit gezücktem Messer vor ihm steht. Die architektonische Geste ist die eines unterwürfigen Schwanzwedelns. Der Ort macht sich lieb Kind und versucht, als bloßes Spielzeugdorf durchzugehen, damit der böse Pirat das Messer schnell wieder wegsteckt.

Mittags um zwei kommen wir in Bilbao an. Die Stadt ist auf den ersten Blick wenig anziehend, doch wann wären Randzonen von Städten je anziehend? Aber auch im Zentrum stehen die repräsentativen Bauten (von denen es durchaus einige ansehnliche Exemplare gibt) seltsam beliebig herum; Betonbrutalismus neben belle époque, Renaissance neben Stumpfsinn, und auch die Wohnblöcke in den Hügeln, die über einem dekonstruktiven Wald aufragen (der vermutlich ein Parkhaus ist, dessen Betonpfähle als Simulakra von Baumstämmen fungieren, während ein akkurat beschnittener Heckenkranz darüber eine dichte Laubkrone darstellen soll), sind nicht mehr als ein schnell erschöpfter Architektengimmick. Bilbao ist eine vielfach zerbrochene Stadt, geschunden, verhunzt, zusammengeflickt und zu einer bizarren Frankensteinversion von Urbanität montiert, und als wir endlich einen Parkplatz gefunden haben und mit der Metro in die Innenstadt gefahren sind, bestätigt sich der erste Eindruck. Alles ist seltsam verwaist und leer, und wenn einmal mehr Menschen auf der Straße zusammentreffen, dann nur, weil sich hier irgendwelche Wege für Passanten kreuzen. Es ist viel Verkehr, aber wenig Verweilen. Bilbao erscheint mir als eine Art von verbautem Labyrinth oder vielmehr eine Piranesiphantasie nach Art der Carceri, aber ohne dessen pittoreske und albtraumhafte Seite, sondern - und das ist fast noch schlimmer - profan und geheimnislos. 

Das berühmte Guggenheim-Museum von Frank Gehry macht es nicht besser. Der Bau selbst ist atemberaubend mit seiner schimmernden Haut aus Titanschindeln und den geschwungen Formen, die von einer Seite an ein Schiff auf den Wellen erinnern, dann wieder an Hochöfen oder die zusammengeschobenen Gerätschaften eines Chemikers. Jeff Koons' Puppy, dieses riesenhafte und mit Blüten bepflanzte Schoßhündchen, das vor dem Eingang Wache hält, wird glücklicherweise gerade neu begärtnert, sodass uns der Anblick dieser lächerlichen Skulptur der Einrüstung wegen weitgehend erspart bleibt. Koons ist einer jener Künstler, über deren Werke ich lieber nachdenke als sie anzuschauen. Hegel definierte die Kunst als den sinnlichen Schein der Idee. Bei Koons schätze ich meist die Idee, während mir der sinnliche Schein derselben widerwärtig ist; der florale Kitsch hier oder die glänzende Oberfläche bei anderen Werken stößt mich ab, und doch sind Kitsch und Glanz unabdingbare Momente dieser Kunst: eigentlich muss man ihre Häßlichkeit aushalten. Aber ich habe jetzt nun schon einen Gang durch Bilbao ausgehalten, und um meine Nehmerqualitäten ist es nicht mehr so gut bestellt. Wir haben die Bekanntschaft Puppys schon vor 15 Jahren in Avignon gemacht, wo er im Hof des Papstpalasts aufgestellt war - ein überdimensionales Hündchen, größer als je ein heraldischer Löwe, durch Größe bedrohlich, doch durch Niedlichkeit entschärft und verharmlost: die königliche Macht ist depotenziert, in einen bürgerlichen Vorgartenzwerg verwandelt, aber doch riesiger, eindrücklicher, zwingender als es die royalen Löwen je waren. Puppy wäre es wert, einen Aufsatz darüber zu schreiben, unter besonderer Berücksichtigung von Norbert Elias' Prozess der Zivilisation.

Bilbao war bis zum Niedergang der europäischen Stahlindustrie eins ihrer Zentren. Das metallen glänzende Museum ist eine sinnfällige Hommage an diese Epoche. Die gigantischen Skulpturen von Richard Serra im Erdgeschoss musste man freilich von einem Walzwerk in Siegen herstellen lassen, das die Technik beherrschte, Stahlbleche in solch anspruchsvollen Bögen, Wellen und sich verändernden Krümmungsgraden herzustellen. Wir wandern durch diese Gebilde, die vier, fünf Meter hoch über dem Betrachter aufragen, durch sich verengende und wieder weitende Gänge aus rostigem Stahl, durch gegeneinander verschobene Wellen und sich einrollende Spiralen von Wänden, die sich in der Höhe einander entgegenneigen oder zurücktreten. Da sind tonnenförmige Gebilde, die auseinanderzufallen scheinen, Kegelstümpfe, Segmente von Steilkurven, in unterschiedlichen Kurvaturen hintereinandergestaffelt. Die monumentalen Formen wirken auf den ersten Blick eben nur so: monumental, doch diese Räume schauend und spürend zu durchmessen, löst in mir ein geradezu körperliches Flashback der psychedelischen Ausflüge aus, die ich vor langer Zeit unternommen habe; es versetzt mich wieder in dieses flüssig konvulsivische Raumgefühl von damals, dieses Wissen, dass der Raum kein stabiles cartesianisches Gefüge ist, sondern sich falten und umstülpen, sich verdichten und weiten kann, dass er seine eigene Peristaltik und seinen eigenen atmenden Rhythmus hat... Damals war es subjektiv und nur die Wirkung einer säurebeträufelten Oblate oder eines Haschplätzchens auf mein Nervensystem: hier ist es nicht halluziniert, sondern gestaltgeworden und objektiv - ein gewaltiger, elementarer Eindruck.

Die cells von Louise Bourgeois im ersten Stock sind ein starker Kontrast dazu: nach den abstrakten und basalen Wahrnehmungsherausforderungen Serras nun die redselig kleinteiligen und vertrackt verrätselten Installationen der Bourgeois, die gruselig und düster sind, und doch von kaustischem Witz durchzogen: das ist bewegend und auch amüsant, aber mein Hirn läuft ob all der Deutungsarbeit heiß. Aristoteles hielt das Gehirn ja für ein Organ zur Kühlung des Blutes; kann sein, dass er recht hatte, denn das meine verstrahlt entschieden soviel Abwärme wie die Rückseite eines Kühlschranks. Wie schön doch, dass es auch einen Saal mit einer Werkserie von Andy Warhol gibt. Da stellt mein Kopf sofort jede Tätigkeit ein und kühlt in den Warhol'schen Shadows rapide ab. Hier gibt es nichts zu denken, nichts zu finden, nichts zu verarbeiten, hier nichtet es einfach nur ganz herrlich nichtig und so benichtigen wir die Nichtse in wenigen Nichtsuten und sind, kaum dass die Benichtigung vernichtert ist, draußen und erfreuen uns des Restes der Sammlung im obersten Stockwerk bei Immendorf, Baselitz und Anselm Kiefer, die die Kuppel des Baus so besetzt halten wie ein Trupp von Flakhelfern, doch darüber muss ich ein andermal nachdenken...

Wir verschwinden danach schnell aus der Stadt, tauchen in die Metro ab und bei unserem Bus wieder auf, nehmen noch ein Getränk zwischen Hochhauskästen auf einer Betonterrasse, aber dann nichts wie weg. Für uns liegt kein Segen auf dieser Stadt, wir fühlen uns hier nicht wohl. Schon vor vielen Jahren, bei unsererm ersten Versuch, von Frankreich aus nach Spanien vorzustoßen, endete der Versuch hier. Es war zuviel Verstocktes, Abweisendes, Muffiges darin, und dieser Muff hat sich noch immer nicht verflüchtigt. 

Zurück an die Küste. Vormittags haben wir bei Berrika einen schönen Übernachtungsplatz gesichtet, eine mit windgezausten Krüppelkiefern und Picknicktischen bestandene Wiese über der Klippe; dahin fahren wir nun. Mitlerweile hat sich hier eine ganze Menge von Freaks in schrottigen Bussen installiert. Grills dampfen, hier und da wird geklampft. Auch gleich neben uns schrammelt ein belgischer Jüngling ein Jack-Johnson-Stück herunter, dann einen Klon davon und noch einen, und dann wieder von vorn. Die Freaks in ihren Bussen haben alle Familie und sehen zu, dass ihre Kinder einschlafen, das junge Freakpaar neben dem Gitarristen hat ein Zelt aufgeschlagen, um darin was auch immer zu tun, und wir braten ein aus Frankreich mitgebrachtes Tournedo Rossini und Spargel, und essen, manierlich mit Tischdecke und Serviette, an einem der Picknicktische, während die Sonne hinter den Wolken ins Meer taucht und die letzten Wolkenschichten warm aufflammen lässt. Doch bald wird der Wind so unwirsch, dass er dem Gitarristen die Worte von den Lippen reißt und er sich in sein Auto verfügen muss, wofür ich Gott im Himmel danke.  


Castro Urdiales, Santander, Altamira

Wir verlassen das Baskenland gen Westen. Auf der Autobahn verkündet ein großes Schild: Cantabria infinita! Ob die zweitkleinste Provinz Spaniens mit einer solch stolzen Devise den Mund nicht etwas voll nimmt? Doch dieses unendliche Kantabrien zeigt gleich seine Reichtümer vor: durch zwei aufeinander zulaufende Talsenken erblicken wir einen Spalt blauen Meers, eingefasst von Zementwerken, chemischen Fabriken, der prachtvollen Autobahn, Burger-King-Plakaten und anderen riesigen Werbetafeln, und schnell kommt auch ein Berg in Sicht, dreihundert Meter aufragenden Steins, sechs-, siebenhundert Meter breit, der, auf ganzer Breite zernagt und angebrochen, dem Verzehr durch Bagger und Rammen und Sprengmeister preisgegeben ist.

Castro Urdiales allerdings ist ein reizendes Städtchen. Die belle époque-Häuser an der Strandpromenade mit ihren Wintergärten, Pariser Fenstern und beschatteten Balkonen bewahren die Erinnerung an die Zeit, als der Ort ein mondänes Seebad war, und das historische Zentrum am Hafen zeigt, dass es auch in der Renaissance schon einigen Wohlstand gab. Der Hafen wird von einer Kirche überragt, die die Ausmaße einer Kathedrale hat: ein ehrgeiziges Bauwerk mit allerlei gotischen Attributen, wenngleich es eine Gotik ist, die von grobmotorischen Maurern als klobige Trutzburg hochgestemmt wurde. (Die Kunstgeschichte sollte ihre Nomenklatur erweitern und diese Sonderform beispielsweise Klobik nennen.) Nur Teile des Baus versuchen sich an einiger Zierlichkeit, wie die Balustraden, die den Obergaden bekränzen, aber das Meiste bleibt doch eher rustikal, was durch den arg ramponierten, schrundigen Zustand des Steins noch stärker ins Auge fällt. Etwas abseits dieses Burgtempels und nur um weniges kleiner als er erhebt sich eine weitere Burg, noch einfacher in der Anlage, ein bloßer Würfel mit vier Rundtürmen an den Ecken: auf einem davon steht das Leuchtfeuer des Hafens, und wir stehen daneben, als wir über die Bucht blicken und den Möven zusehen, die über die Mauern stolzieren und ihre Schnäbel daran wetzen. Die korallenroten Blütenschöpfe eines Sempervivums, das seine schlanken Stämmchen aus steinernen Nischen streckt, gäben einen prächtigen Kopfschmuck für diese strahlend weißen Vögel ab, deren angelegte Flügel wirken wie ein elegantes silbergraues Gilet.

Mittlerweile hat die Kirche ihre Pforten geöffnet, und was von außen nur ein plumper Versuch gotischer Baukunst war, erscheint innen als recht geschmeidige Spitzbogenarbeit. Nur waren die Schubkräfte der Mauern bei der Aufstockung wohl doch zu groß geworden, sodass man Schwibbögen einziehen musste, die jetzt allzu robust den Raum verstreben und ihm ein wenig die Anmutung eines Schiffsladeraums verleihen, was für eine Hafenkirche ja auch angehen mag. Wahrscheinlich hat sich der Architekt seine ersten Sporen im Bootsbau verdient.

Unten in den Arkaden am Platz sitzt es sich gut vor dem Meson Marinero. Im Aquarium im Fenster regen Hummer ihre Antennen wie Orchesterleiter, die mit langen Taktstöcken ihr letztes Unterwasserballett dirigieren. Bald werden sie nicht mehr in dem kühl sprudelnden Becken sitzen, sondern kopfüber ins kochende Wasser kommen. 

Es ist eine stilvolle Bar: die Gemälde an der Wand, die von einem Georg Grosz-Bewunderer zu stammen scheinen, zeigen noble Festgesellschaften beim Tafeln: Männer in Smoking und Vatermörder, feiste Pfeffersäcke mit Monokel und pomadisiertem Haar lassen sich von ausgemergelten Kellnern in weißen Jacken Hummer und Hühnchen vorlegen, wobei die Kellnerriege zur einen Hälfte aus todtraurigen Lakaien und zur anderen aus durchtriebenen Gaunervisagen besteht, denen man zutraut, dass sie das Tranchierbesteck gleich auch zum Durchschneiden der fetten Bürgergurgeln verwenden. Auf einem anderen Bild fläzen sich breitbeinig drei Herren mit Zylinder beim Aperitiv am Steg, während hinter ihnen ein Schaufelraddampfer durch schlammbraunes Wasser wühlt. Der Maler (und vielleicht auch der Wirt) scheint den hohen Herren hier nicht allzu wohlgesonnen, und ich frage mich, ob zu der Sammlung regulärer Schifferknoten, die auf einer Holztafel ausgestellt sind, wirklich der Henkersknoten gehört - man könnte fast den Eindruck haben, dass dieses halbe Dutzend Rundtörns um die laufende Schlinge eher aus einer anarchistischen Neigung zur Lynchjustiz unter all die braven Palsteks und nautischen Kreuzknoten gemischt ist. Schon beim Schmausen am Tisch sehen diese aufgedunsenen Honoratiorenköpfe ja aus wie garottiert; und sie würden noch dicker anlaufen, wenn der Knoten sich um den Hals zuzieht, und die Leiber darunter im Leeren zappeln und mit den Füßen strampeln. 

Doch wie dem auch sei: das Bier wird hier würdig im Weinglas serviert, und die Tapas sehen so wohlerwogen und sorgfältig zubereitet aus, dass wir leichten Herzens die Regel beseiteschieben, nur dann zu essen, wenn wir auch Hunger haben.

Doch dann - Bier alle, Tapas verkostet - schnell nach Santander, bevor wir uns hier fest einquartieren.

Woran erinnere ich mich in Santander? Nicht an vieles. Vor allem an einen jungen Mann, der in der Fußgängerzone saß und mit der E-Gitarre und aufgedrehtem Verstärker Purple Haze von Hendrix spielte, oder besser gesagt, zwischen endlos erscheinenden Soli immer wieder mal das bekannte Riff einschob, um dann sinnlos weiterzududeln. Die Straße war menschenleer, und wenn ein Passant daherkam, beschleunigte er gleich seinen Schritt, um zügig aus dem infernalischen Lärmkreis zu fliehen. Nur die Freundin des Gitarrero hielt stoisch an dessen Seite aus und las im Kleinen Prinzen, obwohl ein Roman Faulkners passender gewesen wäre: Schall und Wahn.

Wir wandeln durch die Markthalle, wo es gewaltig hässliche Fische gibt, unter dem Drahtstriegel aufstiebende Schuppen, Entenmuscheln, Makrelenschwärme, die auf Eis gestrandet sind, Thunfischscheiben wie rote Menschenmasken (Auge, Nase, Mund, eine grausige Entdeckung), große Sepien, die sich wie frischgeborene Föten, drall und fruchtwasserglänzend, aneinanderkuscheln, umgeben von einem silbrigen Sperma aus Sardinenleibern. Das Licht über den Fischständen ist rötlich wie in einem Bordell, und die Puffmutter, ein fettes, fröhliches Weib, schneidet munter Sardinenköpfe und wichst Schuppen von den Doraden, dass es nur so spritzt... Ein wunderbarer Ort. Aber wir müssen Spanner bleiben: unser Kühlschrank ist noch gut gefüllt, und wir brauchen nichts. Genausowenig brauchen wir irgendwas von dem Markt, der vor der Halle aufgebaut ist. Zigeunerinnen schreien hinter den Auslagen von Socken, BHs, Unterhemden und paillettenbestickten T-Shirts (wie schnell hätte das Fischweib diese Meerjungfrauenschuppen abgefegt!): Venga, mujer, todo barato! Komm her, Frau, alles billig! Ich gehe spröd und keusch durch das Gewühl, die Oberarme fest auf die Taschen gedrückt, in denen Portemonnaie und Telefon sich befinden und das auch weiter sollen. Wir flanieren eine gute Stunde durch die Stadt. Auf dem Rückweg kommen wir wieder an dem Gitarristen vorüber. Er spielt unverdrossen sein Purple Haze, und seine Freundin (der der rote Dunst wahrscheinlich die Sicht verschleiert) ist immer noch nicht fertig mit dem Kleinen Prinzen; aber wir sind fertig mit der Stadt.

Altamira liegt eine gute halbe Stunde entfernt. Seit ich als Kind die Repliken der Höhlenmalereien im Deutschen Museum gesehen habe, sehnte ich mich danach, sie in echt zu sehen. Ein überwältigender Geruch nach frisch geschnittenem Gras empfängt uns am Parkplatz. Wir hätten dort bleiben und unentwegt dieses glückspendende Aroma einsaugen sollen, denn das Museum ist von lachhafter Staubigkeit, und die Malereien mit den neolithischen Stieren sind ebenso eine Replik wie die in München. Im letzten Jahr wäre es die sinnfällige Station einer Reise gewesen, die unter dem Zeichen des Stiers stand. Doch die diesjährige Tour steht unter dem Zeichen des Regens; mit der Dämmerung kommen die Wolken.


Comillas, Santillana del Mar, Carmona, Potes

Der nächste Morgen ist düster. Über Comillas gehen die ersten Tropfen nieder, als wir unsere Schritte zur Villa Quijano lenken, einem Sommerhaus, das Antoni Gaudí für einen reichen Geschäftsmann dieses Namens gebaut hat. Ich bin etwas enttäuscht, als ich erfahre, dass nicht Alonso Quijano - der wahre Name Don Quijotes - ihr Namenspatron ist. Aber die Schrullen des Hidalgo haben dennoch auf den Bau abgefärbt. Gaudí hat eine Mischung aus Mudejarphantasie, Blütenfeenschloss und Lebkuchenhäuschen errichtet, garniert mit Kaminen, die wie steinerne Zahnräder aussehen, und mit einer Unmenge von Sonnenblumenkacheln, die alle Zierbänder und Friese des Hauses bedecken. Wenn man Gaudí vor allem mit seinen eleganten Jugendstilbauten in Barcelona in Verbindung bringt, ist man verblüfft, ein auf den ersten Blick naives und irgendwie pummelig wirkendes Märchenschlösschen vorzufinden, das doch eigentlich nur von einem zöpfetragenden Mädchen so hingebungsvoll mit Prilblumen beklebt worden sein kann. Aber nein, es ist Gaudí selbst gewesen, und schon schnell bemerkt man an der Aufteilung der Räume und an zahllosen Details die anfangs leicht zu übersehende Eleganz des Hauses. So ist in eine schmiedeeiserne Balkonbrüstung geschickt eine Sitzbank eingelassen, die Rolläden der Salonfenster sind ingeniös in den Wänden versteckt, und die Sonne, deren Blumen die Friese schmücken, ist auch in der Anordnung der Zimmer der konstruktive Angelpunkt. Das Haus folgt, wie die Sonnenblume, dem Licht: die Schlafzimmer gehen nach Osten, der Salon öffnet sich zum Abendlicht hin, und der Wintergarten liegt auf der Südseite. Zudem kann ich mir gut vorstellen, dass die üppigen Rhododendrensträucher, wenn sie denn einmal blühen, El Capricho (wie man das Anwesen auch nennt) ganz prachtvoll einrahmen. Noch allerdings blüht hier nichts, und im immer reichlicher strömenden Regen scheinen die Sonnenblumen auf den Fassaden ihre Gesichter missvergnügt zusammenzuziehen. Bah! Es ist nass und so kalt, dass man einen Glassturz über das Gebäude stülpen will, um die armen fröstelnden Sonnenblumen zu schützen. Er würde dem Ganzen noch nicht mal schlecht stehen; eine Tortengabel dazu, und dann ab das Ding in ein Konditorschaufenster.

Wir fahren weiter nach Santillana del Mar. Warum der Ort das Meer im Namen führt, ist nicht ganz klar - es sind noch fünf Kilometer bis zur Küste. Oder sollte Santillana wider Erwarten einfach "fünf Kilometer bis" bedeuten? Das Städtchen ist jedenfalls recht ansehnlich, hat eine schöne und nüchterne romanische Kirche, einen Kreuzgang mit Kapitellen voller Tiere und Bauern, Königen und Fabelwesen. Verschlungenes Flechtwerk aus Stein wechselt mit rangelnden Rittern und Dämonenfratzen ab, Akanthusblätter mit Heiligen und Sündern; wir vergnügen uns lange vor diesen Bildwerken. Ich will vor allem die obszönen Darstellungen sehen, von denen unser Reiseführer gesprochen hat, aber entweder hat sie mittlerweile ein prüder Kanonikus einkassiert, oder mein Verständnis von obszön ist etwas weniger strikt als der des Führers; wir finden nichts, was uns irgendwie anzüglich erschiene, obwohl wir so lange in den Arkaden bleiben, bis der Regen bloßem Niesel weicht und wir uns wieder ins Dorf zwischen Patrizierpaläste aus Sandstein, mit roten Ziegeln gefüllte Fachwerkbauten und weiß getünchte Bürgerhäuser mit dunklen Holzbalkonen wagen. 

Das Museum für die Foltertechniken der Inquisition sparen wir uns; das scheint ein eher jugendliches Publikum anzuziehen, die sich hier ihre Schauer von Lust und Schrecken abholen wollen. 

Dass im Ort keines Zeichens des Gil Blas gedacht wird, den Lesage von hier stammen lässt, ist betrüblich. Andererseits haben die Spanier ja auch genug eigene Schelmenromane. Warum sollten sie einem französischen Nachahmer huldigen?

Wir selbst haben ein eher picaro-untypisches Problem. Der Picaro ist immer hungrig und hat kein Geld. Hunger haben wir jetzt auch, und sogar das Geld dazu. Doch die Menüs der zahlreichen Restaurants kosten und bieten alle eigentlich dasselbe, und wir können uns nicht entscheiden, in welchem wir einkehren könnten. Als wir durch den Ort streunen (pittoresk genug ist er ja), studieren wir jede Speisekarte und lugen durch alle Fenster in die Gaststuben, aber im Prinzip ist es überall gleich. Wie lange geht das so? Eine halbe Stunde, drei Viertel? Wir sind völlig ratlos, und unsere Mägen beginnen allmählich mit der Selbstverdauung. Hierhin? Oder doch dort hinüber? Wir bleiben einfach stehen und zucken mit den Schultern. Bald werden wir an Ort und Stelle vor Entkräftung zusammenbrechen wie Buridans Esel zwischen seinen zwei identischen Heuhaufen. Mit dieser Aussicht schleppen wir uns weiter, dem Bus entgegen, wo der Brotrindenrest von heute morgen lockt. Doch da kommen wir an einem Restaurant vorüber, in dem das Menü einen Euro teurer ist als in allen anderen. Erlöst (endlich ein Unterschied!) treten wir ein und nehmen, grade noch einmal dem Hungertod von der Schippe gesprungen, Platz. 

Es gibt dann freilich auch dort dasselbe wie überall sonst, cocido montañés, den hiesigen, herzhaft schlunzigen Bohneneintopf mit einem Grünkohlverwandten und Chorizo und Blutwurst darin, danach ein Stück Fleisch und einen Flan zum Nachtisch. So weit, so egal. Doch den Unterschied macht die Bedienung, die eine berauschende Schwarze ist, ausladend wie die Göttin Voluptas selbst, wenngleich anfangs schüchtern, aus der aber, sobald sie lacht, eine solch ungebremste Heiterkeit bricht, dass der Speiseraum von warmen Blitzen durchzuckt wird, und diese tropische Entladung haben wir angesichts des draußen erneut niederprasselnden Regens auch dringend nötig. Aber ob diese Aufhitzung genügen wird, um uns auf dem Weg durch die Picos de Europa warm zu halten?

Der Zufall will es, dass wir nun in die Gegend gelangen, in der das Buch mit dem schönen Titel Die berauschende Wirkung von Bilsenkraut spielt, das ich gerade lese. Darin werden zwei Motorradfahrer von einem unerwarteten und bösartigen Unwetter, das mitten im Juli Schnee vom Himmel peitscht, in ein kantabrisches Tal gezwungen, und in dem heruntergekommen Wirtshaus, in dem sie Schutz suchen, entfaltet sich ein absurdes Drama von halluzinativer Slapstickhaftigkeit. Nicht, dass uns Vergleichbares widerfährt, aber ich verstehe sehr gut, warum der Autor diese gottverlassene Gegend als Schauplatz gewählt hat; die vertrauten Mechanismen der Zivilisation sind hier ziemlich außer Kraft gesetzt, und selbst die Staatsmacht, die im Buch bald erscheint, um Ordnung zu schaffen, verfällt schnell der verwirrenden Wirkung des im Kamin köchelnden Hexenpunsches.

Unser Reiseführer hat von dem urtümlichen Ort Carmona gesprochen, in dem auch heute noch Greise vor ihren Häusern hocken und Löffel, Schuhe, Geigen schnitzen, aber als wir durch die Gassen wandern, ist alles verwaist und niemand schnitzt. Nur ein paar Hunde folgen uns murrend durch das Dorf, nein, sie folgen nicht, sie leiten: wir sind Schafe, die in die gewünschte Richtung getrieben werden: raus.

Bald empfängt uns der Desfiladero de la Hermida, eine Schlucht, die von den Wassern der Deva in den Fels gegraben wurde. Die Aufbauten der Lastwagen schrammen haarscharf an den Felsüberhängen vorbei, aber das hindert die Fahrer nicht daran, tapfer auf dem Gaspedal zu bleiben. Das ist für meine Verhältnisse schon tollkühn, aber es gibt immer noch ein paar locos, die es noch waghalsiger treiben, junge Männer mit heckspoilerbewehrten Autos und Motorradfahrer mit Totenkopf- oder stilisierten Stierhörnersignets auf dem Helm, die an Stellen überholen, an denen man ohne ein verbindliches Gelübde an die Heilige Jungfrau besser auf seiner Spur bleibt.

Aber der Weg durch die Schlucht ist langwierig, und wenn man brav hinter jedem trödelnden Wagen hinterherzockelte, käme man nie zur rechten Zeit nach Potes, um ein paar kräftige Gläser Orujo zu nehmen - auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass man den Gasgriff mit derartiger Todesverachtung aufzureißen wagt, wenn man nicht schon vorher einige profunde Schlucke genommen hat.

Orujo wird der Trester der Gegend genannt, er ist rauh und scharf, und wir lernen ihn schnell kennen, als wir uns in einem Laden für's Abendessen eindecken wollen. An der Kasse steht ein früh verfettender junger Mann, der unseren Schafskäse und unsere Chorizo in die Tüte packt, aber dann gleich fragt, ob wir denn ein Schlückchen Orujo probieren wollten, die Spezialität der Gegend, und schon zaubert er eine Flasche hervor und schenkt ein, nicht unbedingt absichtlich großzügig, sondern eher einer gewissen Koordinationsschwäche wegen; darum ist es auch kein Einschenken, sondern ein Einschwappen und Hinschütten, und schneller als man sich's versieht, ist der Becher voll bis an den Rand. ¡Salud! Wir heben die Becher, und schon beginnt der Mann eine Lobrede auf den Schnaps, die er sich bei Rabelais abgeguckt haben muss, er sei heilsam für den Magen, blutbildend, wärmend, ein Antidepressivum, und weil sein Becher schon leer ist, gießt er sich nach, und mir auch gleich, obwohl ich bislang nur genippt habe, aber es ist wohl eine Frage der Selbstachtung, nur dann nachzunehmen, wenn man auch dem Kunden das Glas füllt. Als wir dann eine Flasche aus dem Regal geholt und bezahlt haben, nimmt er sicher noch ein Schnäppsken, um sein erfolgreiches Verkaufsgespräch zu feiern.

Wir stöbern da schon durch die ferreterias des Orts und bewundern all die abgefeimtem Rattenfallen, die Heurechen und Karabinerhaken, die Holzschüsseln und Holzschuhe, die dort von der Decke baumeln. Aber nichts davon brauche ich. Das Einzige, das ich wirklich brauche, ist ein Ladekabel für mein Telefon; meins hat offenbar eine Bruchstelle, aber ich vermute, mit Schnitzmessern und Holzleim wird das nicht zu reparieren sein.

Wir übernachten unterhalb einer Eremitage in den Bergen. Katzen beschleichen die Mauern. Es wäre ein vollkommener Ort, wenn es nicht acht Grad hätte. In der Bergkette gegenüber liegen noch Schneereste in den Kehlungen; Wolkenbänder ziehen traumwandlerisch daran vorüber.


Picos de Europa, Léon, Lugo


Die Fahrt geht durch die Berge der Picos de Europa (jener Berge, die vom Atlantik aus als erstes Anzeichen des Kontinents zu sehen sind) Richtung Leon. Erst sind da noch viele Weiden, auf denen Herden stämmiger, schwarzbrauner Arbeitspferde grasen; hellere Fohlen staksen dazwischen umher, das Fell noch ungeglättet, mit kurzen, krausen Mähnenbüscheln, und Schweifen, die noch nicht schwingen können, sondern nur als zusammengeklebte, struppige Borsten an der Kruppe zappeln wie ein Docht, der nach der Flamme sucht. 

Auch hier bemerken wir, während die geschwungenen Talstraßen sich allmählich zu steileren Serpentinen einfalten, eine starke Ungleichzeitigkeit der Vegetation: da sind Senken, die schon in vollem Laubschmuck stehen, während hundert Meter weiter noch alles kahl ist. Auf der gegenüberliegenden, vom Abendlicht begünstigten Talseite klappen die rostroten Hülle der Knospen gerade erst auf; kaum, dass das grüne Innere hervorblitzt. Höher dann stehen moribunde Steineichen mit grauer, bröseliger Rinden, die von grünspanfarbener Flechte übersponnen sind. Als gespenstische Baum-effigies säumen sie die Straße, und die Flechte sieht aus wie Spinnweb und flusiger Staub, der sich über die Möbel eines verlassenen Spukhauses gelegt hat.

Über den Hängen kreisen ab und zu Habichte und Falken, noch weiter oben dann in Gruppen von sieben, acht, neun Exemplaren Geier. Auf 1600, 1700 Metern Höhe liegt trotz des trüben Wetters manchmal gleißend heller Schnee in Kuhlen; Wolken schleifen über die Hänge und streifen ihre Feuchtigkeit an der Windschutzscheibe ab.

 Jenseits des Passes ändert sich die Vegetation schlagartig: plötzlich dominiert die Kiefer auf nacktem Fels. Der Stein ist nun keine homogene Masse mehr, sondern von der Erosion zu grob kristallenen Strukturen und scharfkantigen Felsnadelbüscheln zerbrochen. Einige Erhebungen bestehen aus nichts als senkrecht aneinandergestaffelten Barren: Jetonstapel auf dem schmutzigen Roulettefilz der Erdgeschichte.

Im Hochtal halten Narzissen ihre Blütenkelche offen, aber die Kronblätter hängen erschöpft und regenschwer herunter. Der Frühling ist hier kein heiteres Aufprangen, sondern Kampf und Mühsal; auch für die Rinder. Auf dem Weg nach Boca de Huérgano stehen die Tiere knietief in Schlamm und Geröll. Als wir ans Gatter gehen, schauen sie uns misstrauisch an. Es wirkt wie ein Gulag: ein bovines Straflager.

Allmählich weitet sich die beklemmende Sierra. Die Embalse de Riaño ist von einem weiten Kranz von Bergkämmen umfangen, der uns aufatmen lässt. Die spanischen Stauseen wirken im Sommer oft krankhaft, wenn das Wasser in seinem hypertroph überschminkten, grellen Türkis mit den parodontotisch ausgezehrten Uferzonen kontrastiert. Jetzt aber, da alles feucht ist, und der See bis an die Ränder gefüllt, heben sich die Berge in stolzer Erhabenheit ab, als hätten sie jeden direkten Kontakt mit den Niederungen gekappt. Man sieht die bloßliegenden Zahnhälse nicht mehr, nicht mehr das Bröckeln der Schminke; Strumpfhalter und wattierte Büstenhaltereinlagen verschwinden nun wieder gnädig unter ihren Abdeckungen. Der Sommer entblößt die Maschinerie, lässt die Seilzüge und Apparate zutage treten, gewährt einen Blick auf das Elend der mechanischen Zusammenhänge; hier aber schließt sich dieser Chorismos zwischen dem Realen und dem Idealen für einen Moment, und die Berge und der See erscheinen mir wie geläutert, in sich, getrennt, klar unterschiedene Reiche ohne jeden Übergang und Zusammenhang. Es ist eine ligne claire, die schattenlose Ordnung schafft: ästhetisch eine starke Versuchung; doch sobald ich darüber nachdenke, sind mir solche Vereinfachungen auch wieder nicht recht.

Léon. Gaudí hat hier in seinen späten Dreißigern die Casa de los Botines erbaut, ein merkwürdiges Stück Neogotik, bei dem die Spitzbogenfenster gleichsam digitalisiert, also von der analogen Rundung tendenziell in ein kleinteiliges Gewürfel von Quadraten überführt wurden: es ist eine Übergangsform, ein architektonischer Quastenflosser - eine Gotik, die dem Bauhaus entgegenrobbt. Gaudís Bau markiert eine Etappe dieser Transformation, doch wie bei solch historischen Wandlungen üblich, gibt es eine Reihe von ungefüg wirkenden Experimenten. Dies hier ist eins davon, und herausgekommen ist etwas, das in manchen Aspekten entfernt an eine aufgeblasene Hupfburg erinnert. Und wie schon in Comillas hat man eine Bronzeskulptur des Architekten vor sein Werk plaziert; diesmal sitzt Gaudí mit einem Zeichenbrett auf den Knien auf einer Bank, den Stift zur Skizze bereit, und wahrscheinlich wartet er darauf, dass seine Enkelin das Köpfchen aus einem der Fenster herausstreckt und dem Opa zuwinkt.

Wir flanieren durch die Stadt, essen an einem Platz mit korallenroten, chrom- und tannengrünen Häusern sepiaschwarze Nudeln und ein Näpfchen coçido madrileño sowie einen Ochsenschwanz, wie ich ihn in solcher aromatischer Dichte irgendwann selber gerne hinbekommen würde. Zum Nachtisch nehmen wir die Kathedrale, die auf der freigeräumten Fläche der Plaza Regla mit all ihren Türmen und Spitzen und feinen Fialen aufragt wie Zuckerwerk auf einem Präsentierteller. Ich habe selten eine Kirche gesehen, die eine solche Batterie von Turmraketen gen Himmel gerichtet hat wie diese - jedenfalls von Südwesten aus wirkt sie ohne allen Rückhalt himmelwärts orientiert. Innen ähnelt sie mehr als jede andere mir bekannte spanische den großen französischen Kathedralen, aber außen unterscheidet sie sich durch das weitgehende Eskamotieren der Strebebögen, mit denen sich die meisten gotischen Kirchen bei all ihrem vertikalen Aufstreben immer noch mit kräftigen Tentakeln an den Nährboden der Erde klammern, als fürchteten sie, sich ganz in die Höhe davonreißen zu lassen. Von dieser bebenden Spannung zwischen Jenseits und Diesseits, diesem Nach-Oben-Sehnen und doch Nach-Unten-Klammern ist hier nichts zu spüren. Man hat die letzten Bande an die Erde gelöst und scheint bereit, ganz und gar ins Jenseits abzuheben: die Kathedrale ist eine Raketenabschussstation, ein entschlossenes ready for take-off ins Empyreum, ohne Erwartung einer anderen Rückkehr als der der Auferstehung. Die Türme stehen wie eine Phalanx kampfbereiter kastilischer Ritter, stolz und aufrecht, in gerader und geschlossener Schlachtordnung. Es ist Kreuzzüglerfanatismus darin zu spüren, ein Fanatismus auch von Zucht und Disziplin. Das ist beeindruckend, aber auch etwas einschüchternd, wenn es mich nicht sogar mit einer gewissen Beängstigung erfüllt.

Doch kaum haben wir die Kirche betreten, wird gleichsam der spirituelle Kern dieses Fanatismus sichtbar; das Feuer, das in solchen Seelen brennt, hat sich an dem Licht entzündet, das durch die ungeheueren Buntglasfenster einströmt und den Raum auf Höhe der Obergaden mit seinem Funkeln und Flimmern erfüllt. Die Fenster, voller Figuren aus der Heilsgeschichte, aus den Legenden, heraldisch, monatsbildlich oder schlicht ornamental, sind leuchtende Verklärungen der Schöpfung, nicht der kreatürlichen, aber der Schöpferkraft Gottes, aus dessen Hand das Licht hervorging und aller Dinge Antlitz. Die Kirche ist groß genug, um mir ein Gefühl von Erhabenheit und Würde einzuflößen, und doch klein genug, um einen Eindruck von Intimität und fast familiärer Fürsorglichkeit zu erwecken, und nun meine ich sogar zu begreifen, warum so viele spanische Kathedralen den weiten Kirchenraum mit einem Retrochor zustellen: hier jedenfalls vermittelt er bei aller Pracht und Größe eine gewisse häusliche Geborgenheit, wie sie auch in dem anrührenden Grabmal des Bischofs Martin zum Ausdruck kommt, wo sich ein Dutzend Mönche liebevoll um den Leichnam schart, um die Exequien zu betreiben oder sich klagend die Augen um den Verblichenen auszuweinen - und so wundert es mich nicht mehr, dass wir beim anschließenden Gang um den ganzen Bau doch den anfangs vermissten Strebebögen  begegnen, welche die Apsis stützen und sie davor bewahren, wie die Türme von Front und Seite sich ganz den Versuchungen himmelklimmender Transzendenz zu weihen.

Es ist Freitagnachmittag, Schulschluss. Auf dem Kathedralvorplatz toben die Kinder in ihren Schuluniformen, bolzen mit Bällen, spielen Fangen oder rutschen einfach auf dem nassen Pflaster herum (denn es hat wieder geregnet), die Mädchen mit Faltenröcken und Kniestrümpfen, und den Eltern ist es scheißegal, wie kalt es ist, wie schmutzig oder wie nass, wie laut das Gekreische ist oder wie grob die Balgereien: sie lassen die Kinder machen und ergötzen sich an dem chaotischen Gewimmel ihrer Blagen. Wir ergötzen uns mit ihnen, und angesichts der kathedralen Raketenbatterie dahinter ergötzen wir uns noch mehr: es gibt kein besseres Antidot gegen die religiöse Strenge dieser Silhouette als anderthalb Schock spielender Kinder.

(Ich frage mich nur, warum sie nicht alle ein paar Schritte tun und zu der Hupfburg wandern, die nur ein paar Meter entfernt liegt, denn Opa Gaudí würde sich gewiss darüber freuen, wenn seine Enkelin Gesellschaft bekäme.)

Die älteren Semester freilich sammeln sich in den Chocolaterien, um ihre porösen Knochen mit Gebäck und heißer Schokolade gegen die Schafskälte zuzupappen. Auch wir erliegen dieser Verlockung von Blätterteig, Konditorcreme und Kakao: die heiße Trinkschokolade ist dick wie geschmolzener Pudding, mit einer Krone aus Schlagsahne versehen, und der Raum dampft von Betriebsamkeit und Geplapper. Das Aroma der Schokolade ist mächtig genug, um gegen den bisweilen stechenden Geruch von Haarspray zu bestehen; nur auf dem Weg zur Theke, wenn man sich an den ondulierten und fliederfarben schimmernden Frisuren der alten Damen vorüberwindet, ziept einem der scharfe Lösungsmittelduft an den Nasenhärchen; aber an der Vitrine bekommt man eine solche Aromenladung von Sahne und Kakao aufs Riechepithel geschmiert, dass die Nase sogleich weich und behaglich zu mümmeln beginnt. 

Wir machen Pläne. Das Wetter wird im ganzen Nordwesten Spaniens nicht angenehm sein, und bei Regen sind Städte allemal dem Land vorzuziehen. Morgen könnten wir in La Coruña sein und den Betrieb eines großen Fischereihafens erleben, sonntags dann in Santiago de Compostela, um zu sehen, wie das große Weihrauchfass in der Kathedrale geschwenkt wird, denn dann ist Pfingsten.

Im Niesel fahren wir los, und bald fällt das Wasser so schwer aus dem Himmel, dass wir von den Montes de León und den Ausläufern der kantabrischen Kordilleren nichts mehr sehen als gebirgiges Wogen. Der Bus ist eine kleine Jolle, die durch schäumende Wellen geworfen wird; schwer zu unterscheiden, ob wir über Festland kreuzen oder unseren Weg durch schwere See nehmen. In Lugo stranden wir, einem Ort, dessen Namen ich dem lateinischen lugubris - trauernd, unheilvoll, dieses Wortfeld - zugeschrieben hätte. In Wahrheit hat es seine Wurzel wohl in einem heiligen Hain (lucus), aber die Geschichte hat den heiligen Hain abgeholzt und nichts als Trauer und Trübsinn übriggelassen. (Lucus a non lucendo? Pah!) Wir schlittern ein wenig über glitschiges Pflaster, retten uns immer dann, wenn der Regen wieder niederstürzt, in Hauseingänge oder in Bars,  in denen ältere Herren an ihren Aperitiven nippen und Tapas knabbern, und als wir selbst unserer Aperitiv genippt und unsere Tapas geknabbert haben, machen wir einen Ausfall aus dieser Stadt mit der massivsten römischen Stadtmauer von ganz Spanien und suchen nach einem Übernachtungsort. Wir enden auf dem Parkplatz des Hospitals, ziehen die Vorhänge zu und lassen uns vom Prasseln des Regens in den Schlaf trommeln. 


La Coruña, Santiago de Compostela


Am Morgen vermeldet das Navi eine Stunde bis La Coruña; wir brauchen fast zwei. Der Regen ist zwischenzeitlich so dicht, dass wir keine dreißig Meter weit sehen und nur noch im Schritttempo vorankommen. Willkommen in Galicien! Der Name heißt auf deutsch: das Land, in dem es gallert.

Wir riechen die Stadt, bevor wir sie sehen. Der Ring von Industrieanlagen, der bald in Sicht kommt, bläst kräftig bitteren Dunst aus; ich hatte Fisch und Meer erwartet, aber die Industrie ist stärker.

Eine erste kaffeedurstige Einkehr gleich an unserem Parkplatz bei Miss Maruja, einem Café, wie ich es in Spanien noch nicht gesehen habe, möbliert mit Canapées vom Sperrmüll und liebevoll auf dem Flohmarkt zusammengesuchten Stühlen. Ein paar Tische bestehen aus aufgebockten, alten Türblättern, noch mit Klinke und Scharnieren, und es stehen prachtvoll bunte Blumensträuße darauf und entzückender Nippes. Es ist nicht die einzige Bar in der Stadt, die mit solchem Sinn für Gemütlichkeit eingerichtet ist. Das lässt einen Rückschluss auf das hier vorherrschende Klima zu; wer es sich so kuschlig macht, handelt in Notwehr gegen die nasskalte Welt des Draußen.

Wir bekommen zu unserem Milchkaffee daumengroße Croissants gereicht, ein Schnapsglas Maracujasaft dazu (wohl als Eselsbrücke, damit sich die Gäste den Namen des Lokals leichter einprägen können), und während wir den Milchschaum schlürfen, schauen wir neidvoll auf die Leute, die sich auf den wippenden Polstern des Sofas breitgemacht haben. Es ist ein Ort zum Schmökern, für lange Gespräche unter Freundinnen, und sicher ist die Bedienung auch behilflich, wenn ein Fläschchen Babymilch warmgemacht werden muss. Es fällt schwer, sich loszureißen, aber wir rufen uns in Erinnerung, dass wir nicht zum Vergnügen hier sind, also gehen wir in den Regen hinaus und erkunden die Stadt, in Schuhen, die schon bald durchgeweicht sind, mit aufgestelltem Mantelkragen, und alle paar Minuten den Kopf nach vorne kippend, um das Wasser von der Hutkrempe ablaufen zu lassen.

Die Stadt ist wohlhabend; ein untrügliches Zeichen dafür ist die große Zahl an obdachlosen Trinkern, die, umschwärmt von ihren Hunden, in Hauseingängen ihre mürrischen und nimmerendenden Feste feiern; in armen Städten bekämen diese Säuferrudel nie genug dafür zusammengebettelt. Eine der Tölen schaut uns erbarmungswürdig an, dreht sich weg und lässt einen suppig hellbraunen Strahl Dünnschiss aufs Pflaster rinnen, der vom Regen schnell weggewaschen wird. 

Kaum hundert Schritte weiter schaue ich in einer der Gassen der Altstadt auf ein Stadtwappen, das ins Pflaster eingelassen ist, herrschaftlich und stolz, ein Schiff und ein Leuchtturm, der den Turm des Herkules an der Nordspitze der Stadt darstellen soll. 

Herkules, so sagt die Legende, hat hier gegen Geryon gekämpft, einen Riesen, dessen drei Leiber an der Hüfte zusammengewachsen waren, ein sechsbeiniges und sechsarmiges Ungeheuer, und wir brauchen nur ein wenig die Gassen entlangzugehen und in die comedores zu schauen - jene Kühlvitrinen, die in Spanien so oft den prospektiven Restaurantgästen einen Blick auf die Produkte gewähren -, um zu verstehen, warum des Herkules Sieg über Geryon zum Sinnbild für diese Fischerstadt taugt. In keinem Comedor fehlen die Oktopusse, diese vielarmigen Kraken, die bald a la gallega paprikabestreut auf den typischen Holzbrettern serviert werden. Die Pulpos haben zwar keine zwölf, sondern nur acht Gliedmaßen, aber sind die galicischen Fischer nicht doch Nachfolger des Herkules, indem sie diese Polypoden bezwingen? In den Comedores werden sie ausgestellt, man stülpt sie mit dem Kopf in ein Glasgefäß, und lässt die Tentakeln wie die Ranken eines Blumengebindes nach außen hängen. Daneben liegen Netzbeutel mit Herzmuscheln, die merkwürdigen Klauenhaufen der Entenmuscheln, die zu Bündeln geschnürten Schwertmuscheln, durch deren Schalenspalten sich das lebendige Fleisch zwängt, Zamburiñas, Gambas, Sardinen, Doraden - wir machen uns mit den Augen schon mal Appetit für später, flanieren aber tapfer weiter zur Plaza Mayor und zur Hafenpromenade, wo vor einen Lastwagenoldtimer mit Tribünenaufbau Tänzer in Tracht versammelt sind und eine Gruppe galicischer Sackpfeifer und Trommler aufspielt. Der Lastwagen gehört dem Bloque nacionalista galego, dessen Signet mit seinem rotem Stern zwar an eine Explosion erinnert, sodass man meinen könnte, es handle sich um eine Terrorbande, doch die Leute auf der Tribüne scheinen eher für ein Kostümfest zurechtgemacht, mit einem Stich ins Hanswursthafte: sie tragen schwarze Anzüge, weiße Hemden mit wallenden Manschetten und Kragen, schwarze Halsschleifen, wie Toulouse-Lautrec sie auf dem Montmartre hatte oder Clowns in der Zirkusmanege, dazu Zylinderhüte; eine adrette junge Frau dazwischen lacht berückend unter ihrer Reiherfeder-Toque und streicht sich mit Spitzenhandschuhen eine Haarsträhne aus der Wange. Sie alle könnten gut das Personal für eine humoristische Dorfoperette abgeben - doch das Wappen auf dem unter ihnen ausgebreiteten Tuch mit dem Schriftzug  "¡Denantes mortos que escravos!" (Lieber tot als Sklave) will nicht so recht dazu passen. Sie irren sich nicht nur mit ihrer Aufmachung in der Epoche, sondern auch mit ihrer Devise. Keiner von ihnen ist Sklave, und niemand würde für sein Vaterland, so süß und ehrenvoll das auch einmal sein mochte, das Leben hingeben. Sie spielen in jeder Hinsicht neunzehntes Jahrhundert, als die Staatsmacht noch mit Bajonetten aufs aufrührerische Volk einstach oder die Revoluzzer füsilierte, und das Volk keine andere Wahl hatte als Paläste und Parlamente mit Gewalt zu erstürmen. Heute, im Zeitalter der Vermittlungsausschüsse und Frauenbeauftragten, der Meinungsumfragen und Verfassungsgerichte, sind solche Devisen nur noch theatralisch und von pompöser Lächerlichkeit: nostalgische Revolutionsfolklore.

Ob sie auf ihrem Wagen wohl auch noch ausharren, als der Regen wieder stark niederströmt? Wir ziehen weiter und treffen eine Hochzeitsgesellschaft, die schon arg ramponiert aussieht: all die Seidenkleider sind fleckig, die ausladenden Hüte trotz darübergehaltenen Schirms zerrupft und wie gefleddert, und die Braut, obwohl sie sich redlich um ein Fotografenlächeln bemüht, sieht aus, als liefen ihr die Tränen über die Wangen - ich wünsche ihr, dass es nur der Regen ist, oder dass sie wenigstens bloß um ihr ruiniertes Hochzeitskleid weint und nicht um ein übereilt gegebenes Jawort.

Nach einem langen Rundgang kehren wir im Meson de Pulpo ein: ein Krake liegt in der schon beschriebenen Weise im Comedor, den Kopf in einem Glasgefäß, während die Arme das Glas wie eine rote Krone umkränzen und die Saugnäpfe wie Fassungen wirken, aus denen alle Juwelen herausgebrochen sind.

Man sitzt im Meson auf einfachen Holzbänken ohne Lehne und wird von der Tochter des Hauses umsorgt, einer herzlichen und humorigen Person mit weit auseinanderstehenden Zähnen, was aber erst auf den zweiten Blick auffällt, weil die Lücken allesamt mit Brotkrume aufgefüllt sind; sie hat soviel zu tun, dass sie nur, wenn sie an der Küchenluke steht und die Teller entgegennimmt, schnell einen Bissen Brot abbeißen kann und hastig kaut und zu schlucken versucht, bis sie die Teller serviert.

Nach dem Mittagessen brechen wir nach Santiago de Compostela auf. Morgen ist Pfingsten, und wir fürchten, dass die Kirche dann den Pilgern und Gläubigen vorbehalten ist. 

Doch auch heute schon findet in der Kathedrale eine Zeremonie statt. Ich begreife nicht ganz, worum es bei diesem Weihebrauch mit Standarten und Umgängen geht - aber es ist ja ein Bischof dabei, und der wird wohl schon wissen, wem oder was er da seinen Segen schenkt.

Nach dem Begängnis treiben wir uns eine Weile auf dem Vorplatz herum. Frisch angekommene Pilger machen dort ihre Fotos vom Zieleinlauf, vergleichen ihre Pilgerbücher und die Zahl der gesammelten Stempel; Radpilger, die nicht anders aussehen als profane Rennradfahrer auch, Chinesen, die eine Jakobsmuschel um den Hals tragen und wahrscheinlich doch bloß von einem Reisebus ausgekippt worden sind, keine zehn Minuten Fußmarsch von hier entfernt. Der Kathedralfassade gegenüber steht ein breiter Palast, der nach Rathaus aussieht, und daneben, zwei-, dreihundert Meter zurückgesetzt, erhebt sich in einem bewaldeten Park ein Riesenrad in den Farben des Regenbogens und leuchtet und blinkt mit pinkfarbener Nabe. Das Riesenrad ist vermutlich ein buddhistisches, hinduistisches, jainistisches Symbol: Samsara, das Rad der Leiden, hier von der schleierwebenden Göttin Maya in einen Vergnügungspark verzaubert. Mag sein, dass Santiago einmal ein Ziel für strenge Christenpilger war; aber heute muss man kein Christ mehr sein, um an dieser spirituellen Aura zu schnuppern; der Zauber des Ortes umgreift die Frommen aller Couleur, Leute, die ans Wandern, und solche, die an Wunder glauben, Pedaleure und Esoteriker, Tour- und Taoisten... 

Verzaubert ist wahrscheinlich auch der Straßenmusikant, der vor dem Portal der Kathedrale zum Playback seines Ghettoblasters die Blockflöte bedient. Ach, von wegen wahrscheinlich! Ganz gewiss ist er verzaubert, denn jemand, der so misstönende Harmonien produziert, muss unter dem Einfluss höherer, wenn auch in diesem Fall unheilvoller Mächte stehen. Doch welch merkwürdige Koinzidenz! Grade, als er ein neues Stück anstimmt, strömen die Gläubigen aus der Kirche, ganz, als hätte er sie mit seinem unbeholfenen Gepfeife angelockt wie der Rattenfänger von Hameln das Ungeziefer und später die Kinder, und ich stelle mir mit einigem Vergnügen vor, wie er die Masse hinter sich herzieht, in einen Berg führt und dann erst, wie die Legende will, in Siebenbürgen wieder mit seinem Anhang hervorkommt. 

Die Kathedrale ist jetzt zur Besichtigung frei; da durchforschen wir doch lieber den gewaltigen Tempel als einer verhexenden Pfeife wie dieser zu lauschen.

Die Kirche, die wir nun von neuem betreten, beschreiben zu wollen, hat wenig Sinn. Sie ist zu groß, zu vielfältig, zu disparat, um ihre Essenz zu fassen, und wollte ich versuchen, die Einzelheiten zu schildern, verlöre ich mich nur in langweiligen Exkursen, die ich mit öden Termini aus der Kunstgeschichte so vollstopfen müsste, wie der Bau mit Seitenkapellen und Retabeln vollgestopft ist. Der ganze Bau folgt  in seinem Inneren keinem einheitlichen Entwurf, sondern ist ein Wuchern und Sprießen der Jahrhunderte und Epochen, ein Sammelsurium auch und ein Samsara, und ich fange gar nicht erst an mit Details, mir ist heute nicht nach Gelehrtheit.

Schön ist es, dann wieder nach draußen zu gehen und gleich in einen galicischen Tanz zu geraten. Vier junge Frauen singen und schlagen mit den Handballen auf Tamburine, und drumherum finden sich genug Leute für einen Reigentanz, Frauen vor allem, aber auch ein paar Männer, glückliche, unglückliche, hoffende, liebende und verzückte, doch so, wie die Mädchen singen, bedürften diese Männer vor allem einiger Tapferkeit, denn diese Frauenstimmen sind kraftvoll und fest, selbstgenügsam, und man fragt sich, wozu da überhaupt noch Männer sind, wie sie hier beim Tanz unbeholfen den Schritten und Gesten der Frauen nacheifern… Die Burschen sind allesamt angetrunkene und schwankende Tölpel, die nur durch die lächelnde Nachsicht und Hilfestellung der Weiber davor bewahrt werden, sich ganz zum Gespött zu machen. Als Angehörige der Gattung Mensch werden sie im Reigen geduldet, aber Kraft und Sicherheit ist von ihnen nicht zu erwarten.

Das Baskenland mag sich seiner matriarchalischen Tradition rühmen; aber auch in Galicien strahlen die Frauen Entschlossenheit und ein Selbstbewusstsein aus, neben dem die Männer wie ärmliche Drohnen wirken.


Santiago, Muros, Fisterra


Am nächsten Morgen um zehn sind wir zum Gottesdienst wieder in der Kathedrale. Wir nehmen in den Kirchbänken Platz, sodass wir heute gradewegs auf den goldstrotzenden, funkelnden Chor blicken können, und der Gedanke, der mir unwillkürlich durch den Kopf geht, verblüfft mich selbst: "Schau an", denke ich, "die Räuberhöhle." 

Ich halte nicht viel von der aufklärerischen These des Priesterbetrugs als dem Kern der Religion, sie ist unhistorisch und darum dumm, und außerdem viel zu grobschlächtig, um dem komplexen Phänomen des Gottesglaubens gerecht zu werden; aber offenbar hat sie für mein Unterbewusstsein einen Moment lang glitzernde Evidenz gewonnen: als der Priester und die Ministranten einziehen, kann ich kaum anders als an Ali Baba zu denken, und an die Schatzkammer, die sich dem Helden des Simelibergs aufgetan hat.

Doch bald zieht der Gottesdienst meine Aufmerksamkeit auf sich. Der spanische Pfarrer hat einen Kozelebranten - den Priester einer amerikanischen Pilgergruppe, der dann auch die Predigt übernimmt. Die Messe wird zum Großteil auf Spanisch gehalten, aber es ist merkwürdig, wie einfach ich in Rhythmus und Duktus der Gebete und Anrufungen die deutschen Formeln wiedererkenne und sie aus dem tiefen Fundus meiner Ministrantenjahre holen kann. Es ist eine sehr pfingstliche Erfahrung: hinter den so anderen Lauten leuchtet ein identischer Sinn hervor. Man spricht in vielen Zungen (beim Vaterunser höre ich um uns Französisch, Holländisch, Polnisch), und sagt doch das Gleiche. Die  Ausgießung des Heiligen Geistes ist vielleicht das Fest, das dem Begriff des Katholischen am meisten gerecht wird: katholikós bedeutet allgemein, dem Ganzen gemäß, universell, und dazu stimmt es dann auch, dass die Predigt auf Englisch gehalten wird, der lingua franca unserer Tage. Der Inhalt der Predigt ist allerdings ebenfalls universell - nichts als salbadernde Frömmelei und Allgemeinplätze von Liebe und Frieden: reines Geschwätz. Wir halten bis zur Wandlung auf unseren Bänken aus, aber als der Leib des Herrn dann scheibchenweise ausgeteilt wird, schleichen wir uns an den samtgewandeten Tempelwächtern, die uns missbilligend mustern, vorbei ins Freie und nehmen dann lieber ein Hörnchen im Café Casino als eine Oblate in der Kirche.

Das Café ist, an den harten Kirchenbänken gemessen, ein dekadenter Ort. Wenn man sich einmal in den weichen Sesseln dort niedergelassen hat, versinkt man willig im Sündenpfuhl der acedia.

Das lässt mich natürlich auf weitere Möglichkeiten der Sünde hoffen; aber vergeblich schaue ich auf die Tiffany-Glastüren: keine Odette de Crécy stößt sie auf, gefolgt von ihrem seidenraschelnden cul de Paris, eine Cattleya im Ausschnitt ihrer großen Robe. Doch hier nehmen keine großen Kokotten ihren Kaffee, hier sitzen nur noch ältere Herren, die, niedergedrückt von den bedenklichen Weltläuften, über der Zeitungslektüre ächzen und zum Trost ein frühes Bier in Griffweite haben.

Einer der Kellner ist sehr distinguiert; es steht zu befürchten, dass wir seinen gesellschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. Da kann ich noch so sehr in Tweedjackett, Trenchcoat und Filzhut herumlaufen: er wittert sofort, dass meine Blutsbande mit den Windsors sehr wässrig ausfallen. Mag sein, dass Jesus propagiert hat, wir seien alle Kinder Gottes. Dem Domestiken ist das vollkommen wurscht; Gott hat viele Kinder gezeugt, aber nur auf einigen Wenigen liegt der Segen der Primogenitur, und ich gehöre ersichtlich nicht dazu. (Er seinerseits gehört allerdings auch nicht zu denen, die Trinkgeld bekommen, und das ist das Schöne an der Geldwirtschaft: sie ermöglicht passgenaue Antworten. Es ist die gut katholische Lehre der Werkgerechtigkeit, die von Luther verurteilt wurde; aber ich finde es nur würdig und recht, dass König Kunde nicht anders als der Herrgott das Betragen der Menschen danach belohnt, wie sie sich benehmen.)  

Um halbzwölf brechen wir aus Santiago auf, und um halbzwei sind wir in Muros an der Küste. Auf dem Platz hinter dem Hafen treffen sich schickgemachte alte Damen, Familien, ältere Herren, die eine Stunde Rennrad hinter sich und dadurch die Lizenz für zwei, drei Flaschen Wein zu Mittag erworben haben. Möven kreuzen hin und her; sie warten, bis ein Tisch leer wird, um dann blitzschnell herabzustoßen und die Reste wegzupicken. Das geht nicht immer gut: zweimal landet eine Möve auf der Tafel und fegt mit ihren Flügeln alle Gläser davon, so dass sie in Scherben gehen, und die Kellnerin kommt immer wieder, und wedelt mit den Armen, um die gierigen Vögel zu verscheuchen, und sieht dabei so aus, als versuche sie sich in einer Identifikation mit dem Aggressor flügelschlagend selber in die Lüfte zu erheben. 

Zum Wein bekommen wir ein Schälchen mit kreuzkümmeligen Kichererbsen mit Chorizostücken darin; das ist so schmackhaft, dass wir gleich zum Essen bleiben und währenddessen die Familien betrachten, die im Sonntagsstaat ausgegangen sind: Großmütter mit Pelzkragen und Hütchen, die sie vor einem halben Jahrhundert gekauft haben und die jetzt überraschenderweise restlos ihren Staub abschütteln konnten und wieder recht elegant aussehen - eleganter jedenfalls als der knappe Fummel, der die üppigen Schenkel und drallen Brüste der Schwiegertochter so umhüllt wie eine Taftbanderole eine preisgekrönte Poularde. Der Mann dazu gefällt sich in den Insignien stutzerhaften Machismos: Pilotensonnenbrille, sorgfältig getrimmtes Bärtchen, und eine Uhr am Handgelenk, mit der man zur Not auch jemanden die Zähne einschlagen kann. Der Kontrastkragen seines Hemds - weiß zu blau gestreift - lässt der Spekulation über den Beruf des Mannes weiten Spielraum: vom Banker über den Autohändler bis zum Zuhälter ist alles möglich, und vielleicht sehen sogar vereidigte Standesbeamte hier so aus.

Die Küste ist eine Art von Déjà vu: ein um ein paar hundert Kilometer nach Südwesten verrutschtes Nachbild der Bretagne. Buchten, die einen Saum von türkisfarben leuchtendem Wasser um sich haben, abgeschliffene Diluvialfelsen, dahinter schimmernde Heide. Doch so reizend Vegation und Relief sind: die Gegend ist zersiedelt und verhunzt, zumal ein Großteil der Bebauung - anders als in der Bretagne - kaum einen markanten und eigenständigen Charakter hat. Hier pflegt man eine Architektur der Wurschtigkeit und der Gesichtslosigkeit, die erschreckend ist. Es muss hier einmal einen regionalen Stil gegeben haben; das legen zumindest die horreos nahe, auf hohen Granitpfeilern errichtete, meist hölzerne und mit Lüftungsschlitzen versehene Kästen. Als ich die ersten dieser Dinger am Straßenrand sehe, begreife ich nicht, worum es sich dabei handelt. Ich denke an Beinhäuser, obskure Bestattungspraktiken, irgendwelche gut belüfteten Schreine, in denen die Leichen langsam verdorren. Als ich einen Mann danach frage, lacht er. Was für eine absurde Idee! Das Gegenteil sei wahr; hier wurden keine Toten bewahrt, sondern Lebensmittel - Getreide, Mais, Kartoffeln. Die Speicher sind heute allerdings leer; nur der geplünderte Sarkophag einer sinnlos gewordenen Vergangenheit, und insofern hat mich meine Ahnung doch nicht getrogen: die Horreos sind eine Art von Kenotaph: leere Gedenkstätten. 

Man sieht diesen Relikten an, dass sie einst nach alter Väter Sitte mit bäuerlich schmucken Repräsentationswillen gebaut worden sind. Die Horreos sind als Museumsstücke noch da; die Anwesen, zu denen sie gehörten, sind verschwunden, und ersetzt durch Bauten, die man in den Sechziger- und Siebzigerjahren für modern und funktional hielt, und deren nichtssagende Bauweise man bis heute beibehalten hat.

Galicien ist natürlich kein Einzelfall in Europa. In Niederbayern, Franken, Hessen, bis hinauf an die Nordseeküste schämte man sich genauso seines Erbes und versteckte es unter Eternitplatten oder riss das vermeintliche Elend gleich ganz ab. Von der Moldau bis zur Loire und von der Memel bis zum Po und drüber hinaus schleifte man die regionalen Bestände und baute in globaler Geschichtsvergessenheit solch banale Überall-und-Nirgends-Architektur auf. Es ist ein Jammer!

Der Himmel ist ganz aufgeklart, als wir in Fisterra ankommen (auch das ein lautlich verrutschtes Nachbild des bretonischen Finisterre) und nach der langen Fahrt die Küste entlang einen Kaffee nehmen. Im Sommer muss es hier regen Tourismus zu geben, offenbar wird auch viel gesurft; für solche Kundschaft bietet ein Restaurant Vegetarian-Vegan-Food an sowie Hippie/Chillout/Goa-Fashion. So friedvoll plätschernd, wie diese Worte nahelegen, ist die Küste allerdings wohl nicht: der starke Wellengang und heimtückische Strömungen haben ihr den Namen Costa de la muerte eingetragen.

Hinter dem Leuchtturm am Cabo de Fisterra, zu Füßen des Steinkreuzes, scheint es Brauch, seine auf dem Jakobsweg zerlatschten Schuhe zu hinterlassen. In Haufen liegen dort Wanderstiefel und Turnschuhe, obskurerweise auch Filzpantoffeln, als hätte ein besonders bußwilliger Pilger den cammino in solchen Puschen absolviert. Rußige Schlacke von Lagerfeuern mit den angekohlten Resten hölzerner Wanderstöcke; auf dem Kreuzsockel abgelegte und mit Steinen beschwerte, zerschlissene Strohhüte; Weinflaschen, mit denen die Pilger, die von Santiago noch hierher weitergewandert sind, den profanen Ausklang ihrer Reise gefeiert haben - es ist fraglich, ob es sich hier um die Opferstätte am Ende einer langen spirituellen Pilgerfahrt handelt, oder einfach um eine Müllhalde. 

Im Leuchtturmhaus stellt eine amerikanische Malerin von beeindruckenden eins neunzig ihre Kohle- und Pastellskizzen vom Jakobsweg aus; ihr sicherer Strich imponiert mir. Es gibt natürlich auch eine Bude mit Souvenirs; daneben hat ein Mann seine Muschelfunde ausgebreitet; auch eine fein lamellierte Koralle in Form eines Pilzhutes liegt dort, die Fungia genannt wird (offenbar bin ich nicht der erste, der bei diesem Anblick an einen Pilz denkt), daneben die blassviolette, regelmäßig von Höckerchen und kalkigen Stippen überzogene Kugel eines Seeigelskeletts, die ich nun, zuhause, von Zeit zu Zeit zur Hand nehme und bewundere, jeder porzellanweiße Nippel von einem wie gehäkelten Kranz fliederfarbener Pünktchen gesäumt, und von sechs wellenartig geschwungenen Reihen segmentiert, die wie feine Reißverschlüsse vom Nord- zum Südpol dieser kleinen Welt verlaufen.

Wir fahren den Klippenweg hinauf, vorbei an dem Parkplatz für die Wohnmobile, wo wir ganz alleine sind und über das Meer schauen, das sich unter den Klippen ausbreitet wie Glasfluss, bis die Sonne in plüschigen Lagen von Altrosa und Flieder versinkt.

Pontevedras, Peninsula de Morrazzo

Der Morgen ist strahlend schön; die Schiffe in der Bucht sehen aus wie überirdische Erscheinungen, nachts als Sternschnuppen vom Himmel herabgerieselt und jetzt als kristallene Blüten auf dem Wasserspiegel treibend. Ginster und Heidekraut bedecken die Hänge, dazwischen die Gelege großer Granitblöcke.

Das Hinterland, nun, Schwamm drüber: Äcker und Baracken, Wälder, in die hier und da kantenscharfe Brachen geschlagen wurden. Man geht hier ruppig und ohne alle Sentimentalität mit dem Land um; der spanische Landmann ist bislang nicht entscheidend von der Versuchung behelligt worden, Idyllen zu kreieren.

 Wir passieren Padrón, und erst dort verstehe ich, dass die in Spanien so beliebten Pimientos de Padrón, die kleinen grünen Bratpaprika, die in keiner Tapasbar fehlen - weich gegart, schrumplig und bitter und mit grobem Salz bestreut - ihren Namen nicht von einem Patron ableiten (etwa Paprika nach Wirtsart), sondern schlicht hier angebaut werden. Ein galicisches Sprichwort sagt von den Pimientos: os pementos de Padrón, uns pican, e outros non: die einen sind scharf, andere nicht, und das ist so lebensklug und weise, wie man es sich nur wünschen kann - zumindest, wenn man keine großen Ansprüche an die intellektuelle Tiefe solcher Sentenzen stellt und Wurschtigkeit mit Weisheit verwechselt. 

In Pontevedras, dem Städtchen für unseren Mittagshalt, können wir noch mehr fürs Leben lernen, und zwar in einem Haushaltswarenladen. Der Begriff Haushaltswaren trifft nicht das ganze Sortiment, oder nur in einem sehr archaischen und umfassenden Sinn: bei Haushaltswaren denkt man an Kochlöffel und Töpfe, und dies hier greift weit über bloße Küchenutensilien hinaus. Hier gibt es schlechthin alles, dessen man bedarf, um einen ländlichen oikos am Laufen zu halten, von Rattenfallen über Weckgläser zu Seilen zu Sägen, Astzangen und Apfelplückstangen. Man bekommt Flaschenzüge und Beile, Zinkeimer mit Gummizitzen für Kälbermäuler, Hufeisennägel und Gewindeschneider etc. pp. usw. usf.. Für besondere Bedürfnisse hält man auch Gerätschaften vor, wie sie ein Chemiker oder Apotheker braucht - Messbecher mit Mililiterskala, Pipetten und Erlenmayerkolben, Aluminiumtuben zum Selbstbefüllen, und auch die Trichter und Spatel und Spritztüten dazu, sowie die Zange, um den Tubenfalz, wenn die Ringelblumen- oder Kamillensalbe einmal eingefüllt ist, zu versiegeln. Der Laden ist eine Wunderkammer des homo faber, ein wahrer Tempel des werkzeuggebrauchenden Menschen. Wir sind vollkommen hingerissen, und finden sogar etwas, mit dem wir etwas anfangen können - eine Plastikspritze, mit der wir fortan bequem und präzise dosiert die Silberjodidlösung aufziehen und applizieren werden, die unser Trinkwasser vor dem Dämon der Verkeimung schützen soll. Das Ding kostet 30 Cent, was ein sehr geringer Obolus für die Besichtigung einer solch enzyklopädischen Sammlung von Instrumenten ist.

Aber sage niemand, dass die abendländische Technik die spirituelle Dimension vernachlässige! Genau unter der Registrierkasse sind in einer Glasvitrine Votivgaben aus Wachs aufgereiht, kleine Schafe und Rinder und Hände und Herzen, die man zu niedrigem Preis erstehen und der Madonna zum Opfer bringen kann, damit sie für die Genesung des Viehs oder kranker Organe ein gutes Wort beim alllenkenden Herrgott einlege. Auch Wachsphalli stehen dort stramm und versprechen Abhilfe bei Erektionsstörungen, Zeugungsunfähigkeit, venerischen Leiden aller Art. Ich bin sehr versucht, einen solchen Phallus zu kaufen; für kaum zwei Euro wäre er ein Schnäppchen und ein Schmuckstück für unser Flursammelsurium, aber ich scheue davor zurück, nicht nur, weil ich den Blick des Verkäufers fürchte, der glauben könnte, ich litte an diesbezüglichen Nöten, sondern auch in dem Bedenken, dass ich diesen Priap, wenn es auf der weiteren Reise so heiß würde wie im letzten Jahr, kaum so stolz prangend, wie er hier aufragt, nach Hause brächte, und wer weiß, was ein solch ramponierter und krummgeschmolzener Fetisch dann dort anrichten könnte? Ich lege das Wachsding zurück auf die Theke, Dagmar deckt ihre Hand darüber und schiebt es dem Verkäufer hin - nein, danke. 

Immerhin bringe ich aus diesem Laden die Lehre nach Hause, dass auch magische und dem Opferkult zugehörige Gerätschaften vor allem eins sind: eben Gerätschaften - in einer Reihe mit Rattenködern, Türklinken und Schraubenschlüsseln: fähig, Götter zu ködern, die Tür zu den höheren Mächten zu öffnen und dann so an deren Stellschrauben zu drehen, dass sie dem Opfernden gewogen sind.

Pontevedra ist ein hübsches Städtchen voller Kolonnaden und gepflegter Plätze. Auf der rabattengezierten Grünanlage vor San Francisco klettern Rosen in den Bäumen empor und streuen Blütenblätter auf den Rasen. Alte Damen im Schneiderkostüm, perlenkettenbehängt und makellos onduliert, trinken ihren Aperitiv; wohlhabende Gattinnen wandeln mit Boutiquentaschen über die Praza de Ferraría. Auch Studenten, Mädels wie Jungs, nehmen schon mal ein Bier und halten eine feine Balance zwischen akademischer Diskussion und Flirt. Nur ein einsamer Krakeeler stört den gepflegten Frieden, ein abgerissener Säufer oder einfach Spinner, der lautstark vor sich hinschimpft, bis irgendein unschuldiger Passant seinen Zorn besonders erregt; dann läuft er in zwei, drei Metern Abstand hinter ihm her und schreit wütende Anklagen heraus. Aber diese Anfälle dauern keine Minute; dann lässt er von seinem Opfer ab und erholt sich schnaufend und murrend an einer Hausecke. Niemand schenkt ihm Beachtung. Offenbar kennt man den Mann und weiss, dass es am besten ist, ihn zu ignorieren.

Ein Kirchlein an der Praza ist recht originell: der Grundriss ist rund wie eine Hochzeitstorte, und über einer eher klassizistischen Fassade erhebt sich, von einem Patissierfries abgesetzt, ein barocker Aufsatz mit allerlei Figuren und Zierwerk, dem dann noch, als dritte Etage, eine Haube und zwei Türme aufgestülpt wurden, die als verspieltes Zwillingspärchen das Ganze krönen: die Turmdächer erinnern an diese gestrickten Wollmützen, deren aufgestickte Bömmelchen und Filzkügelchen immer aussehen, als hätten sich die Kinder mit dem Kopf voran durch ein Beet von Kletten gewühlt, die nun in ihren Locken haften.

Der Eindruck klärt sich ein wenig, als wir näher herankommen, aber kaum sehe ich deutlicher, schaue ich auch schon lieber nicht mehr hoch: ich ziehe es vor, zwei verstrubbelte Kinderköpfe zu phantasieren als in dem Gewirr klaren Blicks kunstgerechte Voluten und Balusterstelen zu erkennen.

Wir essen unter einer Pergola Bacalao; es ist unser erster in diesem Jahr. Portugal, wo man sich quasi ausschließlich von Stockfisch nährt, ist nicht mehr weit.

Auf dem Weg zurück zum Parkplatz begegnen wir dem Krakeeler wieder. Er lauert in einem Toreingang auf Beute; aber wir sind es nicht. Uns lässt er ohne Geschrei passieren; vielleicht muss er noch Atem schöpfen? Doch kaum sind wir vorüber, stürzt er sich hinterrücks auf zwei junge Frauen und bespuckt sie mit seinen Flüchen und all dem Hader, der aus ihm herausquillt wie Lava und Kotze.

Der Fjord, der sich vor Pontevedra auftut, war sicher einmal ein gutes Gesellenstück von Demiurgenhand, doch die Menschen haben es zugrunde gerichtet. (Wie schrieb doch Rousseau im Émile? Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.) Die ganze Peninsula de Morrazo ist von einer Schorfkruste aus Bauschund überzogen, die in Bausch und Bogen widerwärtig ist. Der Schund ist nicht der Armut geschuldet, sondern im Gegenteil dem Wohlstand. Tinneff klunkert die ganze Küstenstraße hinunter, pompöses Villengetue für Leute, die arm nicht im Beutel, aber im Geiste sind. Das Meiste, das hier gebaut wurde, ist einer Dienstmädchenidee von Luxus entsprungen, und herausgekommen ist dabei nichts anderes als ein Pappmachée-Brighton, in dem spanische Gerty MacDowells von ihren Prinzen träumen.

Der erste Campingplatz, dessen Schild wir folgen (denn wir haben wahrhaftig eine Dusche nötig), ist noch geschlossen. Wir stehen vor dem zugehängten Tor, als vom Nachbargrundstück ein junger Mann im Toyota herausfahren will und sich plötzlich dem Hindernis unseres Wagens gegenübersieht. Der junge Mann schlägt konziliant das Lenkrad ein, nimmt den Rückwärtsgang und setzt schwungvoll zurück, direkt an eine Granitsäule der Ausfahrt, um seiner Stoßstange den höflichen Kniff zu verpassen, den man früher einmal nur seiner Hutkrempe hätte zuteil werden lassen. Zack. Es war eine freundliche Geste seinerseits, und für einen Moment überlege ich, ob ich nicht nach Pontevedra zurückfahren sollte, um für ihn das Wachsvotiv eines Autos zu erstehen, das ihn gegen Malheurs dieser Art vielleicht feien würde. Aber irgendwie ist der junge Mann es nicht wert: er steigt aus, beschaut sich den Schaden, und dann fällt ihm nichts Besseres ein, als seiner demolierten Stoßstange Tritte zu verpassen, als sei die kraft irgendeiner selbstzerstörerischen Neigung schuld daran.

Es wäre wohl nur angemessen, wenn er sich bei seinen Tritten auch noch einen Zeh gebrochen hätte; aber wir lassen den Trottel bei der Züchtigung seines Autos allein und steuern den nächsten Campingplatz an.

Ein paar Kilometer weiter stehen wir vor hochherrschaftlichen Gittern, hinter denen uns ein monströser Bernhardiner angrollt. Auch dieser Platz ist noch nicht geöffnet; nur der Zufall, dass alte Freunde der Wirte grade ankommen, öffnet auch uns das Tor. Der Bernhardiner erweist sich, kaum dass wir willkommen geheißen werden, als anschmiegsamer Liebling, der sich immerzu an einem Bein reiben oder mit seiner schnüffelnden Schnauze die olfaktorische Ergiebigkeit unserer Unterleiber prüfen möchte. Das Wirtspaar ist höchst liebenswürdig, fast schon zu beflissen; zumal der Patron überschreitet die Grenze zur Devotheit. Obwohl ich ihm, als er uns unseren Stellplatz zeigen will, den Beifahrersitz angeboten habe, läuft er lieber vor dem Auto her, um uns zu geleiten; offenbar ziemt es sich in seinen Augen nicht, sich von der Herrschaft kutschieren zu lassen. Wir sind zwar nur Kundschaft, aber er behandelt uns so mit einer so lakaienhaften Unterwürfigkeit, als stammten wir in gerader Linie von Karl V. ab. 

Endlich am Platz, erklärt er uns ganz außer Atem die wichtigsten Sachen - hier die Pforte zum Meer, dort der Stromanschluss - doch die Verständigung ist schwierig, weil er sein Spanisch in eben dem Moment verlernt, als er begreift, dass ich es rudimentär beherrsche. Er begibt sich auf mein Niveau herab, und das bereitet ihm soviel Mühe, dass er zu stammeln beginnt und, die Hände ringend, nach Worten sucht, die einfach genug sein könnten, damit ich sie verstehe. Es ist eine Farce: er will Spanisch wie der Depp sprechen, der ihm gegenübersteht, und scheitert an dieser Simplifizierung. Schließlich versuche ich es mit Französisch, und sieh da, schon können wir uns ganz geschmeidig unterhalten. Die Verständigung mit seiner Frau später klappt problemlos ohne solche Umwege. Sie spricht einfach Spanisch ohne alle Verdruckstheit, und das geht auch; sie denkt nicht darüber nach, was ich verstehen könnte, und wie sie mir entgegenkommen kann; sie ist einfach, herzlich, gradeheraus, patent: eine Wohltat.

Als wir geduscht haben, Dagmar mir die Haare geschnitten und sich die ihren gefärbt, kehren wir mit unseren electronic devices im Rezeptionshäuschen ein, wo es Netz gibt. Der Bernhardiner liegt dort auf dem Boden und schnarcht gewaltig. Wovon er wohl träumt? Sicher von Liebe; denn als er aufwacht, wird er sehr schnell sehr zärtlich. Es fällt mir schwer, ihn abzuwehren - die Physiognomie von Bernhardinern appelliert unwiderstehlich an das Barmherzigkeitsgebot, Trauernde zu trösten, und dieser Hund schaut so betrübt drein, dass man ihn unablässig tätscheln und knuddeln muss. Erst, als meine Computerdinge erledigt sind, ich zum Bus zurückgehe und der Hund mich begleitet, ist es vorbei mit seiner Betrübnis: fast federnd trabt er neben mir her, und seine Rute ist gesträubt und aufgerichtet wie eine Pelzboa, die von einem Schlangenbeschwörer zu einer buschigen Vertikale hochgezaubert wurde. Angesichts dieser triumphalen Schweiferhebung bin ich verwundert, als das Tier zum Pinkeln nicht etwa das Bein lüpft, sondern sich nach Weibchenart entleert. Ob Bernhardinermännchen ähnlich anschmiegsam und anhänglich wären? Jedenfalls kostet es einige Mühe zu verhindern, dass der Hund mit in den Bus klettert. Ich schlage ihm die Tür vor der Nase zu und sehe ihn durch das Fenster an; diesen tief enttäuschten Blick, dass wir ihn so schnöde und herzlos allein da draußen stehen lassen, muss man erstmal aushalten.


Vigo


Vier Wochen sind wir jetzt unterwegs. Es wird Zeit, Wäsche zu waschen. In Vigo finden wir nach langer Suche einen Waschsalon und warten für die Dauer der Prozedur in einer Bar. Zu jedem Getränk gibt es ein Schälchen mit irgendwas; Oliven zur caña, Knabberkram, Reissalat zur clarita. Am Nebentisch trinken Leute einen Kaffee und werden dazu mit Kuchen und Churros regaliert; es ist mir vollkommen rätselhaft, wie sich das für einen Wirt rechnet, eins zwanzig für den Kaffee, und dann ein Stück Kuchen für lau, während Miete, Strom, die Putzfrau zu bezahlen sind, und am Ende des Monats vielleicht sogar ein wenig Gewinn bleiben soll. Kein Wunder, dass der Wirt aussieht, als hätte er's mit der Bauchspeicheldrüse. Wahrscheinlich ernährt er sich nur von den Überbleibseln der Tapasteller seiner Gäste und nascht hier eine verschmähte Olive, dort einen Kuchenrand oder ein paar Reiskörner, die am Tellerrand haften geblieben sind.

Es liegt etwas Desolates über dieser Stadt, so großbürgerlich und prachtvoll sie sich auch hie und da gibt. Da sind Plätze, die denen von Nizza nicht nachstehen, Boulevards wie von Haussmann geschaffen; aber ich habe den Eindruck, dass die große Zeit Vigos, als hier Tonnen und Abertonnen von Fisch angelandet wurden und der Stadt Reichtum bescherten, vorüber ist. Der Hafen ist zwar immer noch der bedeutendste Spaniens, aber der Reichtum scheint anderswo hinzufließen. Oder scheint es mir nur so, weil der Kontrast zwischen sehr ansehnlichen Quartieren und solchen, die vernachlässigt, wenn nicht gar verwahrlost wirken, so ins Auge fällt?

Als wir von unserem Parkplatz in die Altstadt hinuntergestiegen waren, kamen wir an einem Antiquariat vorüber. Aus alter Voreingenommenheit halte ich Antiquare für aufgeschlossene Leute, was völliger Unsinn ist, denn in Wahrheit sind Antiquare zumeist verbohrte Idioten: grämlich, von eiternden Geschwüren des Kulturpessimismus befallen, und meistens mit den modernen Zeiten hadernd, die dem Handel mit bedrucktem Papier nicht eben gewogen scheinen. (Wie allerdings nur jene meinen, die zu versnobt oder zu verschlafen sind, um ihre Ware übers Internet an den Mann zu bringen; während die Pfiffigeren sich einen Computer anschaffen und mehr Kundschaft haben als je zuvor.) Dieser hier, den ich fragte, ob es hier eine Wäscherei gäbe (¿Puede ayudarme? Busco una lavanderia.) zog gleich ein Gesicht, das mir klarmachte, dass er nicht im Traum dran dachte, irgendjemandem zu helfen, ihm helfe schließlich auch keiner. Schließlich legte er los: Nein, eine Wäscherei gäbe es hier nicht, und auch sonst nichts, die Läden seien alle fort, cerrado, geschlossen, nur noch Einkaufszentren am Stadtrand, während die Innenstadt dem Verfall preisgegeben sei. Er sei der Einzige, der noch aushalte, aber lange ginge das auch nicht mehr. Die Stadt sei Beute der Spekulanten und des Kapitals, die Mieten stiegen, der Verdienst sinke - los alquileres se aumentan, las ganancias bajan - nein, keine lavanderia, aber lavados de dinero de sobra, Geldwäsche mehr als genug. Ich bedankte mich für die Auskunft und sah zu, wegzukommen, bevor er seine Jeremiade fortführte.

Aber er hat auch nicht ganz unrecht. Die Stadt ist hier und da tatsächlich bröckelig; es gibt in diesem alten Viertel viel Leerstand und wenig Läden, und auch die Rua de Pescaderia, die unser Reiseführer als Zentrum des hiesigen Genießertums anpreist, ist fast leer. Die Kellner, die mit Speisekarten in der Hand vor den Austernrestaurants nach Kundschaft fischen, sind aufdringlicher als üblich; das lässt auf eine gewisse Verzweiflung schließen, stößt uns jedoch eher ab als dass es uns lockt.

Wir essen schließlich hangaufwärts bei einer Kneipe, wo es noch ganz munter zugeht und eine patente junge Frau uns burschikos bedient. Zwar werden die Rochenstreifen vernunftwidrig frittiert, aber immerhin konnte ich die Zumutung von Kartoffelchips abwehren und durch patatas cocidas ersetzen. Dennoch denke ich mit Wehmut an die klassisch französische Zubereitung eines mild pochierten Rochens mit brauner Butter und Kapern. Gegen ein solches Ideal gehalten, in dem nussige Buttersüße und Kapernkeckheit in Kontrast und Fülle wunderbar ausbalanciert sind, ist dieser Teller hier Barbarei, wenn nicht gar eine brutale Vergewaltigung. Der Petersfisch - Martiño - ist jedoch wunderbar, kräftig gebraten, und doch saftig und aromatisch. Höhepunkt sind dann aber die Zamburiñas, die wir der Bedienung abbetteln, obwohl man in der Küche eigentlich schon die Töpfe schrubben möchte; aber so ein paar Muscheln sind schnell auf die Plancha gelegt, und wir essen sie mit Genuss zu den letzten Schlucken der Flasche Albariño.

Nachher, als wir zum Hafen hinunterschlendern, erkenne ich, dass mein erster Eindruck von der Stadt irrig war. Die Stadt ist wohlhabender und gepflegter als die ersten Schritte mich glauben ließen. In der Grünanlage der Alameda mit ihren Magnolien und Kamelien hätte auch der kleine Proust gern mit Gilberte Barlauf gespielt oder einen Eisbecher in der Heladeria Capri gelöffelt; der Uferkai ist von Cafés und Restaurants gesäumt. An der Hafenmole angeln Männer, und Jules Verne sitzt dort auf einem riesigen Bronzekraken wie nur je ein braver Bürgersmann auf einem Samtfauteuil. Um 1880 hat Verne sich mehrfach in Vigo aufgehalten und auf die Bucht hinausgeschaut, in der im Spanischen Erbfolgekrieg 30 spanische Schatzgaleonen, voll mit kubanischem Silber, von den Engländern versenkt wurden - Jules Verne lässt seinen Kapitän Nemo diesen Schatz bergen, der ihm die Freiheit gibt, den Schrecken der terrestrischen Geschichte zu entfliehen.

Abends um sieben finden wir eine halbe Stund Fahrt von Vigo entfernt einen einsamen Stellplatz am Meer. Die Felsen, die jetzt bei Ebbe freiliegen, sind ein Fest für Vexierbildliebhaber: feiste Gorillas, die ihre Muskelwülste sonnen, borkige Krokodilleiber mit aufgerissenen Kiefern, dicke Männer, die hier aufgebahrt wurden und versteinerten. Der Stein ist mit so viel Riefen und Gravuren überzogen, dass mein Auge unwillkürlich den Versuch unternimmt, eine Schrift darin zu entziffern: irgendwelche galizischen Zaubersprüche, als Bann gegen Springfluten den Felsen eingegraben.

Die Sonne geht schon bald unter, und der Wasserspiegel verhält sich reziprok zum Campari Soda in unseren Gläsern. Kaum ist die Sonne weg, hat die Milde des Tages ein Ende. Es wird schnell kühl und windig. Von Norden her kommen die Wolken.


Tui, Viana do Castelo, Barcelos


Der Rio Minho bildet hier die Grenze zu Portugal. Dass wir uns dem Land nähern, war in den letzten Tagen immer deutlicher zu hören. Das Spanische ist mir immer als eine aride Sprache erschienen, trocken und rauh, mit dem gelispelten c und dem scharfen, reißenden s, als bliese der Solanowind heiß und schnell durch dürre Blätter, dem gerollten r, das wie ein schnelles Hufegetrappel ist (die Zunge der Stier, der vor der Hürde der Zähne trampelt). Hier, an den feuchten Küsten Galiciens wird auch die Sprache eingeweicht, verliert die scharfen Kanten und die kastilisch stolze Haltung der Phoneme. Die s-Laute verschieben ihren Ort tiefer hinter den Zahndamm, reichern sich mit Speichel und Mattigkeit an. Aber auch Rhythmus und Spannung des Sprechens ändern sich, das spanische Stakkato mildert sich ab, und man nimmt sich nun die Zeit, die Vokale im Mund zu drolligen Diphtongen und Melodiebögen zu modellieren.

Wir fahren landeinwärts parallel zum Minho, ohne den Fluss hinter den Äckern und den Brachen zu Gesicht zu bekommen. Das ist schade, denn von dem Garten hinter der Kathedrale in Tui aus sieht er dann sehr hübsch aus, ein breiter, ruhiger Strom mit üppig bewaldeten Ufern und ein paar Fischerschuten darin, die das Wasser mit Schleppen aus Zirkumflexen schraffieren. 

Die Kathedrale ist von außen recht wehrhaft, mit trutzigen Granitmauern und zinnengekrönten Türmen und Flanken, von denen man gut die Kanonen gegen Portugal richten kann. Innen ist sie ein etwas verbautes Schachtelwerk mit groben Schwibbögen, die dem ganzen Raumeindruck etwas Stallungshaftes verleihen, als dienten sie gar nicht dazu, den Bau zu stützen, sondern als seien es nur Joche, die man hier aufgehängt hat, bis man sie einmal einem Trupp riesiger Ochsen über die Schultern spannen kann. Die barocke Lust an Drechselei und kleinteiliger Ornamentik fügt sich hier überraschend gut ein. Die Verbauung des Raums würde wohl beengend und beklemmend wirken, wenn diese Enge sich nicht in den barocken Retabeln zur Unendlichkeit des Winzigen, zu einer mikrologisch eingefalteten Infinitesimalität weiten würde. Das Barock ist überhaupt manchmal die Unendlichkeit als Kleines und im Kleinen. Dagegen ist die Gotik bei all ihrem Bemühen um Weite und Höhe manchmal fast einfältig. Größe im Modus der Größe darzustellen ist ja auch simpel. Das Barock macht aber eine Kunst daraus, im Kleinen und winzig Verwickelten das erhaben Große einer inneren Komplexität anzudeuten. Ich ahne, warum Leibniz der repräsentative Denker des Barockzeitalters war, mehr als jeder andere: das unendlich Kleine, die unteilbare Monade, ist auf seine Art ein getreuer Spiegel des Universums - im unendlich Kleinen ist das unendlich Große bewahrt.

Auf dem Weg zum Bus spricht uns eine alte Dame an, ob wir denn Zitronen kaufen wollen. Erst wimmle ich sie ab, dann fällt mir ein, dass wir tatsächlich welche für unsere Aperitivcamparis brauchen. Mein Ruf hält die bereits weitergetrippelte Alte auf. Es seien erstklassige Zitronen, sagt sie, und hält mir eine aus ihrer Tüte unter die Nase: ¡huele! Riech! In der Tat duftet die faustgroße Frucht wunderbar, sehr frisch, fast ölig. Zwei davon würde ich ihr wohl abkaufen, aber das genügt der Alten nicht. Ich solle alle nehmen, sie hielten sich monatelang. Aber warum sollte ich monatelang anderthalb Kilo Zitronen einlagern? Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir auf Reisen seien und wenig Platz im Wagen hätten, aber das ist der Alten, die offenbar ein verschmitztes Vergnügen an unserer Unterhaltung gewinnt, als Argument zu dürftig. Angesichts der langen Haltbarkeit spiele es keine Rolle, dass wir keinen Platz hätten, behauptet sie, und ich frage, ob sie im Besitz irgendeiner Technik sei, durch die man Zeit in Raum umwandeln könne. Das ist etwas zu verstiegen, also schiebe ich hinterher, ob denn Dinge, die lange halten, automatisch klein würden, und sie überlegt nur ganz kurz und antwortet, sie selbst sei doch das beste Beispiel, sie hielte sich schon seit fast neunzig Jahren und sei geradezu winzig, und dabei schaut sie mich so pfiffig von unten herauf an (denn sie misst in der Tat kaum eins fünfzig), dass ich angesichts dieser Schlagfertigkeit sofort nachgebe und die Tüte nehme. Ich drücke ihr eine Münze in die Hand, und dafür bekommen wir noch Wangenküsse und ihre besten Wünsche für unsere Reise. Adiós, España!

Jenseits des Flusses liegt Portugal.


Wir kommen zur Mittagszeit in Viana do Castelo an. In diesem adretten Küstenstädtchen mit seinem schönen gotischen Rathaus und dem Brunnen und den karyatidengepfeilerten Balkonen fällt uns vor allem die ungewöhnliche Häufung von Geschäften auf, die in unserer Terminologie Prutterläden heißen, was jene Art von Haushaltswarenläden bezeichnet, wie wir sie zuletzt in Pontevedra besucht haben. Die Sortimente sind hier sehr viel weniger enzyklopädisch als das pontevedrinische. Doch der Verzicht auf enzyklopädische Fülle führt nicht etwa zu einer Spezialisierung (z.B. auf Küchengeräte oder Heimwerkerbedarf, Geschirr oder Anglerzeug), sondern, breit gestreut, auf ein bisschen von allem. Überraschend ist, dass all diese Läden - und es gibt wirklich viele davon, ihr Revier misst jeweils um die 200 Meter im Radius - so ziemlich das Gleiche anbieten. Wir haben es überprüft; kaum, dass uns diese Häufung aufgefallen ist, sind wir in all diese Geschäfte hineingegangen und haben uns umgesehen, überall beflissen bedient oder beobachtet von einem Ehepaar in den Siebzigern oder auch Achtzigern, die hier inmitten all des Plunders sitzen und zu hoffen scheinen, dass alles abverkauft ist, bevor sie den Laden - wg. Todesfall - für ein, zwei Tage zusperren müssen. Die Sache ist gespenstisch; man betritt den Laden und hat sofort das Gefühl, in ein ägyptisches Königsgrab gestiegen zu sein, in dem um die Mumien der verblichenen Herrscher deren ganzer Hausrat gehäuft wurde. Es sind weniger Läden (jedenfalls klingelt die Registrierkasse zu selten darin) als vielmehr Opfertempel: Beschwörungen des Alten Reichs, Totenbezirke. 

Aus einem nostalgischen Impuls heraus erstehen wir ein Ölkännchen, wie es hier auf jedem Restauranttisch steht. Als wir es zuhause in Betrieb nehmen wollen, bemerken wir, wie untauglich es ist. Es tropft und kleckert, und es ist ganz unmöglich, es zu benutzen, ohne eine Mordssauerei zu veranstalten. Und doch steht ein Ölkannchen wie dies auf jedem Restauranttisch Portugals, und es wird vermutlich auch in jedem privatem Haushalt benutzt, und ich frage mich, warum man in den letzten fünfhundert Jahren portugiesischer Ölkännchenproduktion nicht doch einmal über gewisse konstruktive Verbesserungsmöglichkeiten nachgedacht hat. (Die Antwort wird uns später auf unserer Reise der Wirt einer Bar geben, mit dem wir lange über Land und Leute sprechen, und sie wird nicht sehr schmeichelhaft ausfallen.)

Mittagstisch in einem Restaurant; eine angenehm altmodische Atmosphäre. Arbeiter an der Theke, Männer im Anzug, die aussehen, wie es Kanzlisten oder Handelskorrespondenten täten, wenn es derlei Berufe heute noch wie zu Pessoas Zeiten gäbe. Auch ältere Ehepaare vom Lande sitzen hier, feingemacht für Erledigungen in der Stadt und vielleicht für einen Termin beim Notar. Warum ich nur meine, dass sie in einem Auto mit Holzvergaser gekommen sind? Es muss der Widerschein der Einrichtung sein - ein Tresen aus den 50er Jahren, Leuchter und Wandtäfelungen aus der selben Zeit - der all die Gäste in das körnige Licht alter Fotografien taucht. Aber auch das Essen sieht ein wenig aus wie die Bilder in dem Dr. Oetker-Kochbuch bei uns zuhause, einem Erbstück mit abgeplatztem Buchrücken und einem Exlibris von Tante Lene. 

Vorweg gibt es eine Mehlschwitzensuppe mit darin ertränktem Gemüse, dann einen Bacalhao neben zwei Salatblättern, einem Tomatenviertel und drei rohen Zwiebelspalten sowie einem Haufen von etwas, das einmal Fritten waren. Leider hat man vergessen, sie nach dem Fertigbacken aus dem Fett zu nehmen, sodass sie schon bei leichter Berührung mit der Gabel leise quietschend eine Ölpfütze ausschwitzen. Rein kulinarisch betrachtet ist das sicher kein ganz zufriedenstellender Beginn in Portugal, aber die junge Frau, die uns bedient - es ist die Tochter des Hauses - tröstet uns mit ihrer leisen, fürsorglichen Art, ihrer Liebenswürdigkeit und einem ziemlich guten Französisch über alle Küchenunbilden hinweg.

Wir wollen weiter nach Barcelos. Morgen ist Markttag, und unser Reiseführer sagt, einen größeren Markt gäbe es in ganz Portugal nicht. 

Dort angekommen, erkunden wir die Übernachtungsgelegenheiten und nehmen, als wir den Plan vom Touristenbüro in der Hand halten, einen Kaffee am Platz. Ich will von drinnen zwei der vielgerühmten portugiesischen pasteis holen, diese mit Konditorcreme gefüllten Blätterteigstückchen, aber irgendwie verwickle ich mich dabei in ein Gespräch mit der Wirtin, die grade nicht viel zu tun hat. Ich hatte sie nur gefragt, ob man sich in Portugal besser mit Englisch oder mit Französisch durchschlüge, und binnen kurzem weiß ich nicht nur einiges über das portugiesische Schulsystem, die Umstellung der ersten Fremdsprache in den 90er Jahren von Französisch auf Englisch und die Emigrations- und Gastarbeitergeschichte des Landes, sondern kenne bald auch den Namen der Wirtstochter und die charakterlichen Mängel ihres Ex-Mannes. Dagmar kommt mit unseren beiden galão-Gläsern von draußen dazu, und wir verzehren die pasteis am Tresen. Die Wirtin liebt Französisch: die elegante Sprache schlechthin, wie sie sagt. Für sie, die jetzt wohl in ihren Sechzigern ist, war Frankreich in ihrer Jugend das Tor zur Welt, und wie so viele Frauen war auch sie für einige Jahre dorthin gegangen, um als bonne und als serveuse zu arbeiten. Erst nach der Nelkenrevolution ist sie in ihr Heimatland zurückgekehrt. Jetzt hat sie eine Bar am Platz und ein paar Wohnungen, die sie an Touristen vermietet. Das Gros der ausländischen Gäste - Deutsche, Holländer, seit einiger Zeit auch Leute aus Nord- und Osteuropa - spricht Englisch. Mit denen verständigt sie sich mit einer Übersetzungs-App auf ihrem Smartphone; so kommt man auch zusammen, aber es bleibt doch kalt und maladroit. Und während sie über das Paris der frühen Siebzigerjahre spricht, schaue ich auf ihre Hände, die eine Tasse berühren oder eher schon liebkosen, sie fährt mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Tassenrand und folgt der Rundung des Henkels, dann nimmt sie die Tasse in die Wölbung ihrer Hände, wie um sie zu wärmen, und je länger ich ihr zusehe, desto mehr wird mir klar, dass ihre Hände sich an Zärtlichkeiten erinnern, die wahrscheinlich mit dem bitteren Geruch von Gauloises-Zigaretten imprägniert waren und mit der klebrigen Süße von Cassis, und dass dieses Faible fürs Französische auch etwas mit ihrer Jugend und einem Liebhaber zu tun hat, der sie zärtlicher behandelt hat als ihr späterer Ehemann, ce matraqueur, und dann ballt sie die Hand um die Tasse, dass die Knöchel hervortreten, und sagt, das sie jetzt nicht mehr länger plaudern kann und wieder zur Arbeit zurück sollte.

Am Stellplatz für Wohnmobile werden schon um fünf Uhr nachmittags die Plätze knapp, glücklicherweise, denn so fühlen wir uns befugt, unser Lager außerhalb der Parkfläche am Rand des Uferwegs aufzuschlagen. Vor uns, unter uns glitzert der Fluss im Abendlicht, hinter uns führen die Wohnmobilisten ihre Hunde aus. Ich denke noch an die Kirche, vor der ein großes Wahrzeichen der Stadt oder sogar ganz Portugals steht: ein bunt bemalter Hahn, um den sich eine Legende rankt, der wir fast identisch schon im letzten Jahr in Santo Domingo de la Calzada im Rioja begegnet sind: ein zum Tode verurteilter Bauer erklärte vor seiner Hinrichtung, dass das gebratene Huhn, welches der Richter gerade verzehren will, vom Teller springen und krähend des Bauern Unschuld bezeugen werde. Und so geschieht es: in eben dem Moment, als sich auch die Galgenschlinge am Hals des Mannes löst, kräht das gebratene Huhn los. (Den verwunderlichen Umstand, dass man damals Hühner samt Kopf und Schnabel gebraten haben soll, will ich einmal beiseite lassen.)

In Santo Domingo hält man zum Gedenken an die Legende sogar ein Hühnerpaar in der Kirche; in Barcelos kann man immerhin in jedem zweiten Laden farbenfrohe galos erstehen, von kaum pfenniggroßen Miniaturen bis zu hüfthohen Skulpturen, und selbst ein Riesengockel wie der vor der Kirche dürfte sich leicht auftreiben lassen.

Die Kirche selbst ist außen massige und grobschlächtige Romanik, und überrascht im Innern mit einer reichen blau-weißen Wandkachelung. Wenn ich mich nicht täusche, sehe ich zum ersten Mal eine geflieste Kirche. Vielleicht hat dieser Brauch ja so seine Gründe - ich sollte recherchieren, ob man sich in portugiesischen Kirchen so eifrig flagelliert hat, dass man es irgendwann leid war, die Kirchen nach jedem Bußexzess von neuem zu tünchen, und darum diese Keramiktäfelungen eingeführt hat, von denen sich das Blut leichter abwaschen ließ. Oder es gab hier besondere Bräuche, von denen unser Reiseführer diskret schweigt - etwa Gemeinde-Badetage, bei denen das ganze schmutzige Bauernvolk einer Weihwasserdusche unterzogen wurde, oder eine rituell-symbolische Sündenspülung während der Worte der Gabenbereitung: "Herr, wasch ab meine Schuld, von meinen Sünden mache mich rein."


Barcelos, Braga, Facho


Morgens liegt eine Katze in der Grasnarbe vor unserer Seitentür. Kaum habe ich einen Schritt auf sie zugetan, kriecht sie zum Buschgestrüpp, die Augen gequält zugekniffen; der ganze Körper ist zerknickt, wie einmal zusammengeknüllt und wieder versuchsweise auseinandergezogen. Aber es ist zuviel zerbrochen; die elende Kreatur schleppt sich mühselig voran, und sie wird diesen Tag nicht überleben. Vielleicht sollte ich sie erlösen; aber wie? Statt ihr den Schädel zu zertrümmern oder ihr die Kehle durchzuschneiden, fliehe ich, feige bis ins Herz.

Der Markt von Barcelos soll, wie schon gesagt, der größte Portugals sein, und das zu wissen ist niederschmetternd, denn dieses riesige Angebot besteht zu drei Vierteln aus nichts als Schund. Die Geschäfte gehen schleppend bis gar nicht; die Standreihen mit Klamotten finden kaum Kundschaft, auch Schuhe nicht, Lederwaren, Töpfereien; nur bei den Lebensmitteln herrscht Andrang, bei Sämereien und Pflanzensetzlingen, manchmal bei Werkzeugen, Destillationsapparaten, Winzerbedarf. Aber da ist zum Beispiel der Mann, der die traditionellen Holzschuhe verkauft. Niemand kauft das, niemand trägt das. Wie alte Brotlaibe sind die Schuhe aufeinandergestapelt, Holzschatullen für tote Katzen. Wie anders wäre das in Frankreich und auch Spanien! Dort haben junge Leute oft genug die traditionellen Produkte modernisiert und sich anverwandelt. Die baskischen und katalonischen Webereien stellen auf ihren Webstühlen hinreißende Stoffe her, die auch den althergebrachten Bastschuhen der Gegend zeitgenössischen Schick verleihen; aber hier scheint ein sturer sabotier seit Jahrzehnten seine Holzklötze auszuhöhlen und vollkommen unbeeindruckt davon zu bleiben, dass er kein Stück mehr an den Mann bringt. Wie schon in den Prutterläden Vianos scheint die Antwort auf die Absatzmisere einfach Durchhalten, Weitermachen, Ausharren, ganz, als erlebe das Bedürfnis etwa nach Holzschuhen nur eine zwischenzeitliche Flaute, statt dass man sich eingestünde, dass es, so wie das Geschäft jetzt betrieben wird, damit ein für allemal vorbei ist. Es ist eine gehörige Portion Fatalismus darin. Da mag eine Tugend darin verborgen liegen - Beharrungsvermögen, Geduld, sicher Glaube, Liebe, Hoffnung - und gewiss haben die Mütterchen, die hie und da zwischen den Ständen sitzen und in einem Säckchen getrocknete Bohnen feilbieten (zwei Dutzend Eier, Frühkartoffeln, ein bisschen Gemüse sowie ein paar wie durch einen Zauber zum Stillhalten gezwungene Hühner) diese Tugend in reichem Maß kultiviert. Aber für Handwerker wird diese Tugend irgendwann zum Laster. Es ist acedia: Gedankenfaulheit, die Trägheit der Seele.

Gegen Mittag kehren wir zum Bus zurück. Die sterbende Katze liegt mitten auf dem Weg. Sie atmet immer noch, aber ihre Flanken zittern in Agonie.

Braga. Zur Zeit der Völkerwanderung haben hier einmal die Sueben gesiedelt, und wenn mir noch mehr als ohnehin an ethnischen Klischees gelegen wäre, würde ich behaupten, dass ein Hauch von Schwabentum immer noch durch die reinlichen Straßen Bragas weht. Die Stadt ist ordentlich, aufgeräumt, tipptopp; wenn man die Kathedrale einmal hinter sich gebracht hat, die mit ihren rundum verteilten Orgelpfeifen wirkt, als sei sie zu einer zünftigen Ballerei aus allen Rohren bereit, tut sich eine gepflegte Stadt auf. Bunt gekachelte Fassaden in Grün und Delfterblau, ockerfarben oder fuchsienrot gestrichene Wände, die von schmiedeeisernen Balkonen gegliedert werden. Es gibt großzügige Plätze, viele junge Leute; dennoch hält das Leben hier seltsam still. Eine in sich gekehrte Atmosphäre erfüllt die Stadt, etwas Behutsames, vielleicht sogar Beklommenes. Wie meistens, wenn es um Atmosphärisches geht, ist es schwer zu benennen. Aber hier entlangzuflanieren, fühlt sich an, als hätte vor Kurzem ein harter Erdstoß die Stadt erschüttert, und nun liefe hier jedermann mit einem Summen in den Schädelknochen herum und versuche, jede abrupte Bewegung zu vermeiden.

Das Mittagessen ist nicht sonderlich erquicklich. Wir sind in einer Pinte eingekehrt, die mit Schals und Wimpeln des hiesigen Fussballclubs dekoriert ist, das schien uns alteingesessen, darum lang geprüft und bewährt, kurz: solide. Aber die Mittagstischgäste darin hören sich aggressiv an. An einem Tisch mit vier Männern führt einer das Wort, und es ist nicht nötig, irgendeins davon zu verstehen, um den hetzerischen und demagogischen Tonfall des Ganzen zu begreifen. Es ist Stammtischgerede, und während wir die kaputtgebratene Leber und den klumpigen, noch nicht einmal lauwarmen Reis und labbrige Fritten essen, spitze ich die Ohren. Die Zahlen, die der Mann nennt, sind als solche erkennbar, und sie sind so groß, dass es sich nicht um private Summen handeln kann; es muss wohl um Staatsschulden gehen. Ich ahne, worum es sich dreht; bei einem Blick auf die Zeitungsauslagen habe ich gelesen, was die Wut der Männer nun wohl so entflammt: in diesen Tagen wird in den EU-Gremien die Überschuldung des Landes verhandelt, und die Leute, die Geld verliehen haben, wollen es nun (verblüffenderweise, da man offenbar dachte, es sei ein Geschenk) irgendwann wiederbekommen, oder zumindest eine Gewähr, dass der Schuldner es nicht sinnlos verjubelt; es ist eine Dreistigkeit, die sich der Kreditgeber da erlaubt, so scheint jedenfalls der Mann am Nachbartisch zu empfinden, und Deutschland ist ein Tyrann: Alemanha é um tirano, soviel kapiere auch ich. Es erleichtert mich, dass wir mit dem Wirt Französisch gesprochen haben und dann auch untereinander dabei geblieben sind, denn wir wollen hier doch ungern als Truppenangehörige einer bösartigen Zwingmacht erscheinen. 

Doch wenn in diesem Raum überhaupt von Bösartigkeit gesprochen werden soll, dann darf die Küche nicht unerwähnt bleiben. Nur ein Mensch mit sehr sinistrem und gehässigem Charakter kann derartige Fritten fabrizieren.

Kurze Visite in einer kleinen Kirche am Weg. Zwei Frauen, vielleicht Mitte Dreißig, knieen in den Bänken, beten und weinen. Das haben wir schon in Barcelos erlebt. Portugiesische Frauen scheinen zum Tränenvergießen in Kirchenbänken zu neigen. Sie werden ihre Gründe haben. Doch ist es religiöse Inbrunst? Oder heulen sie sich hier nur ihren häuslichen Kummer, ihre Enttäuschung und Sorgen aus dem Leib?

In der Wallfahrtskirche von Bom Jesus da Monte etwas außerhalb der Stadt dürfen wir Zeuge einer weiteren Variante religiös getönter Gefühlserregung werden: Inbrunst, die zur Brunst wird - das Heilige als Aufgeilung.

In einer Seitenkapelle steht - nun ja: hängt - ein lebensgroßer Kruzifixus. Ein paar Frauen wischen sich, wie es Brauch ist, Tränen aus den Augenwinkeln. Dann steigt eine die Stufen zum Gekreuzigten hinauf. Sie dürfte 80 Jahre alt sein, vielleicht auch 70 und früh verbraucht, und sie beginnt mit den Händen über Jesu nackte Schenkel zu streichen, befühlt die hölzernen Muskelstränge, fährt auch die Rückseiten der Beine entlang, und dann die Fußsohlen, während sie ihren Leib an die Waden schmiegt und sich daran reibt. Ich gestehe meine Fassungslosigkeit ob dieses Schauspiels. Die Möglichkeit, dass ein hölzernen Gekreuzigter als Sexpuppe für eine alte Frau dienen könnte, klingt doch allzu sehr nach einer Phantasie aus den 120 Tagen von Sodom. Aber nun gut: vielleicht ist das auch nur meine Phantasie, denn es mag wohl sein, dass die alte Frau hier bloß um ihren toten Sohn trauert und stellvertretend an diesem Kruzifixus die ganze Zärtlichkeit ihrer Mutterliebe auslebt und Trost an einem Stück Holz sucht. Und wahrscheinlich sind es auch keine Lustschauer, die ihren zuckenden Körper durchrieseln, sondern nur ein unterdrücktes Schluchzen. Und doch - es bleibt derselbe befremdliche Beigeschmack, den auch Berninis Heilige Theresa auslöst, deren Verzückung so unverkennbar sexuell getönt ist und Lust und Schmerz in einem Spannungskrampf vereinigt.

Neben der Kirche lädt ein kleiner Park zum Lustwandeln ein; eine künstliche Grotte, eine Pagode, ein steingefasster Teich mit Ruderbooten. Man kann auf einer schönen Treppe zur Kirche hinaufsteigen - von unten erinnert das Ganze entfernt an die Spanische Treppe in Rom und Santa Trinitá dei Monti darüber - aber wir ziehen es vor, das Zahnradbähnchen zu nehmen, das die gut 100 Meter Höhenunterschied hinaufklimmt. Das System ist pfiffig: ein Tank wird oben mit ein paar Tausend Litern Wasser gefüllt und zieht dann, indem er abwärts gleitet, die Bahn empor. Es heißt, der Tank würde aus einer sprudelnden Quelle mit Wasser gefüllt; aber ich glaube eher, dass ihn die Weiber vollweinen.

Es wird Zeit, sich einen Platz für die Nacht zu suchen. Wir wenden uns nach Südwesten zur Küste hin, nah genug an Porto, um morgen nicht zur Unzeit dort anzukommen. In Facho, einem dieser Küstenorte voller Ferienhäuser und im Mai noch fast verwaister Appartmentanlagen, finden wir einen Parkplatz am Strand. Natürlich ist die Übernachtung dort verboten, doch es ist zuwenig Betrieb, als dass sich jemand für diesen Gesetzesverstoß interessieren würde. 

Eine hölzerne Baracke mit einer kleinen Terrasse duckt sich zwischen Strandtreppe und Sandwall; eine junge Familie betreibt dort einen kleinen Ausschank, wo wir ein Dosenbier bekommen und dem kleinen Eduardo zusehen, der einen Eimer Klackermatsch mitgebracht hat und nun versucht, den Hund damit zu füttern.

Muschelsucher stapfen durch die freiliegenden Felsbänke vor dem Strand; andere stochern in den Steinspalten mit langen Greifzangen nach Langusten, die Gummihosen bis unter die Brust gezogen. 

Der Himmel ist noch wolkenlos, aber ein kalter Wind treibt uns bald in den Bus. Als die Sonne untergeht, sieht das Meer aus wie gefroren, von erstarrten Riefen und Graten überzogen.


Porto. Am Douro


Am Morgen erwachen wir im Nebel; die Felshöcker unter uns im Sand liegen da wie die Kadaver von Seeungeheuern, die über Nacht an Land gekrochen und dann dort verendet sind. 

Doch bald lichtet sich der Nebel; es wird ein schöner Tag werden.

In Porto stellen wir den Wagen am Douro ab und trotten ins Ribeira-Viertel hinüber. An den Quais decken die Restaurants schon für den Mittagstisch ein. Die Häuser dort erinnern an aufeinandergestapelte Würfel, und wenn sie nicht durch die Unterschiede ihrer Fassaden eine recht lebendige Vielfalt zum Ausdruck brächten, könnte diese Art von modularer Bauweise an Schiffe denken lassen, auf denen Block um Block bunte Container hochgetürmt werden. Doch nur die kubische Form der Module ist eintönig; der Reiz besteht in der Unterschiedlichkeit der Flächenfüllungen: hier sind große Sprossenfenster und Pariser Balkone, dort Azulejos und blaue Balkongeländer, dann wieder schiefergraue Schindeln oder rostrotes Wellblech als Täfelung: es ist ein kontrastreiches Patchwork, in das sich auch solche Materialien wie Wellblech umstandslos einfügen, und so liegt Lagerhallenästhetik Wand an Wand mit den repräsentativen Schmiedeeisenspirographien und Lilienornamenten reicher Handelsherren, und Aguardente-Pinten bilden den Sockel für Salons, in denen wahrscheinlich einmal höhere Töchter Saties Gnossiennes klimperten.

Dschunkenartige Boote patrouillieren auf dem Douro; man kann mit ihnen Fahrten unternehmen, bei denen die sieben Brücken der Stadt zu besichtigen sind. Die schönste Brücke spannt sich zweifellos hier vom Ribeira-Viertel aus über den Fluss; sie ist wie gemacht, um eine dieser guillochierten und mit allegorischen Figuren geschmückten Aktien aus dem 19. Jahrhundert zu zieren, etwa die von Eiffel et Compagnie - Eiffels früherer Kompagnon Seyrig, der mit diesem schon eine ähnliche Brücke ein paar hundert Meter flussaufwärts gebaut hatte, zeichnet auch verantwortlich für die Ponte Dom Luís: ein parabolischer Bogen aus Stahlfachwerk, auf dessen Scheitelpunkt eine Gleisbrücke aufruht und dessen Inneres von einer eingehängten Straßenbrücke gequert wird. Die Konstruktion ist von solch schlackenloser Eleganz, dass man fast den Eindruck hat, nicht einem Zweckbau gegenüberzustehen, sondern nur der Demonstration einiger grundlegender Elemente der Kreisgeometrie: Bogen, Tangente, Sekante. Die Reduktion auf die reinen Linien der Statik, das Handwerk des Ingenieurs, schlägt hier in schiere Schönheit um - es zeigt sich als etwas Majestätisches, das nicht einschüchtert oder auftrumpft, als Eleganz, die nicht blendet, als Erhabenheit, die nüchtern bleibt. Müsste ich ein Wort suchen, das all dies umfasst - es könnte kein anderes sein als einfach dies: Rationalität.

Nachdem wir durch finstere und stockige Gassen den Hang hinaufgeklommen sind, stehen wir vor der Kathedrale, die diesen edlen Namen nicht unbedingt verdient. Mag sein, dass ich heute besonders krittelig bin, aber die Doppeltürme der Sé do Porto kommen mir vor wie Kasperlefiguren, pompöse Popanze, die ihre Fialen an den Turmecken hochstrecken wie Gouvernanten ihre tadelnden Finger. Die Fassade ist relativ schmucklos; umso eindrücklicher ragen diese Hexenfinger aus dem Bau. Hier ist die Majestät, die einschüchtern will, und drohen. Die Fassade will auch nicht locken, verführen und überreden; sie stellt schnell klar, dass sie ohne läppisches Diskursgetue Gehorsam fordert und damit basta: wir stehen vor einer Demonstration der Macht.

Der Innenraum wirkt angesichts der Außenmaße des Baus grotesk schmal; die Scheidewände zu den Seitenschiffen oberhalb der Arkadenbögen sind massive Abtrennungen, was dem Mittelschiff etwas Korridor- und Durchganghaftes verleiht, oder vielmehr (da der architektonische Begriff des Schiffes selten so deutlich auf seine Herkunft verweist wie hier) etwas Schiffsmäßiges: man wähnt sich im Frachtraum einer schlanken Karavelle, die zur Eroberung neuer Länder ausgefahren ist.

Vorn am Hauptaltar glänzen die verheißenenen Schätze bereits: Gold und Gold und abermals Gold. Der Altar schäumt über von barocker Ornamentik; mit Blütengirlanden umwundene Serpentinata-Säulen, deren Kapitelle von Akanthen und Rocaillen überkrustet sind. Zwei knieende Atlanten tragen die vorderen Säulen; sie sind kaum zu erkennen, so tief sind sie in ein Gewirr aus Ranken und Tentakeln und Muschelschalen eingelassen, und ich weiss nicht, ob die ornamentalen Hauben, unter denen sie sich ducken, nur ein Übermaß von plastischem Knorpelwerk sind oder nicht doch glotzäugige und wulstlippige Fische, die im Begriff sind, sie zu verschlingen.

Aber trotz des Altarbombasts macht die Kathedrale als ganze den Eindruck einer gewissen Nüchternheit. Ich spüre weder Überschwang noch Rührung; die Erhebung, die mich in großen Kirchen anwehen kann (und die nicht religiösen Gründen, sondern allein einem Raumgefühl entspringt), bleibt ebenso aus wie Ergriffenheit angesichts der dinggewordenen, gesammelten Frömmigkeit vergangener Zeitalter. Die Kirche wirkt auf mich wie ein Ministerialbau, Abteilung Sakramentalverwaltung, in der trocken und sachlich gearbeitet wird. Das hindert natürlich einige Frauen nicht, ihre Tränen zu vergießen; doch allmählich bin ich geneigt, diese Sitte als portugiesischen Variante ophtalmologischer Hygiene zu betrachten.

Weniger nüchtern geht es dann im Kreuzgang zu. Im Rokoko hat man die obere Galerie mit Azulejos ausgekleidet, die biblische Szenen zeigen, aber auch mythologische Nuditäten nach Ovid und profane Bilder mit Schäferidyllen und Jägerglück. Nach dem Geschmack welches weltläufigen Kardinals mag diese Dekoration wohl gewesen sein? Und was für eine noble Gesellschaft mag er hier empfangen haben? Das würde ich wohl gern wissen, doch bringe ich es nicht über mich, die Studentinnen zu fragen, die am Aufgang eine Art von Praktikumsprojekt absolvieren. Ihre Aufgabe ist es, mit irgendeiner Geschäftsidee Geld zu verdienen, doch es ist ihnen nichts Besseres eingefallen als Touristen zu fotografieren und ihnen die Abzüge zu verkaufen, was eine etwas abgedroschene Idee ist, also eigentlich gar keine. Möglicherweise ist es ein Projekt einer Sonderfakultät für Realitätsblindheit und Stupidopraktik. Jedenfalls würde kein wahrhaft aufgeweckter Student auf die Idee kommen, gegen Entgelt Touristen fotografieren zu wollen, um damit eine Marktlücke zu füllen; Touristen fotografieren sich heutzutage unentwegt selbst; die Hilfe beflissener Bettelstudenten braucht dazu kein Mensch. Und Bettelstudenten sind es; die Geschäftsidee ist bloße Fassade, um zu kaschieren, dass sie die Leute in Wahrheit um Almosen angehen. Ihr manierliches Auftreten mag ihnen dabei sogar zupass kommen: ein Jackett mit gesticktem Aufnäher, Bluse, Krawatte, Faltenrock und Kniestrümpfe. Das sieht alles recht ordentlich aus (und würde wohl sogar Salazar gefallen haben, wenn er nicht Frauen lieber in Küche und Kirche gesehen hätte als in einem Vorlesungssaal), und solch braven Scholarinnen gibt man als Tourist wahrscheinlich lieber eine Münze als einem zerlumpten Kerl in Jogginghosen und Baseball-Kappe, der das Almosen dann doch nur in Drogen umsetzt statt in Kolleghefte und Textmarker.

Unterhalb der Kathedrale liegen die Pracht- und Hauptstraßen Portos. Jetzt sind weite Strecken abgeriegelt: morgen führt die Portugal-Rallye durch die Stadt, und heute ist der Tag der Streckenerkundung, bei dem die Copiloten ihr sogenanntes Gebetbuch verfassen, in dem alle Kurvenradien, Sprungkuppen, Straßenbeläge etc. festgehalten werden. Alle paar Minuten röhrt und jault eine Karre die Straße entlang, dazu dröhnt Musik und Reporterpalaver aus den Lautsprechern neben den Großbildschirmen. Ich will nicht leugnen, dass mir die wunderbaren historistischen Bauten an der Praça da Liberdade und in der Avenida dos Aliados ohne Absperrmauern und Reifenstapel mehr behagt hätten. Dass man hier überhaupt Autos zulässt, statt sich auf Landauer und zweispännige Coupés zu beschränken, halte ich ohnehin für genauso schändlich wie das Versäumnis des Fremdenverkehrsamts, das für eine ausreichende Anzahl von Kokotten hätte sorgen sollen, die hier mit seidenen Sonnenschirmen und Glacéehandschuhen dahinspazieren könnten, um zylinderbewehrten Herren zuzulächeln. Die Kulisse war für solche Exzesse der Eleganz geschaffen, für luxe, calme et volupté, und nicht für  das Quietschen, Röhren, Kreischen hochtouriger Wichtigtuermaschinen.

Ob uns das Café Majestic über diese Nachlässigkeiten hinwegtrösten kann? Das Majestic ist ein kleiner Tempel nostalgischer Schwärmerei, über dessen Pforte genäschige Sandsteinputten eine Girlande halten, wie es bei Götterhochzeiten üblich ist. Die hier geschlossene Ehe ist die zwischen einem in Eleganz gealterten belle époque-Dandy à la Montesquiou und einer schlanken, zwanzig Jahre jüngeren Jugendstilschönheit mit Zigarettenspitze, Perlenkette und einem Topfhut, unter dem eine Herrenwinkersträhne ein keckes Komma auf die Wange malt. Dieses Paar mag längst verblichen sein - ihre Geister treiben sich aber immer noch zwischen der Holztäfelung und den Lederpolstern des Cafés herum und bewundern sich in den großen Spiegeln, derweil sie die Milchglasleuchter umschweben und wohlwollende Blicke auf die galãos und pastéis werfen, die auf den Marmortischchen hienieden serviert werden. Wir schlürfen eine warme Portion kaffeebrauner Vergangenheit und knuspern jeder ein knistriges Blätterteigtörtchen. Wie könnte man besser ins Gestern zurückreisen als indem man das Dessert vor dem Hauptgang nimmt?

Der Mercado de Bolhão liegt nicht weit entfernt. Der Markt ist eine Art von Patio, innen offen und von schattenspendenden Stoffbahnen überspannt; im ersten Stock wehren Vorhänge die Sonne ab, was dem Gemüse nicht viel zu helfen scheint, das arg mitgenommen aussieht. Das ist kein Wunder, denn es gibt keine Kundschaft. Die Besucher des Marktes sind wie wir Touristen. Sie kommen, um zu schauen, nicht um zu kaufen, und darum ist nur in den Restaurants in der Arena etwas Betrieb. In der Galerie oben sind die Auslagen zusätzlich zu den Vorhängen noch zu großen Teilen mit Drillichplanen abgedeckt, wie man sie verwendet, um die Opfer einer Katastrophe zu verhüllen. Hier entlangzugehen, ist fast so, als schritte man als Angehöriger eines solchen mutmaßlichen Opfers durch den Dämmer, bis irgendein Polizist die Plane anhebt, damit man den Leichnam identifiziere.

Wir gehen wieder hinunter. Während wir vor einer der Garküchen auf einen freien Tisch warten, verfolgen wir eine Szene an einem Geflügelstand. Eine Katze setzt sich in manierlicher Positur vor die Auslage und schaut höflich zu der Verkäuferin hoch. Diese - eine Person mit durchaus damenhaften Zügen, damenhafteren jedenfalls als der meisten Marktweiber - erbarmt sich schließlich und schneidet einige Schnipsel Hühnerleber, ein paar Fettstücke von einer Karkasse, und wirft alles der Katze hin. Die Katze wahrt ihre Würde und schreitet ohne Eile zu der Leber. Bevor sie frisst, blickt sie noch einmal zu der Spenderin: von Dank ist in ihrem Gebaren keine Spur; allenfalls eine Art herablassender, gönnerhafter Anerkennung des Umstands, dass diese Frau ihr den gebührenden Tribut geleistet hat. Dann weiter zu den Fettklumpen: sie schnuppert darüberhin, ganz Connaisseur, und wendet sich voller Verachtung ab. Wofür hält man sie eigentlich?, scheint sie zu denken: für bettelnden Pöbel, der sich mit Abfällen zufriedengibt? Den Schwanz majestätisch erhoben wie ein Herrscherzepter stolziert sie in provozierender Lässigkeit davon: pah!

Wir sind weniger heikel und essen, was uns vorgesetzt wird. Allerdings wird uns auch nur vorgesetzt, was wir bestellt haben, da sind wir im Vorteil gegenüber der Katze, deren maunzende Order nicht so klar ausgefallen ist wie unsere. Dem Wirt unserer Bude sage ich auf Französisch, dass ich den Thunfisch nicht durchgebraten möchte - pas bien cuit, und er verspricht: nein, nein, bei ihm sei alles mal cuit. Der joviale Glatzkopf mit seinen pfiffigen Fältchen um die Augen grinst und erklärt: es hieße tatsächlich so, mal hecho auf Spanisch, mal feito auf Portugiesisch, aber ich traue ihm nicht recht und habe den Verdacht, dass er sich nur einen Jux machen will. Aber den Fisch serviert er wie gewünscht, ein aromatisches, fast rohes Stück; dennoch denke ich mit ein bisschen Wehmut an Spanien zurück, wo es selbst für einfache Restaurants oft genug eine Ehrensache ist, das Schlichte mit ein wenig Einfallsreichtum aufzupolieren. Hier begnügt man sich mit Salatblättern und Salzkartoffeln - und selbst die Salzkartoffeln mussten wir dem Wirt abschwatzen, um den landesüblichen gräßlichen Fritten zu entgehen.

Unweit der Markthalle kommen wir an einem Laden mit einer reizend gekachelten Fassade vorbei. Zwei Indianderprinzessinnen mit Federn im Haar flankieren als exotisierende Art-Nouveau-Phantasie die Tür; drinnen wird neben einem passablen Tante-Emma-Sortiment auch eine reiche Auswahl von portugiesischen Spezialitäten in Dosen und Kartons angeboten, deren Dekor noch aus der guten alten Zeit stammt. Die gute alte Zeit muss wohl die Epoche Salazars gewesen sein, als die Trias aus Fado, Fátima und futebol den Stolz des Landes ausmachte. Das Phänomen, dass altvertraute, doch nach einem Umsturz untergehende Markennamen nationale Identitätsschauder auslösen, kennt man aus der ostalgischen Ex-DDR; man vergisst die Diktatur und erinnert sich nur noch an einen heimeligen und von Nudossi, Spee und Halloren gesüßten Alltag. Hier scheint es nicht anders. Ich frage mich nur, ob die alten Marken tatsächlich immer schon in diesen winzigen Formaten verkauft wurden: Blechkanisterchen Olivenöl von einem Fünftelliter, eingedoste Patés, die man mit zwei Happsen weggeputzt hat, Mignonettefläschchen zwanzigjährigen Portos. Man hat den Eindruck, in einem Kaufmannsladen für Kinder zu stehen, in dem alles für die kleinen Hände von Vorschülern gemacht ist. Der Kasperle, der all das verkauft, ist von fast hysterischer Hibbeligkeit: ein redseliger, aufgedrehter Schwuler, der so beflissen ist, dass es ans Schmierige grenzt. Im Felix Krull gäbe er eine effektvolle Knallcharge ab; in der Realität fällt er mir ein bisschen auf die Nerven. In den Felix Krull würde auch sein Laden passen - das Motiv des Kulissenhaften und des schönen Scheins, das im Roman so ostinato inszeniert wird, fände hier ein Seitenstück. Denn dieses Geschäft - so mein Verdacht - gaukelt einen Lebensmittelladen nur vor; wahrscheinlich ist die Hälfte der Paketchen leer, die Bonbons in ihren großen Gläsern sind aus Plastik und die Sardinendosen reine Staffage.

Ich habe das erst im Rückblick begriffen; erst, als wir lange durch die Stadt flaniert waren und am späten Nachmittag Portugals prunkvollste Barockkirche besichtigt hatten, verstand ich, warum ich mit Porto nicht warm werde. Es ist zu viel Falschheit in der Stadt, eine Falschheit, die vielleicht Spiel und Theater ist, vielleicht aber auch einfach Heuchelei, oder, noch schlimmer, Dummheit. Natürlich spreche ich nicht von den Menschen - wie sollte ich mir darüber ein Urteil erlauben? -, sondern von der Stadt als Individuum, wie Zufall und Geschichte sie geformt haben. Die Kathedrale? Pseudogotische Maskerade. Der Kreuzgang daneben? Höfische Frivolität. Die Markthalle? Ein verkommener Showroom ohne Kundschaft. Der Art-Nouveau-Laden? Nichts als Inszenierung von Nostalgie. Die Igreja de São Francisco aber setzt dieser Falschheit die Krone auf. Selbstverständlich ist sie aus goldenem Flitter. Das barocke Interieur, aufwendig gestaltet, strotzt von überreichem Rankenwerk und lockigster Rocaille; die Kirche ist damit  so vollgestopft wie die Regale in einem Dekorationskaufhaus. Doch alles darin ist auf einfältige Weise kalkuliert. Selbst der krude Verismus, der eine Skulpturengruppe von der Hinschlachtung der Franziskanermönche auszeichnet, ist religiöse Pornographie, ein allzu direkter Appell ans Ressentiment und nichts als ein hetzerisches Propagandamachwerk gegen die bösen Heiden. Die Spannung zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Diesseitsfreude und Jenseitsfurcht (und die zwischen Diesseitsschrecken und Jenseitshoffnung), die in den tiefsten Hervorbringungen der Epoche so bewegend wirkt, ist hier auf das Niveau eines fadenscheinigen Pamphletismus heruntergebracht. Auch das Retabel, das die Wurzel Jesse zeigt, ist bloß eine brave enzyklopädische Schnitzerarbeit, in der die Figuren süßlich und dumpf Verzückung mimen. Hier lodert nirgends das Feuer frommer Ergriffenheit. Man hat die Zentralheizung angemacht und für eine Religion auf Zimmertemperatur gesorgt. Hier stehen nur Andachtsbildchen auf den Altären, Skulpturen aus Marzipan, erbauliche Folklore - es ist eine Kirche, bei der man sich wundert, dass am Eingang nicht die portugiesische Gala oder die vatikanische Ausgabe der Bunten ausliegt. Es ist zuviel berechnende Gefühligkeit darin: ein Angebot für flennende Weiber, die an den Nöten der Heiligen Familie auf die selbe Art Anteil nehmen wie an denen der Royal Family.

Wir wollten auch den Samstag noch in Porto verbringen, doch die Aussicht auf die lärmende Rallye, die einen Großteil der Altstadt in Beschlag nehmen wird, schreckt uns ab, und so beschließen wir, den Douro hinaufzufahren. 

Allerdings müssen wir noch einkaufen, was sich als schwierig herausstellt. Die Gegend ist besiedelt; aber zu richtigen Dörfern reicht es selten. Die Leute, die hier wohnen, scheinen allesamt Selbstversorger. Brauen sie ihr Bier selber, keltern ihren Wein, pökeln ihre Schweinekeulen in der Waschküche? An Einkaufsgelegenheiten fehlt es jedenfalls, bis wir in einem Gestreusel von Häusern schließlich einen Laden finden, dessen Sortiment dann ungefähr dem eines Campingplatzkiosks entspricht.

Ein Campingplatz ist ebenfalls nicht leicht aufzuspüren. Die Schilder helfen nicht weiter; erst ein Toyota, der auf einsamer Strecke vor uns auftaucht, weist uns den Weg. Der Fahrer streckt eine Hand aus dem Fenster und bringt uns schließlich ans Ziel - eine riesige Dauercamper-Anlage an den Hängen des Douro. Die Dauercamper sind noch nicht da; dafür unten am Fluss eine Gruppe von Tschechen auf Radtour, zwanzig Leute, Männer und Frauen von Mitte Zwanzig bis Mitte Sechzig, die viel schwatzen und lachen, besonders dann, wenn einer von ihnen sich auf den Weg zu den Sanitäranlagen macht und dabei staksbeinig vorführt, was die Tagesetappe mit seinen Schenkeln angestellt hat; sie muss ihnen allen ziemlich in die Muskeln gefahren sein.

Ab und zu pruttert ein Boot den Douro hinauf; Katzen kommen schnorren; als es dunkel wird, frisst sich die Kerzenflamme an den Faltern satt.

Es ist schade: ich hätte Porto gern liebengelernt; aber die Stadt hat es uns heute schwergemacht.


Amarante, Peso da Regua, Piñhao


Landeinwärts nach Amarante. Das Wetter ist trüb und nieselig, und auf der Autobahn verdichtet sich allmählich der Verdacht, dass der Portugiese, weitab von meiner Vorstellung dieses Volkes als eines behutsamen und zurückhaltenden Menschenschlags, im Straßenverkehr auf die Tugend der Höflichkeit weitgehend pfeift. Letztes Jahr in Spanien war ich überrascht, wie rücksichtsvoll und unaufgeregt chauffiert wurde. Ich hatte eine stolze und herausfordernde Fahrweise erwartet, etwas Hochfahrendes, auch Risikogeneigtes, einen Matadorenstil auf Asphalt, aber das Gegenteil war der Fall: der spanische Fahrer benimmt sich in der Regel vorsichtig und defensiv; auf den Autobahnen liegt das vermutlich daran, dass die Radarkontrollen so häufig sind wie die Bußgelder gesalzen. Doch auch im Stadtverkehr gibt es selten Anlass zum Ärger; man fährt zügig, aber drängelt nicht. In Portugal sieht es da anders aus. Trotz der Geschwindigkeitsbeschränkungen schießen immer wieder Wagen mit 150, 160 Sachen vorüber, manchmal auch mehr. Die Möglichkeit, dass ein solcher Raser daherkommt, erzwingt eine deutlich höhere Frequenz der Rückspiegelkontrolle; das bringt eine gewisse Spannung und unablässige Aufmerksamkeit mit sich. Die Aufmerksamkeit ist auch in den Dörfern und Städten vonnöten; bei Straßeneinmündungen schieben die Portugiesen die Autoschnauze einen guten Meter weiter heraus als in Resteuropa üblich, und ich habe bald den Eindruck, dass sie eben mal versuchen, ob der Vorfahrthabende sich nicht doch von ihrem Vorwitz beeindrucken lässt und klein beigibt. Dieses Verhalten ist meistens unterhalb der Schwelle, ab der es gefährlich wird; es beeinträchtigt nur die Reibungslosigkeit des Verkehrs; es ist eine kleine irrationale und anarchische Störung: der Versuch, den objektiven Geist der Regeln durch den subjektiven Willen des Ich zu suspendieren. Das Alberne daran ist, dass es nie funktioniert. Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass sich jemand, der die Vorfahrt hat, dem Versuch, sie unberechtigterweise zu erzwingen, gebeugt hat. Dass portugiesische Autofahrer es dennoch immer wieder versuchen, kann verschiedene Gründe haben - anarchische Neigungen, den Willen zur Verlangsamung des gesellschaftlichen Durchschnittstempos - ich glaube aber (je länger wir hier sind, desto mehr) eher an eine gewisse Neigung zum schlichten Deppentum. Der imbecil ist in jedem Land der Welt zu finden. Aber hier (und es tut mir leid, das so sagen zu müssen) hat er mehr seinesgleichen als anderswo.

Auf dem Samstagsmarkt in Amarante ist nichts los; niemand interessiert sich für die Kittelschürzen und Schuhe aus chinesischer Produktion, die dort feilgeboten werden. Die Händler harren trotzdem aus und zeigen ihre Nehmerqualitäten in puncto Bankrott. Oberhalb des gewerblichen ist ein Flohmarkt aufgebaut, der sich auch nicht über allzugroßen Publikumsandrang beklagen kann. Ein paar welke Finger blättern durch Schallplatten der 80er-Jahre, betasten Gläser mit den Aufdrucken von Biermarken, die es längst nicht mehr gibt. Ein Goldrandservice ist neben Schüttgut von Schraubenmuttern und spröden Dichtungen aufgebaut. Das flohmarktübliche bric-à-brac confus, gewiss, ein Gemenge aus Nostalgie und Heimwerkerschrott, wie man es kennt, aber alles von einer Trostlosigkeit überschattet, die mir das Herz abschnürt. Es wirkt, als hätten die Händler hier vor der Kirche statt Verkaufsständen Opferaltäre errichtet, die irgendwelche magische Funktionen erfüllen sollen, Huldigung, Beschwörung, Gnadenerheischung. Kommerzielle Interessen können es jedenfalls nicht sein, welche die Händler hierher gezogen haben, denn es mangelt entschieden an potentieller Kundschaft. Wer länger an einem Stand herumstöbert, endet unweigerlich mit einem Glas Wein hinter der Auslage und fraternisiert mit dem Händler.

In der Kirche probt ein Chor nebst Streichquartett für eine Hochzeit. Vor dem Altar stehen bereits gepolsterte Knieschemel; ein Stoffhimmel überwölbt den Raum für das Brautpaar und sieht ein wenig frivol aus - eigentlich wie ein riesiger Unterrock mit roten Stoffzwickeln. Das ist freilich nicht das einzig Frivole in der Stadt; in den Schaufenstern der Konditoreien und Cafés liegen die Doces de São Gonçalo aus, Gebäckstücke in der Form eines Phallus. Die recht realistisch gestalteten Phalli - Eichel, Vorhautwulst, zwei Testikelvoluten an der Basis - sind mit Zuckerglasur überzogen, die aussieht, als liefe Sperma an den Schwellkörpern herab. Einer davon mag vielleicht aphrodisisch wirken; wenn ganze Auslagen damit gefüllt sind, wirkt es, als hätte ein Schnitter, der es auf Pimmel abgesehen hat, reiche Ernte gehalten, ganze Dörfer entmannt und seine Trophäen hier ausgestellt. Wie sollte ich hier bleiben wollen?

Auf dem Weg nach Peso da Regua tun sich bisweilen schöne Blicke in die Hügelweite auf, aber auch oft genug unschöne auf das Ekzem der Zersiedelung. Man macht sich bereit für die Rallye, deren Wagen am Nachmittag hier erwartet werden. An den Buchten und Einfahrten der Strecke haben sich die Schaulustigen schon eingerichtet, und ein paar Liebhaber des Rallyesports suchen noch nach einer guten Stelle, von der aus man schlitternde Hecks in der Kurve zu sehen bekommt, hochtourige Motoren, waghalsige Überholmanöver - wir sind froh, als wir die Rennstrecke verlassen und zum Douro hinunterfahren können.

In Peso stellen wir den Wagen am Fluss ab, an dem Ausflugsboote aus Porto auf ihrem Weg zu den Portwein-Quintas in Pinhão einen Zwischenhalt einlegen. Es ist Zeit zum Mittagessen. Ich weiß, dass man in der Region noch Neunaugen auf den Speisekarten findet. Dieses fischähnliche Wesen - ein lebendes Fossil, das sich seit einer halben Milliarde von Jahren kaum verändert hat - bohrt sich als Parasit in Wirtsfische, säuft ihr Blut und frisst ihr Fleisch an. Da ist es nur würdig und recht, dass man ein solches Tier in Wein und seinem eigenen Blut kocht. Vor zwanzig Jahren habe ich das einmal tapfer bestellt und dann voll tapfer unterdrückten Ekels einen halben Napf davon heruntergewürgt; heute bin ich weniger heikel, und all diese levitischen Speisetabus, die wir verinnerlicht haben (das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter zu kochen, den Fisch nicht in seinem eigenem Blut), spornen mich eher an sie zu brechen als mich ihnen zu unterwerfen. Dummerweise sind zugleich mit der Absenkung meiner Ekelschwellen meine kulinarischen Ansprüche gestiegen, mit der Folge, dass ich mich jetzt zwar nicht mehr ekle, aber die Mahlzeit schlecht finde: dumpf und eintönig, ist sie kaum mehr als ein monotones und stupides Geschlunze. (Ein Jammer, wenn man die als Himmel und Erde bekannte Kombination von Blutwurst und Apfel dagegenhält, in der die Fruchtigkeit des Apfels und der Blutgeschmack einen wunderbaren Akkord ergibt; hier wird keine Musik draus, sondern allenfalls ein stumpfes Zyklopengebrumm.)

Genauso stupid ist das Betragen des Kellners, der mit Dagmar eigentlich gar nicht sprechen möchte, sondern alle Fragen an mich richtet. Er hält seinen Blick starr auf mir als dem Mann; er erwartet, dass ich für die Dame bestelle - was mir allerdings im Traum nicht einfällt. Es ist genug, dass das Neunauge ein lebendes Fossil ist; dies lebende Sittenfossil, Frauen als unmündige Wesen zu betrachten, die nicht imstande sind, ihre eigenen Wünsche zu äußern, will ich nicht mitmachen.

Dagmars Zicklein ist auch nicht besser als meine lampreia; aufgetaut, aufgewärmt (aber nicht genug), zäh und von Kartoffeln aus dem Glas begleitet, etwas Kohl und einer Schale Reis. Eine lieblose Küche, über die wir uns dadurch hinwegtrösten, dass wir die Flasche vinho verde bis zur Neige leeren. 

Bei nächster Gelegenheit halten wir eine Siesta am Douro; aber der Versuch, sich Portugal schönzuträumen, fruchtet auch durch diese Dreiviertelstunde Schlaf nicht recht.

In Pinhão finden wir das Hotel wieder, in dem wir vor 25 Jahren zwei Tage verbracht haben. Ich erinnere mich an die Rezeptionistin von damals -  auch diese so herzliche und liebenswürdige Person war bonne in Frankreich gewesen, bevor sie in die Heimat zurückkehrte -, ich erinnere mich an Angler am Fluss, die ihre Ruten ins Wasser hielten und keinesfalls aussahen, als täten sie das in der Hoffnung, etwas anderes zu fangen als eine Suppenschale voll lauwarmer saudade, und ich erinnere mich an die Portweintanks, die die Ufer säumten, weißgetüncht und mit etwas wie einem Ventil an der Kuppelspitze, das aussah wie der Nippel einer Brust. In meiner Erinnerung waren diese Tanks zehn, fünfzehn, zwanzig Meter hoch, üppige und strotzende Ammenbusen, die den Wohlstand der Region spendeten. Jetzt bin ich verblüfft, dass die Tanks sehr viel kleiner sind: sie messen in der Höhe wohl grade drei Meter, bestehen aus einfachem, dunkelgrauem Zement und stehen auch nicht am Ufer, sondern in einem abgezäunten und etwas verwahrlosten, zurückgesetzten Areal. Schon darum hat sich die Fahrt hierher gelohnt: sie stutzt die verklärten Erinnerungen zurecht.

Wir übernachten am Ufer gegenüber, mit Blick auf das schimmernde Städtchen und die Hügel. Bis in die Dämmerung treiben illuminierte Ausflugsboote hier vorbei, die den Wellenschlag stärker ans Ufer schwappen lassen. Es kommt Wind, es kommt Regen; der Fluss hat Gänsehaut, fröstelnd von Regenstippen.

Am Douro, Viseu, Coimbra

Der Morgen allerdings ist sonnig. Wir fahren durch die Berge, in die der Douro sein Bett gegraben hat. Die Hänge sind fast ausschließlich mit Wein bepflanzt; nur ein paar extreme Steillagen hat man den Bäumen und dem Gesträuch überlassen. Die Stöcke stehen zumeist nicht sehr dicht, und die Schraffur der Rebenreihen ist von wunderbarer Vielfalt - kein Vergleich mit den eintönig glattgekämmten Pflanzungen etwa des Piemont, die einen um den anderen Hügel mit dem immer selben Gewebe überziehen. Hier regiert eine kleinteilige Abwechslung, schon in der Art der Terrassierung. Da gibt es treppenhafte, von lotrechten Mäuerchen gestützte Absätze neben schräg abfallenden Hängen, zwischen deren Rebstöcken nur festgetrampelte Winzerpfade den Boden vor der Auswaschung bewahren. Dann ziehen sich Rebenreihen nach Art eines Bustrophedons oder in einer Fischgrätwebart über die Hügel. Manche Lagen erinnern an feudale Freitreppen, auf denen die Lakaien, in Weinstöcke verwandelt, aufmarschieren, andere an ein Amphitheater mit konzentrischen Halbrunden. Zusammengestoppelte Flickenteppiche folgen auf sorgfältig begradigte Reihen. Alles in allem strahlt das eine ungeheuer entspannte Generosität aus, die man auch Nachlässigkeit oder Unprofessionalität nennen könnte. Hier ließe sich vermutlich vieles rationalisieren und öno-ökonomisch optimieren; ich hoffe allerdings, dass das nicht geschehen wird. Der Klatschmohn und der Schopflavendel an den Rainen, das ganze kleine Blütenvolk, das zwischendrin gedeiht, würde dann wohl verschwinden. Aber ich bin da zuversichtlich; Wildwuchs zu bekämpfen, scheint mir nicht zu den hervorstechenden Talenten Portugals zu gehören.

Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich auf der weiteren Fahrt gewinne. Die Strecke nach Viseu wird bald zu einem Lehrstück über die Frage, wie man ein Land kaputtzersiedeln kann. Es gibt lange Streckenabschnitte, auf denen ich immerzu im Unklaren bin, ob ich mich innerhalb eines Orts befinde oder außerhalb. Die ganze Region scheint ein Zwischending zwischen Dorf und Land, und das tut weder dem einen noch dem anderen gut; das Land verliert seinen Frieden, und die Dörfer büßen ihren Mittelpunkt ein. Die Dörfer - als organische Einheit mit einem Zellkern verstanden - sind keine mehr, sondern werden zu schlichten Agglomerationen, Wucherungen entropischer Materie: Ekzeme aus Zement und Ziegeln. Das alteuropäische Modell des Dorfs, das um ein Zentrum aus Kirche und Bürgermeisterei, Wirtshaus und Laden gruppiert ist, scheint perdu; als hätte ein gigantischer Fuß es zerquetscht und in die Breite getreten, verläuft sich die Siedlungsstruktur. Das wird seine Gründe haben, und vielleicht sind sie sogar nachvollziehbar. Aber die Dörfer werden dadurch ganz und gar gesichtslos und zu weitläufigen suburbs einer Stadt, die es nicht mehr gibt oder noch nie gegeben hat. Es sind Siedlungsausläufer ohne etwas, von dem sie noch auslaufen könnten: Außenbezirke ohne jedes Innen.

Erst nach einem halben Hundert Kilometern kommt eine Stadt, die den Namen verdient. Viseu hat zwei Kirchen, die wohl besichtigenswert wären, aber um diese Mittagsstunde geschlossen sind. Vor der Kathedrale wird letzte Hand an ein Bühnenpodest gelegt. Techniker stöpseln Mikrofone an und verkabeln Lautsprecher. Wir können beruhigt noch essen gehen, bevor hier etwas aufgeführt wird. Das Restaurant, in dem wir einkehren, ist ein Glücksgriff: sehr solide und schmackhafte Hausmannskost, ein duftig mit Korianderkraut abgeschmeckter Reis mit Fisch und Gambas, aus deren Köpfen sich noch eine gehaltvolle rote Essenz drücken lässt, frittierte Gemüsetempura, und das alles serviert von einer winzigen Kellnerin mit einem dicken schwarzen Zopf und dunklem Flaum auf der Oberlippe: eine bäuerliche Schönheit, wie einer Genreszene von Murillo entstiegen, bis auf den Umstand, dass sie nicht in einer Dorfschenke Dienst tut, sondern in einem Restaurant, das auf sich hält. Als mir die Serviette zu Boden fällt, will ich sie aufheben, doch das Mädchen kommt mir zuvor, entsorgt das nun offenbar unbrauchbare und entweihte Exemplar und reicht mir in einem vornehmen Zangengriff aus Löffel und Gabel ein neues. Mag schon sein, dass sie einem Murillo entstammt; aber sie hat sich mindestens zu einem Zurbaran hochgearbeitet.

Die Bühne vor der Kathedrale ist immer noch leer. Zeit genug, das Museum am Platz zu besuchen. Das Museo Grão Vasco, ein unerwartet moderner Bau hinter einer alten Mauerblende, verfügt über eine dieser Provinzsammlungen, wie ich sie liebe: hier haben Zeit und Zufall die Werke zusammengetragen, wie es eben so kam. Neigung und Glück, Gelegenheit und günstige Umstände spielen hier eine größere Rolle als der in großen Häusern manchmal so nervtötende kunsthistorische Vollständigkeitsdrang, der alle Epochen repräsentativ abdecken oder angeberisch ein paar auserlesene Meisterwerke vorführen will. Dies hier ist kein beflissener Überblick über zweitausend Jahre Kunstgeschichte und kein stolzes Vorführen preziöser chef d'œuvres, sondern eine Art von familiärer Schatzkammer, in der die Liebhabereien und Kostbarkeiten ausgestellt werden, die sich nach und nach in der Stadt angesammelt haben, wie es der Wellengang der Zeiten so mit sich brachte. Es gibt natürlich viel drittklassige Pinseleien und banal prunkvolle Schulmalerei in großem Format, aber dazwischen hängen immer wieder bezaubernde Stücke wahrscheinlich regionaler Meister, die für ein, zwei Bilder von einem Federstreich Genie berührt wurden.  Auch westgotische Überbleibsel, eine romanische Pietà mit schiefem Gesicht, der das tote Söhnchen - vollbärtig, mager, geschunden, nicht größer als ein Siebenjähriger - im Schoß liegt; aus der selben Zeit ein hölzerner Kruzifixus, der in Bruchstücke zerfallen war und wieder zusammengeflickt wurde und nun an seinem Kreuz hängt wie eine Gliederpuppe: ein Pinocchio-Messias. Die Porträts eines mir bislang unbekannten Malers namens Columbano Irgendwie würden auch zwischen Courbet und Cézanne nicht als Provinzlerarbeiten auffallen und sind ganz hinreißend. Die qualitative Unebenheit macht einen Teil des Vergnügens aus, dieses Museum zu durchwandern; der Sprung von der Durchschnittsware zum Meisterlichen belebt den Parcours; eine öde Strecke hebt das Gelungene umso erfreulicher hervor.

Als wir wieder auf den Kathedralplatz treten, ist die Bühne gefüllt. Ein Chor hat Aufstellung genommen und beginnt grade mit Leonard Cohens Hallelujah. Die Mädchenlagen sind ein wenig metallisch im Ton, und unseligerweise ist das Ganze mit einem abscheulichen Instrumentalplayback unterlegt, aber es bewegt mich dennoch; es steckt eine Hingabe darin, die alle technische Mäkelei hinfällig macht. Das nächste Stück (eins dieser unbedarften, modernen geistlichen Lieder in der Art von Danke für diesen guten Morgen) lässt uns allerdings schnell das Weite suchen. Wir machen uns auf den Weg nach Coimbra.

Ein Teil der Strecke führt am Mandego entlang, und wir schauen sehnsüchtig auf den Fluss, der sich reizend durch das Tal schlängelt. Doch nirgendwo führt ein gangbarer oder erlaubter Weg hinunter. Privatstrassen, Absperrungen, Verbotsschilder dort, wo der Fluss zugänglich wäre. Hätten wir eine Machete zur Hand, könnten wir über das Mäuerchen am Straßenrand klettern und uns den Weg hinab durch die Gestrüppe freihauen; aber wir hoffen solange darauf, dass sich doch noch ein bequemerer Zugang auftäte, bis wir unversehens in Coimbra ankommen und die Gelegenheit verpasst ist. Wir trösten uns mit der Idee, morgen eine Machete zu besorgen - sofern eine alte Stätte der Weisheit dazu der rechte Ort ist. Coimbra ist eine der ehrwürdigsten Universitätsstädte Europas; Hiebwaffen werden wohl nicht zu den lokalen Spezialitäten gehören.

Es ist halbsechs, als wir den Bus unweit des Zentrums an einer Stelle parken, die sich nicht gut anfühlt. Die großen, leeren Schaufenster des Ladens vor uns sind mit Gittern gesichert; Container halten einladend ihre Klappen offen, aber der Müll liegt auf dem Platz verteilt, als hätten die Kästen ihn ausgespieen.

Durch heruntergekommenes Gassengewirr schlendern wir der Altstadt zu. In Porto haben wir in den Straßen öfter Studentengruppen in ihren braven Uniformen gesehen, manche mit den Talaren und Schärpen ihrer Fakultät angetan. In Coimbra ist der erste junge Mann, dem wir begegnen, ein Bursche, der in einem Kapuzenshirt mit abgeschnittenen Ärmeln an einem Türrahmen Klimmzüge macht. Sein Kumpel sieht uns und schlendert geschmeidig und mit einem schiefen Grinsen im Gesicht heran. Dagmar raunt mir zu, dass sie sich hier ganz und gar nicht wohlfühlt, überflüssigerweise, denn mir geht es nicht anders, obwohl ich abwiegle. Der Kapuzenbursche schließt sich seinem Kollegen an, aus einem Gasseneingang kommt ein Dritter dazu - keine fünf Minuten sind wir in Coimbra, und schon soll es mit uns ad umbras gehen? 

Aber in Wahrheit interessiert sich das Trio nicht für uns. Plötzlich drehen die drei Kerle ab; die Hand des Kapuzenträgers schlüpft in ein Loch im Mauerwerk und holt ein Beutelchen mit Pillen heraus. Das schiefe Grinsen galt einem Kunden, der hinter uns die Gasse herangekommen war.

Dealer interessieren sich gemeinhin nicht für Touristen; darum bin ich erleichtert, wenn auch etwas besorgt um das Auto, denn mögen sich auch Dealer nicht für Touristen interessieren, interessiert sich möglicherweise ihre Kundschaft dafür, Autos aufzubrechen. Andererseits wüsste ich nicht, was ein Automarder in unserem Bus zu finden hoffte. Campingstühle, frische Unterwäsche, oder Konservendosen gegen den schnellen Hunger?

Die kleine Bande geht mir noch eine Weile im Kopf herum - nicht aus Sorge, aber weil mich ihre Selbstinzenierung als gefährliche Burschen doch beeindruckt hat. So ein ärmelloses Kapuzenshirt ist ästhetisch ja recht effektvoll. Oberkörper und Kopf werden zu einer lanzen- oder projektilhaften Einheit gestrafft und gebündelt, und die bloßen Arme (davon abgesehen, dass die Muskeln gut zur Geltung kommen) wirken um einiges agiler und mit größerer Schnellkraft versehen als bekleidete. Auch das schnelle Hineinschlüpfen der Hand in den Mauerhohlraum hat mich fasziniert: die Ränder des Ziegels waren scharfkantig und rauh wie ein Gebiss aus Klingen - ein Maul, in dem man sich leicht verletzt und aufschürft oder die Haut aufreißt, und die Hand wieder mit einer roten Perlenschnur aus Blutströpfchen daraus hervorzieht.

Die Atmosphäre bleibt, nun, unbürgerlich. Wir steigen den Stadthügel hinauf und geraten bald in Straßenzüge, in denen die Wände mit allerlei Revolutionsparolen besprüht sind wie es in einem Autonomenkiez so comme il faut ist: Bombenpochoirs, EU kills!- und Fuck Capitalism!-Slogans sind allgegenwärtig. Aber man merkt doch auch, dass man in einer Universitätsstadt ist, in der es ein paar durchaus belesene Revolutionäre gibt. An einer Wand prangt fett und mit rot auslaufenden Farbrinnsalen das servidão voluntária! (freiwillige Knechtschaft) aus dem Titel von Etienne de la Boèties präanarchistischer Schrift von 1550, und da ich immer bereit bin, Belesenheit hochzuachten, schaue ich ganz gerührt auf die jungen Leute, die unter dem Graffito beim Bier zusammensitzen, als seien sie, wie Unterschriften unter einem Text, auch verantwortlich für das, was über ihnen zu lesen ist. Ein Punk (visuell auf Krawall gebürstet wie nur je ein gerüsteter Ritter, mit Stachelhaar, Nietenhalsband, lederner Halsberge bzw. Stoßkragen), zwei Hipster mit schwarzem Brillengestell und Zauselbart, und zwei Mädchen, deren Gesichter mit Piercings gespickt sind, als hätten die Schüsse, die sie bei Barrikadenkämpfen mit der Polizei abbekommen haben, ihnen keinen weiteren Schaden zugefügt, als sich als Schrotkugeln in ihre oberen Hautschichten zu bohren, um dort als Trophäen überstandener Schlachten fortan ihre Unverwundbarkeit zu bekunden.

Aber auch wenn ich davon angetan bin, dass La Boètie, dem sein Freund Montaigne seinen so schönen Essay Über die Freundschaft gewidmet hat, ein halbes Jahrtausend nach seinem frühem Tod noch auf Mauerwänden zitiert wird, frage ich mich doch, inwiefern die These von der freiwilligen Knechtschaft des Volks, das den Herrschenden nur durch seine sklavische Unterwürfigkeit Macht verleiht, heute noch geeignet sein sollte, revolutionäres Potential zu entfesseln. La Boèties Argument hatte seinen guten Sinn zu Zeiten der Adelsvorrechte und der selbstverständlichen Geltung dessen, was im darauffolgenden Jahrhundert als Theorie des Gottesgnadentums ausformuliert werden sollte, und es wird seinen Sinn in allen Tyranneien, Diktaturen und Unrechtsstaaten immer bewahren. Dass die heutige Europäische Union allerdings - jedenfalls die gefestigten Demokratien West- und Mitteleuropas - eine solche Tyrannei sein sollte, wage ich doch sehr zu bezweifeln.

Die politische Philosophie hat sich seit La Boètie weiterentwickelt, und Hobbes und Locke, Rousseau, Kant, Rawls haben die Theorie des Gesellschaftsvertrags auf ein Niveau gebracht, das die ursprüngliche Einsicht La Boèties an Tiefe und Problembewusstsein deutlich übersteigt. Auch die Gesellschaften haben sich weiterentwickelt. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Meinungsfreiheit - nichts davon gab es, als La Boètie seinen Discours verfasste, und niemand wird ernsthaft leugnen können, dass die komplexeren Verhältnisse von heute auch bessere Verhältnisse sind. Doch wie lässt es sich da rechtfertigen, mit einem Schlagwort, das in ganz anderen Umständen entstanden ist, auf das filigrane Geflecht der heutigen einzuhauen wie mit einer Renaissance-Streitaxt auf einen integrierten Schaltkreis?

Das Gros des Studentenvolks tummelt sich nicht dort oben in Coimbras Autonomenkiez, sondern unten am Fluss, wo es sich der Leibesertüchtigung widmet. (Wenn heute von freiwilliger Knechtschaft die Rede sein kann, dann ist es eher die Unterwerfung unter die Imperative von körperlicher Selbstoptimierung auf der einen Seite und digitaler Selbstdarstellung bei Facebook und Instagram auf der anderen. Fuck Facebook!-Graffitis sind mir in den Kiezen bislang noch nicht untergekommen. Was wahrscheinlich daran liegt, dass politische Bekundungen, für die man keine likes einheimst, offenbar witzlos sind.)

Als wir uns auf den großen Wohnmobilstellplatz neben den Sportanlagen verfügen, räumen die Studenten grade ihre Ruderboote in die Hallen, packen ihre Badminton-Racketts und Medizinbälle weg, wandern unter die Duschen, und am Morgen sind die ersten Mannschaften schon wieder zugange, treiben Gymnastik, paddeln, traben im Dauerlauf durchs Grün. Es ist ein heiter beschwingtes Studentenleben, ganz mens sana in corpore sano. Die Scholaren brauchen auch einen gesunden Körper, denn die Treppe zur Uni, die wir am folgenden Morgen hinaufstapfen, ist derart lang und steil, dass Schwächlingen wie uns heftig die Schläfenadern pochen, als wir endlich oben angekommen sind.


Coimbra, Tomar


Der Vorplatz der alten Universität ist von Bauten umringt, die deutlich faschistischen Geist atmen (wenn Geist und wenn atmen die richtigen Ausdrücke wären, was nicht der Fall ist; allenfalls schnaubt hier totalitärer Stumpfsinn): hier herrscht ein kantiger und funktionaler Betonklassiszismus wie von Mussolinis Architekten hingestempelt, und die Skulpturengruppen, die an jeder Gebäudeecke stehen, sind von einem fast Brekerschen Heroismus. Die griechischen Götter und Helden sind heute allerdings von schwarzem Schimmel fleckig überzogen und verdüstert, was ich mal als die Scham von Göttern interpretiere, die sich von Diktatoren missbrauchen lassen müssen.

Es geschieht nicht oft, dass ich gut belegte Parkplätze als ästhetischen Gewinn ansehe; hier aber schon. Denn man stelle sich vor, wie dieser Ort aussähe, wenn keine Twingos oder Kangoos da stünden, sondern alles Aufmarschfläche wäre. Die Autos bringen eine gewisse Profanität mit sich, sie entweihen einen Raum, der als weihevoller entworfen wurde; jedes Anlassen eines Motors lässt einen grauen Furz direkt in das Gesicht Salazars knetern.

Wir kaufen unsere Tickets und durchschreiten die Porta Ferrea, die auf den Campus führt. Der ist ein absolutistisches Exerzierfeld, das von der Statue des Universitätsgründers Dom Dinis beherrscht wird, aber dionysisch, wie es dessen Name nahelegt, ist hier gar nichts. Hier scheint Zucht und Ordnung zu herrschen, vor allem Unterordnung. Ich vermute, dass die Auditorien Audienzsälen nachgebildet sind, Stätten, an denen von Kanzel oder Thron aus Wahrheit verkündet wird, doch die Besichtigung belehrt mich eines Besseren - denn eigentlich wirken die Räume und Zimmerfluchten, die man ansehen kann, überhaupt nur selten wie die Gelasse einer Lehranstalt, sondern ganz wie höfische Salons. Der Saal der Disputationen sieht mit seinen samtgepolsterten Bänken, der roten Tapisserie und den prachtvollen Lüstern aus wie eine Mischung aus Königskapelle und Theater. In solchem Pomp wurden die Doktorhüte verliehen, und es wird mir erst ganz trüb zumute, wenn ich an die nüchternen und unzeremoniellen Veranstaltungen denke, die heute selbst eine Habilitation zum Abschluss bringen. Aber das ist nur eine unbedachte, nostalgische Anwandlung; in Wahrheit hat es schon seine Richtigkeit, dass die pompöse Feierlichkeit aus solchen Begängnissen gewichen ist und dass akademische Beförderungen sich im Gestus nicht mehr an Krönungen oder sakramentale Weiherituale anlehnen. Was wäre das auch für ein Wissenschaftler, der sich heute als geheiligter Sachwalter einer in Stein gemeißelten Wahrheit verstünde, als gekröntes Haupt, das berufen ist, seine Lehrmeinungen wie Erlasse oder königliche Dekrete zu verkünden? Auch das ist eine Profanierung, die zu begrüßen ist.

Vielleicht ist sogar die Capela de São Miguel, die Universitätskirche am Campus, eine Vorstufe solcher Profanierung. Ihre jetzige Form verdankt sie dem siebzehnten Jahrhundert, doch das Barock, das in so vielen Kirchen der Epoche eine gewaltsame Spannung zwischen Angst und Schmerz auf der einen Seite und Erlösungsfrohlocken auf der anderen hält, hat die Capela vor diesem Extremismus verschont. Ein heiteres Dekorum überzieht Wände und Decken; Arabesken in milden Primärfarben auf weißem Grund spielen drüber hin. Das wirkt naiv wie die Muster auf einem bäuerlichen Kaffeeservice, gastfreundlich und einladend wie ein Sonntagnachmittag mit Kuchen und Eierlikör. Dass da Altäre herumstehen, die ein wenig gravitätischen Ernst vermitteln könnten, tut nichts zur Sache; das sind nur Erbstücke, Heiligenbuffets, Anrichten, auf denen man Märtyrer zum Tranchieren hinlegt, und das nicht etwa, um damit der Qualen der Glaubenszeugen zu gedenken, sondern nur, um die Kaffeetafel noch bis zum Abendessen auszudehnen und ein gutes Stück Braten für die Gäste übrig zu behalten, und so ein Märtyrer ist da immer ein leckerer Bissen.

Dass die Kapelle dem Erzengel Michael geweiht ist, spricht indes Bände für die gegenreformatorischen Universitäten. Michael war es, der Adam und Eva mit seinem Flammenschwert aus dem Paradies vertrieben hat, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis genascht hatten. Michael hat Luzifer vom Himmel gestürzt, nachdem dieser sein non serviam heraustrompetet hatte. Michael, das begreife ich erst jetzt, ist als Seraphenfigur der Feind des menschlichen Forscher- und Freiheitsdrangs und der Beschützer des göttlichen Wissensprivilegs. Dass über der Engelsburg in Rom, in deren Verliesen Giordano Bruno schmachtete, eine Statue des Erzengels steht, offenbart seine symbolische Bedeutung als Hüter des verbotenen Wissens. Er schwingt sein Schwert über jenen, die wissen wollen und sich der Sünde der Wahrheitssuche schuldig gemacht haben. Gewiss hat die Kapelle nichts Kriegerisches oder Einschüchterndes an sich; aber diesen Michael, den Büttel theokratischer Zensur, zum Schutzpatron einer Universität zu küren, ist denn doch sehr suspekt.

Wir haben noch ein Stündchen Zeit, bis wir in die Bibliothek gelassen werden. Im feuchten Schatten der Gassen unterhalb des Universitätsblocks finden wir ein kleines und sehr einfaches Lokal. Die handschriftliche Speisekarte ist fast unentzifferbar, und das, was ich zu entziffern meine, ist nicht zu übersetzen, also bestellen wir irgendwas. Es kommt ein schlecht gewässerter Stockfisch, der mit zwei Salzkartoffeln havariert ist, daneben ein Klacks Entengrütze, der in seiner Jugend wohl einmal ein hoffnungsvoller Wirsing gewesen sein muss, mais où sont les neiges d'antan? Dagmar bekommt Salat mit darübergebröckeltem Dosenthunfisch, dazu die üblichen Fritten, die sich als fettige Würmer auf dem Teller winden. Für die Suppe, zwei Teller, einen Wein und ein Bier zahlen wir zehn Euro, wir brauchen uns also nicht zu beklagen. Ohnehin gefällt mir das Lokal gerade wegen seines armseligen Essens und seines Publikums aus Bauarbeitern, Anzugträgern und mümmelnden Greisen. Alle sind schweigsam, ein wenig knurrig, aber nicht aus schlechter Laune heraus, sondern ganz habituell oder weil ihnen das Knurrige ein behagliches Gefühl vermittelt. Wahrscheinlich gehören sie alle einem Orden von anonymen Trappisten oder wortkargen Kartäuser-Sympathisanten an, die wenigstens für die Dauer ihrer Mittagsmahlzeit nur das Nötigste herausbrummeln wollen. Auch die Kellnerin, eine ausgezehrte Norne, stellt die Teller mit höchster Behutsamkeit auf den Tisch, um kein störendes Geräusch zu machen, und es ist fast ein Wunder, dass das Besteck tatsächlich aus Metall ist, das auf dem Porzellan klingeln kann; ich hatte einen stummen Gummilöffel erwartet. Dagmars helles Lachen ist ein Skandal im Raum: ein greller Spritzer Leben in dem akustischen Dämmer dieser Klause.

Auf den Kaffee verzichten wir; wir müssen uns sputen, um die Führung durch die Biblioteca Joanina nicht zu verpassen. 

Die Bibliothek gilt als eine der schönsten der Welt, wie uns gleich zu Anfang versichert wird, und das mag wohl richtig sein, interessiert mich aber nicht sonderlich, wenn es mich nicht sogar eher unangenehm berührt. Bibliophilie als Liebe zum Gegenstand Buch scheint mir ein Widerspruch in sich. Die Schrift ist ein geistiges Ereignis, als Signifikat wie als Signifikant, als Bedeutung wie als Silbenmusik. Bücher zu lieben sollte heißen, immaterielle Gehalte zu lieben als Partituren aus Sinn und Klingeling. Bücher zu lieben, weil sie in Schweinsleder gebunden sind, handgenäht, rahmengewichst, weil sie selten sind, ein haptisches Vergnügen, weil irgendwann einmal ein bedeutender Mann sie in der Hand gehalten oder Anstreichungen vorgenommen hat - das alles verfehlt die essentielle Idee der Schrift, die doch in der Transzendierung ihrer eigenen Materialität besteht. Bibliophilie verwechselt wie jeder Fetischismus die Bedeutung einer Sache mit dem Träger der Bedeutung, den geistigen Gehalt mit seiner Verpackung.

Aber von solcher Mäkelei einmal abgesehen ist die Bibliothek natürlich bezaubernd, brasilianische Hölzer, die mit brasilianischem Gold belegt sind, Decken und Bögen voller Embleme und Allegorien, die das Wissen feiern, was angesichts von Michaels inquistorischem Schwert, das so ganz in der Nähe blinkt, freilich etwas fragwürdig scheint. Kühn ist die Idee, den Fluchtpunkt der drei Säle mit einem Gemälde von João V. zu schmücken, das nach Art religiöser Ikonographie wie in einem Altarretabel aufgestellt ist. João hat sich eine sakrale Funktionsstelle angeeignet: er hat den Nimbus vom Haupt der Heiligen genommen, und ihn sich selber aufgesetzt - was als Geste so eigenmächtig und entschlossen ist, wie es Napoleon bei seiner Kaiserkrönung war, als er sich die Krone nicht etwa vom Papst aufstülpen ließ, sondern sie sich selbst auf den Kopf setzte: die machtvolle Bekundung von Selbstbestimmung und ein guter Hieb gegen das Gottesgnadentum.

So ist auch dieses Heiligenbildnis Joãos ein Säkularisat, das die sakrale Form in einen profanen Gehalt überführt - sofern man einen solchen barocken Tempel, in dem Büchern gehuldigt wird, überhaupt profan nennen will.

Diese Huldigung, ja Verherrlichung hat, wie so vieles im Barock, seine dunklere Kehrseite. Denn im Stockwerk unter den Prunkräumen, wo Forscher auch heute noch Arbeitsplätze haben, ist eine kleine Ausstellung zu Cervantes' 400. Todestag aufgebaut; in den Vitrinen liegen allerlei Ausgaben des Don Quijote, auch Literatur dazu, portugiesische Übersetzungen von Unamuno, von den deutschen Kommentatoren erkenne ich Werner Krauss, Hatzfeld etc., und ich bin halb angerührt, halb amüsiert, dass nach der prachtvollen Feier, die man oben dem Buch bereitet, im Souterrain nun eines Romans gedacht wird, dessem Helden durch überhitzte Bibliophilie der Verstand abhandengekommen ist. 

Doch die Treppen führen noch ein Stockwerk tiefer: dort liegt der Karzer der Universität. Es ist ein seltsamer Ort, möchte man meinen, für solche Zellen. Gab es denn auf dem ganzen Gelände keine anderen Winkel, um Studenten einzukerkern, die einen über den Durst getrunken oder die Nachtruhe gestört hatten? Dies, so unser Führer, seien die hauptsächlichen Vergehen der dort Inhaftierten gewesen. Aber ist das wirklich glaubhaft? Viel wahrscheinlicher oder jedenfalls stimmiger ist es doch, dass dort die landeten, die Dinge gesagt und geschrieben haben, welche den Oberen missfielen, weil sie Adel oder Klerus kritisierten, weil sie Schäbigkeit und Lüge und Rückständigkeit sichtbar machten? Ist nicht der Karzer das dritte Element einer Bibliotheksarchitektur, die, wie Dantes Jenseits, in drei Reiche aufgeteilt ist: oben der paradiesische Ort der offiziellen Wahrheit und des genehmen Wissens. In der Mitte das Purgatorium der Fehlbarkeit und der Täuschung, der Bereich, in dem Weisheit und Narrentum ihre Plätze tauschen und zweideutig werden, vielleicht aber auch die Zone der Läuterung; und zuletzt ist unten in die Fundamente des Baus gehauen der Ort der Verworfenen, der vorlauten und umstürzlerischen Renegaten, deren Zorn dicker Mauern bedarf, damit das Gebrüll ihres non serviam nicht nach außen dringe. 

Eine Sache will ich nicht vergessen. Der Führer erzählte, dass die Bücher zwar in idealer Umgebung, bei gleichbleibender Temperatur und Luftfeuchtigkeit sicher lagerten, aber von papierfressenden Insekten bedroht seien. Zu diesem Zweck halte man eine Herde von Fledermäusen, die nachts auf Insektenjagd gingen. Die Vorstellung, dass Fledermäuse die Bücher behüten, ist von wunderbarer Vieldeutigkeit. Ist eine Fledermaus nicht das ideale Totemtier für Leser? Sind ihre entfalteten Flügel nicht wie aufgeschlagene Bücher, die über zugeschlagenen Büchern wachen? Und ist ihre legendäre Hellhörigkeit nicht ein vollkommenes Symbol für aufmerksame Leser? Oder fallen die Tiere wie die Eulen und Fledermäuse auf Goyas Radierung vom Schlaf der Vernunft nächtens über einen eingeschlummerten Leser her?

Coimbra ist eine seltsame Stadt. Hügelan ist sie steil und verwinkelt, und das erzeugt bizarre Nähen und abrupte Übergänge. Es ist, als hätte man eine Stadt auf der Ebene wie einen Teig ausgewalzt, diesen dann aber hundertfach gefaltet, durchgeknetet, eingeschlagen, erneut ausgerollt und dann über die Hügel gelegt; durch das Prozedere ist alles durcheinandergeraten. Eben noch gehen wir durch muffige und schimmlig riechende Gassen, in denen altbackene Kittelschürzen und Engelskostüme für Kinder feilgeboten werden; man wähnt sich in einem verschmuddelten Ghetto, und dann tut man drei Schritte und findet sich auf dem Platz, der die gute Stube der Stadt darstellt. Gleich unter einer vergammelten und anbrüchigen Häuserreihe, bei der man sich nur wundert, dass sie nicht mit Flatterband abgesperrt ist, liegt ein Geviert von Repräsentationsbauten, die hervorragend in Schuss sind, und daran schließt sich wieder eine Geschäftszeile, die so lückenhaft ist wie die Zähne der Rentner, die auf Bänken die Stunde erwarten, in der sie guten Gewissens einen Aguardente nehmen können. Elend und Stolz, Pracht und Zerfall liegen hier eng beieinander, aber noch eindrücklicher als diese schroffen Kontraste ist das Zusammentreffen von historisch Bedeutsamem und Wurschtigkeit. São Cruz ist (mehr noch als die Kathedrale) die Hauptkirche der Stadt, gleich daneben liegt ein schönes belle époque-Café, davor ein Brunnen und ein Platz, und für jeden Stadtplaner müsste das Ensemble ein Anreiz sein, es hervorzuheben. Doch die Fußgängerzone, die aus Richtung des Flusses dorthin führt, ist eine öde Ladenmeile, und in den Gassen gleich hinter den Kulissen der Praça 8 de Maio bröckeln die Fassaden - und das ist weniger pittoresk als vielmehr jämmerlich. Die Stadt könnte schön sein; vielleicht hat ihr die Armut zugesetzt, ärger aber wohl die Ignoranz, denn außerhalb der Altstadt gibt es durchaus Zonen, in die einiges Geld geflossen ist; die Altstadt selbst aber hat man vernachlässigt.

Auch São Cruz selbst, die Kirche, macht einen mitgenommenen Eindruck. Sie wirkt wie eine großbürgerliche Wohnung, in der der Gerichtsvollzieher den Großteil der beweglichen Habe gepfändet hat. Auf den ersten Blick sind als die Reste vergangener Größe neben einem Grabmal nur die Kanzel und die Orgel übrig geblieben. Das Grabmal Sanchos I. und die Kanzel in all ihrer Steinmetzfiligranität lassen die später aufgestellten Altäre aussehen wie Pappmachée-Kulissen, die man hier nur hingesetzt hat, um die Spuren erlittener Plünderungen zu verdecken.

Schon mehrfach ist mir ein bestimmtes Motiv in der Gestaltung der portugiesischen Altarretabel aufgefallen. In der Ädikula - dem Schrein, der den Altartisch überragt - steht oft eine Art von Stufenpyramide: die Ausarbeitung variiert und kann wie in Bom Jesus bei Braga einer Art von mehrstöckiger Hochzeitstorte ähneln, auf dessen Stufen sich die Heiligenfigürchen drängeln, die Struktur kann aber auch treppengleich und von Kerzenleuchtern flankiert, oder - wie hier - ohne alles skulpturale Beiwerk ausgeführt werden. Die Abstraktheit dieses Pyramidenstumpfs irritiert mich: ich kann ihn nicht in die üblichen katholischen Symbolregister einordnen, es sei denn auf eine sehr allgemeine Art - etwa als Ascensus zu Gott oder als Darstellung der hierarchischen Staffelung von Laienvolk, Heiligen, Cherubim bis hinauf zum Herrn selbst, was mir aber abscheulich platt erscheint. Dass die Freimauer sich die Mühe gemacht haben sollten, ihre bedeutungsschwangeren Pyramiden in portugiesische Kirchen einzuschmuggeln, ist auch wenig wahrscheinlich. Vielleicht handelt es sich um einen Bezug auf den Berg Tabor, jenen Inselberg in Galiläa, auf dem Petrus, Jakobus und Johannes die Verklärung Christi geschaut haben? "Sein Antlitz strahlte wie die Sonne", schreibt Matthäus, "und seine Kleider wurden weiß wie das Licht." Aber als Erinnerung an strahlende Visionen taugt dieser Pyramidenstumpf aus Basalt mit seinen vergoldeten, wulstigen Zwischensimsen auch nicht recht; je länger ich daraufblicke, desto mehr erinnert mich der dunkle Stein mit seinen goldenen Riefungen an einen Kohlenmeiler, durch dessen Ritzen ein wenig glimmende Helligkeit dringt. Vielleicht dienen solche Gebilde ja auch dem Gedenken an ein besonders prachtvolles Autodafé, bei dem ketzerische Bücher verbrannt wurden? Auch in São Miguel, der Universitätskirche, ziert eine - allerdings ganz vergoldete - Stufenpyramide den Altar, die sehr gut einen goldglühenden Bücherstapel vorstellen könnte.

Sollte ich einen Kunstreiseführer zu Rate ziehen, damit mir das Rätsel gelöst würde? Herrje! Lieber nicht. Ich beschließe, dass Portugal mit diesen Pyramiden seiner glorreichen Inquisition gedenkt, und das soll für heute genügen. Ende der Spekulation!

Wir bummeln noch ein Stündchen durch die kleinen Gassen der Altstadt. Ein halbes Dutzend gebratener Spanferkelköpfe schaut uns aus einer Restaurantvitrine an, die Schnauzen aufgerissen, Diademe weißer Zähnchen im Maul, und auf einen Schlag begreifen wir, dass wir hier nichts mehr verloren haben. Auf dem Rückweg zum Bus wird in den Grünanlagen am Mondego die Bühne des Samstagskonzerts abgebaut. Die Module werden auf offenen Hängern aufgeschichtet und - sechs zuunterst, dann fünf, vier, drei, zwei, eins - verzurrt. Sie erinnern mich an etwas, aber ich weiß schon nicht mehr, woran eigentlich.


Weiter nach Tomar. Wir kehren im Touristenbüro ein, um uns nach einem Übernachtungsplatz zu erkundigen. Der clerk dort ist ein sehr hübscher und sehr entgegenkommender Jüngling Mitte zwanzig, der allerdings ein vollkommen rudimentäres Englisch dahinstammelt, das mit absolutely und no problem gespickt ist, ob diese Floskeln nun passen oder nicht. Der Bursche holt seine Ausdrücke nicht aus einem Wortschatz; das wäre ein allzu pompöser Ausdruck für seine dürftigen Kenntnisse. Statt eines Wortschatzes hat er einen Bettelhut, und seine Finger wühlen sich durch die paar armseligen Vokabelmünzen, die er auf welchen Wegen auch immer eingeheimst hat.

Verdrießlich ist nicht, dass manche Portugiesen schlecht Englisch sprechen, sondern dass man einem Kerl einen Posten im Touristenbüro gibt, der auf dem Niveau eines lernschwachen Siebtklässlers steckengeblieben ist. Ein Drittel der Portugiesen unter 25 ist arbeitslos, und ich vermute, dass auch in Tomar einige davon das Englische ganz flüssig beherrschen. Warum stellt man also einen imbezillen Schönling hinter diesen Tresen, statt jemanden halbwegs Kompetenten mit der Stelle zu beglücken? Die wohlwollendste Deutung ist es noch, dass man vielleicht meinte, mit dem hübschen Lärvchen des jungen Mannes reiche Touristinnen zu bezaubern. Aber wer nach Tomar kommt, tut das nicht um erotischer Abenteuer mit oligoglotten Eingeborenen willen, sondern wegen des Christusklosters, und so bleibt als Erklärung für diese Fehlbesetzung eigentlich nur noch ein trüber Abgrund an Nepotismus: der trottelige Jüngling muss der-Sohn-von, der-Neffe-von oder das-Liebchen-von sein, vielleicht auch der-Mittelstürmer-von, jedenfalls ein Protegé, der nicht aufgrund der Fertigkeiten angestellt wurde, die in einer informação turistica vonnöten wären.

 Als wir begreifen, dass er auch in anderen romanischen Sprachen nicht imstande ist, unsere Frage nach einem Übernachtungsplatz zu verstehen, geschweige denn zu beantworten, machen wir uns unter höflichen Danksagungen davon und verfügen uns auf die Praça de Republica, den schönen, von einem bescheidenen und einheitlichen Barockensemble umrahmten Hauptplatz der Stadt. Die Pflasterung ist ein, nun ja, konzentrisches Schachbrett aus schwarz-weißen Rauten, die aus der Perspektive unserer Barterrasse zu anamorphotischen Stachellinien verzerrt sind. Gualdim Pais, im 12. Jahrhundert Großmeister der Tempelritter, Gründer der Stadt und Befehlshaber bei ihrer Belagerung durch die Almohaden, hat hier sein Standbild: er steht inmitten des Platzes, Helm und Schulterpanzer von Taubendreck befleckt: ein siegreicher solus rex auf einem von Feinden (allerdings auch von Freunden) leergeräumten Schachbrett, bucklig, mürrisch, zu Tode erschöpft. 

Auf der Terrasse schäkern Teenager bei einer Cola; Männer lesen Zeitung, und keiner von ihnen macht den Eindruck, als gäbe es gute Nachrichten. Danach, in der Kirche, knieen wieder einmal zwei Frauen in den Bänken, beten stumm dornenreiche Rosenkränze und lassen die Tränen fließen, während eine Putzfrau einen nassen Wischmob auf das Plaster klatscht und nach ein paar Quadratmetern in einem Einsatz ihres Eimers das Schmutzwasser ausdrückt; das Wischen und Quetschen ist eine Art von Parallelaktion zum Beten und Flennen, eine Reinigung von Grau und Gram.

Noch ein Spaziergang, der uns zu den Ufern des Nabão führt, wo eine Reihe von breiten, gedrungenen Lagerhallen steht, weiß getüncht und fast fensterlos, aber ohne die Ladequais, die es wahrscheinlich einmal gegeben haben muss, um Waren zum Tejo zu verschiffen oder von dort anzulanden, Fässer und Säcke und Ballen, doch jetzt sehen die Häuser nur noch aus wie Vereinsheime, eins neben dem anderen, Versammlungsräume für Trachtengruppen und wimmelnde Mückenvölker. Weiter oben am Fluss dreht sich unter den im letzten Maidrittel immer noch dürren Ästen einer Trauerweide ein hölzernes und knochenbleiches Wasserrad, und es schnürt mir mit jeder ächzenden Umdrehung den Hals mehr zu.

Es gibt hier eine Synagoge (jetzt geschlossen) und ein Streichholzmuseum mit 80 000 Exponaten aus mehr als hundert Ländern (geöffnet, aber die Vorstellung, Streichholzschachteln anzusehen, entflammt uns nicht). Doch frage ich mich, wie man auf die Idee kommen kann, in einer Stadt, in der nach Aufhebung der Toleranzorder Manuels um 1550 Hunderte von Juden auf den Scheiterhaufen geschickt wurden, unweit der Synagoge ausgerechnet ein Streichholzmuseum aufzubauen.

Wir fahren hinauf zum Konvent; der Parkplatz leert sich, und wir haben die Aussicht hoch über der Stadt fast für uns allein. Es scheint uns der erste Abend, an dem wir bis spät in die Nacht draußen sitzen können. Es ist mild, und die illuminierten Burgmauern hinter uns glimmen wie Honigwaben, Altgold vor Preußischblau. Von Zeit zu Zeit kommen Paare vorbei, die ihren Abendspaziergang hier hinauf unternehmen, sich eine Weile auf den Bänken ausruhen und dann wieder hinunterwandern; die Älteren gehen diskret und schweigend an uns vorbei, aber die Jüngeren wünschen uns, aufgekratzt bekifft, einen schönen Aufenthalt. Haben wir, Jungs, haben wir.


Tomar, Ourem, Batalha


Der Morgen ist dann freilich trüb und nieselig. Die Motorradfahrer, die in der Früh um neun hier anbrummen - gluckernde Harleys, Goldwings und schnurrende BMWs, tuckerige Triumphs - halten nur kurz für eine Zigarettenpause. Zwanzig Maschinen, dreißig Ritter, die eine Mikrobelagerung vor den verschlossenen Toren abhalten und dann wieder abziehen, mehr ein ritueller Stop oder ein Etappenstempel als echtes Interesse für die alten Mauern.

Anfangs bedauere ich, dass der Regen unseren Besuch hier überschattet, doch irgendwann bin ich dankbar für die atmosphärische Begleitung: es könnte nichts Passenderes geben als das beständige Rieseln und Triefen, das die Anlage einhüllt. Der Regen verwandelt das Konvent in einen Bau, der in unendlicher Langsamkeit in märchenhafte, neblige Feuchte absinkt, in eine Sphäre, die mehr aus Dunstgespinsten und dämpfigen Phantasmen besteht denn aus Stein, und manchmal kann ich auf den ersten Blick kaum unterscheiden, ob die Formen dem Stein eingegraben oder nur flüchtige Kondensationen von Nebelfibern sind.

Die manuelinische Dekoration tut ihren Teil, um das Gefühl eines auf den Meeresgrund gesunkenen Palasts wachzuhalten: dieser Stil, der sich entwickelte, nachdem Portugal im 16. Jahrhundert zur führenden Kolonialmacht aufgestiegen war, brachte Seefahrermotive wie verdrillte Taue, Armillarsphären, Anker ebenso in die Ornamentik wie exotische Pflanzenformen, saugnapfbesetzte Polypenarme, Rüschenwerk von Algen und beschindelte Korallenäste, die als Friese und Pfeiler Dienst tun. Seeanemonen und Ammoniten besiedeln den Stein, Muschelmäuler und Meerespflanzen, die dicht mit vorgestülpten Blüten oder Reihen von hungrigen Schnuten besetzt sind, Flechtbänder wie von Korallenästchen und Borde mit kugeligen, bepickelten Seeigelskeletten - vielleicht haben hier wirklich nie Kohorten von Steinmetzen an Wand- und Säulenschmuck des Konvents gearbeitet, und man hat sich einfach damit begnügt, den Bau ein Jahrhundert lang im Indischen Ozean unter Wasser zu halten, damit sich all die Zeugnisse submariner Lebenswelten an den Spanten und der Reling absetzen konnten, bevor man das Ganze aus den Tiefen barg und nach Tomar verschiffte.

Die Steinmetzarbeiten (wenn es denn wirklich welche sind) fallen vielleicht nicht immer sehr feingliedrig aus; sie sind so stämmig und robust, wie es sich für Seefahrer gehört, die mit schweren Tauen und Winschen hantieren müssen; man ahnt in den drallen Wicklungen der Taue das Pendant der Matrosenmuskeln, die sie aufzurollen hatten. Die Motive bedienen auch selten irgendeinen religiösen Sinn; das ganze Exempel- und Allegorienwesen, das in den anderen christlichen Ländern der Epoche so allgegenwärtig war, fehlt hier weitgehend. Von moralischer Unterweisung, dem Aufruf zum Nacheifern hervorragender Glaubenszeugen, überhaupt dem ganzen Trompetentum christlicher Didaxe kaum eine Spur; und wenn einmal ein paar Stücke aus dem religiösen Brauchtum auftauchen, Kelche, Monstranzen, Kruzifixe, dann hat man eher das Gefühl, dass hier die kostbarsten Stücke aus einem Piratenschatz an Land gespült werden, und nicht, dass dabei irgendwer an das Gefäß für Christi Blut gedacht hätte. Aber auch, wenn die geläufigen katholischen Requisiten fehlen, ist eine tiefe Frömmigkeit, eine gewisse Hingabe und feierliche Ergriffenheit spürbar. Doch der Gott, dem hier gehuldigt wird, ist nicht der Gott der Offenbarung und nicht der Gott als Vater Christi, sondern allenfalls der Gott des Entdeckerzeitalters. Apostel und Märtyrer und Heilige spielen keine besondere Rolle; prägender ist der Geist Vasco da Gamas, der durch die Kreuzgänge und Höfe schweift. Von seinen Reisen, und von denen seiner Kapitänskollegen, stammen die Schmuckmotive an den Wänden, die Meergurken und Schwämme, Pfefferstrauch und Kardamon, Seesterne und Krabben - alles beschwört den Reichtum, den Portugal aus Mosambik, aus Goa, aus Macao ins Land holte. Doch all das ist nicht nur eine Feier von Reichtum und profanem Kaufmannsglück: etwas daran geht über die protzige Selbstverherrlichung einer vermögenden Handelsnation hinaus, das ist zu spüren. Die üblichen Insignien und Embleme der Christenheit mögen an Bedeutung verloren haben und von Tauen und Muscheln und Algen überwuchert worden sein; aber das Heilige hat nur ein anderes Kleid umgetan und eine andere Form der Inkarnation gefunden. Nunmehr schreiben die exotischen Formen an einem neuen Gottesbeweis, indem sie die unendliche Schöpfungslust Gottes bezeugen. Seine unerschöpfliche Großzügigkeit, sein Hervorbringen einer unüberschaubaren Vielfalt wird zum Grund einer neuen Weise, sein Lob zu singen. Gott ist das Füllhorn, aus dem der sichtbare Reichtum der Schöpfung quillt.

Es wird noch zwei, drei Jahrhunderte dauern, bis die Denkform der Physikotheologie poetisch erblüht und ihre Propheten aus der Raffinesse und Detailklugheit des Weltorganismus unwiderlegliche Argumente für die Größe seines Baumeisters häkeln; doch schon hier, in der manuelinischen Kunst, feierte man Gott nicht mehr als denjenigen, der durch das Opfer seines Sohns den Menschen das Heil verheißen hat, sondern als den erfindungsreichen Werkmeister einer Welt voller wundersamer Dinge. Nicht mehr Christus und sein Erlösertum standen im Zentrum dieser Kunst, sondern der Zauber der Welt selbst, aus dem meerfeuchten Schoß der Natur gehoben.

Die Anlage ist weitläufig, und die Kreuzgänge und Dormitorien, Kapellen und Wirtschaftstrakte sind in verwirrender Abfolge aneinandergeschachtelt. Wahrscheinlich gibt es nur ein Refektorium und einen Kapitelsaal, doch da wir diese Räume immer wieder durch ein anderes Tor und aus einer anderen Richtung betreten, multiplizieren sie sich in meiner Vorstellung schnell zu einer kaleidoskopischen Vielzahl.

Deutlich älter als die manuelinischen Trakte des Konvents ist die Klosterkirche. Der Grundriss des Zentralbaus - von außen ein Sechzehneck, innen dann zum Oktogon reduziert - erinnert an die Grabeskirche in Jerusalem, die den vom Ersten Kreuzzug heimkehrenden Tempelrittern wohlvertraut gewesen sein muss. Dieser Rotundenbereich ist weniger eine Kirche als ein großer Schrein, ein ins Große gebauter Tabernakel. Wurden hier Gottesdienste gefeiert? Ich kann es mir kaum vorstellen; es gibt keine Sitzbänke, eigentlich keinen Raum für die Gläubigen; es ist ein Ort, der sich selbst genug ist. Hier thront ein unsichtbarer Gott auf einem Sitz von mathematischer Regelmäßigkeit, der Herr der Sternenumläufe.

Späte Bearbeitungen haben die Rotundenarkaden und die Seitenwände allerdings der mutmaßlichen frühen Schlichtheit beraubt. Im Barock wurden die Wände mit Gemälden, Pfeilerstatuen und hinreißend schöner Ausschmückung gefüllt; viel Gold, viel Purpur und Lapislazuli ist für die reiche Musterung der Säulen aufgewendet worden, aber selbst diese opulente Ausstattung hat den Raum nicht so aufgesprengt wie es die Epoche sonst in ihren Bauwerken zu tun pflegte. Die Rotunde bleibt bei aller Pracht und aller Mustervielfalt von konzentrierter Majestät. Grundriss und Kuppel halten die platonische Idee des Einen fest; da mag das Gewimmel der Ornamente und die Auskleidung der Wände sich noch so sehr in Details und individuellem Kreuchen und Fleuchen verlieren; der Raumeindruck bleibt dennoch von erhabenem Einheitsstreben getragen. In den genuinen Barockkirchen hat der liebe Gott alle Mühe, die überall herumflatternden Putten und zappeligen Heiligen einigermaßen im Zaum zu halten und die Fliehkräfte der Architektur zu bändigen; aber hier herrscht ritterliche Strenge; eine gebündelte, und durch noch so viel Dekorwirrwarr nicht auseinanderzureißende Kraft.

Die Vorhalle vor dem Rundbau - der Narthex - ist von zwei Kanzeln flankiert; doch bevor ich mich wundern kann, warum es da zwei Kanzeln gibt (sollten hier etwa zwei Prediger sich öffentliche Streitgespräche geliefert haben, Redeturniere anstelle der ritterlichen Tjosten?), erkenne ich, dass nur eine davon echt ist: ihr Pendant ist ein trompe l'oeuil, einzig dazu da, die Symmetrie zu wahren.

Wir wandern noch anderthalb Stunden durch den Konvent, durch Höfe und Flure, Terrassen und Arkaden, und lernen alle acht Kreuzgänge der Anlage kennen. Nicht alle sind von Interesse - doch in der Abfolge entwickeln sie einen atmosphärischen Sog; die Aneinanderreihung vermehrt nicht einfach ihre Zahl, sondern erzeugt den nahezu halluzinatorischen Reiz einer labyrinthischen Struktur. Mag sein, dass nur der Regen daran Schuld trägt; aber ich fühle mich bald wie in einer gebauten Version von Piranesis Carceri oder einer Erzählung von Borges; ein endloser, unentrinnbarer Parcours, und noch jetzt, da ich dies niederschreibe, kommt mich manchmal die Ahnung an, dass etwas von mir, irgendein abgespaltener Seelensplitter, dort herumirrt, immer auf der vergeblichen Suche nach dem Ausgang.

Westwärts nach Ourem, wo wir einen Hügel hinaufsteigen, eine Burgruine beschauen und währenddessen darüber nachgrübeln, warum wir das tun. Im Tal verteilen sich Häuser und Gewerbehöfe, die man lieber nicht so genau sehen will, der Blick in die Ferne macht trübsinnig, und die Burg ist, nun ja, eine Burg, eine gewesene.

Im Örtchen darunter wird Ginjinha verkauft, ein Likör aus einer hiesigen Kirschenabart. Das Mädchen, das uns ein Probiergläschen ausschenkt, sagt, dass Ginjinha der Name der Frucht sei, der Name des Likörs, und zugleich der Name des Hauses. Das nenne ich Sparsamkeit; meine Mutter mache es ganz ähnlich, die nenne auch fast alles Dings (cosa); man treibt keinen Aufwand, sondern bezeichnet einfach alles mit dem selben Wort. Ob sie etwa auch Ginjinha heiße? - Wenn eine junge Frau über solch matte Scherze lacht, ist das Ausmaß der Langeweile leicht zu ermessen, in der sie tagein tagaus schmoren muss. 

Wir essen in der Unterstadt, in einer Art kollateral entstandenem Patio, wo ein paar Männer Wein trinken und fernsehen. Der Hof gehört nicht zu einem Haus, sondern ist nur die Rückseitenhohlform dreier aneinandergrenzender Bauten. Die Küche hat sich in einer Garage des einen Hauses eingerichtet, die Toilette liegt im zweiten, und der Gastraum schließlich im dritten. In der gekachelten Stube stehen fünf Tische. Dagmar bekommt ein Stück Fleisch mit einem darübergehauenen Spiegelei, Reis, grüne Bohnen auf Wunsch (der Wirt spricht Französisch, was alles erleichtert), ich Bacalhão mit Kichererbsen, einem gekochten Ei und Salzkartoffeln. Ich nehme mir ein Beispiel am Nachbartisch, wo über jeden Teller ungefähr eine Wasserglasmenge Olivenöl gegossen wird; das tadellose Öl ist ein Allversöhner, belebt die Kartoffeln, erweckt die Kichererbsen und mildert den Stockfisch aromatisch ab; letztlich ist es eine gelungene Arme-Leute-Küche aus einfachen Zutaten, die durch das Zauberelixier des Olivenöls alle Fadheit weghext. Dazu saufen wir eine Flasche Viñho verde, danach Kaffee, und zahlen zu zweit keine fünfzehn Euro. Das nenne ich günstig tafeln!

Zudem gefällt mir der Wirt. Von oben nach unten: Glatze, dicke Nase mit fortgeschrittener Rosazea, fleischige Lippen, diverse Kinnlappen, unter denen die Idee eines Halses verschütt gegangen ist; weiter unten eine Wampe voller Weltbehagen, und, darauf abgelegt, verschränkte Finger, die so drall sind wie frischgestopfte Würste. Dazu kommt eine Stimme, die ihm eine lobende Erwähnung in einem Barry-White-Imitatoren-Wettbewerb einbringen könnte - ein warmer, sanft angerauhter Massagehandschuh aus rubbeligen Brummelfrequenzen; Klang gewordener Bärenpelz.

Man könnte unter der Obhut dieses Mannes gut den Winter hier zubringen; aber der Himmel hat aufgeklart, die Luft ist milder geworden, und den Kaffee serviert uns ein spiddeliger Kellner, der längst nicht so viel Gemütlichkeit verströmt wie der Wirt. Die Zeichen sind eindeutig: wir müssen wieder raus in die rauhe Wirklichkeit, und passenderweise trägt unser nächstes Ziel den Namen Batalha: die Schlacht.

Batalha ist ein portugiesischer Gründungsmythos, ein heiliger Ort. Im Jahr 1385 hat das Land hier seine Unabhängigkeit gegen die kastilischen Heere verteidigt, und das Kloster, dessen Stiftung der portugiesische Thronprätendent für den Fall des Sieges versprach, erhebt sich jetzt schon von weitem sichtbar über der Stadt: der gestickte Stachelkamm seiner Simse steht wehrhaft wie gesträubtes Nackenhaar gegen die Aggressoren.

Doch als wir den Bus abstellen und uns zu Fuß der Kathedrale nähern, verändert sich diese kriegerische Entschlossenheit des Baus. Die Zacken und Stacheln auf den Fialen sehen nicht mehr bedrohlich aus, sondern merkwürdig verspielt und dysfunktional, als seien sie weniger von einem Festungsbaumeister als von einem Handarbeitskurs entworfen worden: was von fern noch wie Hellebarde wirkt, ist aus der Nähe Häkelei. Sinnlos ausufernde Annexe, Schwibbögen, die wie besorgte Mutterarme nach entlaufenden Anbauten greifen, Portale, die von Zähnchenreihen gesäumt sind und doch nie den Eindruck machen, sie könnten beißen, sondern allenfalls wie Putzerfische Algen abknabbern. Es ist eine angeberische Architektur: die Schulhofprahlerei eines Feiglings, der sich aus schierer Angst zum Muskelprotz aufbläst. Die Kathedrale sollte ein Zeichen der Stärke setzen. Doch aus allen Ecken und Enden zittert die Furcht heraus.

So jedenfalls hatte ich am Abend meine ersten Eindrücke festgehalten; aber wenn ich heute die Bilder ansehe, weiß ich nicht, was mich geritten haben mag, dieses Bauwerk so zu diffamieren. In Wahrheit ist die Kathedrale ein stolzes und schönes Gebilde von majestätischem, aber nicht düsterem Ernst. Vor allem das Innere ist imponierend: während die Fassaden mit Fischblasenornamenten, Kreuzgittern, pikengekrönten Balustraden und Kleeblattfüllungen im Strebewerk von Dekor geradezu überwuchert sind, mit Gliederungselementen bedeckt und von verschlungenen Ornamentwirbeln erfüllt, öffnet sich der Innenraum in überwältigender Schlichtheit. Nichts lenkt den Betrachter von dem schieren Ausmaß des Baus ab. Die Bündelpfeiler stehen in soldatischer Reihung; ihre Aufgabe ist nicht die Zier, sondern allein die Stützung des hohen Gewölbes, bei dem nirgends versucht wird, seine architektonische Funktionalität durch allerlei ornamentale Muster zu überspielen, wie es so häufig in den Kathedralgewölben der iberischen Halbinsel geschieht, deren Rippensterne, Rippenfächer und Rippenschlingen, als hätten sie ein Zaubernetz darüber geworfen, die mühseligen Notwendigkeiten des Tragwerks vergessen machen wollen. Hier aber wird nichts geschönt oder erkünstelt: das Gewölbe ist keine versponnene Spitzenklöppelei, sondern ehrliches Steinmetzenhandwerk, nichts sonst.

Außerhalb des Schiffs jedoch, im Kreuzgang und im Kapellenanbau, bricht die Ornamentenlust gleich wieder furios hervor. Die strenge Zucht ist für die Kirche reserviert; draußen darf es lustvoller zugehen, und wir bewundern die Flechtarbeiten in Stein, das Gewimmel sich umeinanderwindender manuelinischer Schlangen als Portalfüllung, die steinernen Strähnen, die, zu Zöpfen gebunden, Säulen umschlingen. Wir erleben eine Stunde von Hingabe und glücklicher Bewunderung - und doch bleibt uns ein gewisses Unbehagen nicht erspart.

Das Kloster beherbergt auch Grabstätten, die zum nationalen Erbe gehören und von zwei Soldaten gehütet werden, die in Tarnuniform und Springerstiefeln auf Podesten stehen und ihre Maschinengewehre martialisch auf den Boden stemmen. Die Anwesenheit bewaffneter Soldaten in einem Kloster scheint mir ein wenig erklärungsbedürftig, des Augustinus Lehre vom gerechten Krieg hin oder her. Aber mehr noch als die bloße Bewaffnung irritiert und schließlich amüsiert mich der Umstand, dass die Soldaten zu ihrer grau gefleckten Camouflage-Kluft ein knalllrotes Halstuch tragen, das im Feld sicher nicht von Vorteil ist (es sei denn, ein Schuss zerrisse ihnen die Halsschlagader, denn dann würden sie wenigstens in farblich passenden Stoff bluten), das ihnen aber vor allem die Anmutung eines hahnenhaften Kehllappens verleiht. Warum nur hat man vergessen, ihnen auch einen ordentlich leuchtenden Hahnenkamm auf die Mütze zu nähen, um sie als vollgültige Wappentiere Portugals auszustaffieren?

Am Ende des Rundgangs erwartet uns ein Raum, in dem die militärische Herrlichkeit des Landes ausgestellt ist, Wappen, Helme, Waffen, Triumphe in Angola, Verehrung der Helden, und wenn ich mich recht erinnere, wird sogar Salazars wohlwollend gedacht. Mein Verdacht, dass es den Portugiesen vielleicht doch einfach ein bisschen an historisch-moralischer Selbstreflexion mangelt, wird dadurch nicht gerade entkräftet.

Es hält uns nicht in dem Städtchen. Nach der Besichtigung sitzen wir noch auf ein Glas am Platz und schauen auf den kolossalen Bau, vor dem eine Reihe von Zelten aufgebaut ist, in denen zur Saison oder für Wochenendausflügler Souvenirs feilgeboten werden. Aber jetzt sind alle Zeltbahnen herabgezogen; das Feldlager schläft, und Mutter Courage kratzt sich in ihrem Karren den Schorf vom Kinn.

Dagmar hat auf der Karte eine Burg entdeckt, von der wir uns einen schönen Übernachtungsplatz erhoffen; es ist eine halbe Stunde Wegs dahin. Die Burg entpuppt sich als ein lachhaftes Nichts, und noch lachhafter ist, dass eine Art Waldschrat an der Kasse sitzt, der sich weigert, Spanisch zu verstehen oder zu sprechen. Man sei in Portugal, erklärt er mir (in radebrechendem Englisch), also möge man Portugiesisch sprechen. Spanisch sei die Sprache des Feindes, er weigere sich schlichtweg, es zu benutzen oder auch nur zu verstehen. Der Mann ist in den Sechzigern, und seine ganze Aufmachung ist die eines in die Jahre gekommenen Revoluzzers, Halstuch, schulterlange Haare, Kupferreif ums Handgelenk, Tabakbeutel vor sich: der Phänotyp eines Mannes, der seit vierzig Jahren Plakate für den Partido comunista geklebt hat; aber linker Internationalismus scheint manchmal nur ein Bekenntnis aus sehr schmalen Lippen zu sein; gegen tieferliegende Stammesressentiments hilft offenbar auch die Internationale nichts. Und gegen Dummheit ohnehin nicht. Auf die Frage, warum die Spanier die Feinde seien, antwortet er mit einem kühnen Wechsel von der kausalen in die temporale Kategorie: they were always. Die Frage, in welcher Richtung Alcobaça liegt, spare ich mir daraufhin. Wahrscheinlich hätte er nur gesagt, weil es anderswann ist, und zwar mindestens drei Zentner.

Wir finden auch so den Weg nach Alcobaça. Allerdings geht die Fahrt nicht ganz ohne Umwege ab. Ein Wegweiser, der einen Campingplatz verheißt, lockt uns von der Bundesstraße weg. Eine Dusche wäre uns ganz willkommen, aber nach dem ersten Schild folgen keine weiteren. Wir irren durch das Dorf, folgen Wegen, die in Ödland führen, entdecken eine Zone mit ansehnlichen Landhäusern, deren Fensterläden meist geschlossen, und deren Zufahrtstore mit Ketten gesichert sind (offenbar die Wochenendvillen wohlhabender Großstädter), verstreute kleine Gehöfte an Straßen, die keinen Namen haben und die auch unser Navi nicht kennt.

Irgendwann treffen wir durch Zufall wieder auf einen Campingplatzwegweiser, aber der Weg, den er weist, führt geradewegs ins Gestrüpp. Lange ist da keine Menschenseele, die wir fragen können, und als wir eine Menschenseele finden, können wir zwar fragen, sie kann aber nicht antworten. Die Seele gehört einem Bauern, der einen Packesel entlangführt, aber, ach!, sie ist schweigsam, diese Seele. Dass buscar auch auf Portugiesisch suchen heißt, weiß ich, und camping sollte verständlich sein. Aber wahrscheinlich hält auch der Bauer mein buscamos un camping für Spanisch und verweigert deswegen die Antwort. Er zuckt nur mit den Schultern und mustert mich von oben bis unten, nicht eigentlich interessiert, aber auch nicht abschätzig, sondern eher wie eine in sich versunkene Katze, die vor einem Stück Holz in Menschenform steht, weder freundlich noch abgeneigt; einfach vollkommen neutral. Offenbar ist der Bauer schon schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass ich schlicht nicht zu seiner Welt gehöre und jeder Kommunikationsversuch vergebene Liebesmüh wäre. Selbst der Esel scheint mir mehr Beachtung zu schenken als dieser alte Mann. Sein - des Esels - linkes Ohr zuckt, zwei, drei Mal, dann biegt es sich langsam nach rechts, als wolle das Tier mir damit einen Hinweis geben. Ich bedanke mich bei dem (wahrscheinlich nach Art des Apuleius verzauberten) Vieh und wir fahren in die angegebene Richtung, bis der Weg abrupt im Nichts endet. So viel zur Verzauberung.

Schließlich finden wir wieder ein paar Häuser. Ein Mann öffnet gerade sein Hoftor, und er versteht sogar meine Formel vom buscamos un camping. Nur ich verstehe seine Antwort nicht; seine genuschelten Sätze klingen auch ganz so, als seien sie nicht eigentlich portugiesisch, sondern als versuche jemand mit einem Mund voller Marshmallows tschechisch zu sprechen. Aber immerhin ist er freundlich und hilfsbereit und ruft seine Tochter, ein Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren, das für ihn übersetzt, und dann sind es nur noch ein paar hundert Meter, einmal links, einmal rechts, bis wir den Campingplatz gefunden haben. Der ist dann allerdings noch nicht geöffnet; wir seien ein paar Tage zu früh, erklärt uns die Matrone. Man sei zwar mit den Vorbereitungen schon fast fertig, bis auf den Pool, doch öffne man eben erst am kommenden Wochenende. Wir bräuchten nichts, sage ich, einen Pool schon gar nicht, nur eine Dusche. Wir bezahlen gern den üblichen Preis, auch ohne Rechnung, unseretwegen stellen wir den Bus auch auf dem Parkplatz außerhalb des Geländes ab, huschen nur einmal in die Sanitäranlagen und machen weiter keine Umstände. Nein, das sei nicht möglich, sagt die Matrone, und ich ahne schon, dass es sinnlos wäre, nach einem Grund zu fragen. Ich habe noch die Antwort des Burgwächters im Ohr: they were always - das haben wir immer schon so gemacht.

Auch der zweite Versuch, einen Campingplatz zu finden, scheitert, diesmal in Alcobaça selbst. Strukturell ist es die selbe Geschichte: lückenhafte Ausschilderung, nach langer Suche Aufspüren des Platzes, der dann aber noch geschlossen ist. Erst näher an der Küste bekommen wir ein Quartier und eine Dusche auf einem abscheulich durchorganisierten Platz, wo wir uns vorkommen wie inhaftiert.


Alcobaça, Lissabon


Am Morgen wieder nach Alcobaça, dessen Kloster nach Tomar und Batalha als weiteres Meisterstück der manuelinischen Kunst gilt. Der Bau ist eine ausgedehnte, zweistöckige Anlage von zurückhaltendem und sehr einheitlichem Äußerem, weißgetüncht und schmucklos, wie es sich für eine Zisterzienserabtei gehört. Doch im Barockzeitalter hat man in die Mitte des Baus eine auftrumpfende Kirchenfassade eingerammt, die ziemlich unproportioniert und unpassend wirkt - zwischen den geweißelten Gebäudeflügeln erinnert ihr teils graubrauner, teils rostfleckiger Sandstein an eine alte Fürstenwitwe, die in einer pompösen, aber schmuddligen Krinoline bei einer bescheidenen Bürgerhochzeit erscheint.

Das Kircheninnere ist jedoch wie in Batalha von eindrucksvoller Schlichtheit: eine langgestreckte Flucht von flachen Spitzbögen aus nacktem Sandstein, an deren Ende klares Taglicht durch die Fenster des Chors strömt. Die Zisterzienser suchten das Einfache; von der Prunksucht, der den Benediktinerorden im 11. Jahrhundert befallen hatte, wandten sie sich ab, um sich einem Leben in Strenge zu weihen: der Kontemplation, der Arbeit, der Stille. All das das bringen ihre Bauten zum Ausdruck. Etwas Geklärtes, Abstraktes, Purifiziertes erfüllt den Raum, geistige Zucht und Aufgeräumtheit, Askese. Die Säulenreihen und die Bögen erinnern eher an ein mathematisches Schaubild denn an einen Bau aus realem Stein. Wir stehen in der Idee einer Kirche. Dass sie auch in der Wirklichkeit existiert, ist als Einschränkung ihrer platonischen Idealität vielleicht ihr einziger Makel. Wir sind dennoch ergriffen, von der Höhe des Raums ebenso wie von seiner Klarheit - und dann überrascht, als wir im Querhaus auf zwei Grabmäler stoßen, die an Finesse und Reichtum der Steinbearbeitung zu den großen Wunderwerken des Mittelalters gehören und in dieser so abstrakt-idealen Kirche ein leidenschaftliches Bekenntnis zur konkreten Individualität ablegen.

In den Sarkophagen ruhen die Gebeine von Pedro dem Gerechten (oder, je nachdem, welche Nomenklatur man vorzieht, Pedro dem Grausamen) und von Inês de Castro. Pedro, der Sohn des portugiesischen Königs Alfons IV., wurde noch als Kind aus dynastischen Gründen einer kastilischen Prinzessin versprochen; erwachsen geworden, weigerte er sich, die Ehe zu vollziehen und heiratete auf Drängen seines Vaters schließlich eine andere kastilische Edelfrau. In deren Gefolge kam Inês an den Hof, in die Pedro sich unsterblich verliebte. Nach dem Tod seiner Gemahlin heiratete Pedro heimlich seine Angebetete, und sie lebten vier Jahre lang zusammen. Doch Pedros Vater befürchtete, dass das Einverständnis mit dem kastilischen Königshaus durch die Liaison mit einer Angehörigen der mächtigen Familie de Castro zerbrechen könne, und ließ Inês in Abwesenheit Pedros verhaften, wegen Hochverrat anklagen und schließlich enthaupten. Der Krieg zwischen Vater und Sohn, der daraufhin ausbrach, dauerte kein Jahr, weil Alfons entgegenkommenderweise starb. Auf den Thron gelangt, schloss Pedro ein Bündnis mit den Kastellanen; doch machte er zur Bedingung, dass ihm Inês' Henker ausgeliefert würden. Er ließ diese foltern, riss ihnen bei lebendigem Leib die Herzen heraus und verspeiste sie - wobei ich mir nicht sicher bin, ob Menschenherzen nicht doch zu zäh und zu hart sind, als dass man sie roh verzehren könnte. 

Jedenfalls brachte Pedro diese kulinarische Extravaganz den Beinamen des Grausamen ein, ein Epitheton, dessen Berechtigung er vertiefte, indem er anordnete, den Leichnam Inês' zu exhumieren, sie dann zur Königin krönen ließ, und den portugiesischen Hof zwang, ehrerbietig die verweste Hand der Toten zu küssen.

Die Sarkophage bestellte Pedro noch zu Lebzeiten und verfügte testamentarisch, sie so zu postieren, dass das Erste, was den Liebenden bei der Auferstehung der Toten ins Auge fiele, das Antlitz des sich aus dem Sarg hebenden Geliebten wäre. Theologisch ist das wohl nicht ganz comme il faut, aber wer bin ich, über die Torheiten trauernder Liebender zu richten? Das Grabmal Pedros ist mit Szenen aus dem Leben des Bartholomäus bedeckt, des Apostels, den man lebendig häutete und dann enthauptete. Ich ahne, warum Pedro diese Motive wählte: ist der Verlust seiner Bettgenossin nicht wie der Verlust seiner eigenen Haut, eine am ganzen Körper offene Wunde? 

Die Fußseite von Pedros Grabmal zeigt ein Fortunarad. Im Mittelalter ist das ein beliebtes Sujet, doch hier zeigt es nicht nur das übliche Possenspiel, wie ein Prätendent den König vom Rad stößt, um selber nach oben zu kommen; es zeigt den ganzen tragischen Zirkel eines Menschenlebens vom Windelkind bis zur Hinfälligkeit des Alters. Was meistens nur eine einfältige und stammtischhaft schematische Allegorie ist, wird hier existentiell, menschlich, von berührender Wahrhaftigkeit: das einfache Rad ist um einen Innenkreis erweitert, in dem, soweit erkennbar - aber ich mag mich irren, denn der Vandalismus der französischen Truppen hat hier einige Köpfe abgeschlagen - die Liebe von Mann und Frau Thema ist. Das politische Rad dreht sich außen, ein Mühlstein, der das Mahlgut des inneren Lebens zerreibt. 

Verzückt und verzaubert wandern wir weiter, bewundern den Kreuzgang und die Wasserspeier an den Emporen, die hier einmal nicht wie sonst üblich dämonische Fratzen und apotropäische Monstren darstellen, sondern freundlich dreinblickendes Viehzeug; die Schweine drall und wohlgemästet, die Karpfen fett: mir scheint, dass die Mönche sich nicht nur in düsteren Meditationen über die Geisterwelt ergingen, sondern auch heiter die guten Gaben feierten, die man sich hier mit Arbeit und Gebet verdiente. 

Von der Achtung für Reinlichkeit kündet eine riesige Waschküche aus Marmor und gekachelten Wänden, die an Majestät dem angrenzenden Kirchenschiff kaum nachsteht. Ein massiver Marmortisch zum Wäschewalken könnte auch als Altar benutzt werden, und die tiefen Marmorwannen eignen sich zum Spülen der Kutten ebensogut wie als Taufbecken. Reinheit scheint für die Mönche ein spirituelles Bedürfnis gewesen zu sein, doch nicht weniger ein hygienisches.

Aus einem anderen Winkel des Kreuzgangs lockt uns Gesang an; im Kapitelsaal probt ein Kontertenor zur Klavierbegleitung, führt sein Falsett bei voller Brustresonanz geschmeidig durch eine Koloratur, doch bevor er seine Melodie auf den Grundton zurückführen kann, wird sie brutal von einem schrillen Kreischen zerrissen; zwei weitere Schreie folgen. Verwirrt wende ich mich um und sehe gerade noch die Schwanzfedern eines großen Papageis über die Brüstung der Kreuzgangsempore hinstreichen, ein Aufblitzen in Purpur und Smaragd.

Wir kehren in einer Bar am Platz ein. Der Wirt hinter der Theke ähnelt Danny DeVito; ein untersetzter Typ mit etwas Bauch, einer Halbglatze die von einem zauseligem Haarkranz umsträubt wird, und einem pfiffigen Gesichtsausdruck. Er sagt irgendwas über meinen Panama, was ich zwar nicht im Wortlaut, sinngemäß aber genug verstehe, dass ich mir sofort den Hut vom Kopf reiße und ihn vor der Brust mit beiden Händen festhalte. So einen Hut will er auch haben, soviel ist klar, oder nein, eigentlich nicht so einen Hut, sondern genau diesen. Er hat ins Englische gewechselt, vielmehr in ein gepflegtes Amerikanisch, und versucht sich mimisch an einer James Cagney-als-Al Capone-Imitation. Ich ziehe meine besten italienischen Gangstergrimassen, um ihn einzuschüchtern, aber da schnappt er schon mit einer schnell gezückten Eiswürfelzange nach meiner Hutkrempe, und ich habe alle Mühe, mich seiner Hand mit einer Wendung zu entziehen, die wenigstens ein bisschen nach einer Stierkämpfer-Veronika aussehen soll. Die Kellnerin am Pasteis-Buffett ist fassungslos: zwei einander bislang völlig unbekannte Fünfzigjährige, die sich benehmen wie ihre pubertierenden Jungs zuhause. Die Jungs kichern; da haben sich die richtigen gefunden.

Wir kommen ins Gespräch und setzen es draußen eine Stunde lang fort. Bruno kommt eigentlich aus New York. Seine Großeltern sind aus Portugal ausgewandert, seine Eltern (High School und Fleiß: good Americans) haben sich hochgearbeitet, auch er selbst hat viel Geld gemacht, bis er vom rat race Manhattans genug hatte und in das Land seiner Vorfahren heimkehrte. Seine Kindheit hat er in der Bronx verbracht; dann, in den Achtzigern, erlebte sein Vater mit, wie ein Schwarzer eine Frau auf der Treppe zur U-Bahn vergewaltigte und niemand (ihn eingeschlossen) auch nur irgendetwas dagegen tat. Eine Woche darauf geriet er zwischen die Fronten zweier einander beschießender Gangs, nahm hinter einem geparkten Auto Deckung, wie er es beim Militär gelernt hatte, und als es vorbei war, ging er nach Hause und verkündete, dass die Familie jetzt nach Connecticut umziehen würde.

Nach dem College kehrte Bruno wieder nach New York zurück, das mittlerweile wieder einigermaßen sicher war, machte Geld und Kinder, bis er mit vierzig begriff, dass er (im Vergleich zu dem Heranwachsen seines Vermögens) dem Heranwachsen seiner Kinder zuwenig Beachtung geschenkt hatte; also kaufte er diese Bar in Alcobaça und fing ein neues Leben an.

Wir sprechen über Portugal. Er beklagt den jahrhundertelangen braindrain des Landes. Wer auch nur irgendwie ein bisschen Verstand habe, verlasse das Land. Seit Jahrhunderten verliere Portugal den besten Teil seiner Bevölkerung. Er als Chef einer Bar und eines Hostals müsse sich mit den leftovers herumschlagen, was man wohl weniger mit Zurückgelassenen übersetzen sollte als mit Zurückgebliebenen. Die Dummheit eines Großteils der Portugiesen sei ein Faktum, es sei unmöglich, etwas daran zu beschönigen. Der Mangel an Reflektierheit und Vorausschau, die völlige Unfähigkeit, die Konsequenzen einer Sache zu ermessen, brächten ihn immer wieder an den Rand der Verzweiflung, das gelte von seinen Angestellten ebensogut wie von den verantwortlichen Politikern. Diese hätten zum Beispiel die schöne Grünanlage hier auf dem Platz vor dem Kloster vernichtet, weil darunter eine Parkgarage gebaut hätte werden sollen, doch schon nach den Probegrabungen sei kein Geld mehr dagewesen, man habe das Projekt eingestellt, und das einzig bleibende Zeugnis des Vorhabens sei die Asphaltplanierung eines einstmals blühenden Platzes. Als ich ihm von den lückenhaften Ausschilderungen erzähle, die uns gestern auf Irrfahrt geführt haben, weiß er sofort, wovon ich spreche: they're lethargical and phlegmatic, und oft genug seien es Träumer, die den Auftrag, mit dem man sie losschickt, schon vergessen hätten, bevor sie ins Auto gestiegen seien.

Dieses milde Träumertum habe freilich auch seine guten Seiten: die Portugiesen seien immer freundlich und gelassen: angenehme Zeitgenossen. Sie nähmen sich Zeit, die Familien hielten zusammen, man kümmere sich umeinander. Die Arbeitslosigkeit sei hoch, aber es gebe (wohl an New Yorker Verhältnissen gemessen) kaum Bettler - in der Not stehe die Familie parat. 

Die Männer, die neben uns auf der Terrasse säßen, seien allesamt weit über 80 und genössen in ruhiger Heiterkeit bei einem Gläschen Wein ihren Lebensabend. Aus New York sei er anderes gewohnt, Elend, Irrsinn, Hass, der immerwährende Konkurrenzkampf aus Beißereien und Gewalt. Seinen Sohn - er ist jetzt siebzehn - hat er erst hier in Portugal wirklich kennengelernt; sie gehen zusammen angeln und schauen am Wochenende zusammen die Primeira Liga. Sein Blutdruck ist von 170 auf 130 runtergegangen. Er ist ein zufriedener Mann.

Wir plaudern ein Stündchen, witzeln, haben eine gute Zeit, und als es gegen Mittag geht, die Tische sich füllen, Bruno sich um sein Lokal kümmern muss, und wir uns herzlich verabschieden, denke ich: wie merkwürdig doch, dass der erste Portugiese, mit dem wir ein bisschen Freundschaft geschlossen haben, ein Amerikaner ist.


Lissabon ist nun nicht mehr weit. Um die Hauptstadt erstrecken sich meinem Gefühl nach die ersten Gebiete, die nicht von der Zersiedlung angefressen sind: Heide, Sand und Wald. Zonen, die man in Ruhe gelassen hat.

Lissabons Campingplatz liegt fernab in der Peripherie der Stadt. Wir rumpeln mit dem Autobus ins Zentrum, steigen an der Praça da Figueira aus und wollen in einem Laden, der aussieht wie ein Alptraum von Provinzbehörde, Dauertickets kaufen, was nicht ganz einfach ist, weil der Computer des Manns hinter der Theke ein ums andere Mal abstürzt. Dass die Portugiesen sich Zeit nähmen, wie unser amerikanischer Freund behauptete, erweist sich als arg irreführende These. Hinter uns beginnt die Schlange ungeduldig zu murren. Leute wippen auf der Stelle, von Ferse auf Ballen und retour, wedeln mit Aktenmappen, schnauben vorwurfsvoll. Als wir die Karten schließlich haben und nach draußen treten, steht schon ein brabbelnder Spinner bereit, der uns die Automaten erklären will, aber wir brauchen jetzt grade weder die Automaten noch einen brabbelnden Spinner. Wir lassen ihn stehen, doch er brabbelt unablässig weiter und sondert ein seismisches Unheilsgegrummel als Einstimmung für das baixo ab, die Unterstadt, die der Marquês von Pombal nach dem Erdbeben von 1755 in der rechtwinkligen und rationalistischen Manier der Aufklärung bauen ließ. Es ist wahrscheinlich ein Zufall, möglicherweise ein Zufall, dass, während wir durch das baixo, dessen Grundriss so vernünftig ist, flanieren, ich den Eindruck, grob, aber doch habe, dass die Straßenzüge, mögen sie noch so, des rationalen Rasters zum Trotz, prachtvoll wirken, gleichwohl den Eindruck einer geschienten, kreuz und quer mit Stützbändern versteiften Anlage abgeben, der Verklammerung nach einer Katastrophe, in der alles in Trümmer gegangen ist und zerfallen, zu Schutt und dystaktischem Bruch.

Doch Satzbausperenzchen beiseite; das baixo macht mich beklommen. Die geometrische Anlage ist in ihrer Funktionalität und ihrem Cartesianismus erschreckend. Die Städte Europas waren einmal verschlungene und verknotete Nester, krumm gewachsen, voller Nischen und Rückzugsräume. Das Baixo hat derlei beseitigt, ein gutes Jahrhundert, bevor Haussmann sich anschickte, das Pariser Gassendickicht auszustriegeln. Pombal knüpfte an die alte Tradition des römischen Feldlagers an, ein Gitter der Wege, gut kontrollierbar, strukturell einfach zu beherrschen: der Traum eines jeden Befehlshabers. Aber die militärische Herkunft des Straßenplans hatte wohl schon unter dem aufgeklärten Minister ausgedient oder zumindest die Maske ausgetauscht. Das Wegeraster war vermutlich schon bei seiner Anlage nicht mehr Ausdruck soldatischer Disziplin, sondern entsprang dem Schriftbild kaufmännischer Rechnungsbücher, in denen alle Transaktionen sorgfältig in Zahlenkolonnen und Summenzeilen vermerkt sind. Pombal, der große Staatsmann des portugiesischen illuminismo, dachte auch als Stadtplaner nicht mehr als Feldherr und Militärstratege; er regierte keine bewaffneten Truppen, sondern den Fluss der Investitionen und Erträge, und die Passanten, die auf den Straßen des baixo flanieren, sind auch heute noch Rechenkugeln in einem urbanen Abakus.

Der Platz, der dem baixo zum Fluss hin vorgelagert ist, heißt sinnfälligerweise Praça do comércio. Das Ensemble mit seinen currygelb getünchten Fassaden, den weißen Arkaden und dem Reiterstandbild im Zentrum würde in einer anderen Stadt einen Anziehungspunkt für einigen Betrieb abgeben. Als man hier noch mit Kutschen ausfuhr, Schiffsladungen löschte und seine Tonkrüge mit Wasser aus dem Brunnen füllte, wie es auf Gemälden aus dem 17. Jahrhundert zu sehen ist, ging es lebhaft zu. Solche Plätze sind dafür geschaffen, dass man sich auf ihnen zeige und den ganzen Anspruch seiner Stellung in Pracht und Pomp präsentiere; heutzutage fehlt das Personal dafür. Es gibt nur noch Touristen, die sich zügig zum Denkmal verfügen und Selfies knipsen, unter einen Bronzereiter geduckt, dessen Gaul irgendein Schlangengezücht zertritt. Um den Denkmalsockel schmiegen sich Genien und Gäule, zur Linken auch eine Nymphe mit straffen Brüsten sowie der Rüssel eines Elefanten, der sich keck an der Hüfte der Göttinnenzofe vorbeischiebt, während diese in ein Stäbchen pustet oder was auch immer sie da tut. Jedenfalls hat sie ein Etwas zwischen Flöte und Blasrohr im Mund, bei dem es sich - weil Aufklärung ja auch eine Art von Hygiene ist - wohl um eine Bürste handeln wird, mit der sie ihre Nymphenzähne schrubbt. Offengestanden bin ich sehr angetan: endlich mal eine Halbgöttin, die sich nicht bloß die Ohrläppchen mit parfümiertem Weihwasser betupft, sondern ernsthaft dafür sorgt, dass sie nicht aus dem Mund riecht. 

(Ein möglicherweise kryptischer Absatz; sei’s drum.)

Wir hören einer Weile einer Band von den Capverden zu, die am Quai aufspielt, zwei Gitarren, Percussion, Gesang. Der eine Gitarrist, in schwarzen Tights, neongrünem Sportunterhemd, korallenfarbenen Laufschuhen hudelt seine Soli nach Sprintermanier herunter, vom Startblock weg mit hoher Schlagzahl bis zum Zieleinlauf zwölf Takte später, aber der wahre Meister ist der Mann an der zweiten Gitarre, ein älterer Herr in Klamotten von der Kleidersammlung - der olivgrüne Parka zwei Nummern zu groß, der Trilby auf seinem Kopf einmal zu oft in einen Unfall verwickelt - der über sein Instrument gekrümmt ist wie ein Schiffbrüchiger, der sich an eine Planke klammert. Seine Soli sind von Pausen zerlöchert und brüchig; sie schnaufen, schnappen nach Luft, dann paddelt er müde dem vielleicht rettenden Ufer entgegen und strengt sich plötzlich sehr an, verdoppelt das Tempo und dann, als sähe er die nächste zerstörerische Welle schon herankommen, die ihn wieder aufs offene Meer zurückwerfen wird, haspelt er sich, um ihr zu entkommen, wieder für ein paar Takte ab, bis die Welle ihn tatsächlich einholt und in die Dunkelheit von Dissonanz und Kakophonie zieht... Als der Sog zermalmender Strömungskräfte - krude Akkorde, befremdliche Cluster - ihn wieder freigelassen hat, sucht er nach und nach seine Harmonien zusammen, als baue er sich ein Floß und flicke aus dem herangespülten Treibgut wieder ein notdürftiges Vehikel, mit dem er sich wieder zum Dienst an Bord melden kann. Gott allein weiß, warum dieser begnadete Musiker - auf seine Art ein monstre sacré - überhaupt zur Crew und ihren harmonischen Gefälligkeiten zurückwill.

Aber nun. Eigentlich will er gar nicht. Nach diesem Stück verabschiedet er sich, und ein anderer Gitarrist tritt an seine Stelle, ein anderer Sänger stellt sich vors Mikrophon, und die capverdische Folklore treibt von nun an brav ihr business as usual, hübsch, plätschernd, belanglos.

Ich merke erst nach dem Abgang dieses Thelonius-Monk-Wiedergängers, vor welch famoser Kulisse die Musiker spielen. Hinter ihnen glitzert der Tejo, der von der roten Hängebrücke des 25. April überspannt wird, dem europäischen Zwilling der Golden Gate Bridge. Auf einem weithin sichtbaren Sockel am anderen Ufer hebt der Cristo Rei seine Arme: die gigantomane Statue ist ein Re-Import jenes Christus, der seine Arme über Rio de Janeiro ausbreitet. 

Portugal hat einmal weit in die Welt hinausgegriffen; die Küsten Westafrikas haben ebenso zu seinen Einflussgebieten gehört wie Madagaskar, Mombasa, Mogadischu. Von Bombay und Kalkutta zum Golf von Bengalen und ins Südchinesische Meer pflanzte man portugiesische Handelsniederlassungen und Kolonien. In Macao und Formosa bauten Portugiesen Kirchen und beluden Schiffe mit Waren für die Quais in Lissabon. Die Schätze des ganzen Weltkreises flossen hierher, und das zu wissen, legt einen leichten Trauerschleier über unseren ersten Spaziergang durch die Stadt.

Liebhaber Lissabons schätzen die alten Bairros mit ihrer Aura von Verfall; der bröckelnde Verputz entzückt sie; sie genießen das Flair einer runzlig gewordenen Schönheit. Aber ich kann mir nicht helfen: der Zauber der Stadt erschließt sich mir nicht. Was andere für pittoresk oder charmant halten, ist für mich eher Zeugnis von Notdurft und Armut, manchmal auch schlichter Indolenz. Durch die bisweilen desolaten Gassen zu wandeln und mit dem Finger auf die Fassaden zu zeigen, an denen der Dreck herabläuft wie Tränenrinnsale oder wie die Pissespuren, die nächtliche Trinker daran hinterlassen haben, und dabei in Verzückung zu geraten, kommt mir schamlos vor. Einmal höre ich eine Frau ihrer Begleiterin vorschwärmen: "Look, how gorgeous, how broken!“, und mir scheint, dass es nicht unbedingt gorgeous ist, wenn Leute in Häusern leben müssen, die bis zum Hals im Mauerschwamm stecken. Es ist mir zuwider, aus dem Elend einen Extrakt ästhetischen Vergnügens zu pressen und sich so an dem Kränkeligen, Hinfälligen und Anämischen der Häuserzüge zu delektieren. Liegt es nur daran, dass mir selbst ein wenig kränklich zumute ist und und ich mich zerschlagen fühle, als hätte ich blaue Flecken am ganzen Leib? Die Jacarandabäume, die auf manchen kleinen Plätzen gepflanzt sind, werden mir zum Spiegelbild meiner schwächelnden Verfassung: als feinädrige Geäste, noch ohne Grün, nur von Wölkchen aus malvenfarbenen und violetten Blütengespinsten beflaumt, stehen sie im Schatten der Mauern wie riesige Präparate zur Veranschaulichung von Besenreisern. 

Die amerikanischen Humanoiden nehmen ein Foto und walzen weiter, Marshmellowmenschen.

Außer dem Frühstück und einem Blätterteigteilchen zu Mittag haben wir heute noch nichts gegessen - jetzt müssen wir uns dringend stärken.

Das Restaurant, in dem wir einkehren, ist schlicht - die Sorte von Restaurant, die mit Kupfertöpfen und gerahmten Stadtansichten dekoriert ist, und einer überschaubaren Karte, die dem Gast die Wahl zwischen Sardinen vom Grill oder Makrelen vom Grill lässt. Jetzt, in dieser Stunde der Not, genau das Richtige.

Der Kellner ist ein Faxenmacher; für jedes Erscheinen am Tisch hat er sich eine eigene Choreographie, einen speziellen Scherz ausgedacht. Beim Auftragen von Brot und Tellern zittert das Porzellan, als könne er es kaum noch im Gleichgewicht halten, als er den Vinho Verde bringt, hält er die Flasche senkrecht kopfüber über das Glas und schüttelt sie, bis ihm auffällt, dass die Flasche ja noch verschlossen ist, dann kämpft er sich mit dem Korken ab wie Charlie Chaplin höchstselbst, und so weiter. Wir lachen pflichtschuldig, so wie es alle tun, bei denen er seine Nummern vorführt (und er erspart keinem Gast seine abgedroschene Revue), und konzentrieren uns, sobald wir die Fischplatte vor uns haben, auf die archaisch angerußten Tiere. Unter kulinarischen Aspekten betrachtet hat man den tadellos frischen Fisch geschändet, atmosphärisch betrachtet ist es ein Glück: die groben Brandspuren schmecken zwar bitter und flach (die Zitrone dazu ist nur eine Idee von Ausgleich und Rettung, nicht schon sie selbst), aber sie bringen eine derart dichte Erinnerung an Lagerfeuer und an Oktoberfest-Steckerlfisch herauf, dass ich auf Gourmandise pfeife, solange nur diese Kindererinnerung mein Gedächtnis betört.


Lissabon


Tags drauf ist Fronleichnam. Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass wir ausgerechnet an diesem Tag, der Leib und Blut Christi feiert, das Hieronymuskloster in Belem besuchen. Das Kloster ist ein weiteres Wunderwerk der Manuelinik, ein tropisches Zauberschloss und eine Enzyklopädie der Ornamentalkunst, ganz ohne Zweifel ein Höhepunkt der Epoche. Reichtum und Fülle der Steinmetzarbeiten sind gewaltig. Wir unternehmen zwei Rundgänge durch den Kreuzgang, und haben nach drei Stunden immer noch den Eindruck, nur einen Bruchteil der Muster und Motive aufgenommen zu haben: ein Zoo von Fabeltieren und allegorischen Bestien, die sich in einer Dschungelwelt steinerner Blätter und Knollen und üppigen Laubwerks tummeln, verschlungene Zierbänder, verdrillte Säulen, aus Stein geklöppelte Loggiabögen, sprießende Ranken und Verästelungen. Man kann sich nicht sattsehen an all dieser Vielfalt. Doch auch hier, wie schon in Tomar und Batalha, fällt auf, wie sehr die genuin religiöse Motivik in den Hintergrund getreten ist. Haben wir irgendwo einen Kruzifixus gesehen? Ich kann mich nicht daran erinnern. 

Auch die Kirche (die allerdings zu voll ist, als dass wir Muße hätten, sie sorgfältig anzusehen)  ist weniger von den üblichen Heiligenkohorten und der Dreifaltigkeit beherrscht als von abundierender Ornamentik: die Säulen sind vom Sockel bis an die Spitze mit spinnwebfeinen Mustergewirken überzogen, die sich im Netz der Gewölberippen höchst elegant fortsetzen. An einigen Säulen sind noch die Reste von Kanzeln erhalten, in denen sicher einmal Heiligenstatuen aufgestellt waren; die sind vermutlich den Plünderungen der Napoleonischen Truppen zum Opfer gefallen, aber dass man sie später nicht ersetzt hat, zeigt, dass es noch nie die Heiligen waren, auf die es in dieser Klosteranlage ankam. Hier wurde nie der Mensch gefeiert - und, obwohl ihm natürlich das Mindestmaß pflichtschuldiger Reverenz erwiesen wird, auch nicht der Menschensohn Christus - sondern die Schöpfung als Ganze. Das Kreuchen und Fleuchen der Tiere, das Sprießen und Gedeihen der Pflanzen, alles dem erfinderischen Witz Gottes entsprungen, schien mehr zu gelten als der Mythos vom Gottessohn und seinem Opfer.

Erst, als wir wie Plankton durch die nachdrängenden Besuchermengen nach draußen geschoben werden, begreife ich, wie sehr das zu Fronleichnam passt: das Fest gedenkt nicht des Leibs Christi, sondern des Wunders der Transsubstantation, jener Verwandlung, die aus einem Stück Oblate wundersamerweise den lebendigen Leib Christi macht. Warum also sollte Christus nicht auch steinerne Bilder, Reliefs und Gravuren aller Flora und Fauna mit seiner unsichtbaren Präsenz beleben? Warum sollte das Göttliche nicht in allem Dinglichen gegenwärtig sein? Portugal hat schon pantheistisch gebaut, als Giordano Brunos Mutter noch in den Windeln lag. Auch Spinozas Familie stammte aus Portugal - die Sentenz, die seine Philosophie von der substantiellen Identität von Gott und Natur, deus sive natura, am bündigsten zusammenfasst, und die ihm den Ruf eines ketzerischen Pantheisten eingetragen hat, buchstabiert nur diskursiv aus, was die Bildhauer Manuels bereits in Stein gemeißelt haben.

Nur ein paar Schritte vom Kloster entfernt liegt der Tempel der portugiesischen Törtchenreligion - die berühmte Confeitaria Pastéis de Bélem mit ihren Stuckdecken und Lüstern, den blauweiß gekachelten Wänden und Gebäckvitrinen. Es heißt, es gäbe dort die besten Pastéis de Nata des Landes, aber da ich nicht alle probiert habe, kann ich nur sagen: sie sind recht ordentlich. Der Blätterteig ist fein und knusprig, die Konditorcreme darin besteht aus Mehl, Zucker, Eiern, Milch und Butter. Das genaue Rezept wird sorgfältig gehütet - wie in jeder Religion geht es auch hier nicht ohne Geheimnisse und Mysterien ab - doch ich bin mir sicher, dass ein Hauch von Zimt und Zitronenschale darin ist.

Die Confeitaria ist eigentlich ein Säkularisat des Klosters, in dem die Pastéis  ursprünglich gebacken wurden. Es heißt, die Nonnen hätten zum Stärken ihrer Hauben jede Menge Eiweiß gebraucht, und aus den übriggebliebenen Eigelben habe man in der Klosterküche dann den Pudding angerührt. Als gegen 1830 im Land die Trennung von Kirche und Staat verfügt wurde, trug ein Mönch das Rezept der nahegelegenen Zuckerraffinerie zu, und kurz darauf gingen die ersten Pastéis über die Ladentheke. Irgendwie gefällt mir dieser Übergang: bei der Messe wird das Volk mit einer dünnen Oblate abgespeist, aber in der Konditorei wird es üppig, gehaltvoll, nahrhaft. Der papierene Bedeutungsschemen der Hostie wird zu einer saftigen Schleckerei. Sollte so nicht das wahre Fronleichnam sein - die Rückverwandlung eines Zeichens in sättigende Wirklichkeit und leibhaftiges Lebensbehagen?

Wahrscheinlich kommt es einmal im Jahr vor (die Wahrscheinlichkeit liegt, geschätzt, bei eins zu einer Million), dass die karamellisierten Brandspuren, die die gelbe Puddinghaube flecken, exakt das Antlitz eines asketischen Messias zeigen, und nur einmal alle fünfzig Jahre kommt es vor, dass ein Gast das auch erkennt, bevor er sich diese Hostie gierig und blind einverleibt hat. Wir gehören nicht zu den Erwählten. Mein pastel zeigt das Brustbild eines korpulenten, pausbäckigen Mannes. Suum cuique.

Mit der Tram in die Stadt. Es ist Mittagszeit, und so steigen wir an der Markthalle aus; vor einigen Jahren hat man neben der alten Halle eine moderne errichtet; Architektur und Mobiliar darin sind ebenso globalisiert wie das Angebot: Sushi und Pizza, Burger und Smörebröd, Ceviche und Chop-Suey. Die hiesige Küche ist ebenfalls vertreten, und so nehmen wir den Degustationsteller einer portugiesischen Sterneköchin, fünfzehn Euro für fünf Happen. Man drückt uns einen elektronischen Summer in die Hand, der brummt und blinkt, sobald unser Essen an der Theke bereitsteht und wir es abholen können. Serviert wird ein Champignon mit einer Farce aus Teig und Hack unter einem Wachtelspiegelei, ein Bissen Bacalão in Tempura mit Mayonnaise und einem Klecks gebratener Paprikawürfelchen, ein in einer Sardinendose hübsch angerichtetes Salätchen aus Kichererbsen und wiederum Bacalão, sodann eine Schnitte Kabeljaurogen mit Frühlingszwiebeln, und schließlich einen panierten Hühnerflügel mit einem roten Dip. Das Ärgerliche daran ist keineswegs der Preis - auch wenn er merklich über dem im Land üblichen liegt - sondern die völlige Oberflächlichkeit, mit der hier Traditionelles mit einem modernen Anstrich versehen wird, ohne auch nur irgendwo eine kulinarisch profunde Idee zu entwickeln. Am meisten verdrießt mich der Hähnchenflügel, der sich mit seinem Ketchup-Dip schamlos einem amerikanischen Fastfood-Geschmacksbild anbiedert, aber auch der Kabeljaurogen mit den Frühlingszwiebeln ist von einer solchen aromatischen Grobheit, dass ich die Sterneköchin am liebsten so vermöbeln würde, dass sie mehr Sterne sieht als sie sich je erkochen wird. Es ist eine merkwürdige Küche: entweder bleibt sie ganz im Bewährten wie bei dem Champignon, wandelt das Bewährte ohne geschmacklichen Zugewinn ab wie bei dem Tempurabacalao, banalisiert aus Rücksicht auf die Touristen die Stockfisch-Kichererbsenkombination, indem sie auf das hier sonst so beliebte (und von banausischen Essern in Resteuropa oft gehasste) Korianderkraut verzichtet, suhlt sich im Primitiven wie beim Rogen oder wirft sich greller Überwürzung in die Arme wie bei den Hähnchenflügeln. Ich kann verstehen, dass man versucht, die oft einfache Küche Portugals weiterzuentwickeln, ohne die Verbindung zur Tradition zu kappen; doch dies hier ist nicht mehr als eine vulgäre Effekthascherei ohne Sinn und Verstand.

Wir lassen uns von einem Funiculaire ins Bairro Alto hinaufbefördern. Der Schaffner, ein fetter, mühsam schnaufender Mann, bewegt sich so gravitätisch, als hoffe er, dass ihn ein Nachfahre von Thomas Mann bemerke und zu einer bedeutungsschwangeren und mythologisch umflorten Gestalt adle, etwa nach Art der psychopompischen gondolieri und Aufzugführer im Tod in Venedig. Aber wenn dieser Schaffner irgendwelches mythogenes Potential in sich hat, dann taugt es nur als Allegorie der Gefahren allzu fettiger Ernährung. 

Im Bairro angekommen, bewundern wir in einem Gasthausfenster die Hühnchen, die hier auf einem Grillrost über Holzkohle gebraten werden, am Brustknochen aufgeschnitten und aufgeklappt wie ein Buch. Es duftet verführerisch durch die Fensterritzen, der Laden ist voll - ich bedauere, dass wir in der schicken Markthalle unten unseren Appetit verpulvert haben.

Im Bairro Alto hat Pessoa geschrieben. Heute steht seine Bronzeskulptur vor seinem Stammcafé. Er sitzt dort, schmal und feingliedrig, auf einem Bänkchen, und jeder Depp setzt sich neben ihn und lässt sich fotografieren.

Wir haben auf den langen Autobahnstrecken hierher Pessoas Buch der Unruhe gehört, aber ich muss, vielleicht zu meiner Schande, gestehen, dass ich zu oberflächlich für diese existentiellen Meditationen bin. All das Gewühle in den Höhlen und Zotten der eigenen Seele, das Belauern und Belauschen der feinsten Regungen des Bewusstseins, der Empfindungen und Gestimmtheiten, berührt mich kaum, und wenn, dann eher unangenehm. Die Stimme beschwört immer wieder die selben Worte herauf, Gott und die Nacht, den Traum und die Vergeblichkeit, eitle Hoffnung und Trauer, und um diese Textbausteine herum spinnt Pessoa seine melancholischen Wortgewebe, mit denen er sich gegen die allgemeine transzendentale Obdachlosigkeit zu wappnen sucht. Manchmal freilich verfällt die Stimme in ein berückendes lyrisches Delirium, ein traumduseliges Gefasel entregelter écriture automatique, die dahinschreitet wie durch einen Teppich von raschelndem Herbstlaub und dabei goldene Bilder aufwirbelt. Wenn Pessoa sein Raisonnement über das Elend des Menschen oder die metaphysische Lage der Epoche einmal vergisst, sondern sich im Strom der Sprache ganz der delirierenden Rede verschreibt, erzeugt er einen seligen Schwindel in meinem Kopf, eine rauschhafte Benommenheit und Beglückung - etwas, das mir nicht in vielen Büchern widerfährt.

Dennoch sind viele Passagen nicht mehr als ein abgeschmacktes Lamento über die Schrecknisse und die Unbehaustheit des nihilistischen Zeitalters, und ich werde den Eindruck nicht los, dass hier jemand Pascals schon ganz und gar ausgelutschten Teebeutel nur einmal mehr eingeweicht hat.

Pessoa ist trotzdem ohne Zweifel ein interessanter Autor: seine multiplen Masken, seine bescheidene Vita, sein Schreiben für die Truhe haben für einen bestimmten Nimbus gesorgt. Doch sein Werk enthält kaum populäre Elemente; es ist esoterisch, voraussetzungsreich, verschroben, doch ohne die phantastischen und enigmatischen Elemente, die etwa bei Kafka faszinieren und den Lesenden in Spannung halten. Pessoa scheint mir eher ein Autor für die Eingeweihten, die Liebhaber und Spezialisten, als für einen breiten Kreis von Lesern. Gleichwohl ist Pessoa zu einem Säulenheiligen und zu einer sakrosankten Gestalt der portugiesischen oder sogar der Weltliteratur geworden.

Es liegt eine gewisse Bizarrerie darin, dass der Mann, der sich so sehr in seinem Werk und in seine Heteronyme aufzulösen versucht hat, heute weniger als Schöpfer dieses vielfältigen Werks gegenwärtig ist denn als ikonische und standardisierte Figur. Sein Gesicht - dieses traurig schmale Antlitz unter einem breitkrempigen Hut, die Brille, der Schnauzbart - ziert alles, was sich irgendwie bedrucken und als Souvenir verkaufen lässt: Postkarten, Tassen, T-Shirts, Schirme und Krawatten, Notizbücher und Servietten. Auch kleine Porzellanfigurinen sind erhältlich, ebenfalls welche aus einem Kunststoff, wie man ihn auch für Statuetten von Spiderman und Darth Vader, für drollige Giraffen oder Cristiano Ronaldo verwendet. In allen Souvenirläden und Kiosken der Stadt ist Pessoas Gesicht gegenwärtig. Er, der sich selbst in einem halben Dutzend anderer Identitäten zersplittern wollte, wird tausendfach in seiner eigenen reproduziert. Er ist zum Markenzeichen abgestempelt. Als Autor hat er sich viele Masken umgetan; jetzt ist er zur Maske seiner selbst geworden: eine bösere Rache der Nachwelt hätte er sich selbst wohl kaum vorstellen können.

Am Portal der Igreja São Roque wimmelt uns ein Uniformierter ab; in der Kirche ist ein Trauergottesdienst. Dagmar kommt auf die glückliche Idee, dem Portweininstitut einen Besuch abzustatten, das nur ein paar Schritte entfernt liegt. Vor 25 Jahren waren wir bei strömendem Regen in diese stillen Gemächer eingekehrt, saßen in speckigen Clubsesseln und wurden von Kellnern bedient, wie man sie sich soignierter nicht vorstellen kann. Letztes Jahr, als Dagmar ein paar Tage in der Stadt zugebracht hatte, führte sie ihre Freundinnen dorthin und war entsetzt: das Mobiliar war heruntergekommen und genauso besudelt wie der wellige Teppich, die Kellner waren dafür, wie um die geschwundene Eleganz mit ihrem Benehmen auszugleichen, zu hochnäsigen Snobs geworden, die überheblich auf alle Gäste herabschauten, die des Portugiesischen nicht mächtig waren.

Doch nun ist zumindest die Hälfte des Instituts renoviert, und die Bedienung spricht passabel Englisch und noch passabler Französisch. Dass die Dame einfach Bluse trägt und auf Fliege und Weste verzichtet, ist zwar betrüblich, aber als sie den ersten Port serviert, sind mir Kleiderordnungen ziemlich gleichgültig. Ein Schluck des Zwanzigjährigen von Rozès, und ich bin schon gewonnen. Von der oft so banalen, pappigen Süße des Ports, wie man ihn - die Flasche für einen Zehner - kennt, ist da keine Spur mehr: sie ist vergeistigt, geläutert, verdichtet zu einer kraftvollen Essenz, in der Frucht und Säure den klebrigen Kristallzuckerrand abgelöst haben, der die einfachen Abfüllungen ausmacht.

Bei Weinproben neigt man dazu, dem verkosteten Tropfen allerlei Aromen zuzusprechen, Heu und Litschi, Schokolade und Leder - hier aber scheinen mir solche Connaisseur-Spielchen ein Irrweg. Guter Port schmeckt in der Hauptsache nach Port. Seine Qualität zeigt sich nicht in der Vielfalt seiner Nebennoten, sondern in der Verdichtung und Intensivierung seines Selbst: Konzentration, nicht spektrale Dissemination. (Ob Pessoa sich mit Port zu Tode gesoffen hat? Ich glaube es nicht.)

Wir nehmen noch einen Dreißigjährigen von Cruzès, und schließlich - bezirzt von diesem Nektar - lassen wir alle Sparsamkeit schießen und gönnen uns ein Glas von Messias aus meinem Geburtsjahr. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mir das Altern ähnlich zuträglich gewesen wäre wie diesem Nektar.

Als unsere Kommunion zu Ende geht, hat man auch in der Igreja São Roque den Altar abgeräumt. Es ist schon auf den ersten Blick zu erkennen, dass es sich um eine Jesuitenkirche handelt. Man braucht nur an die Decke zu schauen, um im Deckengemälde sogleich die Leidenschaft des Ordens für gerissene Schliche, Tricks und Täuschereien zu finden. Derlei gemalte Scheinkuppeln und perspektivische Augenfoppereien kennen wir von Il Gesù und San Ignacio in Rom. Die Illusionierung war Obsession und Spezialität der Jesuiten - einerseits, weil sie dem Volk die Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung demonstrieren und so auf das Unsichtbare von Gottes höherer Wahrheit hinweisen wollten, andererseits verschmähten die Jesuiten ad maiorem gloriam dei keine Lüge und keinen verschlagenen Winkelzug. In ihrer Blütezeit waren die Jesuiten Experten der Illusion - und darum ist es irritierend, dass das trompe l'oeuil de Decke hier in keiner Weise funktioniert. Es wirkt flach und krumm, und der Malgrund - eine Täfelung aus langen Holzplanken - trägt mit seinen sichtbaren Fugen ebenso dazu bei, die Illusion zu stören, wie die aufdringlichen Reflexe der Firnis. Es ist eine Illusion, die sich schnell als solche zu erkennen gibt, und das ist einigermaßen verwunderlich für eine Kirche, die so reich ausgestattet ist. Man sollte doch annehmen, dass hier keine Stümper angeheuert wurden, sondern Könner ihres Fachs. Es sind so viel kostbare Steine verbaut, Gold und Juwelen ohne Maß, edle Hölzer und Schnitzereien, an denen große Werkstätten Jahre gearbeitet haben müssen - und dann überlässt man den eigentlichen Blickfang, das Deckengemälde, einem Pfuscher?

Wir brauchen zwei Rundgänge, bis wir eine Entdeckung machen, die diese Einschätzung auf den Kopf stellt. In einer Seitenkapelle, die sicherlich die prunkvollste hier, und auch eine der prunkvollsten ist, die ich überhaupt kenne, voll mit Elfenbein und Jade, Amethyst und geschliffenem Lapislazuli, war unser erster Blick ganz von der Kostbarkeit des Materials gebannt. Den Bildern darin hatten wir kaum Beachtung geschenkt, sie schienen uns nur eine rokokotypische, religiöse Feinmalerei von fliederfarbener Seide und warm glänzendem Samt, bei der man immerzu hinfassen möchte, um die Glätte der Seide und den Samt, der den Fingerkuppen schmeichelt, zu erspüren.

 Doch plötzlich verstehen wir. Hier ist nichts gemalt. Die Lichtreflexe auf dem Bild sind anders, kälter und flächiger, härter gebrochen, von glasigem Glanz. Als wir genauer hinsehen, stellen wir fest, dass wir nicht auf eine Leinwand, sondern auf ein Mosaik starren, das sich als Ölbild ausgibt.

Die Fugen zwischen den Mosaiksteinchen sind unsichtbar; dies Blau ist vollkommen eben; jede Firnis auf einer Ölmalerei ist krinkeliger und rissiger als diese Fläche, die so glatt ist wie eine polierte Scheibe Marmor, und plötzlich scheint mir, dass das missratene Deckengemälde nichts als eine Falle ist, ein didaktischer Jesuitentrick. Der Besucher wird beim Eintreten angesichts dieses trompe l'oeuil, das so leicht zu entlarven ist, in der trügerischen Sicherheit gewiegt, dass er sich nicht so einfach übertölpeln ließe, und dass seine kritische Wahrnehmung allemal ausreiche, Realität von bloßem Anschein zu unterscheiden (was in Rom bei San Ignacio oder Borrominis Galerie im Palazzo Spada nicht so ohne Weiteres gelingt), doch dann wird in der Kapelle Johannes des Täufers dieser Sicherheit das Fundament entzogen. So schlau, wie du glaubst, bist du noch lange nicht, mein Freund! Wir von der Gesellschaft Jesu haben immer noch eine Karte im Ärmel und können dich nach Belieben hereinlegen. Haben wir dich nicht mit Leichtigkeit an der Nase herumgeführt? Und dann glaubst du immer noch, dein stolzer Verstand sei eine zuverlässige Instanz? 

Dieses klandestine Mosaik soll den Hochmut des selbstgewissen Betrachters düpieren - und es erfüllt seinen Zweck vollkommen. Ich jedenfalls fühle mich ertappt, verunsichert, der Naivität überführt. Wie leicht habe ich mich doch hinters Licht führen lassen, wie leicht bin ich drauf reingefallen? Die Jesuiten haben mich erfolgreich manipuliert. Sind sie nicht doch klüger und weiser als ich? Spricht ihre überlegene Intelligenz nicht doch für die Wahrheit ihrer Überzeugungen? Sollte ich mich nicht doch ihrem Wissen unterwerfen und in den Schoß der Kirche zurückkriechen?

Meine Erinnerungen sind verworren. In den Aufzeichnungen, die ich abends stichpunktartig gemacht habe, sind mir die Tage durcheinandergeraten. 

Die Stichpunkte sind: ein schöner, doch schockierend dummer Kellner am Miradour von São Pedro. Die Avenida da Liberdade mit dem heroischen Flohmarkt von Dingen, die niemand haben will, mondäne Fassaden, und ein Straßenzug dahinter nichts als Verfall. Eine Kellnerin auf der Rambla, Alter nicht einzuschätzen, irgendwas zwischen vierzig und siebzig, vom Leben gebeutelt und wahrscheinlich mit Kindern, die sie allein großzieht und die ihr nur Sorgen bereiten, möglicherweise muss sie auch schon für die Enkel sorgen, aber ihrer Herzlichkeit hat das nicht geschadet, denn sie verströmt eine Aura von Mütterlichkeit, die uns anrührt. Dann war da die Ginjinhakneipe, vor der uns Trunkenbolde anlallten, während wir aus kleinen Plastikbechern den Kirschlikör des Hauses schlürften und die schwarzen Frauen bewunderten, die sich hier am Platz trafen, ihre üppigen Körper in bunte Stoffe gewickelt, um den Kopf die farbigen Blüten ihrer geschlungenen Turbane. 

Da ist die Casa do Alentejo, ein Palast aus Tausendundeiner Nacht, oder zumindest einer belle époque-Phantasie von Tausendundeiner Nacht entsprungen - Palmen und Springbrunnen im Patio, ornamentale Kacheln an den Wänden, und eine von maurischen Bögen überspannte Galerie im Geschmack des von Flauberts Salammbô beschwipsten Second Empire. Dahinter tun sich dann Räume auf, die hier nach einem überreich stuckierten und lüsterglitzernden Versailles aussehen, dort nach einem britischen Club mit filzgrünen Spieltischen und ledernen Chesterfieldsofas. Es gibt Lesezimmer mit Sprossenstühlen, die knochig sind wie Gerippe, denen man die Fleischpolster abgezogen hat, Speisesäle mit blau-weißen Azulejos, und Säle, in denen der Gast auf den Wandfliesen Szenen lusitanischen Landlebens beschaut, derweil er sein carne à porco alentejana verzehrt. 

Unser Reiseführer nennt dieses Gericht schmackhaft; ich muss den Führer banausisch nennen. Das carne besteht aus gewürfeltem Schweinefleisch in einer dünnen Weinsoße, dazu ein paar Muscheln und gebratene Kartoffeln. So, wie es gemacht ist, steckt nicht die geringste kulinarische Idee dahinter; die Kombination von Schweinefleisch und Muscheln bringt keinerlei Akkord zuwege und bleibt ein vollkommen zufälliges Beieinander zweier Zutaten. Wenn man nach einem positiven Wort für dieses Etwas sucht, kann es nicht schmackhaft sein, sondern allenfalls sättigend. Und in der Tat ist das Gericht nicht aus kulinarischen Gründen ersonnen worden, sondern aus religionspolizeilichen. Als die Muslime und die Juden Portugals zur Konversion gezwungen worden waren, setzte man ihnen solche Teller vor, um zu prüfen, ob sie ihren religiösen Speisetabus wirklich abgeschworen hatten. Ein guter Muslim schreckte vor Schwein und Wein zurück, ein Jude vor dem Schwein sowieso und dann auch noch vor der unkoscheren Kombination von Fleisch und Seegetier. Wenn ich ein gewissenstreuer Feinschmecker wäre, hätte ich den Teller ebenfalls zurückgehen lassen, schlicht aufgrund seiner Banalität; ich hatte aber Hunger und forkte den Unfug ein. Erst kommt das Fressen, nicht wahr, dann der Snobismus.

Wir bereuen die Einkehr dennoch nicht die Spur. So enttäuschend das Essen für die Zunge ist, so vergnüglich ist das Ganze für den Blick. Wir schmausen mit den Augen über die Kacheln, über Stuck und Mahagoni, und dann genieße ich es sehr, dass wir uns nach dem Essen in die behaglichen Ledersessel vor dem Lesesaal fläzen und zehn Minuten Schlaf einschlürfen können, bis die Putzfrauen kommen und mit ihren Feudeln den Staub unter unseren Sitzen wegschlecken. 

Danach verschlägt es uns in die Kirche São Domingo am Rossio. Sie war im 13. Jahrhundert einmal die größte Kirche Lissabons, aber offenbar liegt kein Segen auf ihr. Ein Erdbeben hat sie im 16. Jahrhundert schwer beschädigt, und das Beben, das im 18. nicht nur Lissabon physisch, sondern moralisch ganz Europa erschütterte, hat sie fast vollständig zerstört.

Das Erdbeben damals war ein epochaler Schlag gegen den Optimismus der Aufklärung gewesen, es erschütterte ganz Europa. Leibnizens Überzeugung, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, büßte angesichts dieser Katastrophe mit mehreren Zehntausenden von Todesopfern erheblich an Glaubwürdigkeit ein. Besonders pikant musste der Umstand wirken, dass - ausgerechnet an Allerheiligen! - soviele Kirchen vernichtet wurden, während die lasterhafte Alfama mit all ihren Bordellen und Schankstuben weitgehend verschont blieb. Wieviel Fromme wohl der Zweifel ankam, ob nicht doch die Huren und Matrosen, die Zuhälter und die Diebe und die Spieler und die Trinker ein gottgefälligeres Leben als sie selbst führten? Mussten sie nicht glauben, dass Gottes Zorn eben ihnen, den Frommen, galt, und dass er sie grade für ihre gemurmelten Rosenkränze, ihre stupiden Bußübungen, für die blutigen Praktiken der Inquisition, für den Prunk der Kirchen, für die moralische Überheblichkeit ihrer Mönche und Pfaffen und für die geistige Verstocktheit gegen die Wissenschaften strafen wollte, während ebendiesem Gott die Sünder mit ihrem Lebenshunger und den kleinen Lüsten von Tisch und Bett weit mehr am Herzen lagen?

1959 - ein Jahr, bevor Portugal sich in die anderthalb Jahrzehnte währenden Kolonialkriege in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau verstrickte - brannte São Domingo aus. Es sollte 25 Jahre dauern, bis die Kirche wieder eröffnet wurde, doch die Spuren der Zerstörung hatte man da kaum beseitigt. Das ausgebrannte Deckengewölbe war erneuert und in den Tönen von Fleisch und Rötel getüncht worden, das Gerüst aus Säulen und steinernen Blenden scheint indes so erhalten geblieben, wie das Feuer es hinterlassen hat: die Säulen sind schrundig, angenagt, zernarbt, und von diesem Vierteljahrhundert ohne Dach stärker verwittert, als es griechischen Tempeln in zweieinhalb Jahrtausenden widerfahren ist. Das verleiht der Kirche eine bewegende Ausstrahlung; sie wirkt geschunden und ausgezehrt wie der gegeißelte Christus selbst: die ganze Kirche ein Isenheimer Altar, tapfer die Brüchigkeit und Hinfälligkeit der dinglichen Welt ausstellend.

In den Kirchbänken weinen Weiber. Es hätte mich auch gewundert, wenn nicht.

Wie alle Welt haben wir die Fronleichmansprozession in den Straßen verfolgt, die Reiter, die Kreuzträger, die dahinparadierenden Bruderschaften, und schließlich stand ich mit einem Bier in der Hand - denn der Kiosk hatte keineswegs seinen Betrieb eingestellt und servierte auch während der Zeremonie Brot und Wein und Bier - vor der Kathedrale von Lissabon. Früher war mehr Lametta.

Einmal waren wir oben am Castel, für dessen Besichtigung mittlerweile gepfefferter Eintritt erhoben wird, den wir nicht bezahlen wollen. Ich erinnere mich, dass wir vor 25 Jahren einmal dort herumspazierten, und das Einzige, das sich mir eingeprägt hat, waren die Pfaue im Garten und ihre gräßlichen Schreie.

Wir tranken einen Aperitiv unter den Fassaden eines herrschaftlichen Hofs. Eine Studentin stand hinter der Theke, die erst nach einer Weile damit herausrückte, dass sie aus Hamburg stammte. Als sie den Job annahm, hatte sie gehofft, ihr Portugiesisch zu üben; aber es kommt kaum portugiesische Kundschaft: die Preise hier oben halten die Einheimischen ab.

Im Hof schwebte, von Nylonfäden gehalten, ein kunstblumenbeklebter Würfel von anderthalb Metern Kantenlänge, und kein Tourist, der diesen Weg nahm, verzichtete auf ein Selfie, obwohl der Würfel ohne Visage davor viel schöner war.

Beim Weg in die Unterstadt werden wir von einem fröhlichen Schwarzen angesprochen, einem netten Kerl mit offenem Lächeln und einem schönen, senegalesischen Französisch. Obwohl er eine Handvoll Armbänder trägt und einen Bündel Selfie-Sticks, macht er keinen Versuch, uns seine Ware anzudienen. Wir plaudern angenehm über seine Heimat, bis wir am Largo Portas do Sol und der wunderbaren Aussicht über Stadt und Fluß angekommen sind, und zum Abschied möchte er, weil wir so aimable sind, jedem von uns eins seiner Lederarmbändchen schenken, und da wir nur dann ernsthaften Widerstand leisten könnten, wenn wir nicht mehr liebenswürdig wären, nehmen wir schließlich zwei Bändchen mit Zierplättchen, von denen eins einen Elefanten zeigt, das andere Fatimas Hand. Dummerweise habe ich kein Gegengeschenk zur Hand - Glasperlen, Tabakzöpfe, Heiligenbildchen - also gebe ich ihm fünf Euro, zur Besiegelung unserer unverbrüchlichen Freundschaft, und wenn wir einmal nach Senegal reisen sollten, wäre es seiner Familie eine Freude und eine Ehre, uns ihre Gastfreundschaft anzubieten. Unser Freund heißt Mohammed Diouf, und an dieser Stelle sei's versprochen: wenn wir nach Dakar kommen, fragen wir uns durch.

Zu Lissabon soll's damit auch schon genug sein. Dass Dagmar hier eine elegante und höchst originell geschnittene Strickjacke gekauft hat, und ich, damit ich auch etwas bekomme, einen beigen Wintermantel aus gewalkter Wolle (auch elegant, aber alles andere als originell), dürfte von geringem Interesse sein. Eine Sache wirft allerdings ein Licht auf die portugiesische Konzilianz. Der Mantel hat keine Innentasche; wir fragen, ob wir ein Stück des Futterstoffs haben können, um eine Tasche einzunähen. Im Laden haben sie den Stoff nicht, aber sie schicken uns gerne etwas auch nach Deutschland. Wir haben ein handgroßes Stoffstück erbeten, und es kommen zwei Meter im Quadrat; Dagmar kann außer zwei Innentaschen noch eine Weste und einen Schal davon machen, und ich hoffe stark, dass die Firma vor lauter Entgegenkommen nicht auch noch dem Bankrott entgegenkommt.

Es wird Zeit, Lissabon zu verlassen; wir wollen ein andermal zurückkehren und dann in der Innenstadt Quartier nehmen: die langen Fahrten zum Campingplatz sind allzu ermüdend; zudem gehen die letzten Busse noch weit vor Mitternacht, was uns auch daran gehindert hat, in einem Fado-Lokal einzukehren, was vermutlich eine schwere Unterlassungssünde ist.

Die letzte Busfahrt zum Campingplatz: ein milchkaffeebraunes Mädchen von vielleicht vier Jahren starrt mich unentwegt an; wahrscheinlich fasziniert sie mein Hut. Ich mache Faxen, bis sie zu lachen beginnt, und wir kommen mit ihrer, nun ja, vielleicht Großmutter ins Gespräch, die insgesamt sieben Kinder zwischen zwei und fünfzehn Jahren hütet. Vielleicht ist sie sogar mit einem davon verwandt, auch wenn es nicht so aussieht; sie hat eine ganze Farbskala um sich versammelt, der Kleinste ist weiß, meine kleine Freundin hellbraun, und je älter die Kinder werden, desto dunkler werden sie auch, bis zur Fünfzehnjährigen, die von tiefem angolanischen Schwarz ist, sehr schön und sehr ernst und ganz erfüllt von ihrer Verantwortung als großes Mädchen. Schließlich bekomme ich heraus, dass die Kleine gar nicht mein Hut fasziniert hat, sondern der Umstand, dass wir eine fremde Sprache sprechen. Das soll ich weiter tun, fordert sie. Die Großmutter übersetzt uns das; auch sie hat ein paar Jahre in Frankreich gearbeitet. Aber, sage ich, Mafalda versteht uns nicht mehr, wenn wir Deutsch sprechen. Das sei ihr egal; es gehe nur um den Klang. Da mischt sich eine abgezehrt aussehende junge Frau zwei Sitze weiter ein; sie könne auch ein wenig Deutsch sprechen, und führt es gleich vor: Leer die Papierkorb aus. Hier die Schreibtisch wischen und Treppenhaus sauber. Schnell schnell. Ich habe arbeiten in Dortmund, zwei Jahre, dann zurück. Mutter krank. Ich helfe.


Boca do Inferno, Cabo da Roca


Am Morgen reisen wir ab. Unweit des Campingplatzes gibt es ein großes Einkaufszentrum, in dem wir Proviant fassen wollen, aber es gelingt uns tatsächlich nicht, einen Zugang zu finden, der Wagen über zwei Meter Höhe zuließe. Zwei Mal begegne ich einem Höhenbegrenzungsbalken, den bei der Einfahrt anzukündigen man vergessen hat, und ich schaffe es nur knapp, ohne allzugroße Behinderung des Verkehrs aus dieser Überraschungssackgasse wieder herauszukommen. Doch auch ohne solch speziellen Hindernisse scheint es nicht einfach zu sein, sich auf dem Gelände zurechtzufinden. Auf einer Einbahnstraße kommt uns (immerhin höflich ganz an die linke Seite gedrückt) ein Auto entgegen, ein anderes fädelt sich rückwärts wieder eine Auffahrt herunter, die es auf die Autobahn gezwungen hätte. Das ist für die zehn Minuten, die wir uns dort tummeln, eine beachtliche Quote von Irrläufern, und es ist wenig wahrscheinlich, dass sich hier und heute eine besonders große Menge von Idioten versammelt hat - es wird wohl eher an der Ausschilderung des Geländes liegen. Ich muss an unseren Wirt aus Alcobaça denken, der so bekümmert über die völlige Unfähigkeit seiner Landsleute war, die Infrastruktur systematisch und kohärent zu ordnen; hier bestätigt sich sein Urteil einmal mehr. 

Als wir schließlich die Küstenstraße entlangfahren, unternehmen wir zwei weitere Versuche, am Straßenrand annoncierte Supermärkte aufzuspüren. Den ersten finden wir gar nicht (die sporadischen Wegweiser haben sich zu einer teuflischen Endlosschleife verbunden), und den zweiten nur - nachdem wir bereits aufgegeben haben - indem wir uns erst rettungslos verirren und dann plötzlich durch Zufall davorstehen.

Irgendwann an diesem Tag, an dem wir so lange mit Blick auf den weiten Ozean dahinfahren, brüte ich eine andere These aus, warum die Wegweisungen hierzulande nichts taugen. Portugals große Epoche war das Zeitalter der Entdeckungen. Columbus' Entdeckung Amerikas 1492, Vasco da Gamas Entdeckung des südlichen Seewegs nach Indien über das Kap der Guten Hoffnung sechs Jahre später waren Reisen ins Blaue und auf Verdacht, ohne Karte und planvolle Navigation. Der Reichtum Portugals verdankte sich eigentlich vorwiegend dem Herumirren seiner Flotte im Indischen Ozean und im Südchinesischen Meer. Sollte sich diese Idee, dass man die Quellen seines Wohlstands eben durch Zufall findet, nicht tief in die portugiesische Mentalität eingesenkt haben? Als die Welt kartographiert, vermessen, berechenbar geworden war, verblasste auch der Stern Portugals. Wie sollte das Land sein Glück nicht mit Zufall, Wirrnis und Orientierungslosigkeit assoziieren? Könnte es nicht sein, dass Portugals Abwehr gegen die systematische Beschilderung seiner Wege von dieser Erfahrung herrührt, dass nur der Verlust einer klaren Vorstellung, wo man sei und wo man hinwolle, einem die Schatzkammern der Welt öffne?

Hinter Cascais liegt der Höllenschlund Boca do Inferno. Die Klippen dort sind ein beliebtes Reiseziel pathetischer Selbstmörder. Aleister Crowley - Okkultist, Sexualmagier, Dichter - hat hier mit Hilfe Pessoas seinen Suizid vorgetäuscht, und wenn es ein wirklich schlagendes Argument gegen Crowleys Satanismus gibt, dann besteht es in der Wahl dieses Ortes. Sich hier umzubringen, kann kaum etwas anderes sein als Theater. Wichtigtuerische Gischt spritzt und schäumt in einem Gefuchtel der Elemente empor, tut bedeutsam, bäumt sich erhaben: alles in allem ein Ort für pompöse Angebershows und Zirkussuizide.

Das Meer hat sich hier einen Durchbruch zu einem Becken erkämpft, und darin schwellen und sprühen die Wellen besonders hoch. Atlantische Ejakulationen mit 20-Meter-Amplitude spülen diesen sprudelnden Hexenkessel aus; der Salzdunst legt sich klebrig auf unsere Haut; das Gesicht fühlt sich an wie lackiert. Wäre das die richtige Schminke für eine Séance mit dem Großen Tier Crowley?

Man hat die Küste zum Cabo da Roca hinauf vor Hotelanlagen weitgehend verschont. Feinsandige Strände wechseln sich mit Felsklippen ab, im Hinterland liegt ein Teppich aus Grasbüscheln, die stämmig und fest sind wie Sukkulenten, und über denen malvenfarbene, purpurne, zitronengelbe Blüten stehen. Kaum höhere Gewächse, nicht Strauch noch Baum: auch wenn heute nur eine schwache Brise geht, begreift man, dass Pflanzen, die sich nicht eng an die Erde klammern, es dort nicht leicht haben.

Wir würden gerne irgendwo zu Mittag essen. Alle paar Kilometer kommen wir an Restaurants vorbei, die mit großen Panoramafenstern auf den Ozean schauen. Aber schon bei einem Blick auf den Parkplatz ahnen wir, dass das nicht unser genre ist: Porsches, BMWs, Mercedes-Coupés zwischen gediegen und protzig. Wir zögern, uns mit solchem Pöbel gemein zu machen. Aber nun, der Hunger ist stärker als unser Distinktionsbedürfnis. Also überlegt Dagmar, wo sie ihre Pelzstola untergebracht hat, und ich suche meine Baldini-Krawatte und die 5204R grandes complications von Patek Philippe heraus, Roségold und Alligatorlederarmband mit quadratischen Schuppen, nicht grade erste Wahl, aber meine wirklich guten Uhren habe ich zuhause gelassen, wo sie von einem Underwood-Safe-Uhrenbeweger gewiegt werden. Ich schlüpfe in meine rahmengenähten Budapester von Crockett & Jones und den Tweedanzug von Huntsman, Savile Row, denn das Letzte, das ich will, ist overdressed zu erscheinen.

Dagmar hat sich schließlich für das Prinzesskleid aus Fortunyseide entschieden sowie die Schuhe aus Feuersalamanderleder, dazu die Luchsstola um die Schultern und das Brillantdiadem mit passendem Collier und Ohrgehängen - sie sieht wirklich hinreißend aus. 

Doch dann sehen wir auf der Speisekarte, dass die percebes hier pro Kilo nur mit 200 Euro zu Buche schlagen, und das erregt unser Misstrauen. Die ersten Qualitäten der Entenmuscheln werden gemeinhin teurer gehandelt, und wir wollen uns auf keinen Fall mit minderwertiger Ware einlassen, also hängen wir unsere Garderobe wieder in den Schrank, kehren in unsere schlumpigen Klamotten zurück und fahren weiter, bis wir uns, leutselig wie Harun al-Rashid, in einer Gaststätte unters einfache Volk mischen können. 

Der Wolfsbarsch dort ist vor dem Grillen längsseits halbiert worden, präzis durchgesägt wie in einem anatomischen Schaubild und dann aufs Rost gelegt. Aber das Mädchen, das uns bedient, kann uns nicht sagen, wie der Koch diesen unsagbar exakten Schnitt geführt hat, und der Wirt, der es wohl wüsste, ist so in Betrieb, dass wir ihn nicht mit unserer Neugier behelligen wollen. 

Zum Kassieren kommt ein anderer Kellner (offenbar traut man dem Mädchen nicht zu, mit dem Wechselgeld klarzukommen, und wahrscheinlich tut man recht daran). Der Mann sieht aus wie der Vetter von Murnaus Nosferatu, bleich und ausgezehrt und mit so merkwürdig verbauten Zähnen, dass neben ihm sogar Nosferatu aussähe, als hätte er in seiner Jugend eine sorgfältige Zahnregulation durchgemacht. Aber mein Versuch, den Trick mit dem durchgesägten Fisch erklärt zu bekommen, scheitert. Der Kellner versteht so ungefähr mein rudimentäres Spanisch, doch statt meine Frage zu beantworten, ergeht er sich lieber in Belehrungen, dass der Artikel in Portugal nicht la, sondern a laute, dass Rechnung nicht cuenta, sondern conta heiße, etc. Er ist offenbar wirklich ein Vampir: sind Vampirzähne immer an der Kehle von Leuten, die anders sind als er selbst (indem er sie beißt, sichert er den Fortbestand seiner Identität als hungriger Blutsauger), muss dieser arme Tropf durch solch beckmesserische Schibboleths die sprachliche Identität seiner Heimat erhalten.

Weiter zum Cabo. Die Vegetation ist grün und saftig auf den Hügeln, reizend der Ausblick über die weiten Küsten.

Als wir zum Kap abbiegen wollen, müssen wir einen schier endlosen Pulk von VW-Käfern passieren lassen, die hier einen gemeinsamen Ausflug unternehmen. Hinter uns beginnt es bald ungeduldig zu hupen, erst trötet einer, bald sind's drei, dann dröhnt es symphonisch. Es ist ein weiterer Beleg, dass es in Portugal von leftovers nur so wimmelt.  Was erwarten diese Leute eigentlich? Dass ich auf das Vorfahrt-Gewähren-Schild pfeife, einfach vorwärtsschieße und einen Käfer ramme?

Wahrscheinlich hat in der portugiesischen Seele ein gewisser freibeuterhafter Atavismus überlebt, der in den Leuten wieder erwacht, sobald sie ein Gefährt besteigen, gleichgültig, ob Galeasse oder Limousine. Dann entsinnen sie sich womöglich dunkel der Zeiten, da ihre Ahnen die afrikanischen Küsten erkundeten und gen Osten bis Goa, Macao, Formosa vorstießen. Die Kämpfe gegen die Ägypter, Araber, Inder und Chinesen, und die reiche Beute, die ihre Vorfahren überall machten, mag dem portugiesischen Automobilisten auch heute noch vorschweben, wenn er am Steuer sitzt und davon träumt, dass statt bloß einer Stoßstange ein stählerner Rammsporn vor ihm montiert wäre, und statt einer Hupe, die nur Lärm emittiert, ein Rohr, aus dem richtige Kanonenkugeln fliegen. Mag sein, dass der Portugiese sich an seiner saudade labt; aber sobald er ins Auto steigt, zieht er eine Rüstung an und wird zum kriegerischen conquistador.

In meinem deutschen Seelchen freilich ist die Erinnerung an nationale Eroberungsvorstöße eher im Sammelbecken für Desaster abgelegt - Landgewinne haben für Deutschland à la longue meist in einer Katastrophe geendet. Also lasse ich brav den Pulk vorüberrollen, bevor ich mich ihm anschließe, Volkswagen an Volkswagen. Ich bin ein Gefolgsmann von Kants kategorischem Imperativ und Hegels objektivem Geist, da können die drängeligen Deppen hupen soviel sie wollen. Verkehrsregeln sind für mich eine Form zu Objektivität geronnener Vernunft; dagegen anzuhupen scheint mir ein Protest gegen den Imperativ, dass jede Willensmaxime zugleich als Prinzip einer allgemeiner Gesetzgebung gelten solle, was ungefähr bedeuten soll, dass man sich am besten so benimmt, wie man auch von anderen wünscht, dass sie sich benähmen. Ich würde diese formale Regel nicht auf Kleiderordnungen, Speisevorschriften und Haartrachten ausdehnen wollen, aber im Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung scheint mir die Kantische Formel durchaus nachvollziehbar. Ramme nicht andere, wenn du nicht willst, dass andere dich rammen; so einfach ist das.

Als wir das Auto im Schatten des Leuchtturms abgestellt haben und zum Kap wandern, quellen grade asiatische Touristen aus zwei Reisebussen. 

Wir befinden uns am westlichsten Punkt Kontinentaleuropas, und zugleich inmitten einer guten Hundertschaft von Leuten aus dem fernsten Osten. Macao und Formosa - hier schwappt die Eroberung zurück.

Bald sind wir an der Stele, vor der sie sich alle fotografieren lassen. Zwei Verse von Camões (Hier, wo die Erde endet und das Meer beginnt; im portugiesischen Original - Aqui... onde a terra se acaba e o mar começa - sind die Verse genauso banal) und das Wappen Sintras (zwei Mondsicheln oder - schiffchen um einen Turm) sind in die Marmortafel geschnitten. 

Die chinesischen Männer sind fast ausnahmslos als Amerikaner gekleidet: Karohemd und Jeans, Baseball-Kappe. Viel Daunenwesten und Collegejacken, dazu eine bestimmte maskuline Körpersprache, die sehr mid-west ist, so breitbeinig, als hätte man eben noch ein paar Stuten zurechtgeritten oder Büffel abgeknallt.

Das Ritual beginnt. Jeder stellt sich vor Sintras Wappen und die Zeilen des Camões, zieht seine Grimasse und lässt sich knipsen, dann kommt der nächste dran. Es ist ermüdende Fließbandarbeit. Die Erde endet, das Meer beginnt.

Wir wollen dieses Elend nicht mitansehen und verlaufen uns in die Hänge. Da stehen Doldenbüschel wilden Dills wie leuchtend gelbe Laichkugeln, darunter rote, spitze Zungen, sowie eine Art von Edelweiß mit satinhaft gewachsten, steifen Blättchen, vor allem aber Mittagsblumen, die den Boden decken und mit ihren gelben Blütenfusseln an Löwenzahn erinnern. Die Mittagsblumen sind essbar, und aus den Früchten kann man Marmelade kochen, aber letztlich runieren sie als eingeschleppte Arten die Vielfalt der alteingesessenen Vegetation. Anspruchslos und schnellwüchsig laugen sie die Böden aus, was den einheimischen Arten den Garaus macht, und ich überlege kurz, ob das wohl eine Allegorie für Überfremdung sein könnte, und ob sie auf all die Chinesen anwendbar wäre. Komme dann aber schnell zu dem Schluss, dass ich wohl nicht bei Trost bin, solchen Unsinn zu denken…

Wir wandern die Klippen hinab, um Ruhe vor den lärmenden und schnatternden Gruppen zu haben, aber so ganz gelingt uns das nicht. Ein Stoßtrupp von Chinesen, der uns gefolgt ist, kraxelt auf einen Felsensporn: junge Männer um die Dreißig, die diese Klippenauskragung erklimmen und dort mit geschwellten Bizepsen für Fotos posieren, in denen sie sich als triumphierende Eroberer inszenieren. Die Besatzung des Schiffes, das unter Jorge Àlvares Kommando stand, wird sich nicht anders benommen haben, als sie die Insel Lintin vor Chinas Gestaden erreichte und das Banner ihres Königs aufpflanzte. Heldische Inbesitznahmen, Siegesgesten, Fäusteballen. 

Wie sagt doch Stephen Dedalus im Ulysses? "Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche." Iwojima und Berlin, Batalha und Aleppo; der schwitzende und faselnde Mann mit Barett und irakischen Orden auf der Brust, der noch von Sieg spricht, während im Hintergrund des Bildes bereits die amerikanischen Panzer auf den Firdosplatz in Bagdad rollen und die Saddam-Statue mit dem star-spangled banner verhüllen, bevor sie sie stürzen. Britische Kanonenboote am Jangtsekiang. Von Trotha in Deutsch-Südwest, der Zehntausende Hereros in den Tod schickte. Pizarro, der Atahualpa garottieren ließ. Angola, Äthiopien, Kaschmir. Der junge Kater, der immer dahin pisste, wo meine Katze sich die Wangen zu reiben pflegte. Das Massaker von Katyn, die Ertränkungen von Nantes, die Gulags und die Vernichtungslager, und das Affengebrüll, wenn ein Schwarzer vorübergeht. Syrische Flüchtlinge, die sich am Stacheldraht von Szeged aufschlitzen, und die Frau, die ihr Auto immer auf dem Parkplatz abstellt, der eigentlich meiner Mutter zusteht (nicht, dass sie ihn bräuchte; es geht ums Prinzip). Revierkämpfe, Vertreibung, Usurpation: ein Albtraum, und es ist auf kein Erwachen zu hoffen.

Wir schauen auf das Land, das sich hinter den Klippen erstreckt, und das so weich ausgepolstert erscheint - beflorte Mulden, in die ich mich wühlen möchte wie in den üppigen Leib der Erde selbst, ein  Lustfeld, das mit Farbtupfern ausgeflockt und übersprenkelt ist, doch dann wälzt sich eine Wolke wie Swifts Insel Laputa vor die Sonne und erstickt alles in aschenem Grau.

Später halten wir an einer Praia, einem Strand, an dem eine Hochzeit gefeiert wird; der Bräutigam ist Holländer, die Braut hat einen indonesischen Einschlag, ein Drittel der Gäste stammt von hier, was man an den nicht so gut geschnittenen Anzügen erkennt. Frauen in Goldlamékleidern und Seidenroben, die barfuß durch den Sand schreiten, und Männer im Smoking, die ihnen mit aufgekrempelten Hosenbeinen die high heels hinterhertragen. Kinder stampfen durch die Wellenzungen, zwei Hunde jagen sich und spritzen Sand und Wasser auf die schicken Kostüme der Damen. Schließlich sammelt sich die Gesellschaft im Schatten der hochragenden Klippe, um - zum wievielten Mal wohl an diesem Tag? - vor dem Fotografen Aufstellung zu nehmen.

Auf der Terrasse des Strandlokals sind die Tische schon gedeckt; die Kellner lehnen an der Balustrade und rauchen, bis der Rummel beginnt.

Und wir? Wir suchen uns einen Übernachtungsplatz weiter aufwärts an der Küste und sehen zu, wie die Sonne nach und nach von immer dunkleren Wolken umfasst wird, wie jemand, der Kissen um Kissen um sich häuft, bis er zuletzt ganz und gar in einem Abgrund von Polstern eingegraben ist. 

Auch wir brauchen bald eine Decke, um noch draußen zu sitzen; doch bald zerrt der Wind zu stark daran, und der Regen lässt nicht mehr lange auf sich warten. Zeit, sich im Bus zu verkriechen.

Sintra, Sesimbra, Outao

Sonntagmorgen. Die Sonne kommt lange nicht aus ihrem Kissenbergen, blinzelt nur ab und an verschlafen und abgekämpft aus der zerlumpten Bettwäsche der Wolken heraus, während wir nach Sintra fahren.

Der Weg zum Palacio da Pena führt durch einen Wald, der sich jeden Morgen mit atlantischer Feuchtigkeit sättigt. Moos polstert die Stämme, als hätte man ihnen feuchte Wickel angelegt. Die alten Bäume tragen üppige Flechtenbärte und Lianen, die wie grüne Federboen von den Ästen hängen, oder manchmal auch wie Ankerketten gesunkener Galeonen, die von Algenflor und Plankton überwuchert sind. Grauer Dunst wogt so wallend durch den Wald, dass ich mich nicht wundern würde, plötzlich ein paar glotzäugige Doraden zwischen den Stämmen auftauchen und wieder davonschwimmen zu sehen, oder einen Rochen, der mit majestätisch langsamen Flügelschlägen durch das Unterholz gleitet wie das Nachbild eines verwunschenen Vogelgespensts.

Die Besuchermengen, die über die Waldwege zum Palast emporsteigen, tragen nichts zur Entzauberung des Ortes bei - ganz im Gegenteil sogar, denn heute findet eine Art von Volkswandertag statt, bei dem die Teilnehmer allesamt rosaleuchtende Leibchen über den Jacken tragen, was sie aus der Entfernung in lachsfarbene Menschenschwärme verwandelt, die durch den Wald pilgern, als zögen sie ihren Laichgebieten entgegen, und die Erschöpfung, die sich auf ihren Gesichtern malt, als sie von Nahem unseren Weg kreuzen, lässt sie noch mehr aussehen, als stünden sie unter dem Bann irgendeines dunklen Instinkts oder einer hypnotischen Order…

Oben im Park verlaufen sich die Gruppen schnell. Die Anlage ist wie dafür geschaffen, Menschen in abgetrennte Gartenabteile aufzunehmen und sie, abgeschottet, von Salon zu Salon zu führen. Der Park ist als Geschachtel von Intimitäten angelegt: jeder Bereich (hier die Kamelien, dort die Sequoias, Engelstrompeten, Rhododendren, zu Holzzöpfen gewickelte Heckenpalisaden) beschränkt den Raum auf Wohnzimmergröße. Die herrscherlichen Flächen des Absolutismus waren bei der Gestaltung des Geländes wohl schon passé; von Machtdemonstration in der Weite ist hier keine Rede mehr; der Blick geht nicht mehr auf unterworfenes und übersichtlich gegliedertes, planisphäres Gelände, wie es die barocken Gärten kennzeichnet; die Herrschaften haben sich ins Separée und in private Behaglichkeit zurückgezogen. 

Eine geschickte Blickregie im Park schafft überall eine gewisse eingehegte Kleinteiligkeit. Einen Punkt, von dem aus man alles sähe, scheint es nicht zu geben; überall nur Nischen, Rückzugsorte, Grottenverstecke.

Es mag schon sein, dass der portugiesische Titularkönig Ferdinand II aus dem Hause Sachsen-Coburg sich hier einen romantischen Garten schuf, der verspielt und abwechslungsreich sein wollte wie Hoffmanns Erzählungen; aber wie bei diesem liegt unter der Launigkeit seiner Erfindungen ein Fond von Unbehagen. Das begreife ich allerdings erst, als wir die Gemächer des Schlosses besichtigen. Im Park erscheint mir die Vegetation noch wie der Abglanz eines unbeschwerten höfischen Lebens - die filigranen Wedel der vielfältigen Farnabarten regen sich in der Brise wie das Zittern und Blinzeln feingesponnener Fächer, als würden sie von den Geistern plaudernder Hoffräuleins bewegt, und mit Schichten aus geklöppelter Spitze bekleidete Prinzessinnen scheinen bisweilen zwischen den Reifröcken der Farnbäume tändelnd dahinzuhuschen. Doch das dunkle Grün und die Feuchte und die schwarzen Schwäne im Teich verleihen diesem Traum von ancien régime einen düsteren Ton, als hätte ein moderner Ovid die Nymphen zu Farn und Asphodelen verwandelt.

Nach und nach steigen wir dem Schloss entgegen. Das blitzt als historistischer Traum aus Ockergelb und Karmin immer wieder durch das Geäst, weder elegant noch schön, sondern eher eine Art von bunter Märchenschlossphantasie, der man einige Würde verleihen wollte, indem man sie statt von nackten Kindern, die mit einem Strandschäufelchen nassem Meeressand zusammenpatschen, von ernsthaften Handwerkern in solidem Stein errichten ließ. Aber ich kann mir nicht helfen - von unten erinnert der Bau in all seiner Drallheit und mit den Konditorkontrasten von Gelb und Rot dennoch an eine Sand- oder eine aufblasbare Hupfburg, und als wir oben ankommen, empfängt uns das Portal mit einem grämlichen Triton, der wie ein kackender Gnom in einer Muschel hockt und sich auch als Eingangsfigur für irgendeine alberne Geisterbahn nicht schlecht machen würde. Die Fassade zitiert die manuelinischen Motive des Maritimen - verdrilltes Tau, Muschel und Koralle - aber es wirkt alles falsch. Die verdrillten Säulen wollen eine Remineszenz an Schiffstaue sein, aber die Steinmetze brachten nichts anderes zustande als eine Art jener geriffelten Abluftrohre, wie sie sie aus Manchesters Fabriken kannten, und die Pilasterbündel darüber erinern eher an die Kühlrippen einer Dampfmaschine als an die überlieferten Ornamente aus Portugals goldenem Zeitalter. Der Eindruck von Ungleichzeitigkeit setzt sich fort: man hat versucht, die Vergangenheit wieder aufzurufen, konnte es aber nicht anders tun, als sich der zeitgenössischen Mittel und Formen zu bedienen, und das verleiht dem Ornamentenzitat immer etwas fabrikmäßig Hergestelltes, allzu Gerades und Geregeltes: die Bauhütte im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

Über der inneren Seite des Tordurchgangs ist ein rundes Fenster eingelassen, vielmehr das Zitat eines Fensters (denn es erleuchtet nichts und ist kaum mehr als eine aufgepappte Prilblume aus Steinmetzhand). Es ruft nur ein Stilelement auf, dessen einstige Funktion vergessen und vergleichgültigt ist: durch solche Rosetten pflegte einmal Licht zu strömen, das Kirchenschiffe in rauschhafte Farbigkeit tauchte. Jetzt klebt da bloß eine überkommene Form, die nicht nur zu nichts nütze ist, sondern auch eine unwillkürlich verräterische Anleihe bei der Industriearchitektur macht, denn der innere Lünettenkreis mit seinen sechs parabolisch darangehefteten Peitschenfäden aus Stein verwandelt das Emblem, obgleich es wohl ein Sonnenrad darstellen soll, bloß in das Abbild eines Ventilators, der die stickige Luft aus einem Walzwerk schaufelt, und einen Moment lang glaube ich tatsächlich, in der Form das Firmensymbol irgendeines Stahlbarons zu erkennen.

Das ganze Ensemble ist unzweifelhaft einem Ausmalbuch aus dem neunzehnten Jahrhundert entsprungen. Knaben, die für Ritterburgen schwärmen, haben mit ihren Bleistiften die Zinnen nachgezeichnet, und Mädchen, die es lieber bunt haben, verschwendeten, was ihnen nach der Einfärbung von Prinzessinnenroben noch an Gelb und Rot geblieben war, an die Mauern. Streng geurteilt muss man all das Kitsch nennen, doch ich mag es. Eigentlich amüsiere ich mich. Es ist eine Kinderei, aber warum sollte man nicht die Kindlein zu sich kommen lassen, da ihrer doch das Himmelreich ist?

Dieses Himmelreich hier verfügt sogar über die liebenswerte Gabe der Selbstironie, die immer wieder hervorblitzt. So wird im Treppenhaus die edle Basaltbüste von König Ferdinand von zwei Säulen flankiert, deren Kapitelle mit Fratzen verziert sind, die mit ihren grotesken Nasen und fleischigen Lippen das noble Antlitz des Königs zu karikieren scheinen, und auch sonst entdecken wir auf Schritt und Tritt Motive, die das Hochmögende mit einem Stich von Profanität entweihen: treuherzig dreinblickende Ferkelköpfe, gemütliche Löwen und Pausbackdämonen, denen jede apotropäische Bedrohlichkeit abgeht. Es liegt überhaupt wenig Majestätisches in diesen Mauern, keine erhabene und einschüchternde Ausstrahlung königlicher Macht. Der Palacio ist letztlich ein Austragshäusl des hiesigen Königtums - der luxuriöse Rückzugsraum für eine überflüssig gewordene, überlebte Aristokratie.

Doch so luxuriös sie wirken - die Privatgemächer der königlichen Familie sind nichts als ein Gefängnis. Das ist auf den ersten Blick zu sehen.

Im Château d'If drohte Edmond Dantès, der nachmalige Graf von Montecristo, in Kargheit zu verschmachten; in Sintra zog man es vor, dass einen der Überfluss erwürge. Die Wohnräume sind von Dekor befallen wie von fetten, spinnenden Maden, die alles erobert und sich überall eingenistet haben. Walter Benjamin hätte hier für sein Passagenwerk zum Thema Interieur einige Trouvaillen machen können. Allein das Speisezimmer nimmt dem Betrachter den Atem: es ist klein, eng, niedrig, zum Ersticken intim. Die Tafel für ein Dutzend Gäste füllt den Raum fast aus, und dennoch stehen in jedem Winkel des Zimmers Buffets und dunkle Portieren, auf deren Borden Zierteller aufgereiht sind, überragt von geschnitzten Blenden. Das Fenster, vor dem schlanke Säulen einen Altan stützen, wird von einem Rahmen aus Walnussholz verblendet, der an den Seiten aus wulstigen Stäben nach Art von Gewindestangen besteht, und in der Quere aus einem ornamentstrotzenden, geschnitzten Fries. Dieser Rahmen hält wiederum einen Samtvorhang, der à l’italienne zur Seite gezogen ist, und darüber hängt eine mit Fransen versehene Soffite: in dieser Überlagerung von Schichten tut sich Reichtum und Dekorationslust kund, aber zugleich ist sie ein Ausdruck wahrhaft beklemmender Angst. Es wirkt (und erinnert darin an die Prutterläden portugiesischer Kleinstädte von heute) wie die Grabstätte eines Pharao, der all seine Schätze und all sein Mobiliar um seinen Kadaver herum versammelt wissen will. Man hat sich mit Dingen armiert - dieser Schutzfunktion sind vielleicht auch die vielen Schichten geschuldet, die kaum je ein Ding in seiner Nacktheit belassen, sondern es wieder und wieder umhüllen, wie Benjamin erkannte, Etui um Etui und Futteral um Futteral, Läufer und Deckchen: alles muß bedeckt und überlagert, von irgendetwas eingewickelt und geschützt werden. 

Man könnte das Ganze eine Psychopathologie der europäischen Aristokratie im 19. Jahrhundert nennen, wenn das wohlhabende Bürgertum ihr nicht genauso verfallen gewesen wäre. Aber auch das Bürgertum litt - zumal nach der Revolution von 1848 - europaweit an der Angst, dass das niedere Volk einen erneuten Aufstand wagen könnte. Letztlich polsterten alle Vermögenden ihre Wohnungen mit Schnitzereien und Tapisserien und Untersetzerchen und Kannenhäubchen aus, so wie man in Frankreich zwei Jahrhunderte zuvor überall Bastionen und Fortifikationen gebaut hatte. Was Vauban gegen militärische Bedrohungen von außen gestellt hatte, wiederholt sich im 19. Jahrhundert im Privaten, in der Absurdität symbolischer Gesten und in einer magischen Beschwörung, deren ausführende Organe nicht mehr Festungsbaumeister oder Schamanen waren, sondern Dekorateure, Polsterer und Stickerinnen. Man wappnete sich gegen den drohenden Aufstand mit Sofakissen und pompösen Tafelaufsätzen.

Manches wäre zum Lachen, wenn es nicht so tief in einen Abgrund von Angst eingetaucht wäre - die Kerzenleuchter, an die sich rosige Schäferinnen und Nymphen klammern, die Kaminuhren mit galanten Tänzern und Kränzen bemalter Porzellanblumen, die täbrisbelegten Salons mit den Sesseln, deren Armlehnen an die Tressenépauletten von Operettengenerälen erinnen, der beunruhigende Mustermix von Tapisserien und Täfelungen, die schwarzlackierten Holzlakaien, die Lüsterkränze tragen... Ich kann den Eindruck einfach nicht abschütteln, ein infantiles Zauberschloss zu durchwandern. Die Bilder an den Wänden, in denen die Mitglieder der Familie porträtiert sind (würdig und pompös, bemüht, majestätisch zu erscheinen) geben dabei einen groben Kontrast zu dieser verworrenen Kinderei ab. Da ist eine Gesellschaftsschicht, die sich nicht von der Vergangenheit lösen kann. Sie hat ihre reale Macht eingebüßt, und nun spielt sie, im Modus ästhetischer Reprise, die guten alten Zeiten nach, damit sie wenigstens als Kindheitsphantasma erhalten bleiben. Bayerns närrischer König Ludwig II. ließ sich beim Bau von Schloss Neuschwanstein von Sintras Märchenmauern inspirieren. Irgendwann wird man die Peter Pan-Statue der Kensington Gardens auf Reisen schicken und vor diesen Nimmerland-Filialen gastieren lassen.

Wir verbringen noch einige Stunden im Park und wandern schließlich zum Chalet, das Ferdinand für seine zweite Frau, die Opernsängerin Elisa Hensler, errichten ließ. Die Ehe mit ihr war eine Mesalliance nach aristokratischen Kriterien, und doch nicht verwunderlich; der Adel lebte im 19. Jahrhundert ohnehin histrionisch, als Repräsentationsrelikt. Die Aristokratie war Operettenstoff geworden, ein buntes, luxuriöses Schaustück für die  Bühne. Insofern erstaunt es nicht, dass der schöne Fernando nach dem Tod der Königin eine Soubrette heiratete. Elisa wird sich in den Kulissen des Schlosses wie zuhause gefühlt haben; und wohl auch in dem abseits im Park gelegenen Chalet, dessen Balkone und Fensterblendrahmen - auch das eine Kulissenästhetik - knorriger Borke nachgebildet sind. Vielleicht sind sie eine Remineszenz an die Korkeichen des Alentejo, wohin wir spätnachmittags aufbrechen wollen.

Doch der immer offener leuchtende Himmel verführt uns noch zu einem Abstecher südwärts an die Küste der Halbinsel von Setubal. 

In Sesimbra weht eine gelassene Sonntagnachmittagsbrise über Strand und Hafenmole; man hält Corso, schlendert, schleckt Eiswaffeln und beschaut sich die Lachse und Rotbrassen, die neben Muschelsäckchen und Austern in den Vitrinen der Restaurants ausliegen. Das Mittagsgeschäft hat kaum einen Lachs unversehrt gelassen: es sind nur noch Schwänze und Bruststücke übrig - ein Umstand, der nicht weiter bemerkenswert wäre, wenn sich nicht genau, als wir uns über die Vitrine beugen, neben uns ein junges Pärchen gestellt hätte, die ebenfalls vor allem Schwanz und Bruststück sind, Schwanz er, Brust sie. Die beiden sind offenbar frisch liiert, können kaum die Hände voneinander lassen, und der Blick in diese promiskuitive Orgie von Fischen scheint sie zusätzlich anzuspornen. Das Männchen drückt und reibt von hinten am Weibchen, während es (das Männchen), alle Diskretion vergessend, für vier, fünf Sekunden des Weibchens Brüste knetet, wie es im Balzritual der Rotbrassen, soweit ich weiß, nicht vorgesehen ist. Wir ziehen uns schnell zurück - es fischelt zu sehr - und gehen auf den Strand hinaus.

Der ist mit weißblau gestrichenen Pfählen besteckt, auf die, wenn die Saison einmal angelaufen ist, wohl Sonnenschirme kommen. Jetzt stehen da nur dürre Pfosten, ein Solitairegesteck vor dem weiten Meer, und wie's Zufall und Ekliptik wollen, steht die Sonne in eben dem Moment so, dass die Schatten der Pfähle eine fast exakte Linie von Pfahl zu Pfahl ergeben - die Abweichung beträgt kaum mehr als zwei, drei Winkelgrad. Vom Ende der Bucht aus schauen wir zum ersten Mal zurück auf die Hänge und die Bienenwaben und Nistkästen der Hotelanlagen, die daran hochgebaut sind. Mag sein, dass die gerade mitangesehene Brunst mein Urteil beeinflußt; aber heute erscheinen mir diese Betonblöcke nicht als Bausünden, sondern als Riffe, die aus dem Meer an Land hinaufgekrochen sind und in denen gelaicht, gemilcht, gebrütet wird wie in jeder anderen submarinen Klippe mit all ihren Schlupflöchern und Brutporen auch. Ich komme mir vor wie Orson Welles im Dritten Mann, der vom Wiener Riesenrad auf das bakterielle Gewimmel der Menschen im Prater blickt und Joseph Cotton die grausamen Gesetze des Lebens erklärt. Das Riesenrad der Sonne hat jetzt allenfalls noch anderthalb Winkelgrad Deklination, und wir schlendern weiter durch das weißblau gestrichene Koordinatensystem der Pfähle und warten darauf, dass die Linien konvergieren - und sie tun es genau dann, als wir auf ein Grabmal aus Sand stoßen, das irgendein Strandkünstler hier geschaffen hat, feingespachtelt, geglättet, und sorgfältig nach Art einer Renaissance-Grablege gerundet, bis auf den Unterschied, dass sich um die Skulptur der Leiche nicht die allegorischen Figuren von Fides und Prudentia und all der anderen Tugenden aus den Moralkatalogen verteilen, sondern bloß ein Couchtisch und ein Telefon, Fernbedienung und Bier, denn Homer Simpson, dessen hier gedacht wird, ruht nicht auf einem Katafalk, sondern auf einem Sofa, und die Zunge hängt ihm nicht in Agonie aus dem Hals, sondern bloß, weil er ein, zwei Miller's zuviel intus hat, und eben dies ist der Moment, in dem die Schattenzeiger einrasten. Ein Wink des Schicksals, möchte ich meinen - das Universum will mich bequem auf einer Couch, ein Bier in Reichweite, die Glotze an. Es sei. Ich bin bereit, mich dem Fatum zu fügen.

Mais voilà, hier sind wir auf einem Strandparkplatz vor Outao. Die Sonntagsausflügler sind fort; außer uns sind nur zwei französische Wohnmobile zurückgeblieben, deren Insassen bis nach Sonnenuntergang Boule spielen. Alle paar Minuten zieht ein großer Frachter vorbei, der die Landenge zwischen dem Festland und der Halbinsel von Troia ansteuert und morgen an den Kais von Setubal beladen oder entladen wird. Wir können von hier aus die riesigen Tankkessel des Hafens sehen, Schlote und Ladekräne, später das Funkeln der Begrenzungslichter an den Anlagen, irdische Sternbilder, die ich besser verstehe als das verworrene Chaos am Himmel.


Evora, Cromlech von Almendra


Am nächsten Morgen passieren wir ein beinah properes Zementwerk, das einmal nicht wie die meisten Angehörigen dieser Spezies das umliegende Land in einem Umkreis von einem Kilometer mit weißem Staub vollgehustet hat. Die Hallen sind mit Betonrippen verstärkt und verleihen der Anlage etwas fast Klösterliches - vor allem die tonnenschweren Zementsäcke in ihrer stämmigen Plumpheit und den kapuzenhaft zusammengezwirbelten Zipfeln erinnern an Hundertschaften von Mönchen, die paarweise von den Kränen ergriffen und in den Bauch der Frachter versenkt werden: sursum corda.


Bald sind wir auf der Autobahn ins Alentejo; die Landschaft verändert sich schnell. Kaum haben wir die Auen und Marschen des Rio Sado hinter uns gelassen, beginnen die Dehesas, deren Anblick ich so liebe. Noch sind die Weiden unter den Eichen, dem Lorbeer und den Pinien von gelbem und veilchenfarbenen Flor überschimmert. Nichts ist verdorrt, was angesichts des feuchten Wetters der letzten Wochen auch verwunderlich wäre. Alles steht gut im Saft. Die Störche, die sich zu Hunderten und Aberhunderten hier niedergelassen haben, nisten auf den Masten der großen Stromtrassen. Oft sieht man alle hundert Meter die schöne, schlanke Silhouette eines Vogels über der krausen Krone seines Nestes aufragen. Ab und zu hat sich sogar eine Art von Sozialwohnungsbau an den Masten entwickelt, ein Mehretagen-Logis für Störche; einmal zählen wir acht Storchenfamilien, die sich auf den Auslegern eines Mastes verteilt haben.

Aber auch, wenn den Störchen hier der Siedlungsraum knapp wird und sie sich eng zusammendrängen müssen - es scheint mir, seit wir in Portugal sind, neben Lissabons Umgebung das einzige Mal, dass die Landschaft vom Menschen weitgehend unbehelligt bleibt. Die landestypische Zersiedelung setzt hier aus. Hier lässt man die Landschaft mehr in Ruhe als sonst, wo jedes Dorf entlang der Straßen ausfranst und jede junge Familie darauf zu brennen scheint, gleich nach der Hochzeit ein eigenes Häuschen außerhalb der Gemarkung zu bauen und die Pfosten der Umzäunung sogleich mit heraldischen Adlern, stumpfsinnigen Nymphen oder nichtsnutzigen Amphoren zu schmücken. Nein, hier verzichtet man einmal auf diese Unsitte des Traums vom Eigenheim. Aufatmen.

Evora. Als wir vor 25 Jahren in Portugal waren, haben wir hier angenehm Station gemacht. Ich habe drei Bilder davon in Erinnerung. Das Hotelzimmer mit seinen knarrenden Dielen, und Schränken, Fensterläden und Betten von einem sehr dunklen gebeizten Holz, die Wände weiß getüncht. Ich erinnere mich an eine Vorspeise aus Kalbsleber in Balsamico und viel Koriander, und an eine Franziskaner- oder Kapuzinerkapelle, die zur Gänze mit menschlichen Knochen ausgekleidet war.

Aus diesen drei Erinnerungsrudimenten ist mit der Zeit ein verklärtes Evora gewachsen, ein Ort von mönchischer Konzentration, still und asketisch (auch wenn Kalbsleber wohl nicht häufig auf dem Speiseplan eines Minoritenordens zu finden gewesen sein wird); ein ernsthaftes, ja gravitätisches Städtchen, dessen Bewohner ein Gelübde abgelegt zu haben schienen, das ihnen jedes überflüssige Wort verwehrte. Kellner und Zimmermädchen trugen Schwarz und bewegten sich so gemessen, als hätten sie sich verpflichtet, ihr Leben lang in Trauer zu gehen. Studenten in schwarzen Umhängen spazierten in den Abendstunden über die Plätze, und wenn man einen Moment nicht hinsah, hatten sie sich schon in Fledermäuse verwandelt, die um Standbilder und Brunnen schwirrten.

Es ist wenig überraschend, dass ich kaum etwas von all dem wiederfinde, zumal die studentischen Fledermäuse vormittags ruhen. Nach dem galão am Platz besichtigen wir die Kirche, aber das Einzige, das darin meine Aufmerksamkeit anzieht, ist ein Gemälde, in dem Augustinus, jenes nach Paulus zweite Genie christlicher Grausamkeit, mit professoraler Schläue die Ketzereien der Pelagianer vernichtet. Augustinus hat sein Gesicht aufwärts zur Seite gedreht, um auf Gottes Einflüsterungen zu lauschen; seine goldene Mitra leuchtet, und sein Antlitz ist furchtsam und scheu, während er die göttlichen Anweisungen empfängt. Doch der angstvolle Gehorsam, der sein Gesicht zeichnet, seine ganze untertänige Scheu hindert ihn keineswegs daran, mit seinem Fuß eine alte Metze niederzutreten - ein nacktes Weib mit schlaffen und faltigen Brüsten, deren Nacktheit wohl für ihre immer noch vorhandene, unzüchtige Verführungskraft steht, deren Alter allerdings die Sterilität ihrer Lehre anzeigen soll. Die Lust, ihr beizuwohnen, wird keine Frucht tragen. Eine Putte - die Züge ganz von hämischem Denunziantentum gezeichnet, à vrai dire ein richtiges Stück Scheiße - zeigt mit dem Finger auf das abweichlerische Opfer und jubelt darüber, dass ein Sündenbock gefunden ist, den man bald in den Tod treiben darf. Ein zweiter Putto (auch er kein milder Engel, sondern ein feixender Spitzbube) zündet währendessen die Schriften des Pelagius an, jenes Mannes, der da lehrte, dass der Mensch gut geschaffen sei, aus eigener Kraft imstande, sich sein Seelenheil zu verdienen. 

Das mag man heute, da Fragen des Seelenheils und der Gnade Gottes nur noch abseitige Theologenmarotten scheinen, achselzuckend als belanglos abtun; doch das mittelalterliche Denken hat zentrale philosophische Probleme oft an Themen geknüpft, die uns heute bizarr vorkommen; ich erinnere nur an die Debatte, wieviel Engel auf eine Stecknadelspitze passen, die nur auf den ersten Blick absurd ist, aber in Wahrheit eine filigrane Auseinandersetzung um das Verhältnis von Geist und Materie darstellte. Und desgleichen traktierten die pelagianischen Thesen auf der Oberfläche zwar unbeantwortbare Fragen nach dem Wesen Gottes, im Kern aber ging es dabei um die Fragen von Willensfreiheit und Autonomie des Menschen - und um Verantwortung und Gerechtigkeit. Pelagius fand die Gnadenlehre des Augustinus unerträglich, für den der Mensch ganz und gar der Willkür Gottes ausgeliefert war. Keine noch so redliche Lebensführung, keine guten Werke und kein guter Wille vermochte ihm nach Augustinus Gottes Gnade zu erkaufen. Der Gott Augustins ist unerforschlich, launisch, despotisch. Er mag einem Schurken das ewige Leben an seiner Seite gewähren und es dem Gerechten verwehren; nichts beschränkt die göttliche Wahl, die vor aller Zeit und vor dem Anfang der Welt einem jeden bereits sein Schicksal zugemessen hat. Das Los jedes Menschen ist entschieden, längst bevor er geboren ist. Gegen diese verabscheuungswürdige Vorstellung hielt Pelagius an der Idee fest, dass jeder Mensch ohne den Makel der Erbsünde, die ihn von vornherein strafwürdig macht, die Welt betreten hat, und dass er von da an selbst für seine Aufführung verantwortlich ist, indem er in Freiheit zwischen Gut und Böse wählt. Pelagius hielt Gott für einen vernünftigen, berechenbaren Richter; Augustinus sah in Gott nur ein wüstes und wütendes Monster, das über alle menschliche Rationalität erhaben ist, einen alttestamentarischen Baal, dem nach Menschenfleisch hungert.

Wieviele Autodafés sind wohl auf der Praça do Giraldo abgehalten, wieviel Menschen und wieviel Bücher verbrannt worden? 

Als wir auf den Platz treten, stelle ich mir einen anderen Gott vor, einen Gott, der ursprünglich im Sinn hatte, alle Seelen nach ihrem Tod ins Paradies zu führen. Anders als Augustinus es sich dachte, sollten alle Gnade vor Gottes Augen finden; alle würden erlöst, niemand verdammt. Doch schließlich musste Gott einsehen, dass eine Hölle notwendig sei, rein aus künstlerischen Erwägungen, um den Glanz des Paradieses zu erhöhen, indem er ihm als Kontrast einen düsteren Ort entgegenstellte, und er machte sich daran, eine Hölle zu schaffen.

Ich stelle mir vor, dass der einzige Bewohner dieser Hölle seit seinem Tod im Jahre 430 ebendieser Augustinus ist, Bischof von Hippo.

Die Knochenkapelle, die ich als düstere Grotte im Hintergrund einer Kirche in Erinnerung hatte, ist heute Teil eines höchst geschmackvoll gestalteten Anbaus. Die Besucher dieses Zentrums, in dem auch ein kleines Museum sakraler Kunst untergebracht ist, sind, wie wir, beeindruckt von Eleganz und Modernität der Einrichtung; sie fotografieren sogar die Toilettentüren, die in die Wände eingeschnittenen Marmorhandläufe im Treppenhaus, die Türklinken aus gebürstetem Edelstahl, und natürlich fotografieren sie auch durch ein Galeriefenster, das man in die Mauer der benachbarten Igreja de São Francisco geschnitten hat, in deren Altarraum hinab. Die Kirche wird dadurch zu einem musealen Gegenstand, den man betrachtet wie ein Diorama. Das Irritierende daran ist, dass man in Dioramen gemeinhin versucht, eine lebensechte Nachbildung von etwas zu schaffen. Die Kirche aber ist ja keine Nachbildung einer Kirche, sondern eben diese selbst; sie indes durch das Wahrnehmungsdispositiv des Dioramas zu betrachten, verwandelt sie in ein bloßes Schaustück. Die Glasscheibe entzieht ihr lebendige Präsenz und depotenziert sie zu einer Repräsentation ihrer selbst; so wird die Kirche von der Kultstätte zu einem historischen Exponat herabgestuft: sie wird zu einem ethnologischen Beispiel für die Paraphernalien einer abgetanen Welt.

Diese Deutung wird nicht gerade der Absicht des bischöflichen Auftraggebers entsprechen, der vermutlich nur dem Schmuckstück seines Sprengels einen modernen Rahmen geben wollte; aber die Moderne ist nun mal keine beliebige Rahmung eines Inhalts, den diese Rahmung unbeeinflusst ließe. Die Moderne bringt ihre eigenen Blickraster und Perspektivierungen mit sich; sie setzt einen anderen Kontext; sie inszeniert die Dinge auf ihre eigene Weise, sie verändert und verwandelt sie, und man braucht nicht zu glauben, dass etwas von der Aura, die einst die alten Gegenstände umhüllte, überlebt, wenn man sie in den white cube eines Museums stellt.

So geschieht es in der ersten Etage, in der das distinguierte Museumsambiente die Exponate erscheinen lässt wie bäuerliche Putzfrauen, denen die mondäne Dame des Hauses nicht gesagt hat, dass sie nicht zur Arbeit, sondern nur zur Ausschmückung einer Abendgesellschaft gebeten wurden, damit die mondänen Gäste ein bisschen was zu belächeln haben und sich über Naivität und Unbeholfenheit des einfachen Volkes amüsieren können. Die anorektische Ästhetik der Räume, ihre Klarheit, Eleganz und kontrollierte Funktionalität, strahlen Herablassung gegenüber den braven Holzschnitzern und Malern aus, deren Werke hier ausgestellt sind. Solche Werke sind für barockes Getümmel geschaffen, für Enge, Fülle, Überschwang - hier werden sie freigestellt und isoliert wie pathologische Präparate, und das bekommt ihnen schlecht. Aus ihrem Wurzelgrund gerissen verkümmern sie.

In der zweiten Etage erleben wir dann eine andere Art, wie die Form der Präsentation das Präsentierte verraten kann. Dort werden Weihnachtskrippen ausgestellt. Weil die Konstellation von Vater-Mutter-Kind (plus Ochse und Esel und vielleicht ein paar Schäfer) in jedem Material, jeder Abwandlung und jeder Abstraktionsstufe leicht darstellbar ist, hat sich eine ziemliche Menge von Varianten angesammelt, in Kork und Terrakotta, Holz und Wolle und Polyester, in knallig bunter Keramik, in Stroh und Papier und Wachs und Blech und Glas und Knochen und Horn und überhaupt in jedem Material, mit dem irgendwo auf der Welt Dinge verfertigt werden. Und es werden auch überall auf der Welt Krippen gebastelt, am Amazonas ebenso wie am Kongo oder an der Beringsee, es gibt aztekische Marien und kirgisische Josephs, Jesuskindlein aus Taiwan und Texas, und sogar Heilige Familien mit dem Personal aus Disneys Toy Story und solchem aus Entenhausen.

Die Idee des Kurators hat wohl darin bestanden, die universelle Verbreitung der Krippe vorzuführen. Offenbar ist das eine Abwandlung des alten consensus gentium-Arguments, also der Annahme, dass die Existenz Gottes durch die weltweite Verbreitung der Gottesidee bewiesen werde. (Doch erstens glauben vielleicht alle Völker, aber doch nicht alle Einzelnen, an einen Gott, und selbst wenn sie's täten, wäre dies auch nur ein Beweis für eine kollektive Überzeugung und nicht für deren inhaltliche Triftigkeit; Modern Talking haben in den zehn Jahren ihres Bestehens auch über hundert Millionen Platten verkauft, und doch wird mich niemand überzeugen können, dass Brother Louie ein guter Song ist. Und ist die weltweite Verbreitung der Lustigen Taschenbücher ein Beweis für die reale Existenz von Mickey Mouse?)

Aber dass dieses Argument von der Übereinstimmung der Völker nicht überzeugt, ist nicht das Problem. Schlimmer ist die Auszehrung des emotionalen Gehalts der Krippe durch die Serialität, in der sie hier präsentiert wird. Wir beschauen beflissen alle Vitrinen, doch irgendwann kippt die Innigkeit der einzelnen Krippen ins Sortimenthafte. Der Heilige Marxus stellte zu Anfang seines Hauptwerks (MEW XXIII, 49) fest, dass der Reichtum der kapitalistischen Gesellschaften eine ungeheure Warensammlung sei, und die Krippenausstellung ist ebendies: eine Warensammlung. Das Museum lehnt sich an die Ästhetik der Warenpräsentation in Kaufhäusern an, Abteilung Schmuck, Uhren und Parfümerie; es fehlen nur noch die Preisschilder.

Kirchenschatzkammern, die stolz ihre Reliquiare, ihre Monstranzen und Messgewänder vorzeigen, erscheinen dagegen wie altertümliche Vorläufer. Auch solche Schätze werden heute natürlich in Vitrinen präsentiert, aber es haftet solchen Sammlungen trotzdem immer noch etwas Archaisches und Pharaonengrabhaftes an, etwas, das sich aus Not und Angst nährt und gegen ein metaphysisches Bangen wehrt: solche Kirchenschätze sind auch aus Sorge um das Seelenheil und aus Angst vor der Verdammnis zusammengetragen worde; der Klerus bettelte und schmeichelte, bot Gott all diese Schätze als Bestechungsgeld an, damit er in all seiner Wut seine Kinder verschone. Ich glaube nicht, dass sich solche Schätze nur priesterlicher Prunksucht verdanken; mindestens ebensosehr sind es Opfergaben, mit denen man das Wohlwollen Gottes zu erkaufen suchte. 

Dagegen ist beileibe nichts zu sagen. Ich habe alles Verständnis der Welt für einen Erpressten, der um sein Heil fürchtet und das Lösegeld herbeischafft, das ein godfather von ihm fordert, diesen erpresserischen Mafiapaten, der den Schutz, den er gewährt, von der Höhe des Schutzgeldes abhängig macht. Das Geschäftsmodell der Camorra ist nicht ohne Überzeugungskraft; doch sein Vorbild  hatte es in der Religion. Denn war Gott nicht der oberste Don? Und weihte nicht ihm, dem Don der Dons, die Kirche die Schätze, die sie ihrerseits dem Volk abgepresst hatte? Aber was heißt schon abgepresst? Gab das Volk den Kirchenherren nicht gern, um sich lieb Kind bei einem strafenden, zürnenden Gott zu machen?

Und wenn es nicht gern gab, so gab es dennoch - aus Angst, und dem Zwang der Erpresser gehorchend, die mit der ewigen Verdammnis drohten.

Die historische Entwicklung der Religion verlief nicht anders als bei der Mafia. Erpressung und Gewalt wurden vom legalen Geschäft ergänzt. Um Freuds Diktum vom Es und vom Ich abzuwandeln: Wo Gewalt war, sollte Geschäft werden. Einschüchterung wurde zur Verführung; offene Unterdrückung verwandelte sich in sanftere Verlockung.

Die bestimmenden Bilder des Christentums sind heute nicht mehr der majestätische Weltenherrscher und sein Büttel - der Engel mit dem Schwert - oder der weit geöffnete Höllenrachen, der die Sünder verschlingt. Man begann, an die Herzen der Christenheit zu appellieren. Die Madonna - in der Romanik noch ein herbes und verbittertes Weib strengen Angesichts - wurde mild und hold und süß. Die Heilige Familie wurde zum Sinnbild des Glücks, und Maria war das centerfold dieser Liebesverheißung. Sie wurde zum lächelnden Antlitz auf den Plakaten und Prospekten, die für Frömmigkeit warben, und die Weihnachtskrippen formulieren das heimelige Glücksversprechen dazu.

Das demonstriert die Krippensammlung des Museums: eine sublimierte, familial verhätschelte und infantilisierte Möglichkeit der Religion, etwas Niedliches und Amüsantes und in der ganzen Art der Präsentation kommerziell Banalisiertes. 

Es tut recht gut, danach die Knochenkapelle anzusehen. Ein Franziskanermönch hat sie um 1500 in jahrzehntelanger Arbeit geschaffen. 5000 Totenschädel und unzählige Knochen hat er in den Zement gedrückt, um damit Mauern und Säulen, Friese und  Bögen zu schmücken, sofern schmücken der richtige Ausdruck für diese düstere Ausgestaltung ist. Zwei Dörrleichen hängen vor den Knochenwänden, ein Mann und ein Kind, und doch hat irgendein Rokokodekorateur sich nicht gescheut, die Gewölbeflächen mit heiterem Rankenwerk und allerlei lebenslustigen Ornamenten zu bepinseln, um diesem Spektakel des Todes doch noch etwas Zuversicht aufzuschminken. Ein irritierender Kontrast - und ich bin mir immer noch nicht im Klaren darüber, ob dieser Dekorateur ein Narr war oder ein tiefsinniger Mann.

Wir flanieren weiter, wandeln durch Parks und Gassen, und suchen schließlich nach einem Restaurant zum Mittagessen. 

Wie sollte ich einem Ristorante Tipico widerstehen, das zudem noch A Tripeira heißt, das ich als Das Gekröse übersetze? Die Speisekarte liest sich verheißungsvoll - Kutteln und Nierchen und Kalbskotelett - aber dann erfahren wir erst, dass sich Tripeira gar nicht von den tripes herleitet, wie man in Frankreich die Kutteln nennt, sondern nur die Einwohner von Porto und ihre Arme-Leute-Küche meint, und schließlich, dass nichts von all diesen interessanten Dingen auf der Speisekarte auch in der Küche vorrätig ist. Eigentlich gibt es nur Stockfisch und Schweineschnitzel, mit oder ohne Spiegelei darauf, also das, was es immer und überall gibt. 

Als wir das kapieren, haben wir allerdings schon eine Olive aus dem schnell servierten Schälchen genascht. Es geht uns wie der von Hades entführten Persephone, die in der Unterwelt nur einen Granatapfelkern nahm und darum diesem trüben Ort verhaftet blieb. Auch wir müssen jetzt dort bleiben, als die einzigen Gäste dieses kulinarischen Totenreichs. Die Wirtin ist betrunken, ihr Mann - der Koch - scheint es auch, und all das ist so erschütternd traurig, das Brot und der fade Käse und die sauer eingelegten Paprika, und die Wirtin, die sich hinter der Theke abwendet, um diskret einen Aguardente zu kippen, und danach ihr Tatterich beim Servieren - es ist ein Ort der Verzweiflung.

Gleich nebenan hat ein Sex-Shop seinen Kram in die Schaufenster gestellt. Es ist ein weiterer Ort der Verzweiflung, voller samtummantelter Handschellen, genitaler Stimulationsinstrumente, deren Funktion ich mir noch nicht einmal vorstellen kann, immerhin auch ein paar Dildos, deren Wirkungsweise sich auch einer beschränkten Imagination wie der meinen erschließt. Dazu Videokassetten und Heftchen, und so lustig gemeinte Utensilien wie einen Ass-Tray, in dem man seine Kippe zwischen Arschbacken aus Hartplastik ausdrücken kann, was ich in Wahrheit dann doch gar nicht so lustig finde. Mag sein, dass Augustinus und Dante daran Gefallen gefunden hätten.

Wir verbringen den Rest des Nachmittags in der Stadt, flanieren und schauen, aber die Reize Evoras sind bald erschöpft. Vom Palacio de Dom Manuel, der in seiner Glanzzeit einer der größten Paläste der iberischen Halbinsel war, und den König Manuel der Glückliche reich ausbauen ließ, ist nur noch ein Seitentrakt erhalten, dessen schlichte und würdige Gestalt heute kaum mehr eine Vorstellung davon vermittelt, wie prachtvoll diese royale Residenz einmal gewesen sein muss. 

Doch nur die einstige Galeria das Damas ist von dem weitläufigen Bau übriggeblieben; den zu einem Türmchen erhöhten Portikus krönt eine verzinkte Kegelspitze, die wie ein riesiges Löschhütchen darauf sitzt. Ob man damals die Flammen weiblicher Leidenschaften damit ersticken wollte? Oder hat man den Kegel erst später aufgestülpt, als der längst bedeutungslos gewordene und verwaiste Palast Stück für Stück von Feuersbrünsten verzehrt worden war und man wenigstens symbolisch etwas gegen künftige Brände unternehmen wollte?

Wir lustwandeln im Park, in dem Pfauen ihre Schleppen durch den Staub ziehen, zu matt, um ihre Federfächer aufzuspreizen und die Weibchen anzubalzen. Studenten mit Kollegmappen unterm Arm lassen sich auf dem Rasen nieder und besprechen mit ein paar Kommilitoninnen die Vorlesung. Einer ist von erschreckender Nachdrücklichkeit: er fuchtelt und sticht immerzu mit einem Stift in der Luft herum, pickt damit auf seine Unterlagen und ruckelt dabei mit dem Kopf wie ein Täuberich in höchster Liebesglut. Es ist eine Pein, ihm zuzusehen, und ich versuche, es nicht zu tun, aber dann sehe ich doch, wie sein Füllfederhalter beim Hinpicken mit einem Mal abknickt und zerbricht, und er, noch in der Bewegung, einen Schuss Tinte auf eins der Mädchen verspritzt und ihre Bluse mit einem schwarzen Gesudel zeichnet.

Dagmar hat auf der Karte ein paar Kilometer außerhalb eine prähistorische Stätte ausfindig gemacht, die ein guter Platz zur Nacht sein könnte.

Dieser Cromlech - der Ausdruck bezeichnet ein Feld von steinzeitlichen Menhiren, die als Kreis oder Oval oder einfach als Reihenanordnung von Dolmen gestaltet sein können - ist touristisch eher nachlässig erschlossen. Die letzten fünf Kilometer führen über eine Schlaglochpiste, die den Besucher wahrscheinlich mit didaktischem Geschick darauf hinweisen soll, dass die Straßenverhältnisse in der Jungsteinzeit auch nicht die allerbesten waren. Neben dem Feldweg breitet sich die Dehesa aus, lockerer Baumbestand über Blüteninseln in Gelb und Weiß, rostrot und fliederfarben gefleckt. Hier und da weiden Rinder mit Schafen zusammen, und als ich ein Lamm sehe, dessen Fell gemustert ist wie das einer Schwarzbunten, frage ich mich, ob die Evolution auch bei Schafen die Gabe der Mimikry als Selektionsvorteil ausgebildet hat, oder ob es doch hier und da zu bovinen Übergriffen auf eine liederliche Schafsdame gekommen ist…

 Am Cromlech ist dann das erste, das wir sehen, eine junge Frau, die sich lasziv auf einem Stein räkelt. Ihr Freund fotografiert diesen Koitus mit einem Hinkelstein auf eine Art, als schliche er sich mit einem Schlachtmesser an sie heran. Sie gibt sich halb als Pin-Up, halb als Opfertier, was ich beides obszön und lächerlich finde; wahrscheinlich halten die Beiden das Menhirfeld für eine phallische Kultstätte, an der einmal süffige neolithische Orgien begangen wurden. Aber was auch immer hier geschah - es ist unwahrscheinlich, dass es jemals etwas mit solch erotisch gemeintem Posieren zu tun hatte. Steinzeitliche Höhlenbilder geben sich nicht groß mit Sex ab, da hat man Wichtigeres zu verhandeln, denn erst kommt das Fressen, dann die Lust, und dazwischen stehen noch die Götter, die die Sonne und die Gestirne über den Himmel geleiten.

Sobald die Sonne untergegangen ist, wird es empfindlich kalt. Wir sitzen trotzdem noch lange draußen, um der Stille zu lauschen, die sich hinter dem Geschrill der Grillen und der Vögel hinter dem Glockengebimmel und dem Wind auftut, und irgendwann schweigen auch die Zikaden, die Vögel und die Rinder senken die Köpfe, und der Wind wird leiser als unser eigener Atem. Nicht der mindeste Motorenlärm von irgendwo, kein Streulicht, das die Milchstraße überblendet. In solchen Nächten taucht die Erde weg, und der Kosmos zieht seine Netze enger zusammen. Wir melken aus vollem Euter Sternenmilch.


Arraiolos, Montemor, Alcacer do Sal, Porto Covo


Die Vögel hier sind Langschläfer. Erst gegen zehn, halbelf am Vormittag veranstalten sie das Gelärme, das im Norden schon beim ersten Schein der Morgendämmerung stattfindet.

Auf dem Rückweg führt ein kleiner Pfad von der Schlaglochpiste ab in die Weiden. Rote und blaue Wicken sind in die Maschen der Zäune eingeflochten, Eidechsen, die sich auf der festgetretenen Erde sonnen, huschen flink davon, als unser Schatten auf sie fällt. Dagmar sammelt einen bunten Strauß aus Margeriten, Kornblumen, einem violetten Blütenfadenbüschel; auch Hornveilchen und Glockenblumen sind darunter, und kurze dicke Gräserähren baumeln wie Ohrgehänge dazwischen herab. 

Schließlich öffnet sich der schmale Hohlweg, und inmitten der Lichtung dahinter erhebt sich der mächtige Menhir von Almendra, dreieinhalb, vier Meter hoch, ein flechtenüberzogenes, majestätisches Monument, das man phallisch nennen mag, aber allenfalls in dem Sinn, den der Phallus in der Psychoanalyse Lacans hat, wo er für eine Bezeichnungs-, Benennungs-, Sinngebungsfunktion steht, und so ragt er hier auch eher als Symbol der Zeugungs-, Schöpfungs- und Welterschließungspotenz des Menschen auf denn als animalisches Membrum. Dieser Phallus repräsentiert kein erigiertes Glied, sondern allenfalls einen zeigenden Finger, einen Griffel, letztlich die Kraft ordnender und zentrierender Setzung überhaupt; er bezeugt die Macht, aus der profanen Wirrnis einen sakralen Ort herauszuheben und die Welt in differenzierte Sphären zu scheiden. Während der Cromlech, an dem wir übernachtet haben, aber bereits eine ausgebildete Sprache darstellt, ein Sortiment von Möglichkeiten, Querbeziehungen, Syntax, vielleicht auch eine Sternkarte, ist der Menhir der Anfang zeichenhaften Sinns schlechthin, das Bild eines Werkzeugs, das nicht zum Kämpfen, Bearbeiten, Töten geschaffen ist, sondern zum Ergreifen und Bedeuten. Wir stehen in der Sonne vor diesem Monument, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass alle Theologie, die seither geschaffen wurde, gegen die Macht dieser einen Grundidee nur ein verworrenes Stückwerk aus Details und Dogmen ist.

Als wir zum Auto zurückgehen, begleiten uns zwei Pferde am Zaun mit leichtem Tritt, ein Brauner und ein Schimmel, und ich denke an die Pferde, auf denen Anna und der Grüne Heinrich in Gottfried Kellers Wunderroman einmal reiten, braun wie die Erde und weiß wie die flüchtigen und versatilen Phantasmen der Wolken. Ich versuche, die Tiere anzulocken, aber sie drehen nur eine tänzelnde, kleine Pirouette vor uns, als vollführten sie eine Walzerfigur, bevor sie zwischen den Büschen entschwinden, und dieses kurze und leichthinnige Erscheinen ist ganz und gar märchenhaft und wie ein lichtes Traumgespinst am hellichten Tag.

Die Fahrt weiter nach Arraiolos fügt sich vollkommen in diese Féerienempfindung ein. Die Wiesen der Dehesas sind mit Blüten bestickt wie Zauberteppiche, helles Fliederblau, das von gelben, weißen, fuchsienfarbenen, ins Orange gehenden Tönen durchschossen ist, und all das ist immer wieder so üppig, dass kaum noch das Grün der Weiden durchscheint.

Im Reiseführer haben wir gelesen, dass Arraiolos auf eine lange Tradition der Teppichstickerei zurückblickt, und der Weg dorthin kommt uns wie eine duftige Einstimmung darauf vor. Umso enttäuschter sind wir, als wir durch die Straßen eines entvölkerten Städtchens ins Zentrum gehen und in den Schaufenstern wenig anziehende Wollläufer und Wandteppichlappen sehen; aber wir schenken dem kaum einen Seitenblick; unser Kaffeedurst ist stärker als alles Handwerksinteresse. So setzen wir uns am Platz an einen Cafétisch; ein paar Schüler versüffeln ihr Taschengeld mit Cola, ältliche Touristenpärchen wie wir nippen am Galão, und greise Männer mit Schiebermützen schauen neidvoll von den öffentlichen Sitzbänken abseits auf dieses Wohlleben, weil sie kein Tischchen haben, auf dem sie ihre Tintogläschen abstellen können, und mit dem Boden und einer Buddel selbstgekelterten Landweins vorlieb nehmen müssen.

Von Zeit zu Zeit höre ich ein Pferd wiehern; es muss ganz in der Nähe sein, aber ich sehe es nicht. Es ist merkwürdig: das Geräusch kommt aus der Richtung des Teppichmuseums, aber es wäre doch allzu seltsam, wenn jemand seinen Gaul dort im Foyer untergestellt hätte?

Oder sind uns - unsichtbar, wie es in der Macht von Märchenpferden steht - die Tiere von heute morgen mit ein paar Schlägen ihrer Pegasusfittiche hierher gefolgt und rufen uns nun zu sich, damit wir ihnen die Nüstern streicheln?

Wir lösen das Rätsel erst, als wir unseren Kaffee getrunken und zum Museum hinübergegangen sind. Die Sache ist von ernüchternder Profanität: die automatischen Türen des Museums quietschen, kreischen, schleifen beim Öffnen, rappeln dann auf eine Weise, die einem Pferd, das sein helles Wiehern mit einem knappen Schnauben abschließt, wirklich zum Verwechseln ähnlich klingt. Doch dann - das Geheimnis einmal gelüftet - lässt sich das Pferd nicht mehr hören. Es bleibt verschwunden wie die schöne Kokotte in dem bekannten Vexierbild, wenn man einmal auf die Hexe darin fixiert ist. Aber das Verschwinden des Pferds spornt uns nur an, es wieder aufzuspüren. Nun bleibt uns keine andere Wahl als in das Museum zu gehen.

Das Museum ist einmal mehr ein edles Stück moderner Architektur aus Marmor und gebürstetem Edelstahl, und wie schon in Evora will das Design nicht so recht zu den Exponaten passen. Das Ambiente ist modern und elegant, doch die Teppiche, die man hier ausstellt, sind von einer Plumpheit und bäuerlichen Einfalt, die mich bestürzt. Ihre Häßlichkeit und ihr ungeheures Hinterwäldlertum frappieren, wenn man sich dagegen einige Beispiele französischer und flämischer Tapisseriekunst vergegenwärtigt. Freilich wird hier nichts gewebt wie in der Tapisserie, doch selbst der Teppich von Bayeux, der die Schlachten von Wilhelm dem Eroberer schildert und wie diese Dinge hier ebenfalls gestickt ist, übertrifft die Hervorbringungen von Arraiolos in jeder Hinsicht - und der entstand vor fast einem Jahrtausend. 

Einige der Muster machen Anleihen bei persischer und arabischer Teppichknüpferei, aber es ist, als hätten sich tölpelhafte Zyklopen im Handarbeitsunterricht mit ihren groben Pfoten an einer Nachahmung dieser hochkultivierten und erlesenen Kunst versucht, die auf weit filigranere Garne ausgerichtet ist.

Im Obergeschoss sehen wir einer Frau zu, die einen Arraiolo-Teppich unter den Händen hat. Mit dickem Faden setzt sie ihre Kreuzstiche in das Untergewebe und erzählt, dass sie für einen Quadratmeter zwei Wochen brauche, fünf Stunden pro Tag und fünf Tage die Woche; das macht 50 Stunden für einen Quadratmeter; angenommen, dass ihre Arbeit nur mit 5 Euro pro Stunde entlohnt wird, sind wir schon bei 250 Euro, dazu kommen die Materialkosten und die üblicherweise dreißigprozentige Gewinnspanne des Händlers, sodass wir verstehen, warum diese Artefakte so teuer sind - und auch, warum niemand sie kauft. Sie sind teuer, sie sind abscheulich und zu nichts gut, also vollkommen zurecht unverkäuflich, und doch werden sie als unverzichtbares Kulturerbe subventioniert, produziert und feilgeboten. Es fällt mir nicht leicht zu verstehen, warum ein derart überlebtes Handwerk weiterhin gefördert wird. Die nostalgischen Bedürfnisse scheinen in Portugal alle Vernunfterwägungen zu besiegen. Ich denke an den Holzschuhmacher in Barcelos, der unverdrossen seine Stapel von sabots schnitzte, die ihm niemand abkaufte, und der in hartnäckigem Beharren doch immer weitermachte.

Doch eigentlich treiben's sie hier nicht anders als ich selbst, der ich für niemanden schreibe und kein Auskommen davon erhoffe und meinem Tun dennoch irgendeinen inneren Wert beimesse. Offenbar bin ich selbst mehr Portugiese als gedacht: einer, der für die Truhe schreibt, einer, der entschlossen seiner Leberzirrhose entgegentrinkt, einer, der vielleicht lieber nicht mehr hier wäre, einer, dem die Zwänge des Marktes ziemlich egal sind, weil er sie weder beeinflussen kann noch sich imstande sieht, sich ihnen anzupassen. Also verfertige ich weiter meine Texte, so wie die Leute hier in Arraiolos ihre Textilien besticken, und genau so, wie irgendein Spinne ihre Netze webt, auch wenn sich niemals irgendein Beutetier darin verfängt; ich folge stumpfsinnig einer Art von genetischem Programm, einem Schreibtrieb, der offenbar ebenso intrinsisch ist wie der Sticktrieb der hiesigen Frauen...

Aber vielleicht geschieht es ja sogar, dass hier, wenn die Feriensaison einmal begonnen hat, sich tatsächlich ausreichend gutsituierte Klientel einfindet, die von dem eigentlich ganz reizenden und gepflegten Städtchen mit seinen weißgetünchten Hauswänden und blaugemalten Fensterumrahmungen bezaubert ist und zur Erinnerung an einen schönen Ferientag einen Teppich kauft, sodass aus den Händen der Reichen doch einmal ein wenig Geld zu den Armen durchrieselt.

Obendrein muss ich zugeben, dass die Teppiche manchmal auch einen gewissen Reiz entfalten; vor allem aus größerer Entfernung - näher als zehn Meter sollte man allerdings nicht herangehen - könnten sie in Musterung und Farbenvielfalt fast als persische Teppichgewirke durchgehen. Man muss nur soviel Abstand halten, dass man die Plumpheit der Machart und die Dicke des Garns nicht bemerkt, denn dann zerfällt diese kurze Anmutung, die einen glauben machen könnte, diese Gebilde kämen aus einer Gegend, die das bunte und vielfädige Gewebe von Tausendundeiner Nacht hervorgebracht hat - und dieses flüchtige Angewehtwerden, als könnten hier auch Rosenwasser und Mohn aus Samarkand oder erlesene Stoffe von der Seidenstraße gehandelt werden, verpufft so schnell wie nur je ein Tagtraum, und statt in der erträumten Märchenpracht des Kalifenhofs steht man plötzlich in einer armseligen Bauernstube des Alentejo, wo man einer Handarbeitsstunde für die Dorftrinen beiwohnen darf.

Auf dem Platz vor dem Museum wird ein Pflastermosaik verlegt, das den Ruhm der traditionellen Teppichmuster noch weiter mehren soll. Bald wird man, von Googles Satellitenaugen unterstützt, die Ornamente Arraiolos in das Herz der Stadt gestanzt sehen können. Wie schön, wie schön, die Europäische Union fördert dieses wunderbare Projekt nach Kräften. Ich will es der Stadt nicht missgönnen; frage mich aber trotzdem, warum man nicht auch andere und eher unschöne folkloristische Traditionen Europas so hingebungsvoll bewahrt hat, wie etwa das Pestglöckchen, das Menschen mit ansteckenden Krankheiten tragen mussten, Judenhüte, den Pranger, öffentliches Rädern oder Vierteilen - die Liste könnte endlos erweitert werden. Dass solche Bräuche nicht mehr geübt werden, wird vermutlich zur allgemeinen Zufriedenheit sein; kein anständiger Mensch wünscht sie sich zurück. Es gibt also Beispiele traditioneller Sitten, deren Verschwinden niemand bedauert, und ich glaube, dass auch das Verschwinden der Teppichstickerei von Arraiolos niemanden ernstlich betrüben würde, bis auf ein paar Dutzend Stickerinnen und eine Museumsaufseherin, doch die sind natürlich befangen und von Eigeninteresse verblendet. Auch Henker und Schinderknechte waren nicht unbedingt glühende Verfechter der Abschaffung von Folter und öffentlicher Exekution, denn beruflich gesehen waren sie zweifellos Leidtragende bei dem Prozess, der den meisten anderen Menschen indes als zivilisatorischer Fortschritt erscheint. Ich will selbstverständlich nicht behaupten, dass die Teppiche von Arraiolos auf einer Stufe mit Hexenprozessen, Pogromen oder Lynchjustiz stehen; aber auch wenn sie weniger Opferblut erfordern: sie sind Zeugnisse von Barbarei und ästhetischer Brutalität, sie sind widerwärtig und primitiv und für den empfindlichen Geschmack ein offener Affront, und darum plädiere ich energisch für die Abschaffung dieser dämlichen Stickerei. Die Welt wird ein besserer Ort sein ohne diese Gebilde, und in zwanzig Jahren wird sogar in Arraiolos selbst nur noch ein peinlich beschämtes Schweigen auf jede Erwähnung dieser alten Tradition folgen, die dann nichts anderes gewesen sein wird als eine evolutionäre Sackgasse dekorativen Handwerks. Etwas mag seine Zeit gehabt haben, es mag geblüht, gelebt, geprangt haben, doch so, wie irgendwann auch dem Megaloceros, dem Mammut, dem Säbelzahntiger die Stunde schlug und sie alle vom Erdboden vertilgt wurden, so wird es auch keine rezenten Teppichsticker mehr geben. Ich wüsste nicht, was der Schönheit der Welt dadurch verloren gehen sollte.

20 Kilometer von Arraiolos liegt auf der Strecke nach Alcacer do Sal das Städtchen Montemor; danach kommt bis Alcacer nichts mehr, was auf einen Mittagstisch hoffen lässt, also halten wir in Montemor an. Ein Parkplatz ist als Zentrum ausgeschildert und erweist sich als leere Mitte einer verödeten Peripherie. Auf dem Parkplatz wartet die krumme Silhouette eines Mannes von kaum vierzig Jahren auf Kundschaft. Als wir ankommen, will er uns mit weit ausholenden Gesten auf einen bestimmten Stellplatz rangieren, aber was soll der Scheiß, ich will lieber in den Schatten, und was geht es überhaupt diesen Kerl an, wo ich parke? (Wahrscheinlich hätte ich lieber in die pralle Sonne gewollt, wenn er mich in den Schatten hätte winken wollen.) Die privatinitiative Bewirtschaftung eines öffentlichen Raums finde ich ungehörig. Warum nimmt sich irgendein depperter Hansel heraus, mich an einen bestimmten Platz zu verweisen, wenn doch alle Plätze mir nach eigenem Gutdünken freistehen? 

Als der Motor aus ist, brauchen wir noch eine Weile; ich will mir das Gesicht waschen, Dagmar ein leichteres Kleid anziehen etc., aber der Parkeinweiser lauert auf uns, schleicht um das Auto herum, späht, was wir da treiben, und als wir schließlich herauskommen, steht er parat. Ich bin ärgerlich. Ich habe ihn um nichts gebeten, habe seiner nicht bedurft - mit welchem Recht reklamiert er einen Obulus? Es ist eine komplexe Konstellation. Einerseits ist er schlicht ein Bettler, der um ein Almosen einkommt. Andererseits bettelt er nicht einfach, sondern versucht stillschweigend, einen Handel zu etablieren, ein Vertragsverhältnis, bei dem er eine Leistung erbringt, die ich ihm abkaufen soll (was er auch so, Empörung im Blick, beteuert: "Sir, it's my job!"). Dummerweise brauche ich die von ihm angebotene Leistung nicht und frage mich, warum ich etwas bezahlen soll, das ich nicht bestellt habe, und das es zudem gratis gibt. Ich habe mir eine ähnliche Frage schon im letzten Jahr in Madrid gestellt, als tagein tagaus ein Schwarzer an der Metrostation Canillejas in eben dieser Mischform aus Bettelei und Kleinhändlertum seine Handvoll Einwegfeuerzeuge anbot. Auch der Parkeinweiser will mehr sein als ein Bettler, indem er sich ein reguläres Dienstleistungsverhältnis fingiert. Das ist armselig und verzweifelt und todtraurig, und es wäre wohl bewegend, weil er dabei auch seine Würde behaupten will, aber was mich dann doch mein Herz verschließen lässt, ist der Anteil an Erpressertum darin: denn der Euro, den er für seine Dienste verlangt, erscheint mir nicht einfach als Parkgebühr, sondern als Schutzgeld. Nicht, dass ich dieses Kalkül diesem einfältig wirkenden, armen Tropf ernsthaft zutraue (was ich ihm hingegen sehr wohl zutraue, ist Wut und eine entfernt vandalische Erblinie), aber strukturell ist seine Forderung nach einem Entgelt für seine Dienste nichts anderes als die nach einem pizzo, einer Gebühr, die garantiert, dass das Auto nachher noch genauso unversehrt ist wie vorher. Die Cosa Nostra verkauft Schutz vor einer Bedrohung, die sie selbst erzeugt. Dieser Parkplatzbewirtschafter handelt nicht notwendigerweise und vielleicht auch gar nicht bewusst so, aber es sind alle Elemente für ein solches Dispositiv vorhanden: er will Geld, und er hat die Macht zu schützen oder zu schaden. Genauso rechnet die Mafia. Weil ich ihn dann doch für einen armen Tropf halte, gebe ich ihm nichts und komme mir recht unbeugsam und tapfer vor. (Natürlich hätte ich ihm den ganzen Inhalt meiner Börse in die Hand gedrückt, wenn eine Bande von jungen Schlägern im Arkadenschatten lässig ihre Brecheisen getätschelt hätten, ich bin ja nicht wahnsinnig.) 

Ein paar Minuten bin ich noch ärgerlich wegen dieses Mannes, der wahrscheinlich in aller Unschuld und vermutlich sogar mit den besten Absichten sein Brot verdienen möchte, doch ich bin ärgerlich, weil er dabei den Keim eines Verdachts legt, der mein bürgerliches Grundvertrauen zerrüttet, dass es am hellichtem Tag auf öffentlichen Plätzen auch ohne Wächter abginge. Aber als wir schließlich beim Mittagstisch sitzen (eine weitläufige Bar mit einem Tresen, hinter dem Zeitungen und Zigaretten und Lottoscheine verkauft werden; eine Theke für die Trinker und ein paar Tische für Handelsreisende und Touristen), grüble ich immer noch über den Parkplatzmann nach und frage mich, was eigentlich einen wie ihn und die Mafia vom Staat unterscheidet, dessen Steuern schließlich auch nichts anderes sind als eine Art von Schutzgeld, durch das sich das Volk Sicherheit und Wohlfahrt erkauft, indem sie es dem mächtigen Souverän, dem Paten Don Leviathan bezahlt. Letztlich sind die Cosa Nostra und ihre Abarten doch auch nur eine Frühform von Staatlichkeit. Was war Karl der Große im Grunde anderes als der Chef einer berittenen Räuberbande, und was waren die frühen Fürstengeschlechter, wenn nicht durchsetzungsstarke Mafiaclans? Vielleicht ist unser selbstgekrönter Parkplatzwächter nur der ferne Nachfahr einer einstmals einflussreichen Dynastie, die Magnaten und Mächtige hervorbrachte und ganze Länder unter der Zuchtrute hielt, und irgendein ferner Instinkt zwingt ihn, das Treiben seiner Ahnen mit den dürftigen Mitteln fortzusetzen, die ihm geblieben sind...

Das Auto ist nach unserem Mittagessen unversehrt (jedenfalls nicht versehrter als zuvor), und wir steuern Alcacer do Sal an, das Städtchen am Rio Sado, bevor der Fluss sich in den Marschen vor Setubal verliert. Unser Reiseführer behauptet, dass der Spaziergang am Flussufer und in den engen Gassen entlang der Fischerhäuschen und Adelspaläste viel Vergnügen bereite, aber eine solche Behauptung lässt nur den Schluss auf den morbiden Charakter des Autors zu, der offenbar eine Neigung für Totenstädte hegt. Die Läden in den engen Gassen stellen nicht Mode aus, sondern bekleidetete Effigies. Die Schaufenster der landesüblichen Haushalts- und Eisenwarengeschäfte wirken wie Vitrinen, in denen Archäologen typische Artefakte des späten 20. Jahrhunderts zusammengewürfelt haben, ohne genau zu wissen, wozu diese gedient haben könnten oder nach welchen Kriterien sie zu ordnen wären. Auf einer Holzbank liegt eine Frau nach Art der steinzeitlichen Bestattungen, mit hochgezogenen Knien und angewinkelten Armen in Embryonalstellung; hoffentlich schläft sie bloß, und hoffentlich ist auch die Tüte Kartoffeln zu Füßen der Bank nur ein abgestellter Einkauf und keine Grabbeigabe. Vor einer Bar sitzt ein alter Mann im Schatten, vollkommen reglos, die Augen geschlossen. In seinem Bier, in dem sich ab und zu ein Kohlensäureschnürchen aufwärts fädelt, ist mehr los als in seinem Gesicht, und das will bei dieser abgestandenen Plörre schon etwas heißen.

Wir machen einen kurzen Halt in Santiago do Cacém, an dessen Rand ein Hügel mit Mirador eine weite Aussicht auf Stadt und Land gewährt. Der Blick von dort oben wäre tatsächlich wunderbar, wenn das, worauf er fällt, irgend damit schritthalten könnte. Aber was hilft ein solch famoser Weitblick, wenn der Herrgott keine Idee hatte, wie er die Weite mit irgendwas Hübschem ausschmücken könnte? 

Hinter dem Städtchen, das den Nachbarhügel emporklimmt, schimmern bereits die riesigen Industrieanlagen, die Raffinerien und die Fabrikschlote von Sines. Immerhin; das ist doch schon mal ein Anfang. Wenn schon dem Schöpfer nichts eingefallen ist, muss eben der Mensch aushelfen und ein paar Blickfänger ins fade Panorama stellen.

In Sines wurde Vasco da Gama geboren, der das Kap der Guten Hoffnung umfuhr und den Seeweg nach Indien entdeckte. Wir überlegen, ob wir dort Station machen wollen (in Sines, nicht in Kalkutta), aber irgendwie haben wir für heute genug von portugiesischen Städtchen, und vielleicht auch von portugiesischen Scheintoten. Unterhalb des Miradors schläft ein junger Mann in dem einzigen anderen Auto, das außer dem unseren dort parkt; die Rückenlehne hat er nach hinten gelegt, und so ruht er dort wie ein aufgebahrter Leichnam, die Hände über dem Nabel verschränkt, sein Kopf kahlgeschoren und ausgezehrt wie der eines Sträflings. Eine Toyota-Grablege, oder die Überwinterung eines Lakaien, der in einer portugiesischen Kyffhäuser-Variante ausharrt, bis er irgendwann zum Dienst gerufen wird.

In der Stadt klimmen wir den Burghügel hinauf. Auch von den Mauern des alten Kastells ist die Aussicht imponierend feldherrnhaft - ein idealer Posten, um Truppen zu Zangenangriffen und Attacken auf die gegnerischen Flanken zu beordern. Aber die Garnisonen, die hinter den Burgmauern kaserniert sind, taugen militärisch nicht mehr viel. Seit 200 Jahren liegen dort keine Truppen mehr, sondern nur noch Tote. Man hat den Exerzierplatz zum Friedhof umgewidmet. Die Mauern des Kastells stehen, als hoffe man unverdrossen auf die Wiederauferstehung der Krieger, welche die verlorene Pracht ihrer Nation in all ihrem Glanz zurückbringen sollten. 

Auch der weitere Weg fühlt sich seltsam nach einem Wartestand und angehaltenem Leben an. Im Sommer sind die Strände südlich von Sines sicherlich gut besucht. In der Vorsaison (es ist jetzt Ende Mai) trifft sich die Öde des Hinterlandes mit der Öde an der Küste. Heidegestrüpp und Röhricht, die salzbestäubten harten Gräser, dürre Erde. Strommasten zur Linken, zur Rechten das Meer, das sich hier und da schäumend an vorgelagerten Felsgruppen bricht. Wie es hier wohl zugeht, wenn die Strände belebt sind? Ob der Ferienbetrieb die Melancholie, die über diesen einsamen und kargen Weiten liegt, aufheben kann? Ich kann es mir jetzt kaum vorstellen. Dies ist ein Ende der Welt, der kahle, abgewetzte Saum des Kontinents. Ab und zu sehe ich Menschenpaare oder einzelne Wanderer an den Buchten dahinziehen oder über die Klippen steigen, und immer hat dieser Anblick etwas Endzeitliches, als zögen all diese Menschen einem letzten Ufer entgegen, um in das köchelnde Geflimmer von Lichtschuppen einzutauchen, welche die niedergehende Sonne über die knittrigen Wellen streut.

Porto Covo, wo wir Station machen, hat einen Kern aus Bars und Souvenir- und Lebensmittelläden, und drumherum einen Kranz von weißgetünchten Appartmentanlagen, der so regelmäßig gerastert ist wie die Urnenwände in Friedhöfen. Cova meint auf Portugiesisch Graben, Höhle, Grab, und man kann sich leicht vorstellen, wieviel Schiffe hier gestrandet oder im Sturm gegen die Klippen geworfen wurden, wieviel Kohorten von Ertrunkenen man an diesem Gräberhafen verscharrt und wieviel Leichenfracht man hier gelöscht hat.

Wenn im Sommer die Sonnenbadenden in Reihen auf ihren Badetüchern ausgestreckt sind - sollte man dann nicht zum Gedenken an die Geschichte des Ortes ihnen zuhäupten Kreuze setzen, und neben die Cremetiegel mit Sonnenmilch auch einen Weihwassernapf und ein Ysopstengelchen tun?

Aber am Abend stehen wir gut oberhalb der Klippen; und während wir dem Sinken der Sonne zusehen, kreuzen Containerschiffe und Tanker von und zu den Industrieanlagen um Sines, riesige, barrenförmige Gebilde, deren Schlote graue Rußfahnen ausstoßen, die sich vor der fleischfarbenen Abendröte abheben wie der Qualm, der von einer erloschenen Fackel aufsteigt.


Mertola, Beja

Wir nehmen innerlich Abschied von Portugal. Die Etappen, die sich jetzt noch anschließen, gehören schon zur Rückreise; es sind nur noch Stationen, keine Ziele. Den Entschluss, die Algarve zu vermeiden, haben wir schon früh gefällt. Die Postkarten, die wir von dort bekommen haben, genügen uns; die Wirklichkeit wird dem pittoresken Glanz der Fotografien kaum gerecht werden können.

Also fahren wir gute hundert Kilometer ostwärts nach Mertola, einem Städtchen, das oberhalb des Zusammenflusses von Ourias und Rio Guadiana auf eine Felsnase gebaut ist. Burg und Kirche hatten hier einen guten Blick und freies Schussfeld auf alle an der Böschung hochkraxelnden Feinde. Die Böschung ist so steil, dass es gereicht haben müsste, Steine hinunterrollen zu lassen, um alle Eroberer zurückzuschlagen.

Heute will man Fremde nicht mehr zurückschlagen, sondern im Gegenteil nach Kräften anlocken; das archaische und feindselige Modell von Jäger und Beute, Eroberer und Verteidiger, ist von einer symbiotischen Struktur abgelöst worden, von der beide Seiten profitieren. (Wahrscheinlich hat es diese Symbiose immer auch schon gegeben, und nur die Geschichtsschreibung zieht es aus dramaturgischen Gründen vor, sich eher den Kämpfen zu widmen als dem Einverständnis.)

Mertola besteht möglicherweise seit der Kupferzeit, und viele Völker haben seitdem hier geherrscht oder gesiedelt, Kelten und Phönizier und Römer, während der Völkerwanderung germanische Stämme wie Vandalen und Sueben; Byzanz baute Handelsniederlassungen, und dann kamen die Muslime - die Umayyaden, Almoraviden, Almohaden - und schließlich wieder die Christen. All das hat sich in die Steine eingegraben, und die Archäologen sind immer noch dabei, all das mit Küretten und Dachshaarpinseln freizulegen.

Das Gewölbe der Kirche mit seinen sahneweißen Spitzbogensträußen, die von den Säulen aus aufsteigen und sich nach allen Seiten verzweigen, ist in seiner bäuerlichen Schlichtheit ganz bezaubernd; es ist, als hätte der Baumeister alle gotischen Musterbücher, in denen es Dutzende und Aberdutzende von Bogenformen und ihren Kombinationsmöglichkeiten gibt, kurzentschlossen in die Ecke gepfeffert, und entschieden, einfach aus der einen Bogenform, die er beherrscht, ein ganzes Kirchengewölbe zu errichten. Diese Bescheidung auf die eine Grundform ist ästhetisch durchaus effektvoll. Die Wiederholung des Immergleichen vermittelt Ebenmaß und Ruhe, auch eine gewisse, durch die Enge, Steilheit und Vielzahl der Bögen lebendig bleibende Lässigkeit, die an eine Abfolge von Fontänen erinnert, deren sternförmig zerspringende Strahlen sich wechselseitig durchkreuzen und verflechten. 

Etwas verwunderlich ist allerdings der Grundriss des Baus. Seine fast quadratische Form ist recht ungewöhnlich für Portugal, wo man das Langgestreckte bevorzugt und diese Längung manchmal noch durch die Scheidewände hervorhebt, mit denen die Seitenschiffe abgetrennt werden, was das Hauptschiff zusätzlich schmaler macht. Wie kam es hier nur zu einer so merklichen Abweichung?

Dann begreife ich's. Natürlich. Das hier muss einmal eine Moschee gewesen sein; die gleichförmige Wiederholung der Gewölbebögen wie der tendenziell quadratische Grundriss weisen auf eine muslimische Vorgeschichte des Baus hin. Es wäre vermessen, diese bescheidene Igreja mit der Kathedrale von Cordoba zu vergleichen, aber einige Charakterzüge teilen sich das Wunderwerk der Mezquita und diese Provinzkirche doch - nicht zuletzt den, dass gleich vor ihren Toren ein Garten angelegt ist. In Cordoba handelt es sich freilich um einen edlen Hain aus Palmen und Orangenbäumen; hier ist es bloß ein Bauerngarten mit Tomatenbeeten und stachelpelzigen Zucchiniranken, Möhrenkraut und Bohnengrün, das schon die Spalierstangen emporklettert. Ich weiß nicht, ob ich schon einmal gleich neben den Kirchenmauern einen profanen Gemüsegarten gesehen habe; meiner Erfahrung nach ziehen Pfarrer im Pfarrgarten lieber Blumen, mit denen sie ihre Kirche schmücken können. Dass hier Nahrhafteres gepflanzt wird, gefällt mir. Es heißt ja schließlich auch Unser tägliches Brot gib uns heute, und nicht Herr, lass die Tulpen gedeihen.

Ein kleiner, kryptahafter Keller am Sockelrand der Kirche ist der Ausstellungsraum der Archäologen. Scherben, geritzte Steine, kupferne Fibeln liegen auf grob behauenen Felsquadern aus, all die Fundstücke, die man aus der Erde gekratzt hat. Hier wird die Vorgeschichte dieses Tempels gesammelt und bewahrt, die römischen Schrifttafeln und die westgotischen Kreuze und die byzantinischen Zierbänder, die den Amphorenbruchstücken aufglasiert sind, aber mehr als von all dem bin ich von den Quadern beeindruckt, die von verbissener und stiernackiger Robustheit sind; aber dann frage ich mich doch, warum diese so widerständigen Steine es nicht vermochten, die Stadt gegen all die Invasoren zu schützen, die über sie herfielen, Vandalen und Ummayaden, nie hat es etwas geholfen, dicke Mauern zu bauen und Steine auf die Eroberer zu werfen, auf Römer und Sueben und die Handelsherren aus Byzanz, sie alle haben die Stadt in Besitz genommen und den Steinen ihre Spuren eingeprägt, der Burg und den Plätzen und den Friedhöfen, und wahrscheinlich waren viele dieser Besitznahmen ebenso schleichend und unauffällig wie die langsame Umwandlung der Stadt seit der Nelkenrevolution und dem Beitritt Portugals zum Europäischen Imperium. 

Dieses Imperium tut, was schon die Römer in der Provinz Lusitania taten, es baut Straßen, fördert die Infrastruktur, errichtet Kultstätten. Im heutigen Portugal sind die Kultstätten Museen von der Art, wie wir sie jüngst in Evora und in Arraiolos gesehen haben, mit europäischem Geld im internationalen Stil entworfen; das ist gut gemeint und soll die lokale Attraktivität befördern, aber ich zweifle ernsthaft, dass dies der richtige Weg ist. Man schafft einen modernen, ja beinah mondänen Rahmen, lässt mit allen Wassern zeitgenössischer Architektur gewaschene Baumeister anrücken und sie mit weltläufiger Attitüde über die provinziellen Artefakte herfallen. So baut man einen Kontrast auf, der nur zu Ungunsten der biederen Tradition ausfallen kann. Das war in Evora zu sehen, wo die Besucher des Nucleo Museologico von den Toilettentürklinken ersichtlich faszinierter waren als von den geschundenen Holzschnitzereien, und auch in Arraiolos schienen die erlesen gestalteten Räume die plumpen Teppiche mit ihrer Eleganz zu beschämen, ganz wie ein Bauernsohn, der als Banker Karriere gemacht hat und jetzt im feinen Zwirn bei einer Familienfeier den Neid aller Provinzlercousins erregt. Diese Museumsbauten sind Prahlerei und Angebertum vor dem Landvolk; sie bezirzen und locken; sie verführen zu einer anderen Ästhetik, und damit versetzen sie der Tradition, die sie in ihren Räumen präsentieren, eigentlich den Todesstoß, auch wenn die Morituri noch tapfer zappeln und Widerstand leisten.

Auch in Mertola tun sie das. Zu Füßen der Burg, neben dem Tourismusbüro, klappern in einem düsteren Gelass die Webstühle. Eine Kooperative bemüht sich, die alte Art und Kunst der hiesigen Weberei aufrechtzuerhalten. Zwei Frauen treten die Pedale, heben rhythmisch die Rahmen mit den Kettfäden an und ziehen die Schiffchen durch die Fadenreihen. Zuzusehen ist faszinierend; nicht weil ich das erste Mal so etwas sähe, sondern weil für mich der Vorgang hier zum ersten Mal so langsam vonstatten geht, dass sogar ich begreife, wie das Ganze eigentlich funktioniert. Ich bin allerdings doch recht bestürzt, was für Gewebe die Frauen herstellen. Die Wolle ist grob und kratzig, und die Farben sind für meinen Geschmack schlichtweg abscheulich. Aber nun - vielleicht mag man hier Kombinationen aus Kotzbeige und Schimmelgrün mit Einschüssen von Eitergelb und Blutergussviolett, und bringt das alles in Muster, wie sie Volltrunkenen vor den Augen flimmern, bevor sie sich übergeben müssen; vielleicht werden solche Decken sogar eigens hergestellt, um die Übelkeit von Besoffenen mit Hilfe einer Art von visueller Gegenphasigkeit im Zaum zu halten, oder ihren Augen das Gefühl zu vermitteln, sie hätten sich schon übergeben und diese unschöne Notwendigkeit sei bereits erledigt. Oder - und auch dafür scheinen sie sich gut zu eignen - die Decken sind dafür gedacht, sich dorthinein zu übergeben, denn, ganz egal, was man gegessen oder getrunken hat, der heraufgewürgte Mageninhalt wird sich farblich immer ganz prächtig mit dem Wolldeckenkolorit arrangieren. Vielleicht wickelt man hierzulande auch gern Leichen darin ein, die auf ihren Einödhöfen ein paar Monate nach dem Exitus gefunden worden sind und bereits einige morbide Einfärbungen aufweisen; vielleicht sind es Decken, die man hier von altersher Gebärenden unterlegt, Wundgelegenen, Sterbenden. Ich kann mir Verschiedenes in dieser Art denken, aber nur solange, bis ich das erste Preisschild an einer Decke sehe. Ein Maß von einem auf zwei Meter steht hier für mehr als dreihundert Euro zum Verkauf, eine Preisklasse, die deutlich auf Touristen aus den reichen Ländern Europas abzielt, weil die Einheimischen sich solche Luxuswaren, die gut ein Fünftel ihres durchschnittlichen Monatseinkommen ausmachen, nur selten leisten können, und wer von den Einheimischen mehr Geld in der Tasche hat, stolpert nicht über das Pflaster Mertolas, um aus der Zeit gefallene Webereien zu besichtigen, sondern fliegt nach Mailand oder Paris, um sich mit eleganteren Tuchen zu versorgen; oder er nimmt gleich den Zug nach Lissabon, um bei Chicoraçao portugiesische Decken zu erstehen, die (zu einem Viertel des Preises in Mertola) in ganz Europa Gefallen finden können.

Wie sich ein solches Gewerbe, das so ganz am Markt vorbeiproduziert, à la longue erhalten kann, ist mir vollkommen rätselhaft. Mag sein, dass man hier wie in Arraiolos aus irgendeinem Subventionstopf zur Tourismusförderung bezuschusst wird, und so den Weberinnen ein Taschengeld bezahlen kann; aber wie kommt der Holzschuhschnitzer aus Barcelos über die Runden, der immer größere Bestände unverkäuflicher Pantinen anlegt, sie vormittags zu Markte trägt, seine Ware dann wieder in die Fourgeonette schiebt, nach Hause fährt und nach dem Mittagessen, weil das nun mal sein Leben und sein Beruf ist, in seiner Werkstatt neue Schuhe ausfräst, bohrt und schleift? Nachdem ich eine Unzahl möglicher Varianten, wie ein solches Perpetuum mobile der Holzschuhfertigung erklärbar ist, durchgegangen bin und sie alle wegen ökonomischer Widersinnigkeit verwerfen musste, bleibt mir bloß noch die Erklärung, dass es sich bei diesem sabotier nur um eine Märchengestalt handeln kann, die über eine der Fähigkeit Rumpelstilzchens, aus Stroh Gold zu spinnen, vergleichbare magische Gabe verfügt, nämlich aus den Schuhen, die er am Vormittag nicht verkauft hat, nachmittags goldene Taler zu schütteln, was eigentlich die einzige Erklärung ist, die mir letztlich einleuchtet.

Ich gönne es den Portugiesen von Herzen, dass ihnen solch märchenhafte Talente gegeben sind; sie sind arm und manchmal ein wenig einfältig, aber alles in allem sehr liebenswürdig, und die Kombination dieser Charakterzüge hat im Märchen schon immer dazu getaugt, die Sympathie des Lesers zu gewinnen. Mir geht es hier nicht anders, und selbst der Mittagstisch ändert wenig an meiner Gewogenheit. Es gibt für Dagmar Fleisch mit einem Spiegelei darauf, eine symbolische Gemüseverzierung, wahrscheinlich ein letztes Mal diese Fritten, die so sehr plattgedrückten Maden ähneln (außen ledrig, innen fett, meist mit bitteren Brandspuren), und für mich wahrscheinlich auch ein letztes Mal Bacalão, was ich ein bisschen bedauere, denn ich finde die Angewohnheit der Portugiesen, etwas zum Nationalgericht zu erheben, was nicht im Land selbst gedeiht, sondern irgendwo im Nordatlantik oder vor Alaska gefangen wird, recht faszinierend. Der portugiesische Wille, alles Naheliegende zu verweigern, nötigt mir, zugegeben, Respekt ab. 

Anderswo werden Geschäfte, die keinen Ertrag bringen, irgendwann zugemacht. Anderswo kommt vorwiegend das auf die Teller, was im Land produziert wird, und Speisen von fernher eher als Ausnahme, es sei denn, man kann es sich leisten. Anderswo stellt man Schilder dort auf, wo man sie braucht, und denkt vor dem Aufstellen auch darüber nach, in welche Richtung sie gedreht werden müssen, damit sie ihren Zweck erfüllen. Anderswo versucht man sogar, die Schönheit des Landes zu erhalten, statt es mit einer Flechte aus schauerlichen Eigenheim-Suburbias zu überziehen. Aber anderswo ist eben anderswo; da mag man sich dem Götzen irgendeiner vermeintlichen Rationalität beugen, doch Lusitanien widersteht unbeugsam einer solchen Zumutung.

Das Nachbarland Spanien hat sich in vielen Aspekten den Zwängen der Wirklichkeit gefügt; Portugal aber hält trotzig an seinen Phantasmen fest, als hätten sie sich den Nationalhelden des großen Nachbarn, dem Ritter von der traurigen Gestalt Don Quijote, als Ziehvater ausgeliehen. Portugal scheint mir ein Land, das in den schweren Banden des Traums und der Verblendung liegt. Es ist ein schlaftrunkenes, benommenes Land, und manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Köpfe dieser freundlichen Leute noch immer von der großen Erschütterung des Lissabonner Erdbebens von 1755 widerhallen, summen, rauschen, tosen, und dass sie dieses beständige Klirren in ihren Schädelknochen nie mehr losgeworden sind, das es ihnen verwehrt, über längere Zeit klare und kohärente Gedanken zu fassen.

Ist es ein Zeichen, dass auf der Strecke nach Beja die PCP - Partida Cominista Português - so verschwenderisch plakatiert hat? Auf dem Weg nach Mertola hatte ich bei einem Halt in Colos Gelegenheit - denn für solche Parolen reichen sogar meine dürftigen Sprachkenntnisse -, das Parteiprogramm mit den üblichen kommunistischen Forderungen nach höherer Besteuerung der Reichen, mehr öffentlichem Dienst, Verteilung des Landes an Kleinbauern zu lesen. Letzteres ist schon angesichts der eher für extensive Bewirtschaftung geeigneten Böden eine famos traumtänzerische Idee. Die portugiesische Landwirtschaft ist bereits jetzt die ineffizienteste Europas, und die Zerstückelung der Flächen und ihre Übergabe an kapitalschwache und schlecht ausgerüstete Eigner dürfte die Produktivität noch weiter sinken lassen. Aber ich bin mir sicher, dass die PCP dem durch die staatlich geförderte Ausweitung der Pegasuszucht zu wehren weiß, und gewiss werden in den von der PCP zur Verstaatlichung bestimmten Schlüsselindustrien auch bald magische Pflugscharen geschmiedet, die von diesen geflügelten Fabelwesen nicht mühsam durch die Scholle gezerrt werden müssen, sondern mit all dem Schwung des Dichter- und Träumertiers so leicht die Ackerkrume aufbrechen, dass der Weizen gar nicht erst keimen und heranwachsen muss, sondern gleich in all seiner goldenen Pracht in den Ackerzeilen steht.

Als wir spätnachmittags auf dem munizipalen Campingplatz in Beja angekommen und endlich wieder geduscht sind, haben wir Gelegenheit, den öffentlichen Dienst kennenzulernen, von dessen segensreichem Wirken die PCP so überzeugt ist, dass sie ihn unbedingt ausweiten will. Schon bei der Anmeldung wurden wir schroffer behandelt als es mir je vor einer Fahrt durch die DDR von verdrossenen Zollbeamten widerfahren ist. Die Frau an der Rezeption schlägt die DDR-Grenzer an schlechter Laune um Längen, sie macht von vornherein klar, dass wir stören. Es riecht nach kaltem Rauch und frischem Nagellack, obwohl man sich gar nicht vorstellen kann, warum sich eine solche Frau die Nägel lackieren sollte, statt sie einfach an einem Stein zu wetzen wie jede andere Bulldogge auch. Zum Abschluss der Formalitäten macht sie etwas mit ihrem Mund, das möglicherweise der Anflug eines Lächelns sein soll, das aber jeder Verhaltensforscher umstandslos als Zähneblecken und drohendes Hochziehen der Oberlippe rubrizieren würde. Schließlich winkt sie uns durch, und wir fahren in den dürren, ummauerten Hof; ein Zwerghund, der an einem Wohnmobil angebunden ist, kläfft sich die schlichte Seele aus dem Leib, im Gefilde verteilt sonnen sich holländische und französische Rentner. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist es heiß und wolkenlos, und die ausgestreckten Körper wollen jedes solare Photon absorbieren, vor allem die Frau, die auf einer raffinierten Luftmatratzenkonstruktion brät, die auch von unten noch ein paar reflektierte UV-Partikel gegen ihre Epidermis schleudert.

Nach dem Abendessen gehe ich zum Rezeptionshäuschen, wo es Netz geben soll. Ein Mann um die Vierzig schiebt Dienst und langweilt sich. Aber er würde nicht im Traum darauf kommen, von den Tischen und Bänken, die für die Campinggäste bereitstehen, die Taubenscheiße zu kratzen. Das ist wahrscheinlich die Aufgabe der Putzfrau, die das gegen Mittag erledigt, sodass sich die Gäste weder vormittags, bevor sie in die Stadt aufbrechen, hier setzen können (denn dann ist es noch nicht sauber) noch abends nach ihrer Heimkehr (denn dann ist schon wieder alles zugeschissen). Ich fische eine Avante! aus dem Papierkorb und setze mich mit meinem dicken Ludwig-Erhard-Hintern darauf, um ein paar Mails zu schreiben.

Mir wird bewusst, dass wir Portugal morgen verlassen werden, und ich muss zugeben: ich freue mich auf Spanien. Spanien ist selten lieblich oder anheimelnd, aber es ist eigen und charaktervoll und auf seine Art von großer Wahrhaftigkeit. Spanien ist knochig, was nicht immer angenehm wirkt, aber es liegt in dieser Knochigkeit ein aufrichtiges Selbstbewusstsein und ein Stolz, dem ich meine Achtung nicht versagen kann. Spaniens Härte ist klar, nüchtern, in sich schlüssig. Spanien verfügt oft über einen luziden und scharfen Realitätssinn, Don Quijote hin oder her, es stellt sich der Wirklichkeit. Portugal hingegen scheint mir weich, eine Molluske, ein Land, das sich schon halb in schläfrigen Wellenschlag aufgelöst hat, zerlaufen in Traum und Schaum und Wogen benommener Schläfrigkeit. 

Wenn ich die baulichen Hinterlassenschaften des Landes, die sich mir eingeprägt haben, durchmustere, scheint mir, als sei Portugal nur in einer Epoche ganz bei sich gewesen, in der es einen eigenen Stil entwickelt hat, und grade da, unter Manuel, hat es sich den Motiven exotischer Ferne verschrieben. Portugal kam nur zu sich, wenn es sich von sich selbst und von Europa entfernte. Sobald es sich den europäischen Moden fügte, begann der Pfusch, wurden formale Gepflogenheiten des Kontinents übernommen, ohne dass man nur im Mindesten verstanden hätte, was sie besagen wollten und welches innere Streben diese Formen einmal hervorgetrieben hatte. Man machte die Moden mit, Gotik, Barock und Postmoderne, doch ich bin nur wenigen Beispielen einer echten Anverwandlung all dieser Epochenstile begegnet; es dominiert äußerliche Nachahmung, ein Kopieren von Attributen, die kaum einmal ästhetische Kraft und Eigenständigkeit entfalten; die öffentlichen Bauten - Kirchen, Paläste, Residenzen - sind oft kaum mehr als Ausstattungsstücke fürs Boulevardtheater, mit handelsüblichen Staffage-Objekten möbliert, hingeworfen von oberflächlichen Dekorateuren und täuscherischen Demiurgen.

Ich bedaure, dass wir den Fado versäumt haben. Das ist unverzeihlich, ja, schon gut, ich will es nicht beschönigen, es ist schlicht unverzeihlich. Vielleicht hätte mich die süße Wehmut dieser Musik mit der Schlaffheit des Landes versöhnt, mit dem Geflenne der Weiber in den Kirchenbänken, der dumpfen Weigerung, irgendetwas anders zu machen als gehabt; vielleicht hätte mir der Fado über die Schicksalsergebenheit und Fügsamkeit allerorten hinweggeholfen, mit dieser Gabe, den grauen Lauf der Dinge so hinzunehmen wie er einem von einem faden Fatum zugemessen wurde, dieser Gabe, die ich nicht Entschlossenheit nennen möchte - denn es bedarf eines Willens, um entschlossen zu sein, und hier scheint weniger ein Wille wirksam zu sein als vielmehr dessen vollkommene Abwesenheit - mit dieser Gabe also, einfach immer so weiterzumachen, wie man glaubt, dass einem aufgetragen worden sei. Vielleicht hätte mich der Fado versöhnt, der mit soviel Kraft das Versäumte besingt und von den Blütenblättern das geronnene Blut leckt und dabei den Hörer glauben machen will, diese Zunge lappe Tautropfen auf. Die künstlerische Kraft des Landes verausgabt sich in der Beschwörung des Verlorenen; man genügt sich in der Klage über das Entschwundene, im Sehnen, in der Süße der Nostalgie. Die Kraft ist ins Bedauern gegangen, in den Jammer, dass die Dinge anders geworden und verwelkt sind. Der Fado nährt sich von diesem Welken und von der Erschöpfung. Er saugt die letzten Reste der portugiesischen Säfte in sich ein wie eine Zwiebel, die sich von den vertrocknenden Blättern mästen lässt und dabei dick und kräftig wird.

Und wieder ist es, wie in der manuelinischen Kunst, die Abwesenheit, die Ferne und die Erinnerung, die Portugals Antlitz bestimmt. Die Steinmetze von Tomar, Alcobaça, Belém beschworen die fernen Küsten Indiens und Chinas herauf, die Fadistas beschwören das Vergangene, Verlorene, Versäumte; was fort ist, im Raum oder in der Zeit, scheint das Movens der portugiesischen Kunst. Überall, wo sie einen eigenständigen und abgrenzbaren Stil entwickelt hat, der hier und nur hier gediehen ist, überall, wo sie genuin portugiesisch ist und nicht ins Läppische abgleitet, wirkt dieser Sog zur Ferne, zur Abwesenheit, zum Nicht-Sein. 

Darum ist Pessoa vielleicht doch zurecht die Ikone der portugiesischen Literatur geworden. Schon sein Name ist das Programm einer konstitutiven Abwesenheit: Pessoa, die Person, ist eine persona, die Maske des antiken Schauspiels, durch deren Mundloch etwas hindurchtönt, das nicht die authentische Bekundung eines Selbst ist, sondern ein Aufsagen von Rollenprosa. Pessoa entfaltet dieses Konzept, das sein Name ihm einflüstert, konsequent; er verfasst seine Notizen unter Heteronymen, er ist Ricardo Reis, Alvaro de Campos, Alberto Caeiro, Bernardo Soares und noch ein Schock Anderer mehr, doch nie er selbst. Die Identitäten verwischen sich wie im Traum, in dem auch nicht immer klar zu entscheiden ist, ob ich der Flüchtige bin oder der Jäger, der Quälgeist oder der Gequälte, Mann oder Frau, der Greis oder das Kind, und vielleicht bin ich nichts von all dem oder alles. 

Portugal ist mir in diesen Wochen oft erschienen, als sei es von solchen dämmrigen Träumen benommen, von einem Saum von Geistesabwesenheit und schläfriger Verworrenheit eingefasst und manchmal von einer Art von milder Agonie erfüllt, als träumte sich das Volk schon an die Gestade des Meeres, um sich von dort aus von einem portugiesischen Charon in Dunst und Schimmer jenseitiger Besitzungen überführen zu lassen; das ganze Land ist ein Fährhafen für Passagen ins Unbestimmte. Träumer und Trottel drängen sich in diesem Nachen zusammen, Sentimentale aller Couleur, träge Adepten jener Sekten, die den mageren Gott der Empfindsamkeit und des Gefühls anhimmeln.


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Aracena, Cordoba


Ich meinerseits bringe jedoch eher dem Gott des guten Essens Verehrung entgegen, und da wandle ich in Spanien allemal auf einem besseren Pilgerpfad als im Land des ewigen Bacalão. Ohne Bedauern passieren wir die Grenze.

In Aracena, wo uns bei unserer ersten Attacke auf Portugal der Regen wieder in den Norden zurückscheuchte, kehren wir zu Mittag ein. Der Kellner, der uns damals die gebratenen Speicheldrüsen vom Schwein empfahl und einen Steinpilzteller, freut sich, uns wieder zu sehen. Die Frühjahrssaison für Steinpilze ist noch nicht vorbei, und schon wird der Spargel gestochen. Die Béchamel dazu muss mit einem dicht belaubten Lorbeerzweig gerührt worden sein, die Pilze sind mit Konfetti von knusprig angebratenem Jabugoschinken bestreut; man braucht nur ein paar Kilometer über die Grenze zu sein, schon wird die Küche selbst in einfachen Restaurants komplex und voller Finessen.

Vier Wochen zuvor lag Aracena noch im Winterschlaf, grau verpuppt und schrumpelig, doch jetzt ist es ein strahlend weißes Städtchen mit frisch getünchten Fassaden und hübschen Vedutenblicken die Hügel hinauf, erweckt für den Sommer.

Aber wir bleiben nicht; wir sehnen uns nach städtischer Betriebsamkeit. Cordoba liegt drei Stunden entfernt und ist zu verlockend, als dass wir der Idee widerstehen könnten, am Poltro oder an der Corredera unseren Abendaperitiv zu nehmen.

Der Weg dahin ist ohnehin reizvoll, er führt erst durch die nördlichen Ausläufer der Sierra Morena mit ihrem vielfältigen Baumbestand von Kastanien, Eichen, Lorbeer, durch die Dehesas mit immer noch blühenden Unterfutter. Schließlich entspannt sich das Relief, wird flacher, weiter, dünenhafter. In langen Hügelwellen geht es auf Cordoba zu, der Boden ein Quilt aus Braun und Grün und Gelb, eine gedämpfte Farbflächenmalerei von Linsen und Lupinen.

Cordoba empfängt uns jetzt wie eine alte Bekannte, sie muss sich nicht mehr aufputzen, um unsere Gunst zu gewinnen; uns genügen die kleinen Gassen und die Schleichwege, die hinter den Sehenswürdigkeiten dahinführen, um zur Plaza de Tendrillas zu wandern, und dort nehmen wir eine Manzanilla, während ein Geiger von Tisch zu Tisch zieht und abscheulich auf seiner Fiedel herumkratzt, grade lang genug, um sein Drohpotential zur Geltung zu bringen, bevor er mit der Mütze herumgeht, und jeder etwas in der Hoffnung gibt, dass dieser sinistre Musikant dadurch abgehalten werden könnte, ein weiteres Mal zur Geige zu greifen. Sogar ich spende etwas, doch weniger, um seine Misstöne zu verhindern als weil der Furunkel oder der Tumor, der oberhalb seiner Nasenwurzel gesprossen ist, mich so frappiert. Pflaumengroß, aber von alarmierendem Rot (außen Rosa, nach innen immer mehr ins Violette gehend), sitzt die Geschwulst exakt zwischen den hervortretenden Augen, und ich kann, derweil ich in meinem Portemonnaie nach einer Ablassmünze krame, meinen Blick nicht von diesem Triopen abwenden.

Es entwickelt sich ein dringliches Bedürfnis nach einem zweiten Aperitiv,  und wir wandern zur Corredera hinüber. Auf dem Weg dahin kommt man an den Resten des Römischen Tempels vorbei, wo es immer ein paar Katzen zu beschauen gibt. Ein Junges steht dort auf einem abgebrochenen Kapitellstück und sucht den Weg hinab. Es scheut vor allem zurück, tappt mit der Pfote hierhin und dorthin, es ist aber alles zu riskant. Wie doof doch Tiere sind! Menschen sehen links sofort eine bequeme Treppe  über gefällig arrangierte Säulenfragmente hinunter, aber eine junge Katze erkennt keine Umwege, sondern will immer gleich alles sofort und tappt mit der Pfote furchtsam immerzu ins Leere, bis sie schließlich soweit vorantappt, dass sie das Gleichgewicht verliert und einfach vornüberplumpst. Ihr Ziel waren zwei ihrer Geschwister, die sich im Sand herumlümmeln. Auch eine schon etwas größere Katze findet sich dort, die Vorderpfoten langgestreckt, den erhobenen Hintern einem Kater dargeboten. Ihr Anus ist krud sichtbar. Der Kater beißt das rollige Tier in den Nacken, bringt sich in Penetrationsposition, steigt darüber, doch dann lässt er ab, leckt zwei, drei Mal über die Katzenvulva und zieht sich dann - ein langbeiniger Snob und enttäuschter Gourmet - wie angewidert zurück. Unweit streckt eine weitere Katze ihre drall geschwollenen Zitzen heraus, den Bauchpelz von Schorf verkrustet. Freuden des Katzenlebens.

An der Corredera nehmen wir noch eine Manzanilla neben dem Trödelladen dort. Die Kellnerin, der Wirt, einige Gäste wirken allesamt drogiert; ihre Bewegungen sind langsam, als bewegten sie sich unter Wasser, oder eher noch in einer dicken Siruplösung, die ihren Hantierungen und Schritten etwas zeitlupenhaft Tänzerisches verleiht. Sie hängen an unsichtbaren, zähklebrigen Fäden fest, darum geht alles langsam vonstatten; die Umständlichkeit der Schritte und Gesten ist wohl der Sorge geschuldet, die Fäden könnten sich verheddern und zu komplizierten Gespinsten verkleben, weshalb jede Bewegung wohlerwogen sein will.

Vor allem der Wirt wirkt völlig benebelt, doch nicht, weil er seine Aufgaben nicht bewältigt, sondern weil er sie mit einer so deutlichen inneren Anspannung absolviert, dass man jedem seiner Worte und Schritte die fast übermenschliche Konzentration anmerkt, die sie ihm abverlangen. (Er vergisst dann trotzdem das Glas mit den Schnecken, und bringt statt der Manzanillas zwei Tintos - geschenkt.)

Beim Trödler erstehen wir einen aus Sisal geflochtenen Eselskopf vom Format ungefähr eines Menschenschädels. Zwei spitze lange Ohren krönen das Haupt, in die Stirn fallen Sisalfransen; innen hat er statt eines in schöne Wülste gelegten Gehirns zerknülltes Papier. Er ist ein perfektes Emblem, um die Tür zu meiner Bibliothek zu bewachen, in der kein geflügelter Pegasus wohnt, sondern nur ein starrsinniges und duldsames Vieh, das im Stroh steht, unwillig, blökend, konsterniert und mürrisch. Das ist mein Reich. Da fresse ich bedrucktes Papier aus meiner Raufe, malme, verdaue, verwerte, begehe meine stoffeligen Eselsmessen.

Auf dem Weg zurück, vor dem römischen Tempel, holen wir den Eselskopf aus seiner Tüte, weil wir es kaum erwarten können, die Neuerwerbung noch einmal zu betrachten, aber im Rückblick scheint mir, dass wir für unser Exvoto nur den Segen der römischen Gottheiten, deren Ruinen hier bewahrt werden, erbitten, oder ihn den schrundigen und geilen Katzen weihen wollten.

Zwei Frauen schauen uns interessiert dabei zu, anscheinend Engländerinnen, die ebenfalls an Eselköpfen Gefallen finden und sich genau erklären lassen, wo man derlei findet.

Zufälligerweise sitzen wir am nächsten Tag hinter den Beiden zum Mittagessen im Fusion. Sie wenden uns den Rücken zu, während sie auf hinreißend gefräßige Art Teller um Teller genießen. Sie pflücken Tintenfischstücke mit der Hand weg, tupfen Wasabimayonnaise mit der Fingerspitze auf und saufen dazu je zwei große Gläser Rueda und dann noch eins, das sie sich teilen, während sie immerzu quasseln wie zwei Mädchen, die sich kennen, seit sie zwölf sind, und die ihr gemeinsames Teenagergegnicker nie abgelegt haben. Schließlich geben wir uns als die mit dem Eselskopf zu erkennen und kommen ins Gespräch. Es sind Australierinnen auf Europareise; ihre Ehemänner sind offenbar vermögend und haben dies und das auf dem Kontinent zu tun. Die Beiden umrahmen die Geschäftstermine ihrer Männer, gondeln nach Gusto durch Europa und treffen ihre Gatten nur in Paris und München. Ich bringe ihnen für alle Fälle den bayrischen Gruß Servus bei. Sie revanchieren sich mit der Information, dass ein Großteil Bayerns seit Tagen überschwemmt ist. Das sei mir nichts Neues, sage ich, mache aber nichts. Meine Mutter zum Beispiel lebe schon seit Jahren unter Wasser, jedenfalls vernähme ich, wenn wir miteinander telefonierten, kaum anderes als luftiges Geblubber. Die Beiden (offenbar haben sie keine Kinder, deren Undankbarkeit sie fürchten müssen) finden das witziger als ich selbst und wundern sich über einen Deutschen mit Sinn für Humor, und dann frage ich mich, warum Frauen, die in solch abgedroschenen Nationalstereotypen denken, ein Urteil über Humor zustehen sollte, vor allem, wenn es sich um Australierinnen handelt, die ihre Kinder in Bauchfalten austragen und aus deren Brüsten sich - nach allem, was man hört - statt körperwarmer Muttermilch nur eisig kaltes Foster's zapfen lässt, aber ich kann mich grade noch zurückhalten, das auch auszusprechen, trotz der Flasche Sauvignon, die wir bis zur Neige geleert haben, was meinen mentalen Schließmuskel ziemlich oder besser: unziemlich gelockert hat.

Dabei hat der Tag so kultiviert angefangen! Den ganzen Morgen haben wir in Galerien und Museen verbracht, haben eine Sänfte aus massiver Bronze gesehen, eine mit Bronzeschnüren verschnürte Vulva, die Fotoserie eines Künstlers, der seine Freunde an die lange Leonardo-Tafel eines letzen Abendmahls geladen hat (sie sitzen in elender Einsamkeit daran, und erst nach und nach werden die Apostel zur Gemeinsamkeit zusammengestückelt). In einer anderen Ausstellung sehen wir die akribisch gezeichneten Schreckensvisionen eines spanischen Künstlers, der Städte als riesige Maschinen und Chemieanlagen gemalt hat, in denen Menschen zermalmt, destilliert, gefiltert werden, wo aus Schloten und Kanalrohren ein stampendicker Qualm quillt wie Brei, wo ein Mann mit abgetrennter Schädeldecke hoch wie ein Turm im Chaos der Straßenbänder steht, zwischen Zuggleisen, die sich achterbahnartig durch das Gewirr der Hochhäuser winden, zwischen Retorten und Kraftwerken und Infusionsbeuteln, die ihr Gift in die Gehirne menschlicher Torsi laufen lassen, Autos, die auf einer über ein Minarett hinwegführennden Hochtrasse explodieren, Flugzeugen, die Fässer abwerfen, zwischen krakeelende Lautsprecher und riesige Klopapierrollen, Trichter und Apothekergläser mit dem Aufdruck El Olvido - das Vergessen.

Diese apokalyptischen Veduten, in denen all die zerstörerischen Aspekte des globalen Kapitalismus versammelt sind (Waren- und Bewusstseinsindustrie, Ausbeutung, ökologische Desaster, Entmündigung und Zurichtung des Einzelnen zum Rädchen im Getriebe etc.) erscheinen mir in ihrer ideologischen Haltung naiv, vergiftet mit einem moralischen Fanatismus und Rigorismus, der über die Jahrtausende Jeremias und Jesus, Minoriten und Wiedertäufer, Rousseau und Adorno, die DKP und die Salafisten gleichermaßen genährt hat: die Blickverengung, die in der Gegenwart nur den Abfall von möglicher Vollkommenheit sieht und sich mehr in der Ausmalung einer katastrophischen Gegenwart gefällt als in der nüchternen Einsicht, dass das Leben, seit der erste Einzeller seine Geißel geregt hat, immer schon vor allem Mühsal und Not war, und es der Menschheit im Kapitalismus allgemein doch sehr viel besser geht als je zuvor - dieser beständige Gerechtigkeits- und Glücksutopismus, der solche Jeremiaden wie diese hier beflügelt, fällt mir ein wenig auf die Nerven, oder würde mir ein wenig auf die Nerven fallen, wenn nicht die ligne claire dieser Bilder und das Ordentliche ihrer Faktur ohnehin die schroffe Kritik des Inhalts konterkarierte. Der Künstler zeichnet eine grausame und vernichtende Welt, eine Hölle allgemeiner Depravation; aber er tut das in aufgeräumter Weise und mit klarem Strich, und die hintersinnigsten Werke der Ausstellung sind Fayence-Vasen in flämischem Blau, nach Art jener, wie sie im siebzehnten Jahrhundert in strohgepolsterten Kisten von Delft nach Cadiz verschifft wurden, damit vermögende Handelsherren und Granden ihre Kaminsimse damit schmückten. Solche Vasen und Krüge (jetzt allerdings nicht mit bukolischen Szenen bemalt, sondern mit Gasmaskenträgern, Fabrikschloten, Brand und Aufruhr) stehen auch hier auf Piedestalen und rufen damit die Erinnerung an eine alte, große Luxusindustrie auf - und die Erinnerung an die Zeit, in der die Künstler noch deutlicher als heutzutage von den bösen Zwingmächten der Kirche, der Aristokratie, der Reichen ins Brot gesetzt wurden. Die Kunst nährte sich von den Tafeln der Mächtigen, und auch heute nährt sie sich von den Erträgen, die eine Gesellschaft erwirtschaftet, deren moralische Verwerflichkeit von eben dieser Kunst dann nur zu gern leidenschaftlich angeklagt wird. Die Kunst - engagiert, politisch, von einem rebellischen Gestus getragen - schafft für einen hochpreisigen Markt, auf dem vermögende Sammler, die ihr Geld mit Chemiefabriken in Indien und afrikanischen Kinderarbeitsminen gemacht haben, ihr spekulatives Interesse zur Abrundung des Portfolios auch auf kritische Kunst ausdehnen.

Hätte der Künstler seine Bilderfindungen nur auf Packpapier skizziert, wären sie kaum mehr als pamphletistische Graffitis oder suggestive Plakate, die sich gut auf Demos machen, in denen der schwarze Block mitmarschiert. Aber auf Porzellan, dem seine Vorgeschichte höfischer Prachtenfaltung vom barocken Meißen und dem Sèvres der Rokoko-Mamsell Pompadour bis zur Petersburger Manufaktur der Romanovs eingebrannt ist, verwandelt sich das Pamphlethafte in eine Selbstreflexion des Künstlers; er befragt seine Komplizenschaft mit dem Luxus und dem Dekor, er überdenkt seine Verstrickung ins Spiel, seine notwendige Kollaboration - und indem dies alles mitgedacht wird (oder es mitdenken lässt), erweist er sich als aufrichtiger Mann.

Wir müssen heute nichts suchen; wir finden, indem wir uns treiben lassen.

Das Archäologische Museum, das bislang bei jedem unserer Versuche geschlossen war, tut sich uns heute auf. Eine Fassade von schlichter Modernität, dahinter eine Ausstellung, die klug genug ist, der Vollständigkeitssucht der Archivare abzuschwören, sondern sich klug auf Exemplarisches beschränkt, auf Büsten durchtriebener Faune und verwöhnter, fetter Götterkinder, auf Priapspüppchen und keltische Weihegaben aus vorchristlicher Zeit, abstrakt wie Negerplastiken oder Picasso, mit überproportional großen, flehenden Händen. Eine wunderbare Mithras-Skulptur, wie ich sie auf unserer vorherigen Reise, die so im Zeichen des toro stand, gerne gesehen hätte: der junge Mithras sitzt auf der Kruppe des niedergerungenen Stiers und hat die Finger in dessen Nüstern geklammert, um den Schädel nach hinten zu reißen. Das Schwert ist durch die Schulter tief ins Stierfleisch gedrungen und zerschneidet das Herz. Schlange, Hund und Krebs beißen das sterbende Tier in Bauch, Schulter, Hoden. 

Doch diesmal spielt der Stier keine große Rolle für mich, der Fund kommt ein Jahr zu spät, und zudem ist mein Kopf erschöpft und ausgelaugt; ich brauche ein Bier zur Erfrischung. 

Vor dem Museum, am Platz von Jeronimo Paez, trinken wir etwas. Ein soignierter älterer Kellner schneidet am Platz, an einem auf Schinken spezialisiertem Marketenderkarren den iberico auf, zieht das lange Messer nach jeder Portion am Wetzstahl ab, lässt es durch den Keulenanschnitt gleiten, pflückt mit der Zange in der Linken die Streifen, die er mit der Rechten abgestrichen hat und ordnet sie zu einer Rosette aus dunkelroten Schinkenblättchen auf dem Teller an. Ich sehe ihm genauso gern zu wie ich dem Gitarristen am Platz zuhöre; auch der ist ein alter Hase, der sein Instrument so lässig zu handhaben weiß wie der Schinkenmann Wetzstahl und singende Klinge, und nach einer Weile wundere ich mich fast, dass der Schinkenschneider nicht die Keule in den Arm nimmt und die Arpeggios, die der Gitarrist geschmeidig herunterspielt, mit dem Messer an den Keulensehnen zupfend begleitet. Die beiden sind irgendwie Brüder im Geiste, vereint im Zutrauen, dass virtuoses Handwerk vollauf genügt, um ohne Marktschreierei seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Gitarrist wechselt zwischen Zigeunerjazz und Samba hin und her, beides als Genre zur Beschallung öffentlicher Plätze abgedroschen, aber seine harmonischen Umspielungen sind so elegant, seine Akkordreibungen, Flageoletts, Vorhalte sind so traumwandlerisch sicher gesetzt, dass unter seinen Händen selbst Besame mucho wieder wirkt wie frisch erfunden. Sein Spiel ist Vermeiden, Auslassen des Direkten, ist Andeuten und nicht mehr - er greift kaum einmal an die Lustzentren der Tonalität, sondern hält sich im Vorhof der Lust, wie ein Fünfzehnjähriger, der scheu mit seinem Liebchen schmust.

Seine Frau geht mühsam hinkend zwischen den Tischen umher und sammelt Spenden, und schließlich packt sie seine Sachen ein und ich verstehe, dass die Sonnenbrille des Mannes nicht bloß ein lässiges Accessoire ist; er ist blind.

In einem Gedicht von Christian Fürchtegott Gellert tun sich ein Blinder und ein Lahmer zusammen; da heißt es: "Der Lahme hängt mit seinen Krücken / sich auf des Blinden breiten Rücken / Vereint wirkt also dieses Paar / was einzeln keinem möglich war." Der eine sieht, der andere schreitet, der Blinde wird vom Lahmen gut geleitet. Aber mit den Erschwernissen von Gitarrenkoffer, Rollwägelchen für die Verstärkeranlage, einem Klapphocker und überhaupt der Altershinfälligkeit des Blinden hat Gellert sein Gedicht nicht belastet, und so wird es heute nichts mit der Umsetzung dieser erbaulichen Kooperationsparabel.

Am Nachbartisch hat sich eine Gruppe von Franzosen niedergelassen, zwei Seniorenpärchen, die vermutlich zum ersten Mal im Land sind und mit den hiesigen Essgepflogenheiten nicht vertraut scheinen. Jeder der vier hat eine mächtige Tortilla bestellt und einen Teller Schinken, und als serviert wird, wissen sie nicht, wohin mit all den Tellern und Gläsern; sie müssen den Schinken auf überzähligen Stühlen oder auf den Knien zwischenlagern, und sich so durch ihr eintöniges Jeder hat seinen eigenen Teller-Mahl fressen, während die Spanier drumherum in fröhlicher Promiskuität aus einer Vielfalt von gemeinschaftlichen Platten schmausen.

Wir aber wollen noch einmal im Fusion essen und wandern darum zum Potro hinüber; zudem liegt das Museum der Schönen Künste an einer Ecke des Platzes. Es ist ein Tag der Künste; dies hier fehlte noch.

Das Gebäude ist als Hospital errichtet und in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Museum umgewidmet worden. Doch man blieb dem ursprünglichen Plan, den Geschundenen und Leidenden eine Heimstatt zu bieten, einigermaßen treu, indem man einen guten Teil der Sammlung Bildern von Märtyrern, Gepeinigten und Gequälten vorbehalten hat. Die anatomische Präzision, mit der Flagellationen, Kreuzigungen und andere Torturen gezeigt werden, scheint hier und da auch von einen spezifisch medizinischen Interesse getragen, bis hin zu einer Rötelzeichnung von José de Ribera, darin der von Delila seiner Haare beraubte Samson nicht wie der übertölpelte Held einer biblischen Erzählung am Boden liegt, sondern wie ein erschöpfter Neurastheniker, der von seinen Kopfläusen so gepiesackt wurde, dass Delila gar nicht anders konnte, als ihm die Haare zu scheren und seinen Schädel mit Goldwasser einzureiben - der Maler hält den Moment fest, in dem Delilas Knecht sich gierig über Samsons Haupt beugt und in den Stoppeln nach den letzten übriggebliebenen Läusen kramt, als bekäme er sonst nichts zwischen die Zähne.

Es sind ein paar sehr schöne Stücke in der Sammlung; an dieses dünne Fazit erinnere ich mich noch, was aber warum und was überhaupt schön gewesen sein soll, habe ich vergessen; bis auf Riberas Skizze sind alle Einzelheiten weg. Doch warum erwartet man von der Kunst auch immer diese Tiefe des Eindrucks, das Unvergessliche, ars longa vita brevis? In diesem Museum der Schönen Künste kann man sich zwei Stunden verlustieren, es auch genießen, doch die Werke schmelzen auf der Zunge wie ein Kugel Eis, geschleckt, gefreut, und weiter im Leben.

Der zweite Teil des ehemaligen Hospitals ist dem Erbe Julio Romeros gewidmet, der in Deutschland wenig bekannt ist, leider, denn dieser cordobesische Maler hat ein reizvolles und vielfältiges Werk geschaffen, vielleicht ein wenig eklektisch, doch der Ausstellung verleiht dieser Wechsel der Stile den interessanten Effekt, dass man nicht nur das Werk eines Malers zu sehen meint, sondern das eines bunt zusammengewürfelten Freundeskreises. Da sind impressionistisch angehauchte Landschaften, pinselfürstlich ausgeführte Genreszenen, fast hyperrealistische Porträts neben welchen in Sfumato, Skizzen für Werbungen im Art déco-Stil, grob gehaltene arabische Straßenszenen (eher mit Bürste und Spatel als mit dem Pinsel gearbeitet), in Farbgiftigkeit und wüster Pinselführung beinah schon expressionistische Bilder, dann wieder Porträts in Feinmalerei, deren Figuren wie lackiert wirken, neben schimmernden, mystisch allegorischen Gemälden, als hätte Romero eine kurze, aber heftige Liaison mit Odilon Redon und Gustave Moreau gehabt. Auch ein paar Goya-Anlehnungen sind eingeschmuggelt (nicht die Grotesken, sondern die höfischen Porträts, diese allerdings gottlob ohne den dicklippigen Kretinismus der bourbonischen Königsfamilie), dann wieder merkwürdig statuarische Brustbilder, die fast schon von einer Vorahnung Neuer Sachlichkeit träumen. Die malerische Biographie Romeros lebt nicht aus einer, sondern (wie das literarische Leben Pessoas) aus dem Wechsel seiner vielen Handschriften, und vielleicht ist grade der Verzicht auf eindeutige Identität in dieser Stadt mit ihrer christlichen, jüdischen, muslimischen Vergangenheit Grund genug, um ihren proteischen Sohn mit einem Denkmal zu ehren.

Nach einer Erholungspause im Park (ein Stündchen die Beine hochlegen, dämmern und dösen) kehren wir zum Potro zurück, um einer Darbietung von Flamenco-Aficionados in einem Patio beizuwohnen. Jetzt, im Abendlicht, sind die Sonnensegel, die nachmittags noch an Leinen über den Hof gezogen waren, gerafft. Eine Wolke beugt sich wie ein neugieriger Greis über den Dachrahmen des Hofs und schmaucht kleine Rauchwölkchen aus. Ein Baby schreit unentwegt in einer Lautstärke, die dem Sänger auf der Bühne Konkurrenz macht, aber die Mutter - eine blonde und starkknochige Nordeuropäerin in orientalischer Pluderhose und einem tätowierten Teufel am Nacken, die offenbar der Auffassung ist, dass kräftiges Geschrei die Lungen ihres Kindes stärkt - denkt nicht dran, sich von der Missbilligung der Spanier im Hof stören zu lassen. Möglicherweise hält sie die Veranstaltung auch für eine Art von Talentschuppen (was sie in der Tat ja auch ist), und will mit ihrem stimmgewaltigen Sprößling das Publikum beeindrucken, was ihr zweifelsohne gelingt. Aber auch der Tänzer auf der Bühne scheint von dem krakeelenden Kind inspiriert. In einzelnen Passagen tobt er über die Bretter wie ein Unwetter, und einige seiner Schrittfolgen erinnern tatsächlich an ein trotzig aufstampfendes Blag, das sein Zimmer nicht aufräumen will.

Kaum einer der Musiker, Sänger, Tänzer auf dieser Bühne ist Meister seines Fachs, einige wirken eher wie Vorstadt-Strizzis, denen neben der Arbeit nur wenig Zeit zum Üben bleibt, aber das sorgt auch für eine gewisse familiäre Atmosphäre. Man kennt sich, spendet einer lokalen Legende, einem alten Herrn, dessen Stimme von anrührender Brüchigkeit ist, viel Applaus, und dieser revanchiert sich bei den Talentierten, indem er sie zu einem kleinen Duett bittet - eine Art Ritterschlag für den Nachwuchs.

Ein letzter Gang durch die Calle Lucano, eine letzte Umrundung der Mezquita, vorüber am Alcazar, der Spanischen Reitschule, ein letzter Gang durch die Juderia - morgen verlassen wir die Stadt.


Jaen, Santa Elena


In Jaen Einkehr zum Mittagessen, wo wir wieder die wunderbar cremigen boquerones al limon essen wollen, wie sie uns beim vorigen Besuch unser Tischnachbar spendiert hat. Wir müssen allerdings einige Zeit auf einen Tisch warten und trinken schon einmal ein Glas und dann noch eins, und ein drittes ist auch noch drin. Da zu jedem Glas auch ein Tellerchen mit Kleinigkeiten gereicht wird (drei dicke Nocken russischer Salat, ein schlotziger Schlag kurkumagelber Paella mit mariscos und Hühnchen, den dritten Napf verschmähen wir dann), sind wir zwar beinahe satt, als wir uns endlich setzen können, aber das hält uns heute nicht von den boquerones und auch nicht von den zamburiñas und berberechos ab, die allesamt wieder von hervorragender Qualität sind. Doch auch dieses Restaurant kann uns nicht in Jaen halten, ebensowenig wie das schöne Pfandleihhaus, dessen Schaufenster auch ein juxiger Surrealist hätte einrichten können: Pistolen und zwei Mandolinen, Computer und Porzellanpuppen, ein altes Röhrenradio neben einer Goldschnittbibel, ein kaputtgeliebter Teddybär, der wie betäubt inmitten der Stapel eines Goldrandservices hockt, und ein Presslufthammer von Hilti, dem ein schönheitsliebender Angestellter einen Kragen aus Fuchsfell umgelegt hat.

Vier Wochen zuvor hat uns Jaen nicht aus seinen Fängen lassen wollen; wir irrten, von der konfusen Ausschilderung ebenso genarrt wie von unserem Navi, durch ein Straßenlabyrinth, in dem wir immer wieder an den selben Stellen vorüberkamen; diesmal, als sei die Stadt nun endlich überzeugt, dass wir wirklich nichts mit ihr zu tun haben wollen, finden wir sofort ins Freie, wenn frei das richtige Attribut für die Autobahn ist. Aber ich will nicht nörgeln: die Aussicht von der Autobahn ist für eine Landschaft wie diese ganz angemessen, links und rechts und überall dehnt sich das wellige Land mit den endlos erscheinenden Olivenpflanzungen.

Wir haben auf unseren Fahrten wenig Musik gehört; jetzt müssen wir dem immergleichen Rhythmus der Baumreihen wenigstens akustisch ein paar Synkopen und Punktierungen unterheben. Also schieben wir den USB-Stick ein und skippen im shuffle-mode gleich vor, denn nichts könnte jetzt deplazierter sein als Schuberts Winterlieder. Das nächste Stück allerdings passt. Es ist aus einem Album von Luis Delgado, der nicht nur der musikalische Assessor des Planetariums von Madrid ist, was ich schon für sich genommen bemerkenswert finde (eine herrlich pythagoräische Kombination!), sondern auch ein leidenschaftlicher Gräber in den Schätzen der spanischen Musikgeschichte.

Jemand, der ins Weltall blickt, schaut immer in die Vergangenheit, in die lange Verzögerung des Lichts, in die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das Licht der Sterne erreicht uns mit Verspätung; sie mögen seit Jahrhunderten, Jahrtausenden zugrundegegangen sein, doch wir sehen sie immer noch in ihrem ganzen Glanz. Delgado schaut in die musikalische Vergangenheit von al-Andalus, und Weniges könnte unsere Fahrt durch die Ausläufer der Sierra Morena, über den Guadalquivir, dem Desfiladero de Despeñaperros entgegen, besser begleiten als El hechizo de Babilonia, dieser Zauber Babylons, voll der schwirrenden Saiten der Ouds, des Geklirrs der Hackbretter, des Flötengeheuls, das wie Wüstenwind über dem feingeklöppelten Rhythmus der Djembes und klingelnden Tamburine seine Bögen spannt. Die Trommeln klappern manchmal wie der hastige Trab losstiebender Pferde, die Schellen rasseln dazu wie die Goldmünzen am Zaumzeug. Die Geisterstimmen maurischer Frauen schrauben sich in die Lüfte, lange, rauhe Melismen nach Anbruch der Nacht.

Es fällt immer noch leicht, sich in dieser Landschaft maurische Karawanen vorzustellen, Händler und Krieger, Pferdezüchter, Schmieden, an deren Essen damaszierte Krummsäbel gefertigt, und Moscheen, deren Wände mit Kalligraphien bemalt werden. Aus Sentimentalität und aus einer Neigung zum Pittoresken heraus könnte man es fast bedauern, dass diese alte Kultur hier verschwunden ist. Vielleicht sollte man über die Einrichtung eines Reservats nachdenken, voll mit edlen Beduinen und Karawansereien, und, meinetwegen, auch jeder Menge Huris.

Santa Elena - der Campingplatz, an dem wir schon im vergangenen Jahr ein paar ruhige Tage zugebracht haben - liegt etwas südlich des Despeñaperro-Passes. Der Pass ist das Nadelör zwischen Kastilien und Andalusien. Im Jahr 1212 hatten sich die Herren von Aragon, Navarra und Portugal zu einem Bündnis unter dem kastilischen König Alfons VIII. zusammengetan, um die maurischen Almohaden anzugreifen. Es gelang, das Heer, von den Almohaden unbemerkt, über den Desfiladero zu bringen, den Feind auszukundschaften und schließlich anzugreifen. Von 600 000 almohadischen Kämpfern überlebten nur 600 (behaupten muslimische Quellen), auch das christliche Heer verlor nach Aussagen des Erzbischofs von Toledo 200 000 Mann. Doch offenbar waren die Gegner wenigstens in einem Punkt einer Meinung, dass es nämlich gelte, die Truppenstärken schamlos ins Unerhörte und Märchenhafte zu übertreiben. In Wahrheit scheinen die Heere wesentlich kleiner gewesen zu sein, etwa 12 000 Mann auf christlicher Seite und vermutlich das Doppelte auf muslimischer.

Nach dem Sieg auf dem Schlachtfeld jagte Alfons den Kalifen, der erst versuchte, sich in Baeza in Sicherheit zu bringen, durch ganz Andalusien und zwang ihn schließlich, nach Marokko überzusetzen, wo er im Jahr darauf starb; man darf annehmen, aus Verbitterung.

Weitere Folgen hatte diese Schlacht anfangs kaum. Zwar nahm man Baeza und kontrollierte einen Abschnitt des Guadalquivir-Tals - doch damit ließ man es erst einmal bewenden. 

Baeza liegt keine 120 km Luftlinie von Cordoba entfernt. Sagen wir, das Flussstück des Guadalquivir, das im Besitz der Reconquistadoren war, umfasste 30 km (Andujar, 50 km entfernt, fiel erst 1224), dann bleiben 90 km bis zum Sitz des Kalifen. Da es noch fast ein Vierteljahrhundert bis zum Fall Cordobas dauerte, kann man das christliche Eroberungstempo durchschnittlich auf 0,00042 Stundenkilometer veranschlagen, was einer Geschwindigkeit von ungefähr sieben Zentimetern pro Minute entspricht. Davon abgesehen, dass die Lebenserwartung einer Weinbergschnecke deutlich weniger als 24 Jahre beträgt, weshalb ein solcher Vergleich in die Irre führen mag, hätte sich ein gut trainiertes und rüstiges Exemplar dieser Gattung beim Wettlauf mit den christlichen Streitern ein äußerst knappes Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert.

Als wir allerdings auf unserem Campingplatz ankommen, haben wir volles Verständnis für alle Entschleunigung dieser Welt. In den nächsten Tagen bewegen wir uns nur zweimal weiter als bis zu den Duschen - einmal, um essen zu gehen (zur Vorspeise ein bemerkenswert guter Orangensalat mit Rosinen, Zwiebeln, Stockfisch und gekochten Eiern), und einmal, um das Museum zu besuchen, das zum Gedenken an die große Batalla de Las Naves de Tolosa errichtet ist.

Das Museum ist ein moderner Bau mit einem kantigen Aussichtsturm und Panoramafenstern, die auf eine üppige Waldlandschaft hinausgehen, welche in der Zeit jener Schlacht kaum existiert haben dürfte, da das Hauen und Stechen, Bogenschießen und Lanzenstoßen damaliger Kämpfe in solch dichtem Baumbestand kaum zu der gewünschten Metzelei und einer angemessenen Zahl von Todesopfern geführt hätte. Es wird wohl eher so gewesen sein, denke ich mir erst, dass dieser auffällig üppige Wald nur dank einer besonders reichhaltigen Düngung des Bodens durch menschliche Leichen so prachtvoll gedeihen konnte, auch wenn die insgesamt 800 000 Opfer der muslimischen und christlichen Gewährsleute, wie gesagt, ins Reich der Fabel gehören. Aber auch schon ein paar Prozent dieser Kadavermasse dürften ja genügen, um den Humus mit Nährstoffen so anzureichern, dass er dank dieser Anschubfinanzierung auch heute noch gut im Saft steht. 

Dieser These steht allerdings jene entgegen, der sich der Name des Passes verdanken soll: Despeñaperros bedeutet wörtlich das Hinabstürzen der Hunde; man sagt, dass die christlichen Kämpfer die erlegten Feinde wie Hunde in die Schlucht hinuntergeworfen hätten. Doch das wird wohl eher eine Legende sein, denn es ist arg unwahrscheinlich, dass Soldaten nach einer blutigen Schlacht trotz ihrer Erschöpfung und ihrer Blessuren nichts Besseres zu tun hätten als Tausende von toten Almohaden auf Karren zu laden und sie über steile und unwegsame Pfade bergan zu schleppen, nur um des durchaus zweifelhaften Vergnügens willen, die Leichen dann unter großem Hallo in die Tiefe zu werfen.

Wie auch immer es um den Wahrheitsgehalt solcher Legenden bestellt sein mag - das Museum bemüht sich jedenfalls um eine historisch gerechte Darstellung der Kontrahenten von damals und stellt, sine ira et studio, Waffen und Rüstungen, Kleidung, Haushaltsutensilien, Kultgegenstände, Alltagszier etc. der beiden Lager einander gegenüber, wobei sich nicht leugnen lässt, dass die Almohaden im Vergleich mit den Christen sehr viel besser abschneiden. Die Christen waren grobe Bauerntölpel, die Muslime kultivierte Leute mit Sinn fürs Filigrane. Dreschflegel hier, Damaszenerklingen dort. So sieht's aus.

Nach der Besichtigung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser famosen Schlacht nicht etwa die fortgeschrittenere Kultur gesiegt hat, sondern die mit dem größeren Talent zur Grobschlächtigkeit, was mich unseren Rückweg sehr nachdenklich antreten lässt. Sollte es doch so sein, wie all die Kritiker der Dekadenz in Nietzsches Spuren behauptet haben, dass Kulturen dem Untergang geweiht sind, sobald sie verweichlichen und sich zur Zivilisation verfeinern, dann scheint mir das Abendland, anders als noch 1212, heutzutage wenig Aussicht auf Fortbestehen zu haben. Ein Mangel an Opferbereitschaft, der Hang zur Ästhetisierung der Lebenswelt und dazu, den Genuss dem Kampf vorzuziehen, mithin die grassierende Effeminierung samt dem entsprechenden Sinken des allgemeinokzidentalen Testosteronspiegels - das alles sind Vorboten des künftigen Untergangs. Es täte mir leid um das Abendland, das ich alles in allem doch recht gern mag.

Aber als wir den Weg zurück zu unserer Hängematte antreten, schöpfe ich wieder Hoffnung. Erstens führt der Pfad für die Fußgänger durch dorniges Gestrüpp und dann ohne jegliche Schutzmaßnahme über einen (wenngleich kaum befahrenen) Straßenkreisel, was schon für sich die Unsinnsrede von einem postheroischen Zeitalter Lügen straft, denn es braucht einigen Heldenmut, hier drüber zu huschen, und zweitens stoßen wir im Zentrum von Santa Elena auf ein Denkmal, das mir noch mehr Zuversicht einflößt. Es zeigt Alfons VIII. lose mit Ketten behangen auf einem Backsteinsockel, den Schild in der Linken und das schartige Schwert in der Rechten. Die Ketten hindern ihn nicht, die hat er längst gesprengt; sie hängen nur noch als Zeichen der überwundenen Schmach an ihm; mit dem geharnischten Eisenschnabelschuh tritt er den Feind (gesichtslos, eine amorphe Masse) in den Staub. Seine Haltung ist entschlossen und ohne Scheu vor dem Blutvergießen. Eine Inschrift zeigt das Jahr der Aufstellung: 2005. 

Ein Jahr zuvor töteten islamistische Terroristen in der Madrider U-Bahn 200 Menschen, was zwar weniger ist als die 59 400 Almohaden, die bei Las Navas de Tolosa fielen (und auch all die anderen Toten seien nicht vergessen, aus Algerien, aus dem Irak, Palästina, Afghanistan, Libanon und Libyen, zahllos) - aber gleichwohl eine Zahl, die zu beklagen ist.

Ob es darum jedoch eine weise oder gar großherzige Idee ist, nach einem solchen Vorfall ein Denkmal mit einem Kriegsfürsten aufzustellen, der die Muslime vor 900 Jahren wie Hunde in die Schlucht hinabgeworfen haben soll, weiß ich nicht. Aber nun: hätte man stattdessen zu Toleranz und Zusammenarbeit aufgerufen, wäre das wieder nur ein Symptom der abendländischen Dekadenz gewesen, ein Zeichen, dass der Westen zum Untergang verdammt ist. 

Die Zeiten sind dennoch milder geworden; nach Abschluss der Reconquista schickte man Morisken und Marranen, die nach der Zwangstaufe heimlich am Glauben ihrer Väter festhielten, und denen die allerchristlichsten Könige Isabella und Ferdinand unterstellten, Feinde des Reiches und Terroristen zu sein, noch scharenweise auf den Scheiterhaufen. Heute stellt man bloß kriegerische Denkmäler auf. Die erinnern zwar an durchsetzungsstarkes Kriegertum, belassen es aber auch bei der Erinnerung - das heroische Symbol ist letztlich also doch nur Symbol: Dekadenz.


Viso, Villanuova los Infantes, Mancha humeda


Nach drei ruhigen Tagen brechen wir auf. Wir nehmen, soweit es geht, den alten Passweg durch den Desfiladero, doch einige Straßen sind, obwohl im Atlas noch verzeichnet, gesperrt oder gar unbrauchbar gemacht, was schade ist, denn die Ausblicke von dem noch befahrbaren Streckenstück sind ganz hinreißend. Ich bin mir recht sicher, dass man in Frankreich solche Straßen weiterhin erhalten hätte - sie sind ein touristisches Pfund, mit dem gewuchert werden könnte. Hier aber mündet der alte Weg zwangsläufig auf die Autobahn, und auf eine große Raststätte mit allerlei Läden, in denen der Reisende auf seinem Weg nach Norden sich noch einmal mit den Produkten des Südens eindecken mag.

Der Reisende kann den Proviant brauchen - denn jenseits des Passes ändert sich die Landschaft fast schlagartig; die Mancha zeigt ihr karges Gesicht. Bei aller Trockenheit der Region um Jaen, bei aller Eintönigkeit der endlosen Olivenhaine, hat man doch immer das Gefühl, sich in einem gesegneten Landstrich zu befinden. Als wir aber nun auf Viso del Marqués zusteuern, geht es durch dürftiges, zu einem Drittel brachliegendes Land. Der Boden scheint so arm, dass man ihm selbst in der Epoche des Nitrophoskas von Zeit zu Zeit Ruhe gönnen muss.

In Viso gibt es einen Palast, den sich Alvaro de Bázan erbauen ließ, der durch sein schnelles Eingreifen in einem bestimmten Moment der Schlacht von Lepanto das Blatt zugunsten der Heiligen Allianz wendete und so zum Helden wurde (es war die Schlacht, bei der Cervantes' Hand verstümmelt wurde), später, erneut unter Juan de Austria, war er einer der Eroberer von Tunis, dann stieg er zum Oberbefehlshaber der spanischen Atlantikflotte auf und bereitete federführend den Zug der Armada gegen England vor. Bei dieser Unternehmung verließ ihn dann das Glück - 1587 überfiel Sir Francis Drake den Hafen von Cadiz und kaperte oder versenkte oder verbrannte drei Dutzend der spanischen Schiffe, die sich hier zum Feldzug gen Britannien sammelten. Alvaro de Bázan fiel daraufhin bei König Philipp in Ungnade, und bevor die Armada im Ärmelkanal unterging, starb er Anfang 1588. Man darf annehmen, aus Verbitterung.  

Der Palast Alvaros wurde im Wesentlichen 1586 fertiggestellt; der Admiral wird nicht viel Zeit darin verbracht haben, wahrscheinlich nur einige Nächte, wenn er auf dem Weg vom Hof in Madrid nach Sevilla (damals noch Spaniens wichtigster Hafen) hier Station machte und Träumen von einer Renaissance nachhing, die in Anmut und Erhabenheit sehr viel deutlicher von italienischen Vorbildern beeinflusst waren als der Escorial seines Königs, der nicht mehr ist als die monumentale Ausgeburt eines Kanzlistengehirns, das sich einen Palast nach dem Modell einer Aktenablage, mit Fensterfronten wie Schubfachschränke, geschaffen hat.

Alvaros Geschmack war weicher, lebendiger, zweifellos auch gewinnender. Er muss trotz seiner Befehlsgewalt ein umgänglicher Mann gewesen sein; Cervantes nennt ihn zärtlich den "Vater der Soldaten", und ein Abglanz dieser Liebenswürdigkeit ist in seinem Palast überall zu spüren. Es steckt trotz des epochen- und standestypischen Repräsentationsdrangs eine Art von launiger Gemütlichkeit darin; dieser Mann will nicht nur großtun, sondern sich auch amüsieren und überrascht werden. Die Räume stecken voll charmanter Einfälle und trompe l'oeuils - braune Bärenjunge, die in einem Deckenfresko ihre Pfoten zu den dort versammelten antiken Gottheiten hinaufstrecken als bettelten sie um Süßigkeiten; verspielte Grotesken nach Art Raffaels füllen Kassettendecken und Gewölbezwickel. Ich habe kaum etwas notiert und wenig fotografiert, doch ich erinnere mich an den beherrschenden Eindruck eines gewissen schrulligen genius loci, und einer Verspieltheit, die in einem merkwürdigen Kontrast zu den allgegenwärtigen Verweisen auf das Kriegshandwerk des Marqués steht. Entweder ist die Heiterkeit des Dekors eine Art von Kompensation dieses blutigen Handwerks, oder aber der Admiral hatte tatsächlich ein fast zirzensisches Vergnügen an Seeschlachten, am Krachen der Böller und am Tanz der Schiffe, so dass all die schwungvollen Grotesken dieser Freude am Krieg nur das ihm angemessene Girlandenkleid aus wehenden Wimpeln und flatternden Fahnen hinzufügen sollten.

Diese Launigkeit wirkte auch nach dem Tod des Admirals noch weiter. Allein die Idee, in diesem Palast ein Archiv der Spanischen Marine einzurichten, ist von bewundernswert charmanter Abseitigkeit. Jede andere Nation würde ein solches Archiv in irgendeiner Hafenstadt einrichten, irgendwo, wo Möven kreischen und Wellen gegen die Mole schlagen. Aber in welchem Land würde man um Himmelswillen so ein Institut mitten im allertrockensten Landesinneren aufbauen und es dann mit einer Unzahl von Schiffsmodellen bestücken, ohne zu befürchten, dass all diese Modelle aussähen wie auf Grund gelaufen, verdurstet, verschmachtet wie Fische auf dem Trockenen?

Doch der verdienstvolle Admiral, dem bei seiner Erhebung in den Adelsstand Titel und Ländereien des Marqués von Viso und Valdepeñas zugefallen waren, hatte seinen Palast, obwohl so fern vom Meer, mit der Erinnerung an seine Marine-Karriere schmücken, und Flure und Patios, Treppenhäuser, Gemächer und Salons überreich mit Gemälden und Kachelbildern von berühmten Seeschlachten ausstatten lassen. Das Marinearchiv ist darum eine konsequente Weiterentwicklung dieser Anfänge, obgleich es den Besucher irritiert, dass der Blick, der eben noch über ein Fresko voller grün und blau schäumender Wellen glitt, unversehens durch ein Fenster auf die sandfarbenen, vor Dürre rissigen Böden der Mancha fällt.

Nach einer caña statten wir auch der Kirche nebenan noch einen Besuch ab, die romanisch zu nennen vielleicht zu schmeichelhaft wäre, da sie in ihrer Architektur eher an der Idee einer Burg oder schlicht eines Gefängnisses oder einer Besserungsanstalt orientiert ist, kantig, stabil und ohne jeden Versuch, irgendwie gefällig oder anziehend oder auch nur ein bisschen fromm zu wirken.

Als wir eintreten, steht ein alter Mann am Altar und ruft uns gleich gebieterisch zu sich, damit wir seinen Vortrag über die Kirche anhören, der freilich nicht sonderlich detailliert ausfällt, sondern sich mit den Erklärungen begnügt, dass der Tisch da vorn der Altar sei, das Bild des Mannes, der da ans Kreuz geschlagen ist, Christus zeige, und diese Frau im blauen Mantel die Jungfrau Maria darstelle. Das haben wir uns zwar auch so ungefähr gedacht, es ist aber doch immer gut, solch laienhafte Mutmaßungen von einem fachkundigen Mann bestätigt zu bekommen. Immerhin erklärt er uns auch das etwas rätselhafte Accessoire, das im Rückraum des Baus an einer Seitenmauer angebracht ist und bei dem es sich um ein ausgestopftes Krokodil handelt, das die Mauer emporklimmt, indem er uns auch hier wieder unsere Vermutung bestätigt, dass es sich um ein ausgestopftes Krokodil handle. Warum es aber hier sei, will ich wissen. Der Alte schaut uns listig an und will uns selber raten lassen, doch wir geben offen unsere Ahnungslosigkeit zu. Nun, sagt er nach einer bedeutsamen Kunstpause, das Krokodil käme aus Ägypten, direkt vom Nil. Wir geben uns alle Mühe, aber der Ausdruck von Begriffsstutzigkeit will, wie ich fürchte, nicht aus unseren Mienen weichen. Da blitzt des Alten Antlitz mächtig auf, halb stolz auf seine eigene Pfiffigkeit, halb tadelnd, weil wir nicht nur begriffsstutzig sind, sondern gradezu verstockt. Dass wir das nicht verstünden! Die Jungfrau Maria sei doch nach ihrer Niederkunft mit Mann und Kind nach Ägypten geflohen!, sagt er, mit aufgerissenen Augen Verständnis nicht bloß heischend, sondern fordernd. Ich schlage sofort die Augen nieder, um ein entgegenkommendes theologisches Grübeln zu simulieren, obwohl ich doch eigentlich weiß, dass der Umstand, dass die Heilige Familie in einem Land weilte, in dem es Krokodile gibt, nicht viel besagen will, da es in Ägypten auch Sandkäfer und Küchenschaben und Geschlechtskrankheiten gibt, und kein Kirchenlehrer, der auch nur ein bisschen bei Trost war, Kakerlaken oder vom Tripper infizierte Geschlechtsteile als religiös relevanten Kirchenschmuck aufgefasst hätte. Warum also dieses Krokodil? ich grüble weiter. Aus dem Neuen Testament sind mir keine sinnträchtigen Begegnungen der Heiligen Familie mit ägyptischen Krokodilen bekannt. (Im Alten Testament figuriert das Reptil bei Hiob oder Ezechiel bisweilen als Leviathan, aber sobald man das Alte Testament aufschlägt, wagt man sich ohnehin in eine Zone vollkommen verantwortungsloser Hermeneutik, in der alles alles bedeuten kann.)

Doch ich muss nicht länger grübeln, denn der alte Mann ist offenbar zu der Einsicht gelangt, dass wir zu dumm sind, die Bedeutsamkeit des Krokodils zu begreifen, also pocht er auf die Sparbüchse am Rand einer Hammondorgel und verkündet, dass die Madonna sich immer über eine kleine ofrenda freue, und schon setzt er sich auf sein Organistenbänkchen und stimmt eine Melodie an, bei der wir trotz des ungelenken Rhythmus befürchten müssen, dass der Greis gleich zu einem schmissigen Gassenhauer übergeht, während er uns keinen Moment aus den Augen lässt, sodass wir sorgfältig unsere Gesichtszüge kontrollieren, um unser Befremden tief in unserem Herzen zu bewahren und es nicht an die Oberfläche mit all ihren verräterischen kleinen Mimikmuskeln treten zu lassen.

"Bonito, eh?" fragt der Alte, als er fertig ist, und wir werfen eine ofrenda (für die Madonna oder einen ihrer Abgesandten auf Erden) in die Sparbüchse und verabschieden uns. Beim Hinausgehen ertappe ich mich (ein Verhaltensrudiment aus meiner Ministrantenzeit) bei einem Knicks; allerdings nicht in Richtung des Altars, sondern zum Krokodil hin. Der Himmel mag wissen, was das zu bedeuten hat.

Auf dem Weg nach Norden machen wir einen Abstecher nach Las Virtudes, wo Spaniens älteste feste Stierkampfarena steht, die aber heute ihren Ruhetag begeht. So umrunden wir nur das rechteckige Areal mit seinen dicken Wänden, und stellen dabei fest, dass die Arena sich eine Mauer mit dem Friedhof teilt, was angesichts der im 17. Jahrhundert etwas häufigeren Corridazwischenfälle mit tödlichem Ausgang sicherlich recht praktisch war.

Wir verschmähen eine Einkehr in Valdepeñas (bis auf einen kleinen Halt im Supermarkt, wo wir dann aber aus Trotz lieber ein paar Flaschen Rueda einpacken als den schlichten Weißen von hier), und halten auf Villanuova los Infantes zu, das uns der Reiseführer als eins der schönsten Städtchen der Mancha angepriesen hat, womit er sogar Recht haben mag. Ein Gitternetz von Sträßchen, einige sehr schöne Renaissancefassaden, Häuser aus dem rötlichen Stein der Gegend mit kunstvollen Portalen, hier und da geschnitzte Holzbalkone, und eine Plaza Mayor, auf der Sancho und sein Herr nebst ihren Reittieren herumstehen und sich die Sonne auf die Bronzeköpfe brennen lassen. Wir verziehen uns in die markisenüberspannte Ecke der Plaza. Der Wirt verspricht mir das kälteste Bier, das ich je getrunken habe - und bringt mir ein doble, das er aus der Tiefkühltruhe geholt hat, die blonde Sulzmasse eines Biersorbets, das selbst mir zu kalt ist, sich allerdings in der Hitze des Platzes schnell verflüssigt. Wir essen manchegisch, also Arme-Leute-Essen, migas, jene angerösteten Krumen aus altem Weißbrot, in die ein paar Chorizo-Scheiben gemischt sind; anderswo pflegt man das Gericht mit Brühe und Gemüse, vielleicht sogar Speck, ein wenig geschmeidiger machen, aber ich habe den Wirt im Verdacht, dass er mit dieser bröckeltrockenen und dürren Rezeptur seine Gäste dazu zwingen will, kräftig den Getränken zuzusprechen, denn ohne entschiedenes Nachspülen bleiben die Migas an der Kehle sitzen wie Holzspreißel. Mehr als einmal kann ich nur durch einen schnellen Schluck verhindern, die Brösel wieder auszuhusten. Habe ich den Wirt da etwa feixen sehen?

Der ist ohnehin ein komischer Typ, mächtige eins fünfundneunzig, und um den Hals und an beiden Handgelenken trägt er Ketten aus dicken Holzperlen, die dort wirken wie kugelgelagerte Verflanschungsringe - als seien Kopf und Hände angeschraubt und könnten bei Bedarf auch abgemacht und ausgetauscht werden. Seine Frau steht ihm, was die Seltsamkeit ihrer Aufmachung angeht, nicht nach. Brillantschwarz gefärbte Haare, ein Bogen von Kügelchen, die ihr über die linke Augenbraue gepierct sind, Nasenring, eine Menge von Tatoos, dazu mehr Mascara als Alice Cooper und einen Minirock in dem Schottenkaro, das Punks so lieben. Das wäre alles nicht weiter bemerkenswert, wenn sie zwanzig wäre oder vielleicht dreißig, aber zwanzig ist allenfalls ihre Enkelin, und offenbar ist zwanzig auch gar nicht ihr bevorzugtes Lebensalter; sie will noch jünger sein. Jedenfalls macht sie, nachdem ich bei ihr die Rechnung bezahlt habe, einen Knicks wie eine Drittklässlerin und sagt ihr Sprüchlein für ausländische Gäste auf: "Senk you!"

Wir lernen die lieblichen und anmutigen Seiten der Mancha kennen: violett und gelb überflammte Wiesen, Steineichen, weit geschwungene Hügel. Wir fahren durch den Naturpark der Lagunas de Ruidera, auf der Suche nach den Höhlen des Montesinos, in deren Tiefen Don Quijote am Seil hinabgelassen wurde und den Durandarte fand, der dort in einem kristallenen Palast aufgebahrt lag, das Herz mit einem Dolch herausgeschnitten und (damit es sich besser hielte und nicht etwa übel zu riechen anfinge) mit Salz gepökelt. Das Kapitel, in dem Cervantes dieses Abenteuer seines Helden schildert, ist eine witzige Reflexion über Literatur und Traum, über das Leben als Literatur und die Literatur als Leben, über Zeit und Ewigkeit, den hohen Ton und die niedere Wirklichkeit, vielleicht in seiner Selbstreflexivität eins der Schlüsselkapitel dieses an Selbstreflexion nicht gerade armen Buches. Aber uns sind die Höhlen von Montesinos verschlossen; der Parkplatz ist leer, das Tor verriegelt. Die Saison beginnt hier erst Mitte Juni.

Nicht allerdings an den Seen dieser Mancha humeda, der feuchten Mancha, da ist der Betrieb schon im Gange. Diese Abfolge von Gewässern ist entstanden, sagt die Legende, als der Zauberer Merlin die Töchter und Nichten der Kammerdame Ruidera, die nach Durandartes Niederlage nicht aufhören konnten zu weinen, in Seen verwandelte, und seither (es waren vermutlich Portugiesinnen) flennen sie immer weiter. Sie haben auch allen Grund dazu. Die Ufer sind von Ferienhäusern und Ausflugsrestaurants gesäumt, und die Familien, die jetzt hier urlauben, scheinen allesamt Nachfahrn Sancho Panzas, des Schutzpatrons der Heiligen Wampe. Kaum eine Familienarrondierung, die ohne Chips und XXL-Flaschen Cola auskäme. Selbst bei den Teenagergrüppchen oder den jungen Pärchen, die sich bereits gefunden haben, knuspern die Verliebten nicht aneinander, sondern futtern sich lieber tütenweise durch ihren Knabberkram, was freudianisch leicht als Verschiebung oraler Gelüste zu benennen wäre, aber auch die Fünfjährigen mampfen das Zeug in Mengen, und genauso Mama und Papa, und darum sollte hier weniger Doktor Sigmund seine Expertise beisteuern  als ein x-beliebiger Diätberater. Jedenfalls würde der Wasserspiegel der Seen um einen, zwei, drei Meter steigen, sobald all diese Schmerbäuche sich zugleich ins Wasser würfen, was sie aber nicht tun, weil dabei doch nur die Chips feucht würden, die sie auch beim Baden wohl nicht aus den Händen lassen wollten.

Wir finden einen ruhigen Platz zwei Seen weiter, und parken wahrscheinlich etwas illegal, aber schön, am Ufer. Das Wasser wechselt bei sinkender Sonne von Cyanblau zu Smaragdgrün, und bald watschelt ein zutrauliches Entenpärchen um uns herum, der Erpel (langsam wie alle Männchen) hat immer noch Blau am Kopf, und nur um Kropfband geht die Farbe sanft ins Smaragd über, als hätte man ihn lang ins Blau getaucht und nur am Schluss ganz kurz in ein Grün, dessen Pigmente nur oberflächlich am Hals schimmern.

Enten sind höflich. Der Erpel versucht uns nicht wegzuscheuchen, sondern wirft uns nur immer wieder indignierte Blicke zu, die zu verstehen geben wollen, dass es sich hier um sein Revier handele, und dass wir da nichts zu suchen hätten; aber als wir davon unbeeindruckt bleiben, arrangiert auch er sich. Obwohl... Tut er das tatsächlich? Es könnte auch sein, dass er mit seinem Weibchen nur darum noch einmal auf den See hinausgeschwommen ist, um Verbündete zu holen, die uns vertreiben sollen. Sobald es dunkel geworden ist, überfallen uns Myriaden von Insekten aller Art, Mücken und Falter und allerlei Geschmeiß, vor allem aber winzige Wimmeltierchen, die man mit jedem Atemzug tief in die Nase saugt. Als wir kapitulieren und uns in den Bus zurückziehen, quarrt und pfeift das Entenpärchen, und ich meine, eine Art von Triumph herauszuhören.


Puerto Lapice, Toledo


Weiter nach Norden, erst durch die Mancha, die nach unserem Ausflug in ihren saftigeren Teil schnell wieder alle Anmut verliert; je näher wir der Autobahn kommen, desto öder wird es. Flaches, gelbes Land, durch das immer wieder die rötliche Erde durchscheint wie aufgekratzt oder schorfig. Einige Gebäude, eher Scheunen als Gehöfte, oft verfallen, aus bröckelnden und mürb wirkenden Ziegeln von diesem Erdrot, als hätte man das Material dafür gleich vor Ort gewonnen, mit Wasser vermischt und zu Lehmziegeln geformt, die nicht gebrannt, sondern nur in der Sonne getrocknet wurden.

In Puerto Lapice, dem Ort, an dem Don Quijote sich von einem Schankwirt zum Ritter schlagen ließ - wir waren vergangenes Jahr bereits dort - halten wir an und besuchen diesmal das kleine Museum, das man Cervantes dort eingerichtet hat, um Touristen anzulocken, die sich dann in der Venta mit Souvenirs und Safran, Ölkanistern und Schinken eindecken sollen. Das Museum ist ein Witz, ein paar Räume, die mit dunkel gebeizten Möbeln vom Trödel vollgerümpelt sind, mächtigen, lederbezogenen Sesseln, Truhensarkophagen und monumentalen Schreibtischen, wie sie zu einem einflussreichen Angehörigen des Hofes oder einem vermögenden Handelsherrn passen würden, aber kaum zu dem schlecht bezahlten Steuereintreiber Cervantes, der die Arbeit am Don Quijote begann, als er (wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern) im Gefängnis von Sevilla saß. Hier aber wird Cervantes als Honoratior in Szene gesetzt, als Mann in Amt und Würden, als ein Arrivierter, der er in Wahrheit auch nach dem Erfolg des Don Quijote (der sich finanziell ohnehin wegen der vielen Raubdrucke nicht so auszahlte wie erwünscht) nie recht wurde. Aber es wäre beckmesserisch, diese Schönung von Cervantes' Lebensumständen einfach als historisch falsch abzukanzeln; im Gegenteil setzt sie eine eigene Pointe zum Don Quijote. Wenn dieser in einem Wirtshaus eine Burg und in einer triefäugigen und buckligen Bäuerin eine Dulcinea sehen konnte, so findet sich hier der Betrachter selbst in einer durchaus quijotesken Verblendung. Der Besucher sieht die Umgebung des Hidalgo so, wie dieser selbst sie sehen könnte (also verzaubert, halluziniert, romanhaft aufgeputzt), und das hat dann doch einen gewissen Witz, zumal es auch in der reichen Illustrationsgeschichte des Don Quijote eine Menge von Malern, Zeichnern, Kupferstechern gab, die mit wahrhaft quijotesker Einbildungskraft gesegnet waren und nicht etwa den alten Narren zeigen, wie er mit seinem Pappschild und dem Rasierbecken auf dem Kopf durch die Mancha stolperte, sondern so, wie der irrende Ritter sich selbst zu sehen beliebte: als Helden in prächtiger Brünne, mit wehendem Helmbusch und Beinschienen aus getriebenem Silber - eine Blüte des Rittertums.

Nach Toledo. Wir lassen uns vom Navi ins Zentrum leiten und umfahren erst die Mauern der hochgelegenen Feste, bis mich das Gerät zum Abbiegen auffordert. Ich sehe noch das Schild "Parkplätze jetzt nur noch für Anwohner" und will zurück, doch hinter mir haben schon zwei Wagen aufgeschlossen; das Zurück, eben noch dagewesen, gibt es nicht mehr.

Die Gassen werden immer enger, meine Adern auch. Der Weg steigt steil an; mein Puls steigt mit. Mit einem Mal stehen wir direkt vor der immensen Steinmasse der Kathedrale, vor uns beginnt die Fußgängerzone, oder aber wir sind schon mittendrin, denn links und rechts und überall tummeln sich soviele Passanten auf der Straße, dass ich es nicht wage, einfach weiterzufahren, also steige ich aus und frage den Autofahrer hinter uns, ob es hier wirklich weiterginge. Er nickt unwirsch, jaja, natürlich, er hat es eilig und wenig Lust, sich mit den Skrupeln eines verwirrten Touristen aufzuhalten. Also rollen wir den Burgberg wieder hinunter und ich komme mir vor wie eine Flipperkugel, die man die Schräge hinaufgeschossen hat und die, ohne irgendeinen Scorer zu touchieren, wieder hinunterflitzt und im Aus landet.

Der für die Altstadt zuständige Parkplatz liegt am Busbahnhof, unweit des Tejo. Eine Abfolge langer Rolltreppen bringt uns wieder hinauf ins casco historico.

Doch bevor wir die Stadt planvoll besichtigen, müssen wir etwas essen. Wir flanieren herum und kehren schließlich in einer Art Lounge-Bar ein, deren Speisekarte uns angesprochen hat. Das Essen wird im Keller serviert, einem schwarz ausgekleideten Raum, in dem nur die Sitzbänke und Sessel Farbtupfer von liturgischem Violett setzen. Ein paar Säulen hat man mit weißen Federboas umwickelt, was dem Schwarz und Violett eine frivole Note verleiht, als würde der Raum von Zeit zu Zeit auch als S/M-Studio für lüsterne Kleriker genutzt.

Die Kellnerin ist allerdings keine gestrenge Domina, sondern eine junge Frau von auserlesener Höflichkeit, und das Essen ist ausgezeichnet: es gibt Kichererbsen mit Krabben in einer dichten Krustentierbisque, dann saftige Hühnerstücke in einer sämigen Currytunke mit Erdnuss und Mandel, ein Lachstataki auf Mayonnaise mit Babymaiskölbchen, grünem Spargel und feingehobelten, scharfen Radieschenscheiben, schwarzer Sesam darüber - die Menüs in den Touristenschwemmen sind kaum billiger, aber (wie wir morgen noch erleben werden) um einiges schlechter.

Wir nehmen die Sehenswürdigkeiten, wie sie uns begegnen; man muss nur ein paar Schritte tun, und schon steht man vor irgendeiner Kirche, einer Synagoge, einer Moschee oder einem Museum, und manchmal waren die Kirchen früher Moscheen und die Museen Synagogen und die Synagogen Kirchen. 

Toledo war im Mittelalter ein großer Umschlagplatz der Kulturen, hier sprach man Arabisch und Latein und Hebräisch, und natürlich die zeitgenössischen Ausläufer des Romanischen, castellano, andaluz, leonés. Im Toledo des 12. Jahrhunderts wurden die arabischen Übersetzungen der aristotelischen und platonischen Werke ins Lateinische übertragen, besonders Aristoteles wurde hier für die okzidentale Philosophie erschlossen. Doch nicht nur die Philosophie, sondern mehr noch die empirischen Wissenschaften der Araber - Astronomie, Optik, Medizin, Physik - brachte man hier ins Latein. Die arabische Wissenschaft war in jener Zeit der westlichen (wenn diese denn überhaupt den Namen Wissenschaft verdiente) weit überlegen. Plato von Tivoli, der damals in Toledo als Übersetzer wirkte, schrieb: "Was die Lateiner an Büchern haben, sind nur Narrheiten, Träume und Alt-Weiber-Geschichten."

Das hinderte die Christen natürlich nicht an ihrem überheblichen Erwähltheitsanspruch. Die erste Kirche, die wir betreten, kann das mit einer Anekdote illustrieren. 

Die Gattin eines der vielen Könige mit dem Namen Alfons wurde von einem schrecklichen Unwetter überrascht. Sie flüchtete sich in eine Moschee und gelobte zum Dank für ihre Rettung vor strömenden Regen und Blitz und Donner, den Bau zu einer christlichen Kirche umzuwidmen, und so geschah's. Mir erscheint das als grobe Unhöflichkeit: erst findet man in einer Moschee Schutz, dann bedankt man sich bei ihr, indem man sie abschafft. Warum dankte sie nicht Allah und seinem Propheten, sondern musste partout der Meinung sein, Christus habe - ganz Kavalier - ihr einen Schirm hingehalten? Und warum dankte sie nicht den westgotischen Säulen, die das Dach stützten, und warum nicht den Römern, aus deren Hinterlassenschaften die Goten die Säulen genommen hatten? Doch statt der ausufernden Kontingenz der Wirklichkeit musste es ihr Gott sein, ihr persönlicher Heilsbringer, der sie rettete, und nach dem die Kirche heute auch benannt ist: El Salvador.

Man muss allerdings zugeben, dass die Herrscher von Toledo, nachdem sie die Stadt von den Muslimen eroberten, lange tolerant verfuhren und Muslimen wie Juden volle Religionsfreiheit gewährten. Dieses kulturelle Erbe wurde lange bewahrt; und selbst Isabella und Ferdinand, die katholischen Könige, die Spanien von Muslimen und Juden reinigen wollten, ließen den Kreuzgang des von ihnen gestifteten Franziskanerkloster San Juan de los Reyes mit nicht wenigen Mudejar-Anleihen versehen: die holzgetäfelten Decken in den oberen Arkaden sind Meisterstücke muslimischer Flechtwerk-Ornamentik, auch die Kachelung zeigt, dass selbst dieses später so glaubensfanatische Königspaar den maurischen Schmuck durchaus zu schätzen wusste. Doch das Mudejar ist hier nicht mehr als ein Einsprengsel, das mit der ruhelosen Begierde des isabellinischen Stils darin übereinkommt, nirgendwo leere Stellen zu lassen, sondern alles mit ornamentalem Dekor zu überziehen - indes auch mit dem im Islam verpöntem figurativem Schmuck: Säulen und Kapitelle des Kreuzgangs sind eine fast schon enzyklopädische Feier der irdischen Welt mit all ihrer Fauna und Flora und ihren Fabelwesen. Wildschweine und Füchse, Greife, Hirsche und Lemuren tummeln sich in den Arkaden ebenso wie Putten und arbeitsames Bauernvolk mit Sensen und Dreschflegeln. Auch die Kirche selbst ist reich an wunderbaren Steinmetzarbeiten. Zwischen den Friesen mit stuckierten Rüschenkränzen strecken Engel ihre Köpfe hervor, als wühlten sie sich aus den unerschöpflichen Beständen eines Ladens für Spitzenklöppeleien. Die hellen Wände sind mit Maßwerk und Rosettenbändern und Rankenflächen überzogen, was oft sehr feminin wirkt, und wenn dies alles nicht aus Stein und Gips wäre, könnte es auch sehr gut aus einem Weißwarengeschäft stammen, wo nicht nur Ripsbänder und Knöpfe verkauft werden, sondern auch Rüschen und Taftröschen und Streifen mit aufgenähten Perlen.

Ob den Franziskanern, die hier beteten, dieser reiche Schmuck wohl gefallen hatte? Ihr Ordensgründer Franz von Assisi wollte mit dem Tuchhandel seines Vaters nichts mehr zu tun haben und in Armut leben; seine Gefolgsleute müssen hier das Knie vor einer versteinerten Putzmacherei beugen. 

Wir sehen uns die beiden einstigen Synagogen an. Die erste wurde nach den Pogromen in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts und der darauffolgenden Abwanderung vieler Juden zum christlichen Gotteshaus umgewandelt, die zweite nach der Vertreibung der Juden durch Isabella und Ferdinands Alhambra-Edikt im Jahr 1492. Im zwölften Jahrhundert lebten 12000 Juden in der Stadt; heute sind es ungefähr so viel in ganz Spanien. Wenn ich richtig gerechnet habe, ergibt sich aus den Einwohnerzahlen für Spanien (46, 5 Millionen) und Toledo (80000) und einer als gleichmäßig angenommenen Verteilung der Juden im Land, dass in Toledo heute 0,48 % eines Juden lebt, also etwa ein Zweihundertsel eines solchen, wobei ich nicht weiß, wie lebensfähig ein solches Abschnitzel eines Menschen ist, und wieviel man gegebenenfalls überhaupt von einem Menschen wegnehmen kann, ohne dass er aufhört, einer zu sein. Aber selbst, wenn man Arme und Beine abschneidet, was sich vermutlich mit moderner Operationstechnik bewerkstelligen ließe, ohne die basalen Vitalfunktionen des Patienten zu zerstören, sähe das Ergebnis doch sehr traurig aus, noch trauriger jedenfalls als Antonio aus dem Kaufmann von Venedig, wenn Shylock ihm wirklich ein Pfund Fleisch aus dem Leib geschnitten hätte.

Ich will nicht lange bei den Details der Synagogenmuseen verweilen (den Hufeisenbögen über den blendend weißen Säulen und den Kapitellen, aus derem steinernen und wie gepunzten Geflecht Voluten hervorbrechen wie geriffelte Widderhörner; den Holzdecken wie jenen in San Juan, den stuckierten Wänden über dem Toraschrein), und ich will auch die Kirche von San Tomé, zu der wir danach wandern, nur des großformatigen El Greco im Vorraum wegen erwähnen, der ein Fürstenbegräbnis zeigt, über dem sich die Himmelsbewohner in einer merkwürdig albtraumhaften Szenerie zusammendrängen, getragen von seltsamen Strukturen, die an die rund ausgewaschenen Kalzitwände einer Tropfsteinhöhle erinnern, in deren schimmerndem Glasfluss Puttenköpfe, weich und larvenhaft und noch nicht ganz zu Ende gestaltet, wie Treibgut dahingeschwemmt werden. Johannes der Täufer hockt, mit einem in eine Felskuhle eingestemmten und einem an die Brust gezogenen Knie auf einem Grat dieser Steinwelle, als fürchte er, abzurutschen, und auch die Madonna, die er mit schmachtender Geste anspricht, sitzt leicht vornübergebeugt so an der Kante des Steins, dass sie jederzeit durch die Felskluft (die allerdings von einem Engel verstopft ist) hinunterstürzen könnte, wo sie dann zwischen die beiden Kleriker, die in ihren Goldmänteln soeben den graugesichtigen Leichnam in sein Grab heben, geradewegs auf die Leiche plumpsen würde. 

Doch sollte ich keinen Slapstick aus dieser Bildbeschreibung machen; dazu ist das Werk zu beklemmend und ohne jede Spur von Profanität. Etwas von Fiebertraum ist darin, Zerquältheit, die Marter eines Albdrucks, die sich in beängstigenden und beunruhigenden Details äußert - im wachsbleichen Gesicht des jungen Kanonikus (es soll sich um den Heiligen Stephan handeln), in den dahinter wie Vogelköpfe auf der Stange aufgereihten Notabeln mit ihren spanischen Halskrausen, in dieser bizarren Struktur, die die Himmlischen trägt - Kalzit oder Wolke, vielleicht auch Schulterblatt und Knochen eines Riesen, wallendes Tuch oder irgendeine Art von Ektoplasma... Dies alles ist ebenso befremdlich wie die Farbigkeit des Gemäldes, die oben vorwiegenden scheelen Grautöne, zwischen denen hier der currygelbe Mantel Petri schillert und dort der mandarinenfarbene Schulterüberwurf des Paulus; unten das strahlende Gold, in das der Heilige Stephan und sein mitrengekröntes Pendant Augustinus gewandet sind; und schließlich die ganze Komposition, die man kreuzförmig nennen könnte, wenn sie nicht in Wahrheit ein Wirbel wäre, ein schäumender Strudel von Kraftlinien und Blicken.

Ich bin, seit mich El Greco letztes Jahr im Prado in den Bann geschlagen hat, ein Bewunderer dieses Malers, und auch jetzt bin ich von dieser ungeheuren malerischen Intensität fasziniert, von der kalten, schillernden Glut der Farben, die mich so sehr an eine Kauterisierung erinnert, an das Ausbrennen oder Verätzen einer blutenden Wunde; ich bin fasziniert von dem Hervorbrechen der Körper aus dem profanen, dreidimensionalen Raum, diesem Aufbersten mathematisch berechenbarer Topologie, die von der nicht mehr kalkulablen Präsenz von Grecos Heiligen machtvoll überschritten und zunichte gemacht wird. Ich habe mir alle Mühe gegeben, den Begriff des Visionären zu vermeiden, der einem bei Greco so leicht von den Lippen geht, aber es hilft ja nichts, einen abgedroschenen Begriff vermeiden zu wollen, wenn er so richtig und fast unumgänglich ist.

Wir lassen uns weiter durch die Gassen treiben (ich nur halb aufmerksam, weil ich überlege, ob Courbets Begräbnis von Ornans sich wohl in stillschweigender Boshaftigkeit auf El Grecos Begräbnis des Grafen von Orgaz beziehen könnte, es gibt da signifikante Ähnlichkeiten und noch signifikantere Abweichungen, ein Vergleich könnte ein ergiebiges Dissertationsthema für Kunsthistoriker sein), als wir irgendwann bemerken, dass die Gassen, die nachmittags so belebt waren, jetzt nahezu verwaist sind. Die Stadt hat sich geleert, und wir fragen uns, wo nur all die Leute geblieben sind. Wir nehmen trotzdem unseren Aperitiv; in diesem Punkt sind wir unbeugsam. Ein paar alte Weiblein tröpfeln für einen kleinen Weißen ein, zwei Rentnerpärchen aus Frankreich bestellen Sangria, weil sie nun mal in Spanien sind, obwohl die Spanier selbst einen kräftigen Gin Tonic vorziehen.

Wir süffeln so vor uns hin, als ein versprengtes Trüppchen von Asiaten vorüberhastet, immer flink hinter dem Fähnchen der Führerin her, die es offenbar sehr eilig hat. Es sieht verdammt nach Wir verpassen den Zug aus. Da verstehen wir: Toledo ist um diese Stunde so leer, weil man sich hier nicht einquartiert und über Nacht bleibt, sondern in Madrid logiert, um allenfalls einen Tagesausflug hierher zu unternehmen, und dann eben mit dem letzten Zug zurückmuss. Um ehrlich zu sein: auch wir beugen uns über die Balustrade des Miradero am Rand des Stadthügels - unter uns zieht der Tajo seine lange Schleife, dahinter dehnt sich die Meseta - und schauen ein wenig sehnsüchtig auf  die profanen Viertel Toledos, die wahrscheinlich voller Bars und Wäschereien und Haushaltswarenläden sind, statt wie hier im casco historico voller Souvenirshops und Auslagen mit toledanischer Schwertschmiedekunst, spanischer Folklore und maurischen Laternen. So reizvoll es ist, dieses Korallenriff der Geschichte zu erkunden, und so wenig ich behaupten würde, dass der casco eine tote Museumsstadt ist (denn es leben hier immer noch genug Leute und kaufen ihren Salat, ihre Babywindeln und ihre Kurzwaren in den Gassen des Viertels) - abends zeigt sich dennoch eine gewisse Unausgewogenheit zwischen dem großen Touristenangebot und der geringeren Einheimischennachfrage. Wenn die Tagesausflügler fort sind, fehlt den Bars die Kundschaft, die Plätze sind leer, und die Altstadt fühlt sich mit einem Mal geisterhaft an. An der Plaza de Zocodover saß an einem Tisch nur der Bruchteil eines Mannes, flüchtig überschlagen allenfalls 0,48 Prozent eines solchen.

Wir verbringen die Nacht am Rand des Parkplatzes, der vom Tajo nur durch 50 Meter Grünanlage getrennt ist, aber all die Männer, die hier an die Bäume gepisst haben, haben olfaktorisch eine stärkere Spur hinterlassen als sie der mächtige Strom des Tajo je davonspülen könnte. Ich will nicht leugnen, dass ich mich in diesem Urindunst eigentlich ganz wohl fühle; er bezeugt die Wirklichkeit der Welt, ihre müffelnde und übelriechende, widerwärtige Wahrheit. Zudem wird die Nase in ihrer Eigenschaft als Vorwarnorgan schnell müde; und wir sind es in toto auch.


Toledo, Madrid


Morgens ein früher café con leche am Zocodover, wo das Personal noch nicht dazu gekommen ist, den Taubendreck von den Bänken zu wischen, weil es erst noch andere, dringlichere Aufgaben zu erledigen hat wie etwa Herumstehen und Palavern und, in einem Fall, sich hingebungsvoll seines juckendes Skrotums anzunehmen. Um halbzehn sind wir in der Hoffnung an der Kathedrale, sie sei noch einigermaßen leer, doch das erweist sich als grobe Fehlannahme. Wir haben den Termindruck chinesischer Reisegruppen deutlich unterschätzt. Wer in vierzehn Tagen Europa abklappern will, muss sich sputen und hat keine Zeit zu verlieren, weshalb er (a) keinesfalls gemächlich im Lauf des Vormittags irgendwann eintrudeln darf, und (b) beispielsweise die Orte, die er besichtigt, auch anschaut, bevor er sie fotografiert. Es ist zeitsparender, gar nicht die Dinge selbst zu betrachten, sondern nur ihr Abbild auf dem Handydisplay, um dieses unter Beiseitelassung höherstufiger zerebraler Verarbeitung auf dem digitalen Datenträger abzuspeichern, denn nur so wird der Reisende die Freude haben, zuhause in Chongqing oder Hengyang die Bilder anzusehen und sich zu seiner ergötzlichen Überraschung innezuwerden, dass er die letzten Wochen anderswo zugebracht hat, und das, obwohl er an diese Wochen keine andere bewusste Erinnerung hat als die der dauernden Mühe, sein Display so zu halten, dass irgendwelche (ansonsten nicht weiter wahrgenommenen) Objekte in den Bildausschnitt passten. 

Das Betragen der Chinesen wäre dabei manchmal durchaus tadelnswert, wenn man in der Rücksichtslosigkeit, mit der sie mit ihrem Selfiestick auch durch enges Menschengedrängel stochern, nicht auch ein positives Moment von unverbildeter und kerniger Vitalität sehen müsste, und wenn man nicht gerade von einem solchen Stick beiseitegeschoben worden wäre wie ein störender Zweig im Dickicht, oder ein Arm sich einem vors Gesicht geschoben hätte, weil das Handy so eine bessere Perspektive ergattern konnte. Wenn diese unschuldigen Rüpeleien nicht meine Aufmerksamkeit okkupiert hätten, hätte ich dem chinesischen Gebaren auch manch völkerkundlich interessanten Zug abgewinnen können, etwa, als eine Truppe von fünzig Leuten zugleich die Apparate erhob und mit diesem Schwarm leuchtender Displays möglicherweise eine moderne Variante konfuzianischer Huldigungs- oder Dankrituale vollführte, oder vielleicht auch nur eine Morgengymnastik.

Im Retrochor wandern chinesische Damen herum und klopfen mit den Knöcheln auf alle erreichbaren Gegenstände, um zu prüfen, ob die Objekte hohl oder massiv sind, aus dunklem Holz oder Stein oder Metall, und nur die Sprachbarriere hindert mich daran, ihnen zu sagen, dass diese Objekte nicht käuflich sind, weshalb es auch überflüssig ist, sie zu behandeln wie Töpfe oder Kannen in einem Haushaltswarenladen.

Alles in allem bereue ich es aber keineswegs, dass eine solche Menge von Chinesen die Kathedrale bevölkern, denn erstens rührt mich diese in ihrer Gesamtheit nicht sonderlich an (auch wenn es en détail natürlich viel Schönes zu bestaunen gibt) und zweitens bin ich der Beschreibung von Kathedralen mittlerweile ebenso überdrüssig wie es vermutlich der Leser dieser Seiten ist.

Lieber gehe ich zu dem kleinen Museum für westgotische Kunst über, das ungleich charmanter ist. Die Kirche, in der die Sammlung untergebracht ist, hat frühchristliche Züge und verblasste Fresken, in denen in byzantinischer Steifigkeit Heilige aufgereiht stehen. Die muslimische Epoche hat Hufeisenbögen hinterlassen, sehr viel später hat das Barock eine grandios deplazierte Retabel-Einbaute dazugefügt. Die westgotischen Exponate (neben dem Schmuck und den Pfeilspitzen und den Gürtelschließen) bestehen vor allem aus Säulen und Steinfragmenten mit Ornamentreliefs etc., und wenn ich an die römischen Stücke denke, die wir vor Kurzem in Cordoba gesehen haben, erscheinen mir die Visigotenüberbleibsel so plump und grobschlächtig, dass mein bislang etwas abstraktes Wissen, welch kultureller Einschnitt die Völkerwanderung war, sich plötzlich mit erschütternder Konkretheit füllt. Aber dennoch fühle ich mich angesichts dieser Schlichtheit wohler als in der Kathedrale, deren Reichtum und Pracht mich heute vor allem abgestoßen haben. Es mag freilich auch sein, dass das menschliche Gewimmel darin seinen Teil zu meinem Widerwillen beigetragen hat.

Hier hingegen ist es still bis auf eine Schulklasse, die sich aber bald auf den Turm verzieht; nichts ist - von diesem barocken Altar-Allochthon abgesehen - auftrumpfend oder gebieterisch, noch nicht einmal die Fresken mit ihren fürstlich dastehenden Heiligen, denn deren Gesichtsausdruck ist oft von einer solch harmlosen Machtlosigkeit und träumerischen Abwesenheit, dass sie weniger wie Majestäten denn wie Kinderzeichnungen wirken (wozu beitragen mag, dass die Gesichter zumeist verblasst und wie mit Kreidestaub überzogen sind und man oft kaum noch die Augen oder Münder erkennen kann).

Ihre Zeitgenossen werden die Goten wohl kaum als friedlich empfunden haben; aber heute wirken sie wie die bescheidenen Bewahrer ewiger Eintracht.

Wir gehen essen; nicht gotisch, aber barbarisch. Der Koch muss Portugiese sein: über das Hirschgulasch sind genau die Fritten geschüttet, wie man sie in Portugal herzustellen liebt, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass man es auch liebt, sie zu essen - schrumpeldünn, zugleich ledrig und triefend vor Fett. Auch der Bacalhao schmeckt nach Portugal - schlecht gewässert und mit einem Paprikagemüse bedeckt, das man bei irgendeiner archäologischen Ausgrabung in einer tönernen Amphore entdeckt und irrigerweise für zu schade zum Wegschmeißen befunden hat.

Immerhin werden wir gut unterhalten. Die zwei Kellnerinnen nutzen jede Pause, um aneinander herumzufummeln und Küsse zu tauschen. Die eine wäre eine ideale Besetzung für eine Frauenknast-Serie, Mitte vierzig und ein Mordskreuz, die andere ist zwanzig Jahre jünger, aber mit früh verhärteten Gesichtszügen, so der Typ Prügelnder-Vater-aber-Tochter-haut-stärker-zurück. Doch das Schöne ist, dass selbst in diesen beiden prolligen und schroffen Wesen so viel Zärtlichkeit wohnen kann, und dass die Liebe, die das Wesen Gottes ist, auch sie erfasst hat. 

Nur den Koch hat die Botschaft von der universellen Liebe noch nicht erreicht, er ist so verstockt wie der schlecht gewässerte Kabeljau in seiner Vorratskammer, und Koch ist er vermutlich nur geworden, weil er zu feige war, seiner eigentlichen Bestimmung, der Giftmischerei, nachzugehen.

Eigentlich bräuchte man nach einer solchen Mahlzeit einen Schnaps, aber wir nehmen als Digestiv mit einer Kirche vorlieb. 

Sie ist dem Schutzheiligen Toledos geweiht, dem Heiligen Hildefuns (Ildefonso), einem Visigoten und Schüler des Isodor von Sevilla, der der letzte der Kirchenväter war, und in den Verheerungen der Völkerwanderung noch einmal soviel an antiker Gelehrsamkeit kompilieren und der Nachwelt weitergeben konnte wie es ihm eben möglich war.  

Die Kirche selbst ist ein Jesuitenbau mit gipsweißen Wänden und reichlich Stuckkräuselung an Friesen und Pilastern. Doch bleibt all dieses Gipsgelocke sehr diszipliniert, es sprengt nirgendwo den ihm gesetzten Rahmen. Hier hat ein ordnungsliebender Gipscoiffeur gewirkt, der allen Überschwang verabscheute und Schmuck nur zuließ, wenn er durch Vernunft und Regelmäßigkeit temperiert war: ein Zeremonienmeister für Debütantinnenbälle. Natürlich gibt es auch hier die jesuitischen trompe l'oeuil-Spielchen, gemalte Architektur, die plastische Körperlichkeit vorspiegeln soll, doch wirkt das in diesem Bau nur wie ein Bildungszitat, mit dem ein Wissender einem Wissendem zuzwinkert, ein Scherz unter Kennern. Hier soll niemand übertölpelt und seiner naiven Gutgläubigkeit überführt werden. Diese Kirche ist für die Verständigen gebaut, und so wurde auf Appelle ans Gefühl ebenso verzichtet wie auf ästhetische Überwältigungsgesten. Wenn hier etwas überwältigen soll, dann ist es die Ordnung und Aufgeräumtheit konstruktiver Vernunft, man könnte fast mit Habermas vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments sprechen, der hier Form geworden ist. Die Grundlinien des Baus sind klar sichtbar wie der saubere Aufriss einer Fragestellung der analytischen Geometrie, für den ein iberischer Descartes den Griffel geführt hat.

Natürlich stehen auch hier Heiligenskulpturen in ihren Nischen, wie es in einer katholischen Kirche nicht anders sein kann, aber sie ziehen den Blick nicht auf sich. Ihre Nischen sind eng und beiläufig, eher Kämmerchen, wie man heutzutage darin Staubsauger, Feudel und Putzeimer verräumt, manchmal holt man diese Gerätschaften heraus und benutzt sie, aber sie sind doch nicht das Wesentliche eines Haushalts, sondern haben nur den Status eines Lakaien. Für eine gegenreformatorische Kirche ist das durchaus bemerkenswert. In anderen Ländern und anderen Kirchen dieser Epoche hat man die Heiligen prominent ausgestellt, als Helden inszeniert, zu Sammelbildchen-Ehren erhoben. Hier spielen sie eine Nebenrolle, schrumpfen aufs Format einer funktionalen Marginalie ohne alle expressive Potenz - verlässliche Putzfrauen.

Toledo muss in der Zeit der Reformation eine feste Burg katholischer Rechtgläubigkeit gewesen zu sein; denn wo es keine Reformation gibt, hat man auch keinen Grund, gegenreformatorischen Theaterdonner zu veranstalten und sich groß in Szene zu setzen. Diese Gelassenheit und Sicherheit verleiht der Kirche eine beeindruckende Würde - nicht die Würde, die mit dem Nimbus der Majestät einhergeht, sondern die Würde eines aufrichtigen Notabeln, eines Mannes, der ordentlich seine Geschäfte führt und auf dessen Wort Verlass ist.

Womit ich auch schon beim El Greco-Museum wäre, denn hier geht es etwas unlauterer zu. Zumindest, wenn man der Suggestion auf den Leim geht, es handle sich hier um das authentische Wohnhaus des Malers und sei angefüllt mit dessen Werken. In Wahrheit ist die Anlage ein nostalgischer Traum des frühen 20. Jahrhunderts, sehr hübsch freilich, zypressengerahmt und mit gekiesten Pfaden, über die Orangenbäumchen und Jacarandas ihren Schatten werfen, Glyzinien, die an den Balken einer Remise ranken, Rittersporn, Petunien und Jasmin. Zur Ausstellung geht es durch ein Wohnhaus, wie es wohl um 1600 ausgesehen haben mag, mit Kupfertöpfen in der Küche, Holzdingern, bei denen ich im Zweifel bin, ob es sich um Höckerchen fürs Gesinde oder doch um etwas groß geratene Stiefelknechte handelt. Tische mit gedrechselten Beinen, schwere Truhen und Stühle lassen darauf schließen, dass El Greco, wenn er hier gelebt hätte, auch einmal an einem Tisch gesessen oder eine Truhe geöffnet hätte, was dem Malergenie offenbar menschliche Züge verleihen soll.

Die Sammlung der Bilder ist dann von sehr unterschiedlicher Qualität, einiges aus El Grecos Werkstatt ist schlicht grauenvoll, und vom Meister selbst sind nicht viele Werke von Bedeutung zu sehen, kein Wunder, denn die hängen in den großen Museen der Welt. Immerhin lerne ich seine Ansicht und Plan von Toledo kennen, auf dem die Stadt unter einem Himmel mit düster rötlichen Wolken sich zäh wie ein weißer Schotterstrom einen Abhang hinunterzuwälzen scheint, während darüber ein Wirbel von Gestalten tanzt, die ich, noch aus der Entfernung, erst für einen zankenden Schwarm von Aasgeiern halte, bis ich im Näherkommen erkenne, dass es sich in Wahrheit um die Madonna und ihr geflügeltes Engelsgesinde handelt. Der Gesichtsausdruck des jungen Manns, der im Vordergrund des Bildes ein großes Blatt mit dem Plan der Stadt vorzeigt, ist schwer zu bestimmen, ich weiß nicht recht, ob er lächelt oder Wehmut seine Züge verschattet, und auch die Madonna scheint mir keineswegs eine eindeutig segensreiche. Zwar halten die Putten zu ihren Füßen Palmwedel und einen Olivenzweigkranz als Zeichen des Friedens, doch die ganze Gestaltengruppe mit ihren schlagenden Flügeln und dem Engel mit den schwarzen Fittichen, der kopfüber auf die Gruppe zustürzt, wirkt unheilvoll, ja beinahe apokalyptisch, zumal die Wolken, die den blauen Himmel überziehen, von einem sinistren rötlichen Schimmer überzogen sind wie von angetrocknetem Blut. Von den Porträts abgesehen, haben fast alle wichtigen Werke El Grecos, zumal die der spanischen Jahre, eine beklemmende Wirkung auf mich, selbst und grade die religiösen Motive; sogar, wenn er Himmelfahrten, Anbetungen und Erhebungen zu Gott malt, ist die Atmosphäre albtraumhaft und von bedrohlicher Unzuverlässigkeit, es ist, als würden die Hintergründe und überhaupt der gemalte Raum sich einstülpen oder sich aufwerfen oder davonschmelzen und mit dem Untergang jeglichen naturalistischen Raums einen fratzenhaften und unheimlichen hervorbringen, in dem nicht der Gott herrscht, der den Menschen als sein Ebenbild erschaffen hat, sondern ein gewaltiger und mit aller irdischen Rede imkommensurabler kosmischer Dämon.

Es ist später Nachmittag, als wir Toledo verlassen und durch die topfebene Meseta Aranjuez ansteuern, in der Don Carlos-Hoffnung, dass die schönen Tage dort noch nicht zu Ende seien. Zu Ende ist jedenfalls, als wir eine Minute nach sechs beim Touristenbüro ankommen, die Arbeitszeit der Dame am Tresen. Wir klopfen, doch sie schüttelt nur den Kopf und packt ihre Sachen. Wir bummeln ein Stündchen durch das Raster der Straßen; es fühlt sich ein wenig an wie Neuilly-sur-Seine in billig, und wir merken, dass wir hier nicht bleiben wollen, und dass wir selbst auf die königliche Sommerresidenz und die vielgerühmten Parkanlagen keine rechte Lust haben, oder dass wir zumindest nicht Abend und Nacht hier zubringen wollen, um morgen früh in den Gärten zu lustwandeln. Dazu kommt, dass wir Madrid dann vor allem am Wochenende erleben würden, was schade um die werktags so geschäftige Stadt wäre. Nein - wir beschließen, weiterzufahren, eine Dreiviertelstunde auf der Autobahn bis zum Campingplatz von Canillejas.

Schon bald kommen die ersten Gewerbegebiete und Barackenhöfe in Sicht, die Lagerhallen der Speditionen, die Industrieanlagen und Zuliefererwerke, die Madrid in weitem Umkreis säumen. Der Verkehr auf den Autobahnen wird dicht, reichert sich nach und nach mit großstädtischer Giftigkeit an. Das Navi geleitet uns über Abfahrten und Auffahrten, wir fädeln aus und wieder ein, all das in der Zügigkeit, die uns der Verkehrsfluss auferlegt; ich will nicht leugnen, dass mir diese Nötigung zur schnellen Reaktion (Bremsen, Gas, und Lücke nutzen) und zu einer beinah kämpferischen oder sportlichen Entschlossenheit und automobilen Rangelei durchaus gefällt. Wir haben in den letzten Tagen und Wochen so viel Kirchen gesehen, alte Steine und Museen, träg daliegende Landschaft, dass nach all dieser Kontemplation ein Stündchen in der Arena eine willkommene Abwechslung ist, wie Säbelwetzen auf dem Paukboden, Attacke und Riposte, schneller Ausfall, Wegdrehen, Fléche. 

Letztes Jahr hätte ich dies alles noch im Stierkampfvokabular formuliert.

Der Campingplatz ist ruhig; um Mitternacht liegen die Sterne wie ausgeflockt in Streulicht und Dunst, der Verkehr verläuft sich in einem weißem Rauschen, der in Stille kippt.


Madrid


In den nächsten Tagen in Madrid füllen wir die Lücken, die wir bei unserem Aufenthalt im Jahr zuvor gelassen haben - etwa das Museo Reina Sofia mit seiner beeindruckenden Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts, wo ich zum ersten Mal Picassos Guernica im Original sehe, gewaltiger und monströser, als es je eine Abbildung vermitteln könnte. 

Doch die enzyklopädische Fülle der Sammlung erschlägt mich; sie ist verwirrend wie das Jahrhundert selbst, das in Stilen und Sichtweisen explodiert ist, manchmal ein Scherbenhaufen und ein Berg von Trümmern und kaum mehr als ein Ruinenfeld; doch dann bemerkt man, wie aus versehrten und krüppligen Fragmenten wieder Gestalten zusammengefügt werden, oft genug brüchig und morsch wie Werkzeuge, die ein Gestrandeter aus Treibgut und Holzstecken aneinanderbindet oder sich nur damit begnügt, Stücke zu sammeln, die er später vielleicht einmal wird brauchen können - und gleich im Raum neben solchen Zeugnissen einer Katastrophe finden sich gediegene Feinmalereien, als hätte es nie eine Katastrophe gegeben und als hätten die Mörser und Granaten der großen Kriege Europa nicht bis in die letzten Winkel erschüttert und es zerstoßen wie splittriges Glas. Giftfarbige Expressionisten beschwören die Hölle, Mondrian träumt von Ordnung und Rechtwinkligkeit, Surrealisten köcheln ihre Träume und Begierden und Ängste aus, während eine Neue Sachlichkeit den präzisen Blick auf eine sogenannte Wirklichkeit erprobt. Unentzifferbare Privatmythologien stehen neben sozialistischer Propaganda, Abstraktion neben Pop-Art, die Dokumentation von Banalitäten hängt Seite an Seite mit lindgrünen Utopien. Einzelne Maler schwelgen immer noch im Glanz von Licht und Farbe, anderen ist die Welt so eingetrübt, dass sie nur noch ein paar kaum sichtbare Kratzspuren in einen düsteren Farbteig graben. Exotik und hausbackene Biederkeit, Selbstreflexion der Malerei und ungeniert direkter Ausgriff auf das, was der Künstler für Wirklichkeit hält - das ist alles da und hängt nur ein paar Meter getrennt voneinander an den Wänden. Man geht durch das stumm schnatternde Stimmengewirr der Kunst, ein unendlich verzweigtes Dickicht aus Malerpalaver und ästhetischen Diskursen. Wir irren durch den Dschungel der pluralistischen Moderne, verstehen nur Bruchstücke all der in Farbe und Form übersetzten Fachsprachen und Idiolekte. Summen und Brausen allerorten: die Moderne ist eine Quasselbude.

Betäubt und wie zerschlagen versuchen wir uns im Café des Museums zu erholen, in dem handverlesen schöne Lakaien die Getränke kredenzen und sich so distinguiert gebärden, als stünden sie in Diensten jener Königin Sofia, nach der das Museum benannt ist. 

Warum eigentlich trägt ein solches Museum, das der Vielfalt und der Divergenz so viel Raum gibt, den Namen einer Königin? Es kann sich nur um Ironie handeln. Das Königtum ist eine Ausprägung der Idee von Einheit, es ist hierarchisch und subordinierend, die Spitze einer steinernen Pyramide - das Museum hingegen ist alles andere als das: es handelt sich da um einen Marktplatz, auf dem nichts Allgemeines verkündet wird, sondern nur die unendliche Vielfalt des Partikularen miteinander um Aufmerksamkeit konkurriert; das Museum ist wie die Stadt selbst, in die wir zur Stunde des Aperitivs wieder eintauchen, in das Gewimmel der Passanten und das Geschiebe des Feierabendverkehrs, in Lärm und Hast, vorüber an Stadtpalästen und Pappkartons, in denen Tippelbrüder hausen, an Ladenmädchen und großen Damen, Schnöseln in ihren blau-weiß gestreiften Hemden mit weißem Winchesterkragen und gestärkten Manschetten, frisch aus ihren klimatisierten Büros, in denen gekühlte norwegische Wässer so flink aus den Spendern gluckern wie die Zahlenkolonnen aus dem Börsenticker; Kleintierhändler, die die Gitter vor den Schaufenstern herunterrasseln lassen (dahinter rennen Hamster in ihren Laufrädern, zerbeissen Spitzmäuse die Pappen von Klorollen, schauen weiße Katzen mit eisblauen Augen durch die Käfigstäbe). Erschöpfte Beamte; Maurer, die mit Zementspritzern auf der Hose beim Bier sitzen; Typen in Nadelstreifen mit Goldarmband, die verspiegelte Sonnenbrille ins gelglänzende Haar geschoben; zwei Punks in Royal Stewart Tartan-Röcken, die sich auf dem Gehsteig eine Flasche Cardenal Mendoza teilen, davor eine elegante Frau mit Fendi-Tragetaschen (wahrscheinlich Mama), die zwar ein Stakkato spanischen Tadels abfeuert, aber ganz so aussieht, als könnte sie jetzt auch einen Schluck Brandy brauchen. Gassen wie Totwasser. Klamottenläden am Boulevard; der Mensch ist frei geboren, doch überall liegt er in Modeketten. An einem langen Bauzaun hat irgendein Off-Theater Plakate für Becketts Final de partida geklebt, die von fünfzehn Metern Werbung mit Tänzerinnen im Bikini skandiert werden. Vor den Geldautomaten Warteschlangen. Feinkostläden und Werbewände für Coke-Zero. Eine einsame Tierschützerin, die ein Peta-Plakat hochhält; Bettler; zwei dicke Männer in Schwarz mit Priesterkollar. Ein hochgewachsenes Transenterzett, Miniröcke und Pailletten, dem ein schmächtiges Greislein, von einem unerwarteten Johannistrieb beseelt, in selbstvergessener Geilheit hinterherschaut. Ein Polizist auf Streife, der kurz seine Mütze abnimmt, sich die Stirn wischt und für einen Moment verblüffend dem Baudelaire der berühmten Carjat-Fotografie ähnelt, auf der der Dichter mit seiner überdimensionalen Seidenschleife und dem Samtkragenkittel an einen verbitterten Patissier erinnert, dem gerade eine aufwendige Zuckerskulptur zerbrochen ist. Ein Wesen, das Richtung und Tempo seines Elektrorollstuhls vermöge eines Halms steuert, in den es Luft pustet; die stummeligen Glieder und das mit dem Hals verschmolzene Gesicht sehen aus wie von Picasso gemalt. Ein Kiez von Antiquitätenhändlern, in deren Schaufenstern vergoldete und (als hätte man sie aus Löwenkadavern in Möbel verwandelt) löwenklauenbewehrte Tische stehen, wenig später ein Schwarzenghetto mit Weibern in Kangas und Kopftuch, die zum Plausch beieinanderstehen, während ihre Männer Dosenbier vor einer Pinte trinken.

Wir landen schließlich auf der Plaza Tirso de Molina, auf der ungeheuer Betrieb ist. Straßenmusiker wetteifern mit Jongleuren und Feuerspeiern; Passanten, Leute, Grüppchen lauern auf einen freiwerdenden Platz, und strategisch verteilte Familientrupps von der Urgroßmutter bis zum Säugling arrondieren nach und nach Tische, wie früher einmal die Habsburger Fürstentümer. Die Kellner wechseln die Tabletts von L auf XL und schaffen Batterien von Bier-, Tinto Verano-, GinTonic-Gläsern heran; auch für mich fällt meistens ein doble ab, und nach einer Weile hat man das Gefühl, in ein Gelage geraten zu sein, in dem alles so großzügig serviert wird wie bei einer Trauerfeier oder einer Hochzeit.

Ein Misston ist nur, dass der Kellner fünf Bier auf die Rechnung setzt, während ich sicher bin, dass es mehr als drei nicht waren, denn nach fünfen wüsste ich gar nicht mehr, wo ich nach meinem Portemonnaie tasten sollte, und ich bin auch noch nüchtern genug, um dem Burschen anzusehen, dass er nur ein Schelm ist, der halt mal auf gut Glück versucht, einen Ausländer zu behumsen. Ich reklamiere die Rechnung, und der Kerl, statt sich im Mindesten beim Bescheißenwollen ertappt zu fühlen, lächelt nur, was seine Art ist, mir seinen Respekt zu erweisen, weil ich ihn dabei erwischt habe. Es war nur ein Test; ich habe ihn bestanden, und wir verabschieden uns wie zwei Sportsleute nach einem ehrbaren Wettkampf. Kein Grund, etwas persönlich zu nehmen, oder?

Wir wandern zu Fuß weiter zur Puerta del Sol und lassen uns zu den Bahnsteigen mitschwemmen. Es ist drängelig eng dort, und als wir uns in den Waggon schieben, versuche ich schnell, freieres Land zu gewinnen. Dagmar allerdings habe ich dabei verloren; sie steht eingekesselt nahe der Tür. Plötzlich ihr Schrei. Ich blicke von meiner Lektüre hoch und sehe, wie sie einem jungen Mann ein, zwei symbolische Backpfeifen verpasst. Wie üblich begreife ich nichts. Dann kommt Dagmar zu mir und berichtet: plötzlich war ihr Portemonnaie zu ihren Füßen gelegen, und der Reißverschluss ihrer Bauchtasche stand offen. Der junge Mann musste es in dem Gedränge geschafft haben, ihr den Reißverschluss aufzuziehen und das Portemonnaie herauszuangeln. Nur sein handwerkliches Ungeschick verhinderte es, dass das Beutestück gleich sicher in seine eigene Tasche glitt. Beweise, dass er es war, gibt es keine, und für eine diesbezügliche Debatte fehlt ihm auch die Zeit, denn er muss zufälligerweise gleich an der nächsten Station aussteigen. Fast sollte man ihn bedauern; jetzt muss der arme Kerl wieder zur Sol (Gehen Sie auf Los zurück, ziehen Sie keine viertausend Dollar ein), um dort im Gedränge neue Beute auszuspähen.

Am Ausgang der Metrostation Canillejas steht der selbe schwarze junge Mann, der schon im letzten Jahr dort versuchte, seine Feuerzeuge zu verkaufen. Es scheint ihm nicht gut zu gehen, denn er drückt sich einen roten Lappen ins Gesicht, von dem ich im Vorübergehen nicht erkennen kann, ob er nur als Taschentuch für eine verschnupfte Nase dient, als Maske, zum Abtupfen von Blut oder als Tuch, aus dem er Lösungsmittel schnüffelt. (Man kann nur hoffen, dass seine Kundschaft dann nicht in seiner Nähe prüft, ob das Feuerzeug auch funktioniert.)

Wir hatten uns vorgenommen, die Stadt diesmal in einem weiteren Radius zu erkunden als im letzten Jahr, aber im Prado gibt es eine große Ausstellung anläßlich des 500. Todestags von El Bosco, und so zieht es uns doch wieder ins Zentrum.

Der gestrenge Philipp II., der nach dem Tod Karls V. das riesige Habsburgerreich regierte, ließ alles, dessen er von diesem Maler irgend habhaft werden konnte, aufkaufen, um seinen düsteren Escorial damit - nicht zu schmücken, denn Schmuck und Augenlust wäre verwerflich und nichts als Sünde - sondern zu bestücken. So viele Werke des Flamen sind in Spanien versammelt, dass man ihm sogar seinen eigentlichen Namens Jheronimus Bosch beraubt hat und ihn einfach El Bosco nannte, als stamme er aus irgendeinem Weiler in der Mancha.

Der Publikumsandrang ist gewaltig, und da wir nicht drei Stunden in der Schlange vor den Kassen zubringen wollen, nutzen wir die Gelegenheit, noch einmal die ständige Sammlung des Prado anzusehen.

Viele der Haupt- und Prachtstücke des Prado sind mir noch so präsent, dass ich mich diesmal damit begnügen kann, sie wie alte Bekannte mit einem lässigen Nicken zu grüßen und dann vorüberzugehen. Bei manchen wie Velazques oder Tintoretto bleibe ich zwar dennoch hängen, um einen kleinen Plausch mit ihnen zu führen, und auch mit Rubens, der mir so lange zuwider war, vertiefe ich die Bekanntschaft. An anderen aber eile ich vorbei, bis mich irgendetwas unversehens in seinen Bann schlägt, diesmal etwa ein Zurbaran, auf dem ein Maler mit einer leuchtenden Palette voll Zinnoberrot, grellem Orange und sattem Hellgrün vor einem vollkommen scheelen Kruzifixus steht, und ich nicht weiß, ob dieser Kontrast das notwendige Versagen der eitlen Malerkunst vor dem Leiden Christi zum Ausdruck bringen soll oder den Stolz des Meisters, selbst mit grellen Farben ein so bestürzend trübes Bild zuwege zu bringen.

Da ist ein Carracci, der die Venus angesichts des herantretenden Adonis in so duftigem Inkarnat malt, dass man die immanente Gewalt der Szene leicht übersieht - den ins Leere gehenden Blick der Venus und ihr Zurückweichen vor dem Jüngling, der mit Tierfellen behängt ist und seine Hunde mit sich führt. Das ist keine Romanze, sondern der Moment vor einer Vergewaltigung. Venus ist eine Beute, ein nackter Bissen, der gleich verzehrt werden wird. Der kleine Cupido, den die Göttin im Arm hält, hat ihr mit seinem Pfeil bereits eine Wunde auf der Brust beigebracht, wie ein Koch, der mit einem Anritzen prüft, ob das Fleisch schon gar ist. Carracci wird es kaum so gemeint haben; aber Venus ähnelt stark einer jungen Frau, die man zur Arbeit in einem Bordell gezwungen hat.

Strozzi schildert die Szene, als der biblische Tobias die Blindheit seines Vaters heilte, indem er ihm Fischgalle in die Augen träufelte: das Bild ist ein Fest der Feinmalerei, die alle Runzeln und Krinkel alter Haut präzis abbildet; doch zu den Rändern hin verläuft das Gemälde in Unschärfe, als wolle es die Trübung der väterlichen Netzhaut nicht ganz vergessen lassen.

Ich vertiefe mich in Hans Baldung Griens Grazien und seine grausigen drei Lebensalter (Jungfer, altes Weib, Tod), in die Tiepolos, entdecke Antonia Mora und van Dyck als ernste und bittere Porträtisten, und Fortuny, mir bislang nur als der Mann bekannt, der die Roben für Prousts Albertine entworfen hat, der aber auch mit grob impressionistischem Strich die schrundigen Leiber alter Männer skizzieren konnte. 

In den großen Museen kommt manches immer zu kurz: man hält sich an den berühmtem Bildern aus Renaissance und Barock auf, und je näher man der Gegenwart kommt, desto mehr packt einen die Erschöpfung. Man sollte es manchmal andersherum machen und mit frischem Geist gleich zu den späten und weniger bekannten Gemälden der Sammlung laufen, statt sich ochsenbrav und mit gefügigem Rindviehgemüt durch die davor aufgehäuften kanonischen Gebirge zu pflügen.

Es ist früher Abend, als wir den Prado verlassen. Eine gute Zeit, in der Casa Toni einzukehren und über das Lammbries, die Schweineohren und die Nierchen herzufallen. Goyas Saturno devorando a un hijo hat uns Appetit gemacht.


Sonntag. Wir sind früh bei El Bosco, aber wir sind beileibe nicht die einzigen, die auf die Idee gekommen sind, dem Andrang zuvorzukommen. Wahrscheinlich sind hier alle nur darum so früh da, um dem Andrang zuvorzukommen, und das macht dann den Andrang. Gegen Mittag ist hier vermutlich kein Mensch (und auch wir kaufen jetzt nur die Karten, um nachmittags zum festgesetzen Zeitpunkt wiederzukommen, denn mittags wollen wir lieber essen gehen). 

Jetzt aber böte die Menschenschlange genug Personal, um mit ihr das Figurengewimmel von Boschs Garten der Lüste nachzustellen. Es steht allerdings zu vermuten, dass nur wenige der Wartenden bereit wären, nackt auf Schweinen oder Einhörnern oder Straußen im Kreis herumzureiten oder sich einen Schnepfenschnabel oder ein Büschel Blumen ins Rektum stecken zu lassen. Dabei wären diese Dinge, die auf der lichtgrünen Mitteltafel des Triptychons geschildert sind, noch verhältnismäßig zahm im Vergleich zu den Aufgaben auf dem rechten Flügel, der den Höllenstrafen gewidmet ist. Da glüht es in schwarzen Häusern, sündige Seelen schwimmen zu Hunderten in Bleiseen; Messer und Harfendrähte schneiden durch gequälte Leiber; Dudelsacktröten stülpen sich als blökende Schalltrichter über das Haupt eines Mannes, ein Dutzend Bestien, halb Windhund, halb Tapir, frisst einen niedergestreckten Ritter; ein Vogel, der auf einem Sessel thront, verschlingt einen nackten menschlichen Körper, der aussieht wie der beulig verdickte Rüssel dieses Vogelmonstrums. Frauen werden vergewaltigt, befingert von schwarzen Krallen, während Kröten ihre Brust hinaufkriechen. Ein Schwein im Nonnenhabit drückt seine säuische Schnauze einem nackten Mann ans Ohr, ein anderer Mann kotzt eine braune Brühe in einen Schacht, in den zugleich ein grauer Arsch Dublonen kackt. Ein Messer ragt zwischen zwei Ohren auf wie eine silberne Erektion aus einem Hodensack; Skelettfragmente und abgeschnittene Gliedmaßen, die von Haken baumeln, aufgespießtes und von Vögeln benagtes Fleisch zwischen allen Arten von Musikinstrumenten, Harfen, Trommeln, Lauten: Bosch hat es offenbar darauf abgesehen, die Musik als eminente Form der Sündhaftigkeit zu diffamieren, als eine Sinnenlust, die noch verwerflicher ist als die Würfel und Trictrac-Bretter, die am unteren Rand des Bildes verteilt sind.

Boschs religiöse Rigidität und Sündenbesessenheit sticht auf jedem Quadratzentimeter dieser Bilder ins Auge. Jeder noch so winzige Krakel ist ein Kommentar, eine Warnung, eine Klage angesichts der menschlichen Verworfenheit.

Heute neigt man dazu, in diesen Bildern vor allem die beinahe surrealistische Erfindungskraft und überbordende Phantasie des Malers zu bewundern, aber dabei wird nur zu leicht übersehen, dass diese Phantasie um das Jahr 1500 vor allem im Dienst einer fanatischen Sittenstrenge stand. Jede einzelne Szene dieser Bilder stellt ein Exempel von Fehlverhalten und sündigem Tun oder dessen Bestrafung dar, und wenn er keine Bilder gemalt hätte, wäre vielleicht ein geifernder Prediger aus Bosch geworden. Dass er aber Bilder gemalt hat, und dass er solche Bilder gemalt hat, macht die Sache pikant. Denn verfällt seine launige und sich an grotesken Skurrilitäten so hingebungsvoll delektierende Malweise nicht grade jener Sinnenlust, die er als Moralmaler eigentlich schmäht? Musik, Tanz, Wollust, Spiel, Völlerei - all diese Dinge aus dem Katalog der Laster und Sünden finden sich als konstitutive Elemente in seinem Schaffen. Denn tanzt sein Pinsel nicht lustvoll über die Leinwand? Spielt er nicht in Rhythmus und Melodie grausige Folterritornelle und düstre Fugen? Ist die Figurenmenge und ihre opulente Anordnung nicht schiere Völlerei, ein überladenes Büffet der Qualen? 

Bosch predigt Wasser, doch selber säuft er Wein. Das schmälert nicht meine Bewunderung für ihn; es verstärkt nur meine Abneigung gegen die Bigotterie von Puritanismus und Asketentum - und vielleicht ist Boschs Malerei, wiewohl explitice eine puritanische Predigt, implicite die entschiedenste Widerrede gegen ebensolche. 

Nicht, dass ich solche Einreden nötig hätte. Ich bin den Lastern zu tief verfallen, als dass mich ein flämisches penitenzia agite (zumal ein so selbstwidersprüchliches) noch zur Umkehr bewegen könnte.

Nachdem wir die Eintrittskarten gekauft hatten, die unseren Zugang exakt auf 15 Uhr 20 bis 15 Uhr 40 terminieren, wanderten wir zum Rastro, um einmal mehr in der Cerveceria Cruz einzukehren. 

Schon am ersten Tag in Madrid, vor dem Besuch bei der Königin Sofia, waren wir dort gewesen. Raul - oder wie ich ihn lieber und passender nenne, Long John Silver - stand wie schon letztes Jahr hinter der Theke und begrüßte uns mit seinem sonoren "Hi guys, how are you?", als seien wir erst gestern seine Gäste gewesen. Erinnerte er sich wirklich an uns, oder war das nur eine schmeichlerische Masche? Aber als er uns auf den Kopf zusagte: una caña por el señor, un blanco por la señora, wollte ich fast glauben, dass er in seinem Wirtsgedächtnis unsere beiden strahlenden Gesichter aufbewahrt hatte, und auch die Euphorie, mit der wir Teller um Teller und ein Glas nach dem anderen geleert hatten. Die caña stand auf dem Tresen, noch bevor ich mir auch nur die Lippen lecken konnte, und ich fühlte mich sofort heimisch, von Mann zu Mann verstanden. 

Long John wurde bald unter Deck gebraucht, und ein Baum von Mann übernahm den Dienst am Zapfhahn, so stumm und ortsfest wie eine Eiche. Soweit ich es beurteilen konnte, tat er keinen Schritt; ihm genügte es vollauf, seinen Schwerpunkt zu verlagern, wenn er nach Gläsern langte oder seinen Spülkorb befüllte; sein Armradius reichte dafür bequem aus.

Wir verzogen uns in eine ruhige Ecke und betrachteten die anderen Gäste. Da war ein Mann, Typus Klerikalbeamter, der trotz der Hitze einen grauen Wollpullunder trug; ein Mittdreißiger mit einem Kindergesichtchen, der sich zur Vertuschung dieser Physiognomie buschige Koteletten, einen Henri IV-Bart und einen wallenden Pferdeschwanz hatte wachsen lassen. Eine ganze Menge von Metall - an den Ohren, den Augenbrauen, Lippen, Fingern, Handgelenken - sollte dafür sorgen, dass seine teigige Visage etwas Stand gewann, aber das haf alles nichts, er war zum Babyface verdammt, und die martialische Vernietung sah nur so aus, als hätte man einen Hefekloß in Schrotsplittern gewälzt.

Handwerker in Latzhose und Bürohengste im Anzug mit ziemlich identischen Trinksitten (schnell und viel), und ein grämlicher Kerl um die vierzig, der wortlos eintrat und ungefragt ein Brandyglas vollgeschenkt bekam. Ein Mann, der am Tresen seine Zeitung las und ab und an unwillig schnaubte; aber nach einer Weile war ich mir nicht mehr sicher, ob er wegen der Ärgernisse schnaubte, von denen er las, oder ob er damit dem Mann am Zapfhahn das Signal gab, ein weiteres Bier zu liefern; wahrscheinlich spielten die Gründe ineinander.

Die Persillade, die über Schwert- und Jakobsmuscheln gegeben wurde, hatte die dumpfen und muffigen Bitternoten unfrischer Kräuter. Man brauchte die Reste der Woche auf.


Als wir dann aber am Sonntag wiederkommen, dem Großkampftag des Lokals, ist alles tiptop, Persillade und Muscheln sind ohne Fehl und Tadel, und auch am festlichen Lärmpegel gibt es nichts zu bemängeln. Es ist laut, orgiastisch, voller Stimmengewirr und Gelächter. Gläserklirren und scheppernde Teller mischen sich mit der Musik, die vom Flohmarkt hereindringt, und über all dem liegt Long Johns Stentorstimme, die Bestellungen weitergibt, neue Gäste willkommen heißt, lautstark zwei Mädchen seines Mitleids versichert, weil sie Amerikanerinnen sind, und auch ein paar Engländern schon jetzt Trost wegen ihres baldigen Ausscheidens aus der Fußball-Europameisterschaft zuspricht. 

Am Vortag konnte England gegen Russland ein wenig rühmliches Unentschieden nicht vermeiden, und die russischen Fans hatten die englischen skandalös vermöbelt. Als die drei jungen Burschen Long Johns Stichelei kontern: "We fuckin' plunged your fuckin' armada, und we'll fuckin' knock the stuffing out of your squadra azurra", grinst Long John nur. "Beat the Italians, as much you want. Come on, have a beer. First round is on the house."

Ob El Bosco der Betrieb hier wohl gefallen hätte? Männer, die gierig Schwertmuscheln hinunterschlingen und schon den nächsten Teller zamburiñas ordern. Frauen, die eng umschlungen am Rand des Tresens stehen und sich in offenbare Geilheit hineinknutschen. Zwei Weiber - die, wenn sie nicht Nutten sind, jedenfalls so aussehen - teilen sich einen Sardinenteller und schlitzen die Fischbäuche mit langen Fingernägeln auf, pflücken die Perlschnüre des Rückgrats heraus und schieben sich dann die Fischhälften zwischen die Lippen. Ein Herr im Sommeranzug, dem die Überheblichkeit ins Gesicht geschrieben steht, schnippt nur mit den Fingern, um sein Bier zu bestellen; sich durch den Pöbel bis zum Tresen durchzudrängeln, scheint ihm unter seiner Würde. Einer reklamiert die Rechnung, weil ein Bier zuviel darauf steht, fuchtelt mit seiner dicken, siegelberingten Hand vor dem stoischen Bierzapfer herum, der nur mit den Achseln zuckt. Draußen geraten zwei junge Männer aneinander und sind nah an einer Prügelei, und die Umstehenden sind zu träge, auch nur irgendwas zur Besänftigung des Streits zu unternehmen. 

Später, als wir uns im Prado über die Tafel von Boschs Sieben Todsünden beugen, denke ich plötzlich an dieses große Brouhaha zurück (manche Szene ähnelt sich), und ich begreife, dass wir in einem brodelnden Sündenpfuhl zu Mittag gespeist haben.

Wir haben es sehr genossen.


Alcalá de Henares, Frega


Tags drauf brechen wir auf. Mehr als zwei Monate sind wir jetzt unterwegs. Es ist genug.

Wir machen Station in Alcalá de Henares, der Geburtsstadt des Cervantes. Der Borgia-Papst Alexander hat hier um 1500 die Universität gegründet, in der Calderon, Lope de Vega, Quevedo studierten. Heute hat die im 19. Jahrhundert nach Madrid verlegte und mittlerweile in Teilen wieder zurückverlagerte Hochschule wieder genug Fakultäten, um dem Städtchen ein wenig studentisches Flair zu verleihen. Wir kehren zu Mittag in einem Studentenrestaurant ein, sitzen dort zwischen Bücherregalen und essen von der kalten Melonensuppe bis zu den Schweinerippchen mit Kürbiscreme vorzüglich. Die Ausgangsprodukte sind nicht teuer, aber die kulinarische Intelligenz des Kochs sorgt dafür, dass auch aus einfachen Zutaten keine plumpen Abspeisungen fabriziert werden, sondern - wie es einer Universitätsstadt ziemt - Geschmacksmixturen, die eine gewisse innere Komplexität und Balance halten, vielleicht jener vergleichbar, die aus Sancho Pansa und seinem Herrn (diesem schlichten Gegensatzpaar aus hochmögendem Phantasten und bodenständigem Bauern) ein recht austariertes und vieltöniges Mischungsverhältnis von Weisheit und Simpeltum gemacht hat. Sind auf diesem Teller nicht ebenso Süße und Herbheit vereint, Trockenheit und Saft, Bitternis und Schmelz wie in jedem der beiden Cervantes-Helden? Da ist die Frische von den Tröpfchen Pedro-Ximenes-Essig, die ebenso leichthin über den Kürbis gesprenkelt sind wie Sancho seine Reden mit spöttischen Spitzen zu säuern und wie der Hidalgo mit seinen erhabenen Ansprachen die Ödnis der Mancha zu beleben pflegte. Da ist die knackige Kernigkeit der gehackten und dem Püree untergehoben Mandeln, ein Krokant in der süffigen Creme - kann man sie mit der Sprichwörterweisheit Sanchos vergleichen, die in dessen scheinbar bloß bieder-behaglichen Sermon wie stabile Erzklumpen eingelagert sind? Oder sollte man sie mit der zähen Widerstandskraft und dem kräftigen moralischen Rückgrat Quijotes in Verbindung bringen, das sich nicht im faden Brei des Alltagslebens widerstandslos auflösen lassen wollte?

Aber ich will mich hier nicht in einer metaphernbastlerischen Cervantes-Philologie verlieren. Vielleicht genügt es zu sagen, dass seine Helden - nicht anders als ein gut konzipierter Teller zu Mittag - immer wieder ausreichend Überraschungen und Gegensätze enthalten, langsame Enthüllungen, brüske Perspektivwechsel und verblüffende Entpuppungen - man denke nur an Sanchos souveräne Klugheit und seinen Gerechtigkeitssinn bei der Verwaltung seiner Insel - um darin, nicht anders als mittels der paar eingestreuten roten Pfefferkörner und dem halben Löffel grob geschnittener Kapernäpfel im Kürbis die Sache in ein immer wieder neues Licht zu rücken.

Der Weg, den Don Quijote im zweiten Buch nimmt, ist so ungefähr auch der unsere. Wir halten auf Zaragoza zu, durch die Steppe um Guadalajra, bis sich zu beiden Seiten der Autobahn grüne, sanft gerundete Hügelkuppen erheben, die ein wenig traumverloren wirken, als hätte ein Riese hier überall seine Kissen und Polster verstreut, um mit seinen Kumpanen darauf zu ruhen und einen gemütlichen Schwatz zu halten. 

Dann große Tafelberge, manchmal wie Urwelttiere, manchmal in Rosa und Rost wie die Überreste vorzeitlicher Titanenpaläste. Die Landschaft sieht oft zerschunden aus wie ein paläontologisches Ruinenfeld oder ein gigantischer Elefantenfriedhof. Bergkadaver säumen die Strecke, verendet auf ihrem Zug nach Norden.

Um Zaragoza dann Maisfelder, die im Abendlicht von Sprengern gewässert werden. Im Vorüberfahren sehen wir das Regenbogenflimmern der Sprengschleier aufleuchten, doch dieser spektrale Zauber wird schnell schal angesichts der Dürre, die dahinter liegt. Welchem Wassermangel presst man wohl diese Beregnung ab? In dieser dürren und versteppten Region erregen die Fontänen nicht das beinah euphorische Wohlgefallen, das mich in den wasserreichen Gegenden Frankreichs oder Deutschlands überkommt, wenn abends die Felder befeuchtet werden. Hier ist das Bewässern nicht Ausdruck einer generösen und glänzenden Fürsorge für die Pflanzungen aus vorhandener Fülle heraus, sondern zeugt nur von schamloser und vampirhafter Ausbeutung. Die Bauern schmarotzen an den knappen Ressourcen, und zapfen Lebensadern an, die schon in der nächsten Generation erschöpft sein könnten.

Seit Alcalá geht mir unentwegt der Don Quijote im Sinn herum. Der Herzog und seine Gemahlin, die den Hidalgo und seinen Knappen im zweiten Buch so sehr zu ihren Hofnarren gemacht haben, auf deren Kosten sich die Hochwohlgeborenen amüsierten, residierten wohl ungefähr in dieser Gegend, wo jetzt die Sprenger ihre farbflimmernden Muster in die Luft malen. Eine vergnügungssüchtige und verantwortungslose Hofgesellschaft trieb damals ihre Späße mit zwei Clowns, um ihren Hunger nach Divertissement zu befriedigen. Die Gespenster des Adels von ehedem wehen immer noch über die Felder; in Gelb und Indigo und dem türkisen Farbverlauf einer prunkvollen Robe glitzern prismatisch aufgefächerte Tröpfchen; die Ballkleider und Brillantencolliers eines zynischen ancien régime haben heute ihr geisterhaftes Nachleben im Verprassen der Wasserresourcen und in der rücksichtslosen Auspressung der Lebensgrundlagen. 

Wir übernachten in Fraga neben den Resten des hochgelegenen Castells. Im Cinca-Tal unter uns schimmern dörfliche Sternhaufen und die Orbitalbahnen der Straßen; am Himmel blinken Flugzeuge zwischen Orion und Großem Wagen. Satelliten gleiten als Lichtpünktchen hindurch. 


Katalonien


Wir sind früh auf. Mag sein, dass der Tau der Vormittagsstunden den Eindruck noch schönt, doch auch ohne Tau würde man wohl den Übergang von den trockenen Steppen Kastiliens zu den saftigeren Fluren der Katalanen nicht übersehen. Wie schon im letzten Jahr spüre ich sehr stark den Unterschied, der Spanien und seine so auf Eigenständigkeit drängende Provinz trennt. Vor allem der katalanische Reigentanz der Sardana - einvernehmlich, gesellig, kollektiv, ganz bürgerliche Kooperation - hat mir vor einem Jahr die Augen für die Differenz der Mentalitäten geöffnet, die zwischen dem Flamenco trampelnden Andalusier und dem behutsameren Volk der Sardanistas besteht. 

Ich komme mir manchmal ja ein bisschen vor wie Montesquieu. Der Mann, der in seinem Buch über den Geist der Gesetze die moderne Auffassung der Gewaltenteilung maßgeblich prägte, hat im selben Werk auch einige ziemlich krude Thesen über Klima, Volksseele und Gesellschaftsordnung aufgestellt, die mir eigentlich zur Warnung vor der Versuchung dienen sollten, allzu hoppladihopp völkerpsychologische Idiotien zu äußern. Im XIV. Buch des Geists der Gesetze schrieb der Baron etwa, dass kalte Luft die Außenfasern menschlicher Körper zusammenzöge, wodurch sich ihre Spannkraft erhöhe, während die laue Luft des Südens die Kraft der Fasern verringere. Darum seien die Menschen des Nordens stärker und ihrer selbst sicherer. Misstrauen, Berechnung und Hinterlist hätten sie gar nicht nötig, während der schlaffe und kraftlose Südländer sich zwangsläufig dieser heimtückischen Mittel bedienen müsse. "Die Völker der heißen Länder sind ängstlich wie Greise." Andererseits hätten diese Völker ein lockereres Hautgewebe, sodass die Nervenenden weit feinfühliger seien als die des borkigen Nordmanns, der deshalb auch für Vergnügungen - die ja allesamt Einbildungskraft, Sensibilität und Lebhaftigkeit erfordern - wenig empfänglich sei, während das erhitzte Blut des Südländers, immerzu in Wallung, beständig köchele, vor allem in geschlechtlicher Begierde, während er zu fleißiger Arbeit nicht imstande; seine schlaffen Fasern und die flüssigere Lymphe verdammten ihn zu ewiger Trägheit.

Wenn man heute solche Passagen liest, fühlt man einerseits nur wenig Neigung, sich mit völkerpsychologischen Thesen zum Deppen zu machen. Andererseits lockern bei Montesquieu diese Stellen den bisweilen spröden Ton durch ihre unfreiwillige Komik auf, und das hat doch auch was für sich. Was spricht schon dagegen, sich zum Deppen zu machen, wenn man einen Leser damit erheitert? (Und eins möchte ich versichern: mein Meckern und mein Spott entspringt keinesfalls einem Chauvinismus, der von der Höherrangigkeit der Deutschen ausgeht. Sollte ich einmal ausgiebig durch Deutschland reisen, werde ich in der Jackentasche Hölderlins Hyperion mit seiner berühmten Scheltrede gegen die Deutschen tragen („Barbaren von alters her!“) und nach allen Seiten Geifer auf meine eigene Nation spritzen. Wenn es darum geht, gegen Zersiedlung und Landschaftsverschandelung die Fäuste zu heben, sind die Portugiesen ohnehin nur leichtgewichtige Sparringspartner, die grade mal gut zum Warmmachen sind. Den Hauptkampf, den schweren Brocken im Ring - den stellt Deutschland.) 

Doch zurück nach Katalonien! Gegen die öden Steppen Kastiliens, die knochig abgeschilferten Bergrücken und rauhen Hügelgrate, kommt uns Katalonien nun nahezu gartenhaft, gehegt und gepflegt vor. Die kastilische Präirie evoziert einen Viehhüter, der mit struppigem Bart und verfilzten Haaren durch den Staub wandert: in Katalonien ist der Bursche gewaschen und gekämmt, und er sieht zu, dass er wenigstens am Sonntag einen manierlichen Anzug anhat.

Auch die Hügel, die jetzt unseren Weg säumen, sind nun keine Bergkadaver oder fossilierte Urweltmonstren mehr, verreckt vor Jahrmillionen und auf dem Knochenacker der Zeiten liegengelassen. Die Landschaft wird sanfter, wohnlicher. 

Nur ein Monument ragt noch als markantes Relikt einer mythischen Vorzeit auf: der Montserrat, jener gesägte Berg, der sich mit seiner Wirbelsäule von spitzen Höckern wie das Gerippe einer Riesenechse über dem Hinterland Barcelonas erhebt: ein Drache, im Kampf gegen den katalanischen Schutzheiligen und Drachentöter Sant Jordi verblutet.

Dort oben habe ich, vor nunmehr zwei Monaten, ein paar Liter Elend ausgekotzt. Mit dem Sud aus schwarzer Galle habe ich mein Tintenfass gefüllt. Nun ist es aufgebraucht.


Irgendwo vor Girona nehmen wir, bislang noch ohne Frühstück, einen Imbiss in einem Dorf abseits der Autobahn. Es gibt hamburguesas mit ganz leicht angebratenem Pata Negra-Schinken, geschmolzenem Cabrales und einem Zwiebelconfit, das mit Muscovadozucker und Pedro Ximenes-Essig eingekocht wurde. Die Bar wird von einem jungen Paar betrieben; er steht hinter der Theke, sie am Herd. Während wir auf den Burger warten, plaudern wir ein wenig, und der Wirt gießt uns zwei Gläschen Port ein; es sei zwar noch kaum Mittag, aber zu diesem Gericht gäbe es nichts Besseres, wir würden schon sehen.


Wenn wir auf unserem Heimweg in Ladenburg vorbeikommen sollten, spreche ich ein Wörtchen mit dem Koch.

Nach Hause!