Ganova, jene blumenreiche und sonnenverwöhnte Perle Sklavonisiens [1] (die Fußnoten finden sich am Ende des Textes, sind allerdings auch nicht weiter von Interesse), ist auch heute noch eine Reise wert, obschon die Tage der größten Prachtentfaltung dieser Metropole seit der seligen Regentschaft Ferdinands des Dubiosen zweifellos vorüber sind. Doch birgt die Stadt - jenes Venedig der Marodisischen Ebene, wie sie trotz des Fehlens jeglicher Ähnlichkeit mit der Serenissma von ihren Bewunderern genannt wird - immer noch eine solche Fülle von Reizen, dass auch der verwöhnteste Weltenbummler ihrem Zauber unweigerlich erliegen wird. Wir wollen in diesem kleinen Kompendium alle Informationen zur Verfügung stellen, die uns für den Fall, dass man sich einer Reise nach Sklavonisien unterfangen sollte, unabdingbar scheinen. Natürlich zielt unser Ehrgeiz darauf, alle irgend relevanten Informationen darzubieten. Wir werden unserer Aufgabe dann vollkommen gerecht geworden sein, wenn der Reisende es nach der Lektüre dieser Handreichung nicht mehr für nötig hält, das Frachtflugzeug nach Ganova zu besteigen, sondern sich damit begnügt, sich diese Reise vorzustellen.
Anreise
Es empfiehlt sich nicht, mit der Eisenbahn nach Ganova zu reisen. Zuviele Unwägbarkeiten verzögern die Fahrt: die leidigen Streitigkeiten mit den Fahrkartenkontrolleuren wegen der Fahrkarten, deren Gültigkeit immerzu angezweifelt wird, mögen naive Gemüter amüsieren; für einen jeden, dessen Zeit knapp bemessen ist, sind Dispute mit den notorisch unterbezahlten und misslaunigen Bediensteten eher lästig. Wenn Sie zu den seltenen Reisenden gehören, die von Blamuela aus nach Sklavonisien wollen und es geschafft haben, in den langsam am Bahnsteig von Blamograč dahinrollenden Zug zu springen (auf Grund einiger strittiger Fragen zwischen den beiden Staaten haben findige Diplomaten den Kompromiss ausgetüftelt, auf einen Zughalt in Blamograč zu verzichten, seine Durchfahrt aber so zu verlangsamen, dass es selbst den greisen blamuelischen Bauernfrauen mit ihren Käfigen voller Aras und Meerschweinchen gelingt, den Zug zu besteigen): lassen Sie sich auf keinen Fall, wenn Sie einmal Platz genommen haben, vom Schaffner ein Getränk aufschwatzen, vor allem kein alkoholisches. Blamuela hat die weltweit höchste Rate an methanolbedingten Erblindungen, was vor einigen Jahren im Staatsradio auf eine Weise herausposaunt wurde, als dürfe das Land sich tatsächlich stolz in die Brust werfen ob dieser Vorrangstellung. Wir empfehlen, die Finger vom blamuelischem Hagebuttenschnaps zu lassen; Ihr Augenlicht wird ihnen diese Zurückhaltung danken. Wenn Sie psychisch nicht über die Statur verfügen, den bisweilen sehr robust und bestimmend auftretenden Schaffnern Widerstand zu leisten, kaufen Sie getrost eine der Ihnen angetragenen Büchsen und gießen deren Inhalt dann einfach diskret auf den Abteilboden. Die durchgerosteten Bleche bieten genug Abflussmöglichkeiten für den Fusel, der - ein willkommener Nebeneffekt - auch einen wichtigen Beitrag für die Entkrautung des Schienenbetts leistet.
Wenn Sie irgend die Möglichkeit haben sollten, Ganova per Flugzeug zu erreichen, nutzen Sie dieses Transportmittel. Verwöhnte habitués rümpfen erfahrungsgemäß die Nase, wenn sie der Landebahn des Flughafens ansichtig werden. Weniger pingelige Reisende empfinden die Herden, die auf den Flächen grasen, durchaus als Bereicherung. Meistens sind die Dromedare, die hier ihre Jause halten, auch flink genug, einem aufsetzendem und ausrollendem Flugzeug auszuweichen. Schafe sind zumeist begriffsstutziger; hier kommt es regelmäßig zu Personenschäden. [2] Doch wenn das Flugzeug einmal gelandet sein sollte, ohne eine Schar wehklagender Mutterschafe niedergemäht zu haben, kommt nur weniges dem Eindruck gleich, den die Begrüßung durch die einheimische Bevölkerung auf den Reisenden macht. Der Aufwand, den die sklavonische Regierung betreibt, um Landesgäste willkommen zu heissen, ist fabelhaft. In den Baracken am Rande des Flugfelds wird beständig eine dreizügige Kompanie von Jubelweibern gehalten, die mit ihren farbenfrohen Trachten und abwechslungsreichen Zahnstellungen jederzeit bereitstehen, die Ankunft des Reisenden gebührend zu bejubeln.
• TIPP • Versäumen Sie nicht, diesen Jubelchören ihre Mühe großzügig zu entgelten. Es ist zu Ihrem eigenen Besten, sich das Wohlwollen dieser Gruppen zu erhalten. Die meisten der Jubilantinnen verfügen über eine jahrzehntelange Berufspraxis als Klageweiber und sind imstande, von einer Sekunde auf die andere von Jubel auf Jaulen umzuschalten. Wir raten, wenn Sie nicht über eine gewisse seelische Stabilität und Robustheit verfügen, davon ab, dieses Jaulen zu provozieren. [3]
Der Weg des Reisenden führt nach Landung und Begrüßung zur Gepäckausgabe. Uns ist auf der ganzen weiten Welt kein Flughafen bekannt, der es an komfortabler Möblierung dieses ansonsten so karg und funktional gehaltenen Raums mit dem von Ganova aufnehmen könnte. Weich gepolsterte Sessel und Diwane stehen bereit, den Reisenden zu umfangen. Samoware stoßen von Zeit zu Zeit sanfte Dampfwolken aus. Wasserpfeifen glucksen behaglich. Schwere, süßliche Düfte fluten in träumerischen Schwaden vor den Wandteppichen dahin, und hie und da zieht auch ein einsamer Koffer seine Runde auf der Schleife des Fließbands. Die wartenden Reisenden pflegen den Koffer kurz zu mustern, nur um festzustellen, dass es nicht der ihre ist. Da dieser Koffer indes der einzige ist, der hier unverdrossen seine Runden zieht, greift fast in jeder wartenden Gruppe irgendwann en armer Teufel nach diesem Gepäckstück, das er bei dessen ersten Runden noch verschmähte. Das ist insofern verständlich, als selbst dem indolentesten Passagier irgendwann aufgeht, dass sein Gepäck nicht durch diese Luke kommen wird; dennoch müssen wir vor einem solchen Versuch, sich schadlos zu halten, nachdrücklich warnen. Die sklavonischen Behörden überprüfen anhand der Inhaltsaufstellung, die vor seiner Verschickung nach Sklavonisien von jedem Koffer gemacht werden muss, ob dieser Koffer in der Tat Eigentum dessen ist, der ihn sich so leichthin anzueignen versucht hat, und verfahren im Fall ungerechtfertiger Aneignung mit unnachgiebiger Strenge, vor allem, wenn im Lauf des Verhörs der Bezichtigte dann auch noch Anschuldigungen zu erheben sich erdreistet, die darauf zielen, die Rechtschaffenheit der sklavonischen Behörden in Zweifel zu ziehen. Halten Sie besser einfach die Klappe.
Die internationale Meinung hat sich verschworen, Sklavonisien für etwas rückständig zu halten. Dieser Eindruck trügt allerdings bisweilen. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass allein im Fluggepäcksektor um die neunzig Prozent der beförderten Stücke verloren gehen. Das ist eine Quote, die zu Besorgnis Anlass geben könnte. Andererseits liegt die Quote der glücklich ersetzten Gepäckstücke bei nahezu 98 Prozent, was in gewisser Hinsicht acht Prozent mehr Glück als Unglück ergibt, was beileibe nicht jeder Flughafen von sich behaupten kann. Die Ladenzeilen des ganovanischen Flughafens - das soll hier nicht beschönigt werden - können an Mondänität und Strahlkraft nicht mit den Schaufensterauslagen der großen Airports von Mailand, Paris oder London konkurrieren. Doch sind Vielreisende ohnedies des luxurierenden Angebots in diesen Metropolen überdrüssig und freuen sich allemal mehr über die passgenaue Ersetzung verloren geglaubten Gutes als über irgendein neues Sakko oder anderen glamourösen Schnickschnack, wie er in westlichen Flughäfen feilgeboten wird. Da mögen die Auslagen der Flughafen-Shops Europas noch so herrlich dekoriert sein - in puncto Kundennähe und Bedarfsadäquatheit ist die sklavonische Praxis, jeden eingeführten Koffer schon vor dem Abflug zu inventarisieren und für den Fall der Fälle exakte Repliken des verlustgefährdeten Guts bereitzustellen, dem so beliebig zusammengestellten Sortiment der okzidentalen Geschäfte weit voraus. In Sklavonisien hat noch jeder Passagier exakt einen solchen Koffer zu moderatem Preis erstehen können, wie er auf dem Flug verlorengegangen ist.
Da die Freude über verloren geglaubtes, doch dann so glücklich ersetztes Gut größer ist als über irgendein neu erworbenes, verlassen die Reisenden das Flughafengebäude meist in großer Heiterkeit. Der Anblick Ganovas, das sich vor dem frisch Angekommenen ausbreitet, bedarf allerdings keiner Verklärung durch eine besonders euphorische Stimmung; er ist für sich allein genommen bereits erhebend.
Ein erster Rundblick
Nehmen Sie sich trotz der Hundekutscher, die sich um jeden Neuankömmling drängeln und ihn in ihre Kalesche zu nötigen versuchen, die Zeit, die Silhouette der Stadt zu würdigen. Der große Turm, der ihr Gesichtsfeld zur Linken abschließt, ist der sagenumwobene Schinderdorn, dessen Fundamente auf das 12. Jahrhundert zurückgehen. Byzantinische Elemente sind ebenso in ihn eingegangen wie solche der dachmarinischen Gotik und des schwarzbündner Flamboyant, und diese normalerweise einander widerstreitenden Stile sind in ihm in so vollkommener Weise verschmolzen, dass es auch ausgewiesenen Experten schwerfällt, sie überhaupt noch auszumachen. Neuere Strömungen der Stilgeschichte sprechen von dem Schinderdorn darum kurzerhand als einem Musterbeispiel des akubischen Irrationalismus, für die hier in Sklavonisien vor allem der Name des aus Argentinien eingewanderten Baumeisters Györgi Lauso Burges einsteht. Es empfiehlt sich, den Blick nicht allzu lange auf diesem eindrucksvollen, aber auch verwirrenden Gebilde ruhen zu lassen - wenn hier überhaupt von ruhen die Rede sein kann, da die waghalsigen Hyperbeln, Auskragungen, die von Stacheln starrenden Fialen und die kühn ins Freie gebauten Plateaus des Turms die meisten derer, die zum ersten Mal in Realität mit diesem Anblick konfrontiert sind, mit heftigen Schwindelgefühlen überfallen, die noch dadurch verstärkt werden, dass die Hundekutscher es an Zudringlichkeit nicht mangeln lassen und den Neuankömmling nach Kräften umherschubsen und an seinen Extremitäten zerren, um ihn in ihre Kutschen zu bugsieren. Ignorieren Sie diese Versuche und schwenken Ihren Blick nach rechts, bis die nächste große Erhebung über dem Häusermeer Ihrem Auge einen Haltepunkt bietet. Das ist die Kathedrale, die seit der sklavonischen Reformation der Heiligen Gottesnichte geweiht ist. Sie ist der spirituelle Mittelpunkt Ganovas. Von dem Punkt aus, an dem Sie stehen, zeigt sie sich in ihrer größten Pracht, einer Pracht, die zugegebenermaßen näherer Inaugenscheinnahme nicht standhält. Je näher man ihr kommt, desto weniger lässt sich ihre Schäbigkeit übersehen. Hier sind deutliche denkmalpflegerische Versäumnisse zu beklagen, die den sklavonischen Behörden jedoch einigermaßen gleichgültig sind. Die Kathedrale ähnelt von ferne der monumentalen Skulptur einer drallen sklavonischen Bäuerin: über der weiten Kuppel, deren mit bunten Ornamenten geschmückten Bepflasterung aus karnischem Klabuster den Reifröcken der hiesigen Frauentracht nachempfunden ist, erhebt sich eine beängstigend enggeschnürte Taille, die sich nach etwa fünfundzwanzig Metern Anstiegs zu einem ausladendem Balkon weitet, der im Volksmund Nichtenbusen genannt wird. In der Tat erinnert dieser Balkon stark an zwei sehr üppige Brüste, und die große Chronik des Siggmaul von Tschoi, die auf das späte vierzehnte Jahrhundert datiert wird, spricht davon, dass anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten Loddelwicks des Schlimmen aus diesen Brüsten Milch und Honigwein in armdicken Strömen auf das Volk niedergegangen waren, welches dieses freilich weniger als Spende denn als Beschuss und Beschmutzung empfunden zu haben scheint[4] Über dem Balkon erhebt sich, von einer halsartigen Verjüngung gegliedert, sodann das sogenannte Haupt der Nichte, ein kugelrundes Gebilde, dessen von zierlichem Steinflechtwerk umwickelte obere Hälfte eine Reminiszenz an die kunstvollen Dutts und Zopfknäuel der sklavonischen Jungfern darstellt.
Die wechselvolle Geschichte der Kathedrale soll ebenso wie das Interieur in der Beilage B abgehandelt werden - an dieser Stelle sei nur soviel gesagt, dass in den Jahren jener kulturrevolutionären Bestrebungen, die allgemein als "Jätejahre" bekannt geworden sind, die einst heiligen Hallen durch das Zentrale Planungskomitee okkupiert wurden, bis das Gebäude fertiggestellt war, das diese Institution seither beherbergt. Dieses Gebäude, über dem die krapplackroten Initialen dieser sklavonischen Regierungsstelle in massiven Beton gegossen prangen, versuchte seit je, mit den Ausmaßen der danebenstehenden Kathedrale zu wetteifern. Aus Kostengründen - und wohl auch in Parteinahme für einen gewissen schmucklosen Funktionalismus - verschmähten die Bauherren indes jede expressive bauliche Geste und setzten stattdessen auf eine Monumentalität, die einer gewissen Tumbheit nicht entbehrt und der es in keiner Weise gelungen ist, der Kathedrale ihre visuell beherrschende Stellung in der Stadtsilhouette streitig zu machen. Obwohl die Ordnungshüter gehalten sind, argwöhnisch auf derlei Redensarten zu lauschen, nimmt das Volk kein Blatt vor den Mund und bezeichnet die politische Machtzentrale wegen ihrer architektonischen Ähnlichkeit mit den öffentlichen Toilettenblöcken Sklavonisiens ungeniert als Bedürfnisanstalt, bzw. noch direkter als Scheisshaus. (Wozu sicherlich auch der unglückliche Zufall beiträgt, dass der Name der Behörde (sinngemäß übersetzt: sklavonisches Haus interner Transaktionen) das wenig schmeichelhafte Akronym SHIT ergibt. Da sich die Kenntnis des Englischen auch in Sklavonisien mehr und mehr verbreitet, hat der Spott über die Oberen hier ein - wenn der Ausdruck hier gestattet ist - Ventil gefunden.)
Versuchen Sie nun, sich der zunehmenden Belästigung durch die Hundekutscher zu entziehen, indem Sie einen dieser Störenfriede zu Ihrem Chauffeur erwählen. Nehmen Sie den kräftigsten und zahlen einen nicht zu knapp bemessenen Vorschuss, damit er Ihnen seine aufdringlichen Kollegen vom Leibe hält. Dann lassen Sie Ihren Blick weiter nach rechts schweifen, wo sich als nächster markanter Punkt jener Berg erhebt, der als Mount Gizeh auch international zu einiger Berühmtheit gelangt ist. Wie alte Veduten belegen, war dieser Berg noch im zwölften Jahrhundert ein schroffer Solitär von sehr unruhiger Gestalt, der von zahlreichen Spitzen gekrönt und von Spalten aufgerissen war. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte gab es immer wieder Bemühungen, die fest im Volksglauben verankerte Überzeugung, der Berg brächte Unglück, zu zerstreuen, indem man ihm eine gemessenere und ruhigere Form verlieh. So näherte sich die Kontur des Berges über die Zeiten hinweg immer mehr jener idealen Form an, die ihm schließlich den heutigen Namen eingetragen hat. Heute ist der Mount Gizeh eine Pyramide von vollkommenem Ebenmaß, und der Tag im Jahr, an dem - präzise vom Balkon der Kathedrale aus gesehen - die Bahn der aufsteigenden Sonne den Scheitelpunkt der Pyramide schneidet und gleich einem Juwel überstrahlt, gilt als der Höhepunkt im Festkalender des Volkes. (Vgl. Beilage C.) Rechts von diesem Wunder, das Natur und Kunst gemeinsam geschaffen haben, liegen die großen Parkanlagen und Seen Ganovas. Hier werden die Schwanenrennen abgehalten, die Fischerstechen, die Pokalendspiele in der dem Fremden bizarr erscheinenden Disziplin des Ziegenwerfens; auch die Höhepunkte des hiesigen Musiklebens - die Platzpatronenkonzerte unter Leitung des Generalmusikgenerals - haben hier ihren Ort, sowie das überaus beliebte Panzerschach, dem die Einwohnerschaft von den Ästen uralter Robinien aus zusieht und sich an klugen Spielzügen der Feldherren nicht minder ergötzt als an dem prächtigen Geräusch der auftreffenden Granaten und der berstenden Panzerung der schließlich niedergewalzten gegnerischen Tanks. Das Panorama ist damit schon fast durchmessen: wenn Sie nun noch den Turm ins Auge fassen, der es rechtsseitig begrenzt, haben Sie einen ersten Eindruck der markantesten Punkte der Stadtsilhouette gewonnen. Dieser Turm ist in gewisser Weise das Gegenstück zu dem Schinderdorn, mit dem der Rundblick begann. Sein Pendant zur Rechten ist das bauliche Überbleibsel einer im sechzehnten Jahrhundert ausgelöschten Sekte, deren religiöse Überzeugungen mittlerweile kaum noch rekonstruierbar sind, da im Lauf der Zeit so viele Mutmaßungen und Hypothesen das Bild dieser verfemten Glaubensgemeinschaft entstellt haben, dass es ein sinnloses Unterfangen wäre, hier noch historische Gerechtigkeit bewirken zu wollen. Heute wird der Turm gemeinhin als Saurus bezeichnet - eine Sprachregelung, die sich dem Versuch sklavonischer Paläontologen verdankt, seinen baulichen Kern auf das Knochengerüst eines mesozoischen Riesensauriers zurückzuführen. Diese Theorie entbehrt freilich jeder wissenschaftlichen Grundlage; sie wurde einzig lanciert, um mit ihrer Hilfe eine Menge von zahlungswilligen Hohlköpfen in das stets nach Devisen dürstende Sklavonisien zu locken.[5] Doch enthält diese hinausposaunte Lüge auch ein winziges, wenngleich entstelltes, Körnchen Wahrheit. Denn in der Tat wurde im Gemäuer des Saurus Knochensubstanz gefunden; allerdings haben mit modernen Methoden durchgeführte Untersuchungen - zu denen die sklavonischen Hinterwäldler selbst weder in der Lage sind noch willens wären - erwiesen, dass von Saurierknochen nicht die geringste Rede sein kann. Zweifelsfrei stammen die gefundenen Skelettbestandteile von Säugetieren; ob diese Gebeinfragmente nun einst Bestandteile eines Ossuariums oder einer Katakombe von kultischem Charakter waren, oder einfach nur als leichtes Füllmaterial für Zwischenmauern benutzt wurden, ist noch unerforscht - und wird, wenn nicht entscheidende politische Veränderungen (und solche der Mentalität) in Sklavonisien eintreten, wohl auch weiterhin unerforscht bleiben, eine Geisel in den verschwitzten Händen von Propaganda und Obskurantismus.
Quartier
Im Grunde gibt es für einen Reisenden, der westliche Standards in puncto Komfort gewohnt ist, nur eine angemessene Lösung: er muss zuhause bleiben. Wenn ihn aber Tollkühnheit, Angeberei oder möglicherweise ein Gelübde zur Selbstkasteiung nach Ganova gelockt haben, wird er unweigerlich im Uqbar landen. In den erlesenen Zirkeln der traveler und trotter kursieren auch andere Namen, die mit bedeutungsvollem Raunen weitergegeben werden. Aber gleich wie diese Empfehlungen lauten (das Kosmos, das Monarch, das Mogul etc.), der Hundekutscher wird das angegebene Ziel immer mit einem devoten Lächeln zur Kenntnis nehmen und dann sein Gespann zum Uqbar lenken. Bis auf den heutigen Tag ist ungeklärt, ob Hotels namens Kosmos, Monarch oder Mogul überhaupt existieren oder nur mit sklavonischem Achselzucken hingenommene Pseudonyme des Uqbar sind. Am besten wird es sein, wenn Sie sich ohne Fisematenten dort einquartieren. Sollten Sie Wert darauf legen, zuhause mit einem absoluten Geheimtipp zu renommieren - einem hapax legomenon der sklavonischen Hotelerie - denken Sie sich irgendeinen Namen aus, wiegen sich getrost in dem Hochgefühl von Exklusivität, das der Name Ihnen schenkt, und ignorieren Sie die Tatsache, dass auch Sie nur im Uqbar untergekommen sind. Das Uqbar liegt auf halber Strecke zwischen dem Affenmarkt und den übel beleumundeten Thermen des Seifensiederviertels. Verplempern Sie nicht Ihre Zeit, indem Sie auf dem Stadtplan nachzuverfolgen suchen, welchen Weg der Hundekutscher nimmt, oder worum es sich bei den so originell wirkenden Gebäuden handelt, die Sie passieren. Erstens ist der Stadtplan, der dem Reisenden bei der Ankunft ausgehändigt wird, ein Dokument, das eher durch eine gefällige koloristische Gestaltung als durch Präzision überzeugt (die selbst bei der Erstellung des Plans im Jahre 1912 nicht das vordringliche Ziel seiner Urheber war, mittlerweile aber vollkommen überholt ist). Und zweitens führt der Weg zum Uqbar ohnehin nicht an Gebäuden von repräsentativer oder historischer Bedeutung vorbei. Wenn einzelne Bauwerke aus der Monotonie des Straßenbildes hervorstechen und besonders pittoresk wirken, dann nicht, weil ein Bauherr sie so entworfen hätte, sondern weil der Zahn der Zeit sie besonders pittoresk zermalmt hat. Es ist ein Leichtes, sich über die sklavonische Baukunst lustig zu machen. Sie ist geschmacklos, dürftig, zumeist fragil. Die Quote der eingestürzten Wohnblöcke ist beängstigend hoch. Im Untergang jedoch gewinnen sie bisweilen den verblüffenden Anschein einer gewissen Majestät, als hätte man es bei ihnen mit geschleiften Tempelanlagen zu tun oder den verwitterten Relikten einer einstmals imposanten Nekropole. Doch auch, wenn es sich de facto um Ruinen handelt, haben hier zahllose Kreaturen ein armseliges Obdach gefunden; sie hausen in Mauernischen, in den niedrigen Höhlen, die von querliegenden Balken gestützt werden, in locker überdeckten Mulden. Durch die Ritzen sickernde Rinnsale ersetzen ihnen die Wasserleitungen; algige Tümpel sind Badestube und Salatbeet in einem. Oft geschieht es, dass die Wege für die Kutsche unpassierbar sind, da ein Haus am Straßenrand kollabiert und seine Trümmer auf die Straße gestürzt hat. Die Beseitigung solcher Barrikaden erfolgt sehr nachlässig, und dann nicht, um die Wege freizuhalten, sondern nur, wenn die Bruchstücke anderswo gebraucht werden können. Ganze Straßenzüge, die einst Orte wimmelnder Betriebsamkeit waren, können so von einem Tag auf den anderen von allem regen Leben abgeschnitten werden, das der Durchgangsverkehr ihnen verlieh, und sinken ohne merklichen Widerstand in Lethargie und Trägheit. Der Ganovaner fügt sich, wie es scheint, manchmal nicht ohne eine gewisse Zufriedenheit, in solch erzwungene Untätigkeit. Es gilt als Zeichen von Lebensweisheit, nicht gegen (vermeintliche) Unabänderlichkeit aufzubegehren, sondern die Umstände mit heiterem Gleichmut hinzunehmen. Doch ebenso willig wird der Ganovaner wieder rege, wenn die Betriebsamkeit um ihn herum wieder ansteigt. Dann kehrt er ebenso gefügig zu seiner einstigen Emsigkeit zurück wie er sich eben noch in die verhängte Untätigkeit geschickt hat. Für den Fall, dass Ihr Weg zum Hotel Uqbar von einem solchen Steinhaufen versperrt ist, zwingen Sie den Kutscher, die Hunde auszuschirren und sie über die Barrikaden zu treiben. Man kann sicher sein, dass jenseits dieser Sperre eine liegengebliebene Kutsche zu finden ist, die von ihrem Besitzer verlassen wurde und nun allgemeiner Benutzung freigegeben ist, und selbst wenn Sie dort kein solches Vehikel vorfinden, ist es allemal besser, den Weg zu Fuß und mit dem Geleitschutz eines Hundegespanns fortzusetzen, als umzukehren und weitläufige Umwege in Kauf zu nehmen, die erfahrungsgemäß nur in neue Sackgassen führen, oder in schmale Durchlässe, die häufig von Marktständen, improvisierten Festlichkeiten oder spontanen Versammlungen des Pöbels blockiert werden. Der Weg ins Uqbar ist nicht weit. Ein rüstiger Reisner wird trotz aller noch zu erwartenden Hindernisse kaum eine Viertelstunde benötigen. Sie bemerken, dass Sie ihrem Ziel näherkommen, wenn die Bettler einen veränderten Habitus an den Tag legen. In den ärmeren Vierteln sind diese Gestalten abgerissene Haderlumpen, oft verkrüppelt, auf Krücken gestützt oder auf Holzbretter gelagert, auf denen sie sich mühsam voranschleppen. Trotz ihrer Not bleiben diese beklagenswerten Wesen von erlesener Höflichkeit und Zurückhaltung. Von anderer Statur sind die Bettler, deren Revier im engeren Umkreis des Uqbar liegt. Sie sind gut genährt, kräftig, agil. Meist tragen sie Anzüge von gutem Schnitt, Brokatschuhe und weisse Hemden, deren Kragen von den dicken Schlangenkrawatten unterfüttert sind, die Attribut der vermögenderen Schichten Ganovas sind. Die Schlangen, denen die Fertigkeit, sich von selbst zu einem haltbaren Four-in-Hand oder Windsorknoten zu schlingen, in langwieriger Dressur beigebracht worden ist, verhalten sich meist ruhig und schenken dem Geschehen um sich herum nur wenig Aufmerksamkeit. Nur ab und an schießt die gespaltene Zunge hervor; nach Möglichkeit hat ihr Besitzer die Farbe seines Einstecktuchs auf die Tönung der Schlangenzunge abgestimmt. Die Zeichnung dieser Schlangen gibt dem Kenner Auskunft über den sozialen Status ihrer Besitzer. Besonderes Ansehen genießen die fuchsrot geflammten Exemplare der sklavonischen Tanznatter - einer Varietät, deren Giftzähne eine begehrte Droge absondern, die - oral verabreicht - eine milde Heiterkeit erzeugt, intravenös aber eine entfesselte Lachlust, ja geradezu frenetische Albernheit nach sich zieht. Man erkennt die Adepten dieser Darreichungsform leicht: sie krümmen sich in hysterisch wiehernden Zuckungen, schlagen sich beständig auf die Schenkel, ringen nach Luft und wischen sich in einem fort die rot unterlaufenen, tränenden Augen. Wenn ein solcher sich Ihnen nähert, seien Sie nicht knausrig. Es gibt kein legales Mittel ihn loszuwerden als ein reichliches Almosen. Er wird Sie solange mit seinem Kichern und brachialem Gelächter verfolgen, bis er seinen Obulus erhalten hat. Natürlich ist er kein Bedürftiger, wie die Bettler in den Armenvierteln bedürftig sind. Ein okzidentaler Reisender mag es als Zumutung empfinden, dass diesen Bettlern von einiger Wohlhabenheit und guter Laune gegeben wird, während die wahrhaft Elenden von seiner Mildtätigkeit ausgenommen werden sollen. Aber in Sklavonisien rechnet man den Stand der Schlangenkrawattenträger nicht zu den Bettlern, sondern betrachtet sie als Dienstleister, die zur Hebung der allgemeinen Fröhlichkeit beitragen, während die hungernden Krüppel ohne Umschweife als Schmarotzer und Faulenzer angesehen (und entsprechend verachtet) werden. Darum gibt man ersteren gern, zumal das sklavonische Haus interner Transaktionen die Direktive erlassen hat, es sei zur verstärkten Entbindung der gesellschaftlichen Produktivkräfte dringend nötig, soziale Gruppierungen zu schaffen, die - gemäß der Marx'schen Lehre - die geschichtlich unabdingbare sogenannte ursprüngliche Akkumulation zu bewerkstelligen. In der Marx'schen Doktrin hatten gewalttätige, räuberische Schichten diese Funktion primärer Kapitalanhäufung inne. Von einer solchen Maßnahme - nämlich das Raubritterwesen Sklavonisiens zu fördern - hat das SHIT dankenswerterweise Abstand genommen und stattdessen diese fröhliche und harmlose Spezies der Schlangenbißsüchtigen zur begünstigten Gruppierung erkoren. Darum wird dem Reisenden, der von diesen weisen Erwägungen nichts weiss, auch von den im Umkreis des Uqbar gehäuft auftretenden Polizisten, freundlich, aber bestimmt nahegelegt, sich den Zudringlichkeiten dieser humorigen Herren nicht zu erwehren, sondern ihren Forderungen bereitwillig Folge zu leisten. Dank des günstigen Wechselkurses halten wir diese Gepflogenheiten für durchaus angemessen, zumal es auch in der Halle des Uqbar einen guten Eindruck macht, wenn Sie nicht als einsamer Gast dort erscheinen, sondern von einer ganzen Schar gackernder Gecken eskortiert werden. Sie werden sich durch diese geringe Aufwendung auch die besondere Zuvorkommenheit und Beflissenheit des Hotelpersonals erwerben, dessen können Sie sicher sein.
Das Uqbar verfügt dem Vernehmen nach über etwa 500 Zimmer. Man sieht freilich dem geringen Betrieb in der Lobby oder im Restaurant an, dass das Hotel bestenfalls zu vier oder vielleicht fünf Prozent ausgelastet ist. Man begegnet nur wenigen Gästen, und auch das Personal entfaltet keine übermäßige Betriebsamkeit. Die getäfelten Wände der Lobby sind gesäumt mit weiss gekleideten Dienstmädchen, Hoteldienern, Trägern und Pagen in Livrée (deren goldene Litzen freilich ebenso wenig aus Stoff sind wie ihre Jacken: man behilft sich bescheiden mit Leibchen aus bemaltem Papier), aber all diese dienstbaren Geister fungieren in Ermangelung anfallender Arbeit eher als Raumschmuck, und in der Tat verleihen sie dem Entrée des Uqbar eine gewisse Grandezza. Wenn ein Gast die Lobby betritt, erheben sich alle zugleich, um Ihm ihren Respekt zu erweisen. Die Charakteristik des Geräusches hängt vom Abnutzungsgrad der papiernen Monturen ab. Wenn das Papier bereits durch längeres Tragen weich und feucht geworden ist, klingt es, als würde ein schwerer Foliant umgeblättert; wenn das Personal erst vor kurzem neu eingekleidet wurde, wirkt das rasche, barsche Geräusch, als zerknülle eine Riesenhand widerspenstigen Karton. Wenn Sie vorhaben, länger als drei Tage im Uqbar zu logieren, gewöhnen Sie sich an diese Art von Klangkulisse. Aufgrund einiger planwirtschaftlicher Fehleinschätzungen sind die dem Hotel zugeteilten Papiervorräte so unermesslich, dass man gezwungen war, aus diesen tonnenschweren Rollen mehr als nur Abrechnungsblöcke und Servietten zu schneiden. Der Mangel an Baumwollstoffen gebot bald darauf, auch Tischtücher, Gardinen und Teppiche durch Papierbahnen zu ersetzen. Über die Betten wurden papierene Tagesdecken gebreitet. Dann wurde das erste Zierkissen aus Papier gefaltet. Das Zimmermädchen, das an einem gähnend langweiligen Vormittag auf diese gloriose Idee kam, bekleidet heute einen hohen Rang in der Ministerialbürokratie, man munkelt, die Aufnahme in die Nomenklatura sei ihr gewiss. Solche Fortüne hat sie ihrer Fingerfertigkeit und einer Inspiration im gegebenen Moment zu verdanken. Ihr Verdienst war es, mit einem Schlag zu erfassen, dass Papier sowohl die Formstabilität gewährleistet, die man von Zierkissen erwartet (gestärkte, steife Zipfel und ein unverwüstlicher Kniff in der Mitte), als auch die federnde Nachgiebigkeit, die an einem Ruhekissen so wünschenswert ist. Es kommt allein auf die Behandlung des Materials an. In ihrer Frühstückspause riss sie Papierstreifen und faltete sie zu weichen, wippenden Knöpfchen. In mehreren Lagen luftig aufeinandergeschichtet, bot das Material ein unerwartet schmiegsames Polster. Während des Mittagessens sann sie über Möglichkeiten, das Papier, das sie gerade zu so großer Elastizität gebracht hatte, nun wiederum zu solidester Steifigkeit zu nötigen. Sie zog sich zum Experimentieren in die Wäschekammer zurück. Als der Dudelsack zum Abendessen rief, kam sie mit einem Quader zu Tisch, der trotz seiner Festigkeit und Kantenhärte einzig aus dem labbrigen Papier gefertigt war, das im Keller des Uqbar eigentlich dazu verdammt schien, als Monument der verfehltesten Investitionen staatlicher Wirtschaftslenkung herzuhalten. Sicherlich wird der Tag dieser Entdeckungen, sobald deren Urheberin die höheren Ränge der herrschaftlichen Hierarchie erklommen hat, als der Tag der Faltungen, der Tag des Kniffs oder (ein Vorschlag des Parteisekretärs) als der Tag des Allgemeinen Äquivalents zum Festtag aufsteigen. Die Erhebung des Papiers zum universellen Material zeitigte im Uqbar manch unliebsame Folge. Zum einen zwingt die vollständige Durchmöblierung des Hotels durch gefaltetes Papier die dem Laster des Rauchens ergebenen Gäste zu waghalsigen Kraxeleien, da das Rauchen nur außerhalb der Mauern des Uqbar gestattet ist. Raucher müssen sich auf die wackligen Feuerleitern begeben, die draußen vor den Fenstern angebracht sind und dort, im schneidenden Wind, den klaffenden Abgrund unter sich, ihrer Sucht frönen. Nachdem ein erster unachtsamer Gast in die Tiefe gestürzt war, installierte man dort unten dicke Schichten von Kartons, die einen solchen Sturz entsprechend dämpfen sollten; doch nachdem ein weiterer Raucher seine glimmende Kippe auf dieses Schutzpolster fallen ließ, das daraufhin in Flammen aufging, schaffte man die Vorrichtung wieder ab, sodass die Raucher ihr ohnehin gefahrvolles Treiben nun wieder in luftiger, bisweilen tödlicher Höhe vollführen müssen. Eine andere Misslichkeit, die das Papierwesen mit sich gebracht hat, besteht in der notorischen Zweckentfremdung des Mobiliars. Die traditionell saumseligen Zimmermädchen vergessen leider nur zu häufig, verbrauchtes Toilettenpapier zu ersetzen, und das in einem Land, dessen Gäste fast zwangsläufig von heftigen Durchfällen heimgesucht werden. Manch geplagter Reisender wusste seiner Not nicht anders abzuhelfen, als von dem kunstvoll gefalteten Badezimmerschränkchen Papierstreifen abzureissen und zu hygienischen Zwecken zu nutzen. Weniger bereitwillig als einem solchen der Not gehorchenden Frevler wird man Gästen verzeihen, die sich der Tischchen oder des Sofas bedienen, um ihre Notizen daraufzukritzeln, wenn sie ihre Kladden vollgeschrieben haben und es nicht erwarten können, bis das Zimmermädchen ihnen Ersatz verschafft. Doch mag es sein, dass eine solche Skriptomanie nur als Ausrede herhalten muss, und in Wahrheit bei vielen Reisenden ein nicht zu bändigender Vandalismus zum Durchbruch kommt. Möglich ist auch, dass es in der überschaubaren Gemeinde der Sklavonisien-Reisenden mittlerweile zu den kultischen Gepflogenheiten gehört, ihre papierenen Zimmer allen nur erdenklichen Zweckentfremdungen zuzuführen, was angesichts der ungeheuren Versatilität und Variabilität des Materials schließlich auch naheliegt - und das um so mehr, als die Leitung des Uqbar ihrerseits ebenfalls von dem Ehrgeiz getrieben ist, die Anwendungsmöglichkeiten dieses so fügsamen Zelluloseprodukts auszuweiten, bis hin zu der kühnen Idee, ganze Menüfolgen aus gewürztem Papier zusammenzustellen und diese schwer verdaulichen Mahlzeiten den von Diarrhöen geplagten Gästen als ein Mittel zur Arretierung der Verdauungsvorgänge anzudienen.
Ernährung
Wir raten Ihnen, sich auf solche Experimente nicht einzulassen. Es ist allemal besser, sich zuhause mit gängigen Antilaxantien zu verproviantieren, die es Ihnen erlauben, die interessante sklavonische Küche in all ihrer Vielfalt kennenzulernen. Leser, die eine gewisse Sensibilität für feine Ausdrucksdifferenzen haben, werden es schon ahnen: interessant will etwas anderes besagen als gut, empfehlenswert, bekömmlich oder wohlschmeckend; und auch den Ausdruck kennenlernen haben wir nicht ohne Grund einem überschwänglicheren Wort wie genießen vorgezogen. Es ist nicht zu leugnen: die Küche Sklavonisiens stellt für okzidentale Gaumen eine gewisse Herausforderung dar, sowohl, was die Aromatik angeht, die sich besonders den bitteren, ätzenden und muffigen Geschmäckern verschrieben hat, als auch im Bereich all dessen, was die zeitgenössische Gourmandise unter Textur fasst: hier sticht zweifellos die Unart sklavonischer Küche heraus, kaum ein Gericht ohne scharfkantig splitternden Hühnerknochenbruch zuzubereiten, der den Esser zu sehr bedächtigem Kauen zwingt, wenn er sich nicht Gaumen, Zahnfleisch und Zunge in einem blutigen Massaker zerbeissen will. Die Versuche, den hiesigen Köchen diese Marotte auszutreiben, scheitern freilich an deren Überzeugung, dass die Aromatik der sklavonischen Gerichte eben nur durch die Zugabe von Blut wahrhaft abgerundet wird - Blut, das wegen religiöser Tabus allerdings nicht von den Schlachttieren stammen darf, sodass der Esser diese Zutat aus eigenen Beständen beisteuern muss. Leider ist dieser Auffassung beizupflichten. Viele der gängigen Zubereitungen werden erst durch eine gewisse metallische Süße wahrhaft genießbar, die durch eine andere Ingredienz als Hämoglobin kaum ersetzt werden kann. Am besten ist es, sich den hiesigen Esssitten zu beugen. Schon nach wenigen Tagen werden Sie sich daran gewöhnt haben, und dann durch die Fülle der Speisen belohnt werden, denen man in zivilisierten Länder kaum oder gar nicht begegnet. Teure Restaurants bieten einige Spezialitäten. Besonders empfehlenswert ist der mit Zitronengras gespickte Dromedarbrägen. Ebenfalls reizvoll sind die geschmorten Höcker des nämlichen Tiers, die gern in einem Sud von Kräuterschnaps serviert werden. Anders als das Hausdromedar ist die Gazelle ein Wildtier, das nach Kräften bejagt wird. Versuchen Sie, einen Braten, der aux épices geschossen wurde, zu ergattern, auch wenn er selten und dementsprechend teuer ist. Die Jagd ist schwieriger als die mit dem herkömmlichen Schrot, da die Patronen für die chasse aux épices nicht mit Metallsplittern, sondern mit Wacholder, Nelken, Piment, Pfefferkörnern sowie Sternanis, spitz zugefeilten Zimtspänen und Süßholzschuriken gefüllt werden. Die im Vergleich zum Metallschrot geringe Durchschlagskraft dieser Gewürze zwingt den Waidmann dazu, die aromatische Ladung erst abzufeuern, wenn er sich der Beute auf weniger als anderthalb Meter genähert hat, was angesichts der Behendigkeit der sklavonischen Gazelle eine große Herausforderung ist, die nur von wahrhaften Künstlern des Metiers gemeistert wird, dann allerdings durch die noch im lebenden Tier anhebende Aromatisierung auch zu formidablen Ergebnissen führt. (Versuche, diese Form der Jagd durch den Einsatz von Panzergranaten effektiver zu gestalten, haben sich leider als wenig tauglich erwiesen, da die Tiere auf diese Weise zwar aromatisiert, zugleich aber auch nahezu atomisiert wurden. Der Connaisseur verschmäht solchen bisweilen als Hachée angebotenen Beuteabhub.) Für den Vegetarier bietet die sklavonische Küche eine reiche Auswahl. Besonders das Leibgericht der sumpfigen Region im Osten Ganovas - gedünstete Schilfrohrkolben - kann hier nicht genug gepriesen werden. Aber auch die Schafsweidensalate, die Schwammsoufflés, die flambierten Seerosen sind, von kundiger Hand zubereitet, ein Gedicht. All diese Dinge sind jedoch in Ganova selbst nur schwer zu bekommen. Die Alltagsküche besteht vorwiegend aus Maisbrei, einem an staubigen Schotterhalden gedeihenden, bitteren Salat, der an unseren Löwenzahn erinnert und hier wohl wegen seiner harten und scharfzackigen Blätter "Baumsäge" genannt und gerne mit Quittenmarmelade gereicht wird, sowie marinierten Holzbirnen. Die ärmsten unter den Armen müssen ohne Marinade auskommen. Mit der Erwähnung dieser beklagenswerten Wesen sind wir bei unserem nächsten Abschnitt angelangt.
Sehenswürdigkeiten
Zum guten Ton unter den Sklavonisien-Reisenden gehört es, in den ersten Tagen ihres Aufenthalts die Hinterlassenschaften all der Hochkulturen zu besichtigen, die sich diese duldsame Weltgegend im Lauf der Jahrtausende unterworfen haben. Gleich, wie kümmerlich und nichtssagend der Zustand dieser Relikte heutzutage ist, wird kaum ein Reisender darauf verzichten, der Bassaniden-Grube einen Besuch abzustatten, obwohl von den opulenten Gärten der bassanidischen Despoten keine andere Spur erhalten ist als ein von ratlosen Archäologen aufgebuddeltes Loch. Das berühmte Mausoleum der matztakischen Fürsten wurde - im Jahr 612 hiesiger Zeitrechnung - bei der Plünderung Sklavonisiens durch die Heere des Dorrschen Sarrak geschleift. Nichts ist von den feinen Steinmetzarbeiten geblieben als eine zerkratzte und meist mit Unrat bedeckte Platte in einem verwilderten Stück Brachland hinter den Schlachthöfen. Der Smaragdene Palast, in dem einst Smuit der Schmutzige Hof zu halten pflegte: heute ist hier nicht mehr als ein Haufen verwitterter Steine zu sehen. Die Gemächer des Taxeles: ein Raub der Flammen. Der Thronsaal, in dem Karistipit Recht sprach: längst ist die einzige Erinnerung an die glanzvolle Zeit der Karistipitiden nur noch eine grausig entstellte Anekdote, deren wahrer Kern wie von einem Zugvogel aufgepickt, davongetragen und irgendwo über den Mohnfeldern des Hochlands ausgeschieden wurde. Die Sehenswürdigkeiten, die in den Führern aufgelistet werden, kranken allesamt an einem schweren Makel: sie sind zwar würdig, aber schon lange nicht mehr zu sehen. Der Reisende starrt bei seiner beflissen absolvierten Tour gehorsam in die schwarzen Krater, in deren Abgrund die Jahrtausende verschwunden sind, ohne bedeutende Spuren zu hinterlassen. Das gilt für die Zikkurate der Opatijaden ebenso wie für die Arena in Maranelle, in derem weitem Rund bronzene Wagen ihre Rennen austrugen, und wo mit Speeren bewehrte Männer gegen Säbelzahntiger und blutrünstige Kampfmarder fochten: von den steinernen Rängen, auf denen sich einst Zehntausende von Zuschauern tummelten und dem gewaltigen Treiben zusahen, ist heute nichts mehr übrig als zertrampelter Grund, auf dem einzig Disteln und Butterblumen gedeihen, deren weiße Fädchen im Mai über die Ebene treiben. Kein Reisender, der diesen vergangenen Zeugnissen seine Reverenz erweist, wird sich eines melancholischen Schauers erwehren können angesichts all der entschwundenen Pracht. Manch einer glaubt beim Blick auf die Krater und Schutthalden, in denen die Monumente von früher versunken sind, nicht zu Unrecht, der verschlingende Rachen der Zeit selbst klaffe vor ihm auf, das Maul dieser Furie des Verschwindens, die sich seit zweieinhalbtausend Jahren ohne Unterlass durch Sklavonien frisst… Doch auch, wenn man der erhabenen Trauer über die Vergänglichkeit kaum je näher kommt als bei einem Gang über die Geschichtsbrachen Ganovas, und empfindsame Gemüter den entschwundenen Monumenten bereits einige bedeutsame Oden und Elogen gewidmet haben[6] - so will das Auge des Reisenden doch auch zu seinem Recht zu kommen und sich in der Fremde an etwas ergötzen, das es anderswo nicht zu sehen bekommt. Die reine Schaulust, die von den geschichtlichen Relikten unbefriedigt bleibt, ist darum an Ersatz verwiesen; in den letzten Jahren hat es sich unter den Sklavonisienreisenden eingebürgert, sich hier besonders an den malerischen Aspekten der sklavonischen Armut schadlos zu halten.
Und in der Tat ragt die sklavonische Verelendung unter allen anderen Varietäten als besonders ansehnlich hervor. Weder die Slums von Dehli noch die Favelas am Rande Sao Paolos bieten vergleichbare Schauwerte, von den geschmacklos bunten und schmutzigen Bidonvilles Afrikas ganz zu schweigen. Die sklavonischen Elendsviertel sind ohne Zweifel weltweit einzig: man kann von ihnen getrost als wahren Meisterwerken der Verkommenheit sprechen. Was sie zudem als Orte touristischen Interesses besonders geeignet macht, ist die Gefahrlosigkeit, mit der ausländische Reisende sie durchstreifen können. Durch südamerikanische Favelas zu flanieren, ist ohne schwer bewaffneten Geleitschutz ein törichtes Wagestück. In Afrika wird man sich der Trauben bettelnder Kinder, die wie ein Schwarm von Fruchtfliegen an süßem Obst um den Flaneur wimmeln, kaum erwehren können. Selbst das - im Vergleich dazu - zurückhaltende Wesen indischer Hungerleider kann dem erfahrungsdurstigen Reisenden bisweilen lästig fallen. Der sklavonische Elende ist demgegenüber von geradezu vorbildlicher Unaufdringlichkeit, was möglicherweise mit seiner notorischen Entkräftung und Antriebsschwäche zusammenhängt. Seine Vitalfunktionen sind zumeist so reduziert, dass es ihm nicht nur an der Kraft fehlt, sich bettelnd und wimmernd dem Reisenden zu nähern, sondern schon am bloßen Willen dazu. Das macht es dem Reisenden leicht, die Misere gänzlich unbehelligt zu studieren. Wir empfehlen zu einem Rundgang besonders das caremische Viertel. Wenn Sie sich nicht allzusehr in schwärmerischer Betrachtung verlieren, ist der Parcours in bequemen anderthalb Stunden zu absolvieren. Beginnen Sie am Schinderdorn und wenden sich von dort aus westwärts. Die hier ansässigen Elenden sind - da um den Schinderdorn herum einige Unverbesserliche immer noch Almosen spenden - nicht so geschwächt, dass sie den Flaneur ruhig seines Weges gehen lassen. Hier sind darum noch einige Belästigungen zu gewärtigen. Doch je tiefer Sie in die trüben Gassen Caremes eintauchen, desto geringer ist die Gefahr, angebettelt zu werden. Ein Problem, dem das sklavonische Tourismusministerium ein Ende zu machen versucht, ist die unschöne Angewohnheit der Elenden, ihre Tage am Boden liegend hinzubringen. Man versteht natürlich, dass die Elenden angesichts ihrer geschwächten Konstitution nicht gut aufrecht stehen können. Gleichwohl führt ein solches Verhalten für den Flaneur zu einigen Unbequemlichkeiten, da aus der Obersicht nur selten gute Fotos entstehen, es dem Flaneur aber auch nicht zuzumuten ist, sich bei jedem geeigneten Motiv in die Hocke zu begeben, um sein Bild auf Augenhöhe zu schießen. Ein Modellprojekt will hier Abhilfe schaffen; die ersten Erfahrungen damit sind durchweg positiv. In den ameliorisierten Gassen sind in etwa anderthalb Metern Höhe Borde angebracht, auf denen die Bewohner nun in kommoder Weise betrachtet und fotografiert werden können. Einwänden, eine solche Drapierung sei zynisch, begegnete man durch Anbringung von Blechrinnen, in denen die Abwässer den Hungernden von Zeit zu Zeit nahrhafte Bissen wie Gemüseschalen, Essensreste und proteinreiches Kleingetier heranführen. Die hygienisch eigentlich unhaltbaren Zustände, als die Elenden sich diese Nahrungsmittel noch aus der Gosse angeln mussten, sind damit passé. Leider sind die Versuche, das ganze Viertel so auszurüsten, wegen der üblichen Behördenrivalitäten ins Stocken geraten; bereits drei Straßenzüge weiter herrscht wieder der alte Schlendrian.
• TIPP • Wir können an dieser Stelle den guten Rat geben, die Segnungen der Digitalfotografie zu nutzen, auch wenn wir sonst durchaus die gute alte analoge Technik schätzen, und selbst Schwarz-Weiss-Fotografie in gewissen Anwendungsbereichen ästhetisch für die erste Wahl halten. Doch können wir nicht verhehlen, dass die fotografischen Resultate eines Rundgangs durch Careme oft sehr dürftig sind, was an der Eintönigkeit und Kontrastschwäche der Farben liegt: der Gassenboden, die Mauern, die Lumpen, in die sich die Elenden kleiden, sowie auch die Elenden selbst, sind alle von dem selben Schmutzgrau, das eigentliche Kontraste gar nicht, und selbst Schattierungen kaum kennt. Für Anhänger vollkommener Monochromie mag dies ein Paradies sein. Aber für alle, die an Unterschieden, gegliederten Formen, farblich abgesetzten Flächen und figurativer Vielfalt Gefallen finden, ist das Caremische Schmutzgrau ein wahrer Quell der Langeweile. Solange man leibhaftig hier entlangwandelt, wird diese Monotonie freilich durch Variationen von Gerüchen und manch drolligen Lautäußerungen der Liegenden kompensiert. In der fotografischen Beschränkung aufs Visuelle allerdings macht sich der Mangel an farblicher Vielfalt als empfindliche Störung bemerklich - und hier empfiehlt es sich dann, die fotografische Ausbeute durch die Mittel digitaler Bildbearbeitung qualitativ aufzuwerten. Nachkolorierung, Kontraststeigerung, Ausleuchtung und andere Retuschetechniken können auch den mageren Ergebnissen einer Fotosafari durch die trüben und lichtschwachen Gassen Caremes entscheidend aufhelfen. Sie absolvieren einen solchen Rundgang übrigens am besten in der Mittagszeit, wenn die Sonne hoch steht und wenigstens ein schwacher Abglanz in den ewigen Dämmer Caremes sickert; zudem sind Sie dann grade mit dem Rundgang fertig, wenn in Ganova die Restaurants öffnen, wo Sie sich nach dem dann doch etwas ermüdenden Parcours bei einem leckeren Imbiss stärken können.
Vergnügungen
Dem Mittagsimbiss folgt zumeist eine längere Nachmittagsruhe. Die besseren Restaurants bieten hierfür sehr bequeme Ruhelager an. Zögern Sie sich nicht, den hiesigen Gepflogenheiten zu folgen und das Ruhelager mit den anderen Gästen des Restaurants zu teilen. Der Sklavone entschlägt sich in dieser Stunde seiner sonstigen Reserviertheit und Berührungsscheu. Allgemein hält man dafür, dass es den Träumen zuträglich ist, wenn sie gemeinschaftlich geträumt werden. Körperkontakt ist hierfür ebenso unabdingbar wie der gewürzte Trunk, der zum Abschluss des Mahls gereicht wird und ein mildes Halluzinogen enthält. Die Ruhelager am rechten Ort anzusiedeln, obliegt von Alters her Spezialisten, die mit Hilfe von Wünschelruten, Pendeln und Schmetterlingen, die für diese Art von Lokalatmosphären empfänglich sind, sondieren, wo die Traumpolster am wirkungsvollsten aufzuschlagen sind. Leider umgeben diese Spezialisten, die sich auf alte schamanistische Traditionen berufen, ihr Wissen mit den dichten Schleiern der Geheimhaltung. Doch ist unleugbar, dass sie ihr Geschäft verstehen: selbst die hartnäckigsten Nicht-Träumer finden auf den Traumpolstern Zugang zu den phantastischen Kapriolen ihrer sonst von den Banden des Wachbewusstseins geknebelten Vorstellungskraft. In kleinen Garderoben entledigt man sich seiner Kleider und legt einen papierenen Lendenschurz an; Frauen tragen zusätzlich einen papierenen Büstenwickel. Dann besteigt man das Traumpolster: Ganovas größtes befindet sich im Keller des Restaurants Tlön und misst mehr als neunzig Quadratmeter. Es gibt aber in einigen einfachen Restaurants auch Polster, die kaum vier Quadratmeter groß sind und in Stoßzeiten bis zu acht Träumern eine Heimstatt bieten. Gemeinhin ziehen die Einheimischen diese kleineren Kaschemmen vor. Vor allem von einem gewissen Alter an pflegen die Ganovaner die großen Etablissements zu meiden. Dies jedoch nicht, weil sie etwa - wie Reisende oft vorschnell mutmaßen - ganz der Monogamie ergeben wären und den Odeur der Promiskuität verschmähten, der von diesen gemeinsamen Lagern aufstiege. Die Traumpolster sind in keiner Weise Orte sexueller Ausschweifung; und sich dort Leib an Leib zu tummeln, wird als ebensowenig erotisch angesehen wie die gemeinsamen Schwitzbäder oder das Massenringen zur Feier der Revolution. Nein - wenn ältere Semester die kleinen Polster vorziehen, so weil die Träume dort überschaubarer und darum erquicklicher sind. Mit den hier erlebten Träumen hat es nämlich folgende Bewandtnis: in jeden Traum figurieren alle anderen auf das Polster gestreckten Träumer als Mitspieler, sodass die Träume umso volkreicher werden, desto mehr Schlafende sich hier Gesellschaft leisten. In den Träumen, die auf den Matratzenlandschaften des Tlön geträumt werden, herrscht darum beständig ein so verwirrendes Gewimmel von Personen, dass der Traum kaum je zu so klassischen Formen findet, wie sie dem Geschmack gereifter Charaktere gemäß sind. Im Tlön träumt man spektakulär, romantisch, aufgewühlt, turbulent, manche sagen: effekthascherisch. Doch der Massenszenen, die ein jugendliches, auf grobe Reize gierendes Publikum ergötzen, sind Erwachsene mit ihrem abgeklärterem und geläutertem Geschmack zumeist längst überdrüssig. Sie ziehen Traumkammerspiele vor, Problemträume, in denen kein bunter Trubel die Entfaltung des dramatischen Kerns verdeckt, intime Seelenstudien, ruhige Darlegungen und Analysen ihrer Befindlichkeit. Das operettenhafte Remmidemmi, dem die Träumer im Tlön ausgesetzt sind, überfordert das Bedürfnis der Älteren nach Klarheit und Überschaubarkeit, nach edler Einfalt und stiller Größe, und darum ziehen sie für ihren Nachtisch-Traum einen intimeren Rahmen vor. Wenn auch Sie solche Träume schätzen, gehen Sie ins Tamerlan (eine hervorragende Garküche, die nach Orkos Tamerlan - dem Strindberg Sklavonisiens - benannt ist und in seinem Hinterzimmer über ein Traumpolster verfügt, das grade groß genug ist, einem der kargen Ehedramen Tamerlans ausreichend Bühnenfläche zu bieten), oder versuchen Sie es gleich im Strandburg, einem Café nach europäischen Geschmack, in dem selbst die Träume einer gewissen Ordentlichkeit und Aufgeräumtheit nur selten entbehren. Sie sollten es sich indes nicht entgehen lassen, wenigstens einmal in die turbulenten Massenträume einzutauchen, wie sie sich im Tlön, im Erdapfel Shivas oder im Mechthiko erleben lassen. Wir können hier freilich keine Gewähr übernehmen, dass Sie als derjenige aus dem Traum herauskommen als der sie hineingegangen sind.
Diese Unsicherheit ist eine Folge der, wenn man so will, metaphysischen Struktur des Traums, wie sie sich auf den Polstern hierzulande besonders eindringlich zur Geltung bringt. Zwar ist auch ein Traum, der einen in der Stille des eigenen Heims beim mittäglichen Schlummer heimsucht, von diesen Phänomenen nicht frei; doch zeigen sie sich nicht in der Schärfe, mit der sie hier an den Schläfer heranrücken. Es mag eine Binsenweisheit sein, dass die Gestalten des Traums keine vom Träumer unabhängige Existenz haben. Es sind keine Besucher, die aus der äußeren Welt kommen und uns ihre höfliche Aufwartung machen, indem sie in unser Bewusstsein treten. Wir lassen im Träumen nicht Objekte unserer Wahrnehmung ein, und sprechen auch nicht mit Gästen, die aus dem fernen Land unseres Gedächtnisses zu Besuch gekommen sind: wenn wir andere Gesichter träumen, setzen wir uns nur Masken auf: Larven, in die wir selbst uns verpuppt haben. Die Gestalten, die da auf der Bühne unserer Imagination mit- und gegeneinanderhandeln: sind sie nicht am Ende immer wir selber? Wie in Tamerlans intrikatem Mummenschanz Der Geldeintreiber trägt der Verfolgte die Züge des Verfolgers, der Helfer gleicht aufs Haar dem frechen Eindringling, vor dem er ihn schützen will, er kann gleichzeitig der Inquisitor sein und die Hexe, und schließlich noch, in unendlicher Wiederholung das gaffende Volk. Dem Träumer, der nach einem guten Ganovanischen Mittagsmahl auf ein Traumpolster niedersinkt, ergeht es nicht anders. Alle Figuren, die durch seinen Traum geistern, sind in gewisser Weise er selber: der Geschäftsmann mit seinen gewienerten Schuhen; die vom Leben enttäuschte Matrone, die ihre welke Schläfe mit allzuroten Magnolienblüten schmückt; der schnieke Jüngling in seiner dümmlichen Selbstsicherheit und Zuversicht; die Studentin, die nächtelang in der Bibliothek über den Versen des Avellenada gegrübelt hat, und für ihren angespannten Geist nun in einem Traum Zerstreuung sucht. Im Traum schlüpft der Träumer behende von einer Figur in die andere. Leichthin probiert er andere Physiognomien an - eine Besonderheit der sklavonischen Träume besteht nun darin, dass dieser geschmeidige Persönlichkeitswechsel beim Erwachen kein Ende findet, sondern im wachen Leben fortgesetzt wird. Wenn der Träumer die Augen aufschlägt, erhebt er sich von seinem Ruhelager und schließt den magnetischen Kreis der noch Schlafenden wieder, indem er entweder einen der umstehenden Wartenden heranbittet oder aber - falls keiner bereitstehen sollte - sanft die Gliedmaßen seiner Nachbarn zu magnetischem Rapport zusammenführt. Dann macht er sich auf den Weg zur Garderobe und sichtet die dort aufbewahrten Kleider, um die Kluft dessen ausfindig zu machen, den er in seinem Traum zuletzt verkörpert hat. Indem er dessen Kleider anlegt, übernimmt er auch dessen Position in der wirklichen Welt. Denn der Kleidertausch nach dem Mittagstraum ist nicht ein bloßer Kostümwechsel: der Träumer übernimmt nicht nur die Kleidung eines anderen, sondern seine gesamte äußere Existenz. Jeder Ganovaner hat in der Brusttasche beständig ein Dokument mitzuführen, das alle relevanten Personenstandsdaten beinhaltet: den Namen, das Alter, den Ausbildungsgang, den Wohnort, den Beruf, die Familienverhältnisse, seine Leidenschaften und Abneigungen, Krankheiten und Hoffnungen. Sobald ein Träumer seine neue Garderobe angelegt hat, studiert er dieses Dokument und macht sich ungesäumt zu seiner neuen Wirkungsstätte auf. Doch beginnt sein neues Leben bereits, sobald er vor die Tür des Etablissements getreten ist. Wer vormittags noch Matrone war, versucht sich nun im Kreise prahlerischer Jünglinge im Knöpfchenspiel oder ruft der jungen Studentin Anzüglichkeiten hinterher, die in gewienerten Schuhen auf dem Weg zu ihrem Büro ist und dabei dem ehemaligen Geschäftsmann begegnet, der sich nun in die Bibliothek aufmacht, um sich den schwierigen Exerzitien hinzugeben, welche die dunklen Verse Avellenadas ihm auferlegen: die Persönlichkeitswechsel im Gefolge der Nachtisch-Träume sind eine beständige Herausforderung für viele Ganovaner. Diese Nachmittagsstunde ist eine Zeit allgemeiner Verwirrung in Ganovas Straßen. So viele Träumer müssen sich in ihre neue Rolle finden. Das geht nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten: gezwungen, auf oft unbekannten Wegen einer unbekannten Beschäftigung entgegenzugehen, achten die Träumer nicht immer ausreichend auf den Verkehr. Sie verheddern sich in den Gespannen der Hundekutschen, fallen in Gewohnheiten des Betragens zurück, die mit den Anforderungen ihrer neuen Rolle nicht recht zusammenpassen wollen; zumal an ihren neuen Arbeitsstätten richten sie häufig Unordnung an oder machen gar monatelange Mühen mit einem unbedachten Federstrich zunichte.
Manche Besucher Sklavonisiens, welche mit dieser Sitte konfrontiert werden, halten sie für ein Mittel des sozialen Aufstiegs, oder doch zumindest für eine Gelegenheit, sich bessere Garderobe anzueignen. Ein solcher Verdacht greift aber sicherlich zu kurz - allein schon darum, weil sich die Eliten Ganovas ebenso willig der Gefahr aussetzen, ihren sozialen Status einzubüßen, wie die niedrigen Schichten es riskieren, in ein Amt gebracht zu werden, dem sie weder intellektuell noch von der psychischen Struktur her gewachsen sind, und das sie nur überfordern kann. Darum sind diese Unterstellungen nur Frucht typisch okzidentaler Denkmuster, die an Karriere und Gewinnstreben orientiert sind. Für die Träumer selbst aber, und zwar auch und gerade für die höheren Ränge der Gesellschaft, sind die Rollenwechsel im Gefolge der Mittagsträume einfach Möglichkeiten, sich ihrer eingeschränkten und partikulären Existenzformen zu entledigen und ein anderes Leben als das zu führen, das sie gewohnt sind und oft genug nur als Last und Pflicht und Zwang empfinden.
Die Wirtschaft Sklavonisiens wird freilich von diesem Rotationsprinzip schwer geschädigt. Die von den staatlichen Stellen ja nicht nur geduldete, sondern sogar geförderte Durchmischung lässt die Herausbildung von Spezialisierung kaum zu, was verheerende Folgen für das reibungslose Funktionieren von Handel und Gewerbe hat. Doch obwohl die sklavonische Wirtschaft dadurch schwer durch Pfusch und Dilettantismus belastet wird, hält das SHIT an dieser Maßnahme fest. Das hehre Ideal der sozialen Durchlässigkeit, der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Begabungen und der Ersetzbarkeit jedes Einzelnen durch einen beliebig aus dem Kollektiv gewählten Anderen, sind dem SHIT ein zu hohes Gut, als dass so schnöde Werte wie Effizienz, Erfahrung oder Sachkenntnis dagegen ins Gewicht fielen. Das SHIT propagiert den alltäglichen Persönlichkeitswechsel darum nach Kräften. Die Parolen, die es dabei im Munde führt, bejubeln die Befreiung der Bürger aus der Enge ihrer arbeitsteiligen Verkümmerung, feiern Beweglichkeit und Offenheit, und erheben die allseitige Fühlungnahme mit sozialen Sphären und Aufgaben zum Kennzeichen wahrhafter Bildung und Humanität. Zweifellos verdienen diese Überlegungen in ihrem idealistischen Kern allen Respekt. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass sie eines gewissen Ressentiments gegen jede Form von Elitebildung nicht ermangeln, ja, im Kern nichts anderes sind als eine kulturrevolutionäre Bestrebung, ein Bürgertum zu zerschlagen, das Sklavonisien so lange im eisernen Griff einer verabscheuungswerten Meritokratie gehalten hat. Die Zukunft wird zeigen, ob die langfristigen gesellschaftspolitischen Ziele des Regimes eingelöst werden können. Die nicht von der Hand zu weisenden Mängel und Defizite der derzeitigen Praxis werden einstweilen als notwendige Übergangs- und Anpassungsschwierigkeiten betrachtet. Man befinde sich - so heißt es in einem jüngst verlautbarten Kommuniqué des SHIT - in einem Durchgangsstadium auf dem Wege zu einer klasselosen (sic!) Gesellschaft, kleinere Misshelligkeiten seien darum in Kauf zu nehmen. (Vermutlich ist auch dieses Kommuniqué von einem durch den Zufall des Traums in sein Amt gehobenen Mitglied des SHIT verfasst worden, dessen Formulierungssicherheit noch zu wünschen übrig lässt. Möglich ist aber auch, dass der kleine Fauxpas subversiver Natur ist und den mit der Zerschlagung der Klassen einhergehenden Verlust von Klasse anklagen möchte.)
Mit dieser Abschweifung auf das Feld der Gesellschaftspolitik Sklavonisiens haben wir uns von dem Thema dieses Abschnitts, Vergnügungen, etwas entfernt. Wir kehren wieder dorthin zurück.
Vergnügungen 2
Die neu in ihre Arbeitsstellen gelangten Ganovaner bleiben meistens bis in die Nachtstunden dort, sei's weil sie sich mit bislang unbekannten Anforderungen vertraut machen müssen, sei's weil sie davor zurückscheuen, sich schon jetzt dem privaten Bereich ihrer neuen Existenz zu stellen. Hier kann es bisweilen zu unerquicklichen Begegnungen kommen. Der Einstieg in ein neues berufliches Umfeld mag mit einer gewissen Sachlichkeit absolviert werden; anders ist es, wenn man nachts die im Personalzettel angegebene Wohnung betritt und sich Personen gegenübersieht, die von nun für eine begrenzte Zeit als die eigene Familie zu gelten haben. Besonderer Einfühlsamkeit und Toleranz bedarf es, wenn man durch die Willkür des Traumgeschehens einen Wechsel des Geschlechts erfahren hat und nun etwa als (biologischer) Mann die Rolle einer liebenden Gattin erfüllen muss. Es gibt Beispiele, die belegen, dass solche Herausforderungen problemlos, ja, con brio gemeistert werden können. Aber nicht immer gelingt es, die nötige Aufgeschlossenheit und Experimentierfreude aufzubringen, die erforderlich ist, den ehelichen Verkehr befriedigend zu gestalten. Das beginnt schon mit der Frage, wie in Zukunft das gemeinsame Abendessen absolviert werden soll. Schwieriger ist es, die Kontinuität der Kindererziehung aufrecht zu erhalten. Auch wenn ein Großteil dieser Erziehung in staatlicher Hand liegt, so müssen doch einige Stunden familiärer Trautheit einigermaßen friedvoll über die Runden gebracht werden. Das größte Problem besteht aber zweifellos in der einvernehmlichen Lösung der Frage des sexuellen Umgangs. Hier bemüht man sich behördlicherseits um die Hebung der Polymorphiebereitschaft der Bürger und Bürgerinnen. Broschüren versuchen, den Weg zu einer Ausweitung der Möglichkeiten libidinöser Erfüllung zu ebnen, aber auch hier sind die Fortschritte vermutlich nur nach Generationen zu messen. Eine tief in der sklavonischen Tradition verankerte Homophobie steht dem ohne Zweifel noch mehr entgegen als die schon unter den Bassaniden geförderte und öffentlicher Ergötzung dienenden Übungen sapphischer Liebe. Nicht gern gesehen, aber auch nicht zu unterdrücken sind die sogenannten Violetten Lokale. Diese öffnen erst gegen Mitternacht und geben jenen Ehepaaren, deren eine Hälfte durch die Traumrotation ersetzt wurde, die Gelegenheit, ihre sexuellen Bedürfnisse entweder anonym zu befriedigen oder aber, das abhandengekommene Ehegespons hier wiederzufinden. Ursprünglich als Behelf für die von der Traumrotation Betroffenen gedacht, haben sich diese Etablissements zu etwas entwickelt, das im Volksmund, wenig feinsinnig, schlicht als Bumsbude bezeichnet wird. Auch Reisende haben hier Zutritt, wenngleich ihre Chancen, einen Partner für die Nacht zu finden, gering sind. Die sklavonischen Anbahnungsrituale sind kompliziert und erfordern ein langwieriges Training in Mimik, Gestik, Postur und verbalem Austausch. Vor allem letzterer dürfte von Fremden kaum geleistet werden, da die Kenntnis des umfänglichen Kanons sklavonischer Bezirzungslyrik hierfür Voraussetzung ist. Findet ein Sklavone Gefallen an einem möglichen Partner, deklamiert er eine Zeile aus diesem großen Fundus. Der oder die Angesprochene muss das Gedicht passend fortsetzen und dann seiner- oder ihrerseits dem Gegenüber eine Zeile zur Probe vorlegen. Dieses Hin und Her kann lange währen, und manchmal finden die beiden möglichen Partner so viel Gefallen an diesem lyrischen Austausch, dass sie den Paarungszweck darüber vergessen und stattdessen eine platonische Freundschaft schließen. Wenn dies geschieht, suchen sie unter den Umstehenden zwei hilfsbereite Wesen, welche diesen Seelenbund besiegeln sollen und, sobald dies vollbracht ist, zu einer schnellen Nummer im Hinterzimmer gebeten werden. Diese Abreaktion an zwei Wildfremden dient der Reinigung des frisch geschlossenen Seelenbundes. Leider hat sich hier eine gewisse Praxis der Trittbrettfahrerei eingeschlichen. Lyrisch weniger sattelfeste Sklavonen, die bei diesem traditionellen Anbahnungsritual kaum Chancen haben, haben sich darauf verlegt, als Parasiten um ein Pärchen herumzustehen, das sich möglicherweise einem Seelenbund entgegendeklamiert. Diese Parasiten hoffen dann, als Besiegler herangezogen zu werden und auf diese Weise einen relativ aufwandlosen Beischlaf zu ergattern. Reisende mit ihrer fast zwangsläufigen Unkenntnis des sklavonischen Bezirzungskanons können in den Violetten Lokalen fast nur durch diese Praxis des sogenannten Abstaubers zum Erfolg kommen, aber es lässt sich nicht leugnen, dass die erlebte Befriedigung oberflächlich ist und einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.
Vergnügungen 3
Eindrucksvoller als diese faden Lüste, die im sklavonischen Nachtleben erhascht werden können, sind allemal die öffentlichen Aufführungen, die in der sklavonischen Kultur die feine Mitte zwischen Sport, Tanz und Akrobatik halten. Besonders empfehlenswert sind die Partien, die jeden Sonntag auf dem Gelände gespielt werden, auf dem zweimal jährlich das Panzerschach stattfindet. Für diese Partien hat sich der Name Ziegenwerfen eingebürgert, obwohl damit nur ein Teilelement des Spiels bezeichnet wird. Es treten bis zu fünf Mannschaften gleichzeitig gegeneinander an. Jede Mannschaft besteht aus dreißig Spielern, die, in Schichten von sechzehn, neun, drei und zuoberst einem Mann, eine Menschenpyramide bilden. Das Haupt der Pyramide trägt einen Ziegenbock. Es gereicht der Mannschaft zum Ruhme, wenn der Ziegenbock ein kräftig zappelndes, ungebärdiges Exemplar ist, da hierdurch die Mühe des Pyramidenhauptes, die Balance auf seiner ohnehin schwankenden Basis zu halten, noch einmal gesteigert wird. Ziel des Spiels ist es, von der jeweiligen homebase der Mannschaft aus in Pyramidenformation in die Mitte des Spielfelds vorzudringen, um dort die Pyramide der rivalisierenden Mannschaft mit einem gezielten Wurf des Ziegenbocks zu Fall zu bringen. Da das Spielfeld aufgrund seiner Nutzung als Panzerschachgelände höchst uneben ist und nicht nur kleine Fußfallen und verfängliche Mulden aufweist, sondern auch metertiefe Sprengkrater, gewährt das Erscheinungsbild einer hier dahinparadierenden Menschenpyramide allein schon einen Quell der Heiterkeit. Bereits auf gutem Grund ein ergötzlicher Anblick, gewinnt diese schwankende, bebende, sich an der Basis immer wieder gefahrvoll verdickende und zusammenziehende Formation, die allzeit vom Kollaps bedroht ist, durch die Schikanen des aufgerissenen Bodens noch einen zusätzlichen Reiz. Anders als beim Panzerschach geht es dem Publikum beim Ziegenwerfen nicht um das Wohlgefallen an der cleveren Volte eines Spielzugs oder einer schlau ausgetüftelten, komplexen Strategie. Der ästhetische Reiz beim Ziegenwerfen erschöpft sich ganz und gar in der lauernden Erwartung des Publikums, wann die Menschenpyramide denn nun einstürze, und in der Befriedigung, nach eingetretenem Unfall, nicht selbst darin verwickelt zu sein. Möglicherweise gründet die Begeisterung, die das Ziegenwerfen bei den Ganovanern auslöst, auch nur in der Zügigkeit, mit der sofort nach Einsturz einer wandelnden Pyramide die Sanitäter auf den Platz eilen, um die Opfer zu verarzten oder auf Bahren davonzutragen. Diese Zügigkeit fasziniert die Zuschauer aus vielerlei Gründen: zum einen bietet sie einen willkommenen Kontrast zu der behäbig schwankenden Fortbewegung der Pyramiden; sodann haben sich die Sanitätsteams den Erfordernissen moderner Lustbarkeiten angepasst und tragen statt der schlecht sitzenden Kluften von früher mittlerweile sehr knappe, glänzende Uniformen, deren an Fußgelenken, Knien, Hüften, Ellbogen, Brüsten und Schläfen angebrachte Puschel aus rotem Flitter sehr schmuck wirken und - choreographischer Übung sei Dank - meist in einem gemeinsamen Rhythmus wippen, was sehr ansehnlich ist; schließlich trägt zu dem Wohlgefallen des Publikums noch bei, dass sie sich bei der Betrachtung des sowohl schönen als auch effizienten Vorgehens der Sanitäter wohlig in dem Irrglauben wiegen können, es sei in ihrem Staat alles zum Besten bestellt. Angesichts einer solch grotesken Fehleinschätzung kann der Reisende nur schwer das hämische und herablassende Gelächter des verwöhnten Okzidentalen unterdrücken. Es ist indes ratsam, ein solches Gelächter nicht laut werden zu lassen. Die Einheimischen können hier empfindlich reagieren. In manchem Belang sind sie durchaus ehrpusselig, leicht verletzbar und in ihren Reaktionen unbeherrscht.
Medizinische Versorgung
Die Heilkunst Sklavonisiens genießt hohes Ansehen, und das zurecht. Viele im Westen als unheilbar geltende Erkrankungen werden hier mit einer gewissen nassforschen Zuversicht behandelt: Schamanen raunen mit dunkler Stimme über entstellenden Ekzemen, alte Weiber lassen glasigen Blicks Bleipendel über kindskopfgroßen Geschwulsten schwingen, Jungfern, denen die Anämie in blassen Lettern ins Gesicht geschrieben steht, zaubern mit bloßer Hand Kopfschmerzen, die keine Tablette auflösen konnte, von den Schläfen des Kranken. Malaisen, die womöglich im Feinstofflichen wurzeln, können hier in Sklavonisien ab und zu beherzt ausgerissen werden wie willige Möhren; bei der Behandlung von Beeinträchtigungen, die sich mechanischer Einwirkung verdanken, ist die Bilanz weniger positiv. Der Stauchungen, Prellungen, Torsionen, Läsionen und Frakturen, wie sie beispielsweise als unabdingbare Folge deplazierten Okzidentalengelächters am Rande eines Matches Ziegenwerfen auftreten, nehmen sich die staatlichen Ärzte eher unwillig an. Im Falle einer Schienbeinfraktur muss man stets gewärtig sein, unter Vollnarkose in eine Ganzkörper-Gipshülle verwandelt zu werden. Zwei Fälle sind bekannt geworden, in denen die eingegipsten Verletzten für mehr als eine Woche als Ersatz der überholungsbedürftigen Sandsteinskulpturen auf dem Sims der Kunstakademie aufgestellt worden waren - ein Übergriff, der kaum dadurch aufgewogen wurde, dass die zwei Aktmodelle des Hauses während ihrer Sitzungspausen die beiden Figuranten mit Maisbrei versorgten und die unabdingbarsten sanitären Handreichungen erledigten. Andere Eingegipste sind als Türstopper oder stumme Diener missbraucht worden; es geht sogar die Rede, ein Eingegipster habe am Grab des jüngst beigesetzten zweiten Unterstaatssekretärs als flehender Engel herhalten müssen; ein Versorgungsengpass im funeralen Produktionssegment habe nur durch eine solche Aushilfstätigkeit geschlossen werden können. Solche Zweckentfremdungen geschwächter und wehrloser Reisender kommen zwar häufiger vor als man gutheissen kann, aber einstweilen bewegen sie sich noch im einstelligen Prozentbereich und sollten darum niemanden abschrecken, nach Sklavonisien zu reisen.
Einkaufstipps
Diese Rubrik gehört fest zu unserer Reiseführer-Reihe. Leider hat Sklavonisien im Bereich gehobenen Konsums nur wenig zu bieten, was hier der Erwähnung wert wäre. Das liegt weniger an den rigiden Ausfuhrbeschränkungen Sklavonisiens als vielmehr an dem Mangel hier produzierter exporttauglicher Waren. Viele Reisende werfen ihr Auge auf die sklavonische Tanznatter, die wir bereits erwähnt haben, und deren Faszinationskraft sowohl ihrer Fähigkeit verdankt ist, sich aus eigenem Antrieb zu gefälligen Krawattenknoten zu wickeln, als auch ihrer pharmazeutischen Wirksamkeit als Euphorikum. Doch selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, ein Exemplar zu erwerben und durch den Zoll zu bringen (was angesichts der hier herrschenden Korruptionsneigung durchaus möglich ist), werden Sie keine große Freude an Ihrer Erwerbung haben, da die Tanznatter ein sehr spezifiziertes Milieu benötigt. Einmal aus ihrem vertrauten Magnetfeld entfernt, verkümmert sie schnell; bereits in zweihundert Metern Flughöhe büßt sie ihre Verknotungswilligkeit ein, in vierhundert Metern Höhe kann sie das Enzym nicht mehr synthetisieren, das ihren Giftdrüsen jene erheiternde Wirksamkeit verleiht, deretwegen sie so geschätzt wird. Die Märkte Ganovas bieten andere Waren feil. Abgesehen von Nahrungsmitteln ist hier ein reiches Sortiment von Steinen zu erwähnen. Diese sind allerdings weder schön noch würde man wagen zu behaupten, dass sie diesen ästhetischen Mangel durch die Reize besonders bizarrer Gestaltung kompensierten. Der einzige Grund, aus dem sich die Ganovaner um diese Stände scharen, ist ihre Leidenschaft, zu feilschen. Die Steinhändler verlangen von jedem Interessenten anfangs horrende Preise und lassen sich erst nach hartnäckigen und wortreich geführten Auseinandersetzungen dazu herab, von ihren aberwitzigen Forderungen abzustehen, wobei sie in großen Klagekoloraturen und mit melodisch ausgefeilten Lamentos ihr trauriges Händlerlos bejammern, das sie zwingt, ihre Waren unter Wert zu verkaufen. Die Kundschaft hält dem in Rezitativen und Arien ausgearbeitete Bezichtigungen entgegen, mit denen sie die Ehrlichkeit und Billigkeit der Händler in Zweifel ziehen. Die Händler können nach dieser Ouvertüre verschiedene Mittel aus dem landesüblichen Repertoire des Feilschens wählen: sie heucheln pantomimisch Bestürzung über solche Unterstellungen, sie zerfleischen sich mit den Fingernägeln die Brust, rupfen sich Haarbüschel aus, manche schneiden sich sogar mit silbernen Zangen die Fingernägel, was in Sklavonisien als Ausdruck kaum noch überbietbarer Zerknirschung gilt. Es geschieht auch, dass Händler mit Gewaltandrohungen gegen die ehrabschneiderischen Behauptungen ihrer Kundschaft vorgehen (keine Angst, diese Androhungen sind rein choreographischer Natur und werden nie wahrgemacht); andere wiederum versuchen, ihrer Ehrlichkeit durch Wimmern und Schluchzen Nachdruck zu verleihen; wieder andere verweisen auf eine ruhmreiche Ahnentafel, die ihre Rechtschaffenheit belegen soll. Das Repertoire ist zu reichhaltig, um es hier vollumfänglich darzustellen. Das Hin und Her endet immer damit, dass die Kundschaft zur ultima ratio greift und nicht mehr die Unangemessenheit des geforderten Preises kritisiert, sondern die Frage stellt, wozu ein solcher Stein überhaupt gut sein soll, woraufhin der Händler meist klein beigibt und bereit ist, die Ware gegen eine durchaus moderate Summe abzugeben, die sich nach der Zeit des gesamten Feilschvorgangs bemisst. Eine Viertelstunde Feilschens wird mit etwa zwei Zlok entgolten; selbst die großen Virtuosen ihres Fachs verlangen nur selten mehr als vier - und man muss zugeben, dass das Vergnügen diesen Preis durchaus wert ist. Allerdings heisst das nicht, dass den verkauften Steinen dieser Wert bleibt. Die Kunden wissen sehr wohl, dass sie nutzlosen Plunder erworben haben und werfen ihn darum weg, sobald sie außer Sichtweite des Händlers sind. Es wäre reichlich idiotisch, Ihr Fluggepäck mit diesem plumpen Zeug zu beschweren.
Währung
Sollten Sie sich das Vergnügen gönnen, zu feilschen, lassen Sie sich nicht von der komplizierten Währung Sklavonisiens irritieren, die eine Mischung aus Duodezimal-, Quarantesimal- und Quarantaseximalsystem darstellt und von unterschiedlichsten Kodifizierungsinstanzen sehr wechselhaft eingestuft wird. Auch wird die Umrechnung einiger überkommener Währungen in die aktuelle nicht immer in Einhelligkeit absolviert. Alte Währungen werden gemeinhin immer noch akzeptiert, aber mit einer Variationsbreite verrechnet, die an Willkür grenzt. Folgende Auflistung mag darum hier allenfalls als grober Anhalt dienen: 1 Zlok entspricht zwischen 32 und 48 Bratz. 66 Bratz entsprechen ungefähr 12 Gedink. 120 Gedink (kleinere Mengen werden nicht umgerechnet) entsprechen 1,7 Tallonen. 2 Tallonen können in den amtlichen Wechselstuben gegen 16 Zlok oder 20 Bratz eingetauscht werden, wobei man sich vorher Gedanken über die Verwendung dieser Valuta machen sollte, da mit Zlok vor allem Waren aus Metall, Stein oder Leder gekauft werden können, während das Bratz leichtverdaulichen Lebensmitteln, und das Gedink solchen vorbehalten ist, die schwerer im Magen liegen. Am besten ist es, Sie bezahlen alles in Tallonen, auch wenn es hier oft zu Unstimmigkeiten beim Herausgeben des Wechselgeldes kommt. Doch erstens sind Unstimmigkeiten angesichts der alogischen Umrechnungsverhältnisse ohnehin nicht zu vermeiden, und zweitens sind all diese Währungen nach okzidentalen Maßstäben sowieso wertlos. Da Sie für zehn Dollar einen Monat lang (für sklavonische Verhältnisse) in Saus und Braus leben können, wäre es müßig, sich mit irgendwelchen Pfennigfuchsereien aufzuhalten.
Ausflüge
Eine Ausnahme von der Wurstigkeit in Währungsfragen ergibt sich allerdings, wenn Sie Exkursionen ins Umland Ganovas planen. Die Geldwirtschaft ist nur in einem Umkreis von etwa 50 Wulst (was ungefähr 30 - 90 Kilometern entspricht) um Ganova herum entwickelt. Jenseits dieser Grenze empfiehlt es sich, genügend Waren mitzuführen, mit denen Sie sich das Wohlverhalten der bäuerlichen und nomadischen Schichten Sklavonisiens erkaufen können. Als besonders begehrt haben sich Grabstöcke (die Vorfahren heutiger Pflüge) erwiesen; aber auch Papierblumen, Zuckersäcke, Faustkeile aus Obsidian sowie Seifenblasenringe (mit einem entsprechendem Vorrat an Lauge) werden gern genommen. Zumal letzteres ist immer dazu geeignet, die Zuneigung von Stämmen zu erringen, in denen eine erstaunliche Langlebigkeit der Individuen nicht immer mit einer ebenso unverwüstlichen Geisteskraft derselben gepaart ist. Vor allem im Westen Sklavonisiens gibt es einige Stämme, deren Mitglieder nicht selten ein Alter von 120 Jahre oder mehr erreichen. Da die mangelhafte Nährstoffversorgung dieser Stämme oft bewirkt, dass spätestens mit 60 Jahren erste Formen der dementia schlawinica auftreten, gibt es einen enormen Bedarf an Zerstreuungsmitteln für die Senioren dieser Populationen: Seifenblasenringe, kleine Windräder, Räucherwerk, Kaleidoskope, Fingermalfarben, bunte Glasperlen, Rasseln. Solche Mitbringsel werden Ihnen die ewige Dankbarkeit dieser Gruppen sichern.
Wir legen Ihnen nachdrücklich ans Herz, einen Ausflug in die Stammesgebiete erst zu unternehmen, wenn Sie glauben, Ganovas Reize bis zur Neige ausgekostet zu haben. Die Exkursion wird einen Höhepunkt ihrer Reise bilden. Danach wieder in den sklavonischen Touristenalltag einzutauchen, wäre nur eine betrübliche Erfahrung. Traditionell beginnt die Exkursion mit einem Besuch in der Kathedrale der Heiligen Gottesnichte, deren verlorengegangene Schätze wir Ihnen in der Beilage A ausführlich geschildert haben. Doch dieses Mal vermeiden Sie es bitte, sich mit Hilfe unserer schriftlichen Rekonstruktion vorzustellen, wie dieser große Raum einst ausgesehen haben muss. Versuchen Sie, die gerühmten Kapitelle zu vergessen, den meisterlichen Sandsteinlettner, die goldstrotzende Ikonostase, den Altar, auf dem zu Zeiten der bassanidischen Restauration der Heilige Hahn des Boddhisatwa wie auf einem Scheiterhaufen aus goldenen Backkartoffelstäbchen dargebracht zu werden pflegte. Vergessen Sie all die vergangene Pracht, die heute nur noch für verschrobene Kunsthistoriker von Belang ist. Verzichten Sie darauf, in Gedanken die barbarischen Bilderstürmer und Vandalen der Revolution zu verfluchen, die aus dieser Kathedrale alle Kunstwerke und Andachtsgegenstände gerissen, die gemeisselten Reliefs eingeebnet, von den bemalten Säulen die Farbe abgekratzt und die Mosaike zerschlagen haben. Dies sollte nicht die Stunde sein, in der Sie Verlorenes bedauern. Im Gegenteil sollte diese Visite eine Gelegenheit sein, auf gefasste Weise von Dingen Abschied zu nehmen, die man als überflüssig erkannt hat. Lassen Sie bei diesem Ihrem letzten Besuch der Kathedrale die gewaltige Leere auf sich wirken, die Sie dort umgibt. Lauschen Sie dem hohlen Sausen des Windes, der um die Klangsäulen vor dem Obergaden streicht. Horchen Sie auf das Ächzen der Balken in der Empore. Schärfen sie Ihre Ohren für das unablässige Abbröckeln des Verputzes. Hören Sie gut hin, wie in einem fort Steinchen purzeln, Kiesel rieseln, Stäubchen sinken. All diese Geräusche, und auch das gedämpfte Tosen, das von jenseits der Mauern hereindringt, formen - wie der sklavonische Nationaldichter Marlowskin einst schrieb - die Kalkhülle eines riesigen Eis, in dem in gelber, süßer Klebrigkeit ein neues Leben heranwächst. "Der Lärm vom Markt sei mir ein Schrein, dass neu ich werd, Gelass, Gewölb zu neuem Sein."[7]
Werfen Sie sich zu Boden. Prosternieren Sie sich. Wenn die Temperaturen es irgend zulassen, reissen Sie sich die Kleider vom Leib. Im nördlichen Querschiff werden Sie eine Vorrichtung finden, die an einen Handtuchspender erinnert. Hier können Sie einen papiernen Lendenschurz entnehmen, mit dem Sie für den Abschied würdig ausgestattet sind. (Büstenwickel für die Damen stehen hier leider nicht zur Verfügung; es wird behauptet, er sei wegen mangelnder Nutzung wieder abgebaut worden, aber wir halten das für unwahrscheinlich. Die Ganovanische Verwaltung hat sich über solch kleinliche Parameter wie Angebot und Nachfrage, Bedarf und Aufwand etc. bislang noch immer mit souveräner Nichtachtung hinweggesetzt, und einmal getroffene Entscheidungen niemals bloß wegen erwiesener Überflüssigkeit rückgängig gemacht; warum also sollte es hier anders sein?) Einige Reisende berichten, dass sie bei der Prosternation deutliche Kraftlinien verspürt hätten, die dem Kathedralenboden einbeschrieben seien. Ein gewisser Happi Kautz - gebürtiger Sudete, Begründer der Brüderschaft der flatulierenden Christwindel strikter Observanz - soll im Jahr 1989 so über den mit Beton versiegelten Boden der Kathedrale gerobbt sein, dass man mit Hilfe dieses chronofotografisch dokumentierten Bewegungsdiagramms die exakte Struktur jenes Labyrinths erkennen konnte, das einmal dort eingelassen gewesen sein soll. Dadurch ließ sich eine alte, bis dahin nie verifizierbare These erhärten, dass Grundriss und Ausführung maßgeblicher Details der ganovanischen Kathedrale an derjenigen im nordfranzösichen Amiens orientiert waren; Renaud de Cormont, einer der Architekten zu Amiens, soll nach der Beendigung der Arbeiten dortselbst nach Sklavonisien gewandert sein, um zur Missionierung dieses wilden Völkchens sein Scherflein beizutragen. Versuchen Sie, dem Bravourstück Kautzens in puncto Sensitivität nachzueifern, indem auch Sie die spirituelle Reise ins Herz des Labyrinths unternehmen. Selbst wenn Sie weniger empfänglich für dessen Kraftlinien sind als die des gewieften Esoterikers, und Sie nicht mehr zuwege bringen als zielloses Gekrabbel, so ist dies doch wenigstens dazu gut, eine Schar von Hundekutschern herbeizulocken, die gute Kundschaft wittern. Wählen Sie unter den Kutschen ein Gespann von mindestens zwölf Zugtieren. Die Reise in die Stammesgebiete ist beschwerlich. Achten Sie darauf, dass den kräftigen Mastinos mindestens ein Pudel vorgespannt ist; deren Klugheit und Wegesicherheit ist derjenigen der Kutscher meist merklich überlegen. Achten Sie ferner darauf, dass die Kutsche mit ausreichend Pelzen versehen ist. Die Nächte in der Wüste können empfindlich kalt sein. Von Vorteil ist es, wenn zu dem Gespann auch zwei der wolligen Strzewilskis gehören - eine besondere Hunderasse, die zwar nicht als Zugtier taugt, aber aufgrund ihrer Anlehnungsbedürftigkeit ein ideales Heizaggregat für Kutschpassagiere darstellt. Diese verdienstvollen Tiere haben schon manchen Reisenden vor dem Erfrieren bewahrt; zudem ergeben sie im Notfall sehr schmackhafte Ragouts. Am besten treten Sie die Fahrt bereits in der Nacht an. Denn auch wenn die Kutscher gern behaupten, dass sie sich bei der Reise durch die Wüste zuverlässig am Stand der Gestirne orientieren können, empfiehlt es sich schon aus touristischen Gesichtspunkten, die Wüste im hellen Licht des Tages zu bereisen. Den suburbs Ganovas hingegen gereicht es zum Vorteil, wenn man sie im gnädigen Schutz der Dunkelheit durchquert. Wenn Sie gegen Mitternacht aufbrechen, haben Sie bei Anbruch des Tages alle Spuren sklavonischer Besiedlung (den Ausdruck Zivilisation wollen wir würdigeren Zeugnissen vorbehalten wissen) hinter sich gelassen, und die sklavonische Wüste liegt in all ihrer erhabenen Eintönigkeit vor Ihnen. Blicken Sie nicht zurück. Der Kutscher könnte einen solchen Blick als Trauer um das Verlorene deuten und Sie stehenden Fußes zurückspedieren wollen. Lächeln Sie darum den Kutscher aufmunternd an und blicken erwartungsvoll nach vorn, auch wenn der Kutscher nicht aufhören will, Sie mit seinen traurigen Blicken zu behelligen und seinerseits flehentlich nach seiner Heimatstadt Ausschau hält, die sich in Ihrem Rücken langsam am Horizont verliert. Schauen Sie weiter unverwandt nach vorn auf die öde Tundra, auf der sich der riesige Schatten des Körpers des Kutschers abzeichnet wie ein schwarzer Engel, der einer dunklen Bestimmung entgegenfliegt. Bald werden erste sanfte Hügel ihre langen Rücken aus der Ebene heben. Zu Ihrer Rechten kommt allmählich die Gebirgskette des Gaddai in Sicht: das schräge Licht des Morgens kehlt die schroffen Schrunden der Abhänge noch tiefer aus als sie das in ohnehin schon sind. In der Mythologie der Tawiri - einem der hier nomadisierenden Völker - gilt das Gaddai als der gestürzte Baumstamm, an dem der große Sonnenlöwe seine Krallen wetzt. Wenn - was oft genug geschieht - eine Mure von einem der Hänge abgeht, weiss der Tawir, dass der Sonnenlöwe seine Klauen für einen gewaltigen Angriff schärft. Er versucht, so schnell es geht, seine Herden und seine Frauen in Sicherheit zu bringen, indem er die Tiere blendet und den Frauen die Augen verbindet. Doch auch die über heiligen Feuern gekochte Suppe aus den Augen der Hammel vermag oft nur wenig gegen die gnadenlosen Attacken des großen Löwen, sodass die Herden und die Frauen in hastig ausgehobenen Erdlöchern Zuflucht nehmen müssen. Manchmal verbringen die Tawiri Monate unter Tage, und erst, wenn einer der seltenen Regenfälle die Erdlöcher unterspült, weiss der Schamane des Stammes, dass der Hunger des Sonnenlöwen gestillt ist und das Untier - nunmehr satt und wieder zum Frieden gesonnen - sich das Blut seiner Opfer von den Lefzen wäscht. Von Zeit zu Zeit erglänzen in der Ferne blaue Seen. Manchmal handelt es sich dabei nur um Luftspiegelungen; es ist jedoch auch schon vorgekommen, dass Reisende in einer vermeintlichen Fata Morgana ertrunken sind. Pudel in ihrer unbestechlichen Intelligenz sind ein zuverlässiger Schutz gegen solche Irrtümer; ebenso zuverlässig spüren sie Wasserquellen auf. Bisweilen kommt es vor, dass Sie sich einer Oase nähern, die plötzlich in einer riesigen Staubwolke zu explodieren scheint. Lassen Sie sich davon nicht verunsichern und zwingen Sie den Kutscher, weiter Kurs auf dieses Wadi zu halten, obwohl er Ihnen weiszumachen versucht, dass nichts mehr davon übrig sei, sobald der Staub sich gelegt habe. In Wahrheit aber hat ein Nomadenstamm (selten Tawiri; meist sind es Patschonen oder Abjizier), der Ihrer Annäherung innegeworden ist, in aller Eile seine Lederzelte abgebrochen und die Flucht begonnen. Die Kutscher wissen um diese Angst der Stämme vor Fremden und versuchen, sie zu schonen, indem sie rechtzeitig den Kurs ändern. Spornen Sie den Kutscher in einem solchen Fall zu noch größerer Eile an. Das treibt den flüchtigen Stamm ebenfalls zu erhöhter Eile: in der Hast wird er sicherlich einige seiner Besitztümer zurücklassen, die Ihnen die Rast in der Oase versüßen können. Meist lassen die Fliehenden auch Alte und Schwache zurück, was den unschätzbaren Vorteil mit sich bringt, dass Sie so in Kontakt mit einer fremden Kultur treten können, ohne Auseinandersetzungen mit deren wehrhaftem Volksteil befürchten zu müssen. Die Alten und Schwachen pflegen dem Reisenden gemeinhin zu huldigen. Zeigen Sie sich Ihrerseits gnädig und weisen Sie die Ihnen dargebrachten Geschenke keinesfalls zurück; das könnte Ihnen als Hochmut ausgelegt werden. Erweisen Sie sich im Gegenteil als bescheiden und verzehren die Vorräte der Zurückgelassenen ohne heikles Gebaren. In jener anderen Welt, die auf die ihrer schützenden Gemeinschaft beraubten Alten wartet, wird diesen der Großmut und die Großzügigkeit hundertfach entgolten werden, welche sie den Reisenden gegenüber an den Tag gelegt haben. Lassen Sie sich auf keinen Fall das Vergnügen entgehen, das die rituellen Tänze der Stämme gewähren. Auch wenn die Alten diese Tänze sicherlich nicht mit der Verve aufführen, welche die gelenkigen Jungen aufbringen, so genügen doch auch die etwas spröderen Vorführungen der Senioren, Ihnen einen Einblick in diese exotischen Bräuche zu verschaffen. Sollten die Alten auf ihre Gebrechen verweisen, um sich der Vorführung zu entziehen, genügt meist das Abschirren eines Mastinopärchens, um das Entgegenkommen der Tanzunwilligen zu bewirken.
Versäumen Sie nicht, den Figuranten nach der Vorführen ausreichend Beifall zu spenden; Applaus ist das Brot des Künstlers. Lassen Sie die Alten sich an Ihrem Applaus satt essen, und dann setzen Sie Ihre Reise ohne weiteres Säumen fort. Es empfiehlt sich nicht, die Nacht gemeinsam mit den Alten zu verbringen. Es sind Fälle bekanntgeworden, in denen Hunde vergiftet wurden; selbst Anschläge auf Reisende können nicht ganz ausgeschlossen werden, zumal manche Stämme mittlerweile auf die Heimtücke verfallen sind, kleine Abordnungen bewaffneter Knaben zurückzulassen, die sich tagsüber in den Baumkronen des Wadis verbergen und dann des Nachts herabklettern, um dem Reisenden die im Schlaf arglos dargebotene Kehle durchzuschneiden. Um dies zu vermeiden, raten wir, spätestens mit Einbruch der Dämmerung die Reise fortzusetzen. Die Stunde bis zur Dunkelheit genügt, um einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu den Eingeborenen zu gewinnen.
Eine sternklare Nacht in der Wüste Grob gehört zu den fesselndsten Lektüreerlebnissen, die einem passionierten Reisenden hienieden zu genießen gewährt sind. Konsultieren Sie vor Antritt der Fahrt den Mondkalender. Denn erst bei Neumond erschließt sich das große Buch der Gestirne in seiner ganzen Pracht. Der Text dieses tiefgründigen Epos, das der Schöpfer in den Sternen niedergelegt hat, tritt erst hier, fernab von jeder Zivilisation und befreit von allem irdischem Streulicht, in vollkommener Deutlichkeit zutage, als hätte eine wohlwollende und allmächtige Hand den Schmutz von der großen Schriftrolle gewischt, in die das Universum gemeinhin gehüllt ist, und von der wir in unseren zersiedelten und rußigen Heimatgegenden zumeist nur einen verderbten und unvollständigen Abriss erahnen können. Über der Wüste Grob treten die stellaren Lettern aus dem Schmutz heraus, in den sie sonst versunken sind. Erst hier verbinden sich die flimmernden Pünktchen, mit denen wir uns zumeist begnügen müssen, zu klaren Schriftzeichen, indem für unsere Augen meist allzu ferne, allzu lichtschwache Sterne hinzutreten und die Lücken füllen, die uns im Westen diesen heiligen Text entstellen. Denn die Sterne formen nicht, wie so viele Völker gedacht haben, die Bilder eines Bären, eines Wagens oder eines giftigen Skorpions, der seinen Stachel gegen den Pfeil eines an den Himmel versetzten Schützen hebt. Der Schöpfer hat nicht mit ungelenker Hand ein mythologisches Bilderbuch an den Nachthimmel gemalt; solche Vorstellungen sind einer rohen, unreifen Ära des menschlichen Geistes entsprungen, als man sich Gott nicht anders als einen unbeholfen krakelnden Schmierfinken vorzustellen vermochte. In Wirklichkeit verhält es sich ganz anders. Zwar hat Gott in der Tat die großen Abenteuer und Widerfahrnisse seiner Lieblinge am Himmel verewigt, doch nicht in Form kosmischer Comics und ikonischer Abbilder, sondern als vernünftig geordnete Rede, als geläuterter Ausfluss seines Geistes: als zu Wort und Schrift geronnene Wiedergabe seiner unausschöpflichen Gedanken. Es gab im Lauf der Zeiten immer schon Menschen, die dies ahnten. Doch waren sie einsichtig genug zu begreifen, dass uns diese Worte des Schöpfers nur wie in einem dunklen Spiegel erscheinen. Wäre ihnen das Glück beschieden gewesen, eine mondlose und sternklare Nacht in der Wüste Grob zuzubringen, hätten sie Gottes Wort als flüssig lesbaren Text erkannt und sich mit wachem Geist darein versenkt. Wenn die Hunde schlummern und der Kutscher in seinen traumlosen Schlaf gefallen ist, beginnt für Sie, den Reisenden, die Stunde der Lektüre der Schrift, die der Schöpfer in ruhiger Gemessenheit über Ihrem Haupt entrollt. Es ist fast unmöglich, wenn Sie in der reichen, flimmernden Sternensaat über sich die Schrift erkennen, die Fassung zu bewahren. Der Eindruck ist so gewaltig, dass sich angesichts dieser Offenbarung der Größe Gottes kaum jemand der Tränen erwehren kann, die ihm vor schierer Überwältigung in die Augen schießen, da Gott sich herablässt, seine Geheimnisse so bereitwillig preiszugeben und einem Irdischen in klaren und deutlichen Lettern mitzuteilen. Gott, so werden Sie mit unverrückbarer Gewissheit spüren, breitet hier die ganze Wahrheit des Universums aus - er erzählt in allem Freimut die Geschichte seiner Schöpfung, die Schicksale seiner Geschöpfe, das Los, das er jedem einzelnen zugeteilt hat, die Geschicke der Länder und Völker. Und - auch das werden Sie spüren - er vertraut den Lesern auch das Geheimnis ihres eigenen Lebens an: es steht offen geschrieben am Firmament, in leuchtenden Buchstaben. Doch niemandem gelingt es, die Tränen, die angesichts dieser Offenbarungen seinen Blick überschwemmen, zum Versiegen zu bringen. Unter Schluchzen werden Sie versuchen, Ihre Tränen zu stillen - doch nur für kurze Momente werden Sie's vermögen, die Augen zu trocknen und mit klarem Blick ein Wort oder zwei von dem unendlichen Text am Himmel zu erhaschen. So gewaltig das Geschenk ist, das der Schöpfer Ihnen macht, so wenig sind Sie imstande, es anzunehmen. Nur einzelne Worte, aus dem unendlichen Strom der Gottesschrift gerissene Lichtsplitter bleiben Ihnen für eine Weile erhalten, bis der Morgen, wenn die aufziehende Dämmerung die letzten Zeilen der Schrift verschlingt, auch diese Bruchstücke erlöschen lässt, und Sie statt der glitzernden Juwelen, die Sie hätte lesen können, nur noch ein paar rauhe Steine in Händen halten, aus denen alles Leuchten getilgt ist. Nur manchmal gelingt es, einen schwachen Abglanz zu bewahren. Doch auch dieser matte Schimmer verglimmt, wenn Sie sich auf die Reise zurück nach Ganova machen - und vollends erlischt er, wenn Sie am Flughafen bei der Zollabfertigung ein letztes Wort mit dem strengen Beamten wechseln, der Sie bittet, alle Erinnerungen an das Land, das Sie nun verlassen, abzugeben, und nackt und bloß, nur mit einem papierenen Lendenschurz bekleidet, das Flugzeug zu besteigen, das Sie nach Hause bringt, sodass das Einzige, das Ihnen von Ihrer Reise nach Sklavonisien bleibt, die Erinnerung an die glimmende Stadt unter Ihnen ist, ihre Häuserzeilen, die wie in Absätze gegliederte Anordnung ihrer Monumente und Plätze, und der Traum, den der unruhige Flug zu einer wirren Folge von Bildern zerschlägt, die alles sind, woraus auch diese kleine Handreichung für Reisende gefertigt ist.
 [1] Über die Schreibweise besteht Uneinigkeit, was sowohl den Schwierigkeiten der Transkription des sklavonischen Alphabets geschuldet ist als auch den historischen Veränderungen der Nomenklatur. Wir behalten die Schreibweise Sklavonisien bei, ohne uns in die Streitigkeiten zu mischen, ob der heutige Staat nicht doch korrekter als Schlawinien, Schlappistan, Schlauibien oder Sklauvei bezeichnet werden sollte. Das Adjektiv unserer Wahl ist sklavonisch, die Einwohner nennen wir Sklavonier. Ganova selbst spricht man mit einem leicht aspirierten Anlaut, so dass man es richtiger vielleicht als Chanova schreiben sollte. Wir haben indes darauf verzichtet, um nicht einer Verwechslung mit der Hauptstadt Niedersachsens Vorschub zu leisten. [2] Schafe werden in Sklavonisien rechtlich als Personen angesehen: ein Relikt der totemistischen Tradition des Landes, das den in diesen Gepflogenheiten wenig bewanderten Touristen nicht beunruhigen sollte. Die uns Okzidentalen befremdliche Aufwertung des Schafes zum Rechtssubjekt wird in Sklavonisien durch eine entschlossene Abwertung des Bürgers zum Schaf kompensiert. [3] Seit einigen Jahren hat sich freilich ein Unternehmen auf dem Markt etabliert, das sog. Extremreisen anbietet und seiner Kundschaft erlesene Seelenprüfungen zu verschaffen verspricht. Näheres zu den Angeboten Aurora Rümelins entnehmen Sie bitte den Praktischen Hinweisen am Ende des Bandes, vgl. S. 44 ff. (A.d.Hg.: leider sind die Praktischen Hinweise durch ein Versehen des Druckers einem anderen Band eingeheftet worden (Aleister Crowley und Fernando Pessoa, Briefwechsel per Planchette, Spakowicz, o.J. Der Band ist mittlerweile vergriffen.) [4] (S. die Beilage B, wo die näheren Umstände der unter dem Namen "Honigwein-Revolte" bekanntgewordenen Erhebung geschildert werden. (A.d.Hg.: die Beilage B ist leider unauffindbar. Der Verleger ist seinem Titel hier mehr als gewünscht gerecht geworden.) [5] Obwohl sehr wahrscheinlich nicht wenige unter den Lesern des vorliegenden Führers auf diesen stupiden Schwindel hereingefallen sind, der sich als paläontologische Sensation auszugeben versucht, sehe ich nicht ein, diesen leichtgläubigen Trotteln, nur weil sie meine kleine Handreichung gekauft haben, Honig um den Bart zu schmieren. Im Gegenteil tun gerade solchen Idioten deutliche und klare Worte not: sollte der verehrte Leser zu dieser Spezies gehören, empfehle ich ihm, besonders jetzt, da er einen Hundekutscher angeheuert hat und sich darum verantwortungsvoll betreut wähnt, gut auf sein Gepäck achtzugeben. Die Hundekutscher sind von der allgegenwärtigen moralischen Verwahrlosung in keiner Weise ausgenommen; vielleicht ist sogar eher das Gegenteil der Fall. [6] Sie sind gesammelt in dem Band "Tristia. Gesänge über das Vergehen", herausgegeben von Agathe Mantelbrot, Marbach 2004 [7] Krjnk Marlowskin, Die Seine und die Nichte, in: Gesammelte Werke, Berlin (Ost) 1971, p. 1228