Im Bulli verreisen
Nicht von Swift

Sol y sombra. Spanien 2015


21. Mai. München - Offenburg.

Die Tränen meiner Mutter laufen an meinen Wangen herab, als wir uns verabschieden. Eine scharfe Schattendiagonale zerschneidet den Platz vor dem Weissenfelder Haus, trennt Eibe und Lorbeer; Mama steht bebend im Dunkel; mich blendet die Sonne. 
Mein Vater ist vor drei Monaten gestorben. Die Marmorplatte, die den Urnenschacht mit seiner Asche versiegelt, ist nichts gegen den steinernen Riegel der Pyrenäen, hinter dem Dagmar und ich bald verschwinden werden. Mein Vater mag tot sein, aber seine Überreste liegen keine drei Kilometer weit weg. Meine Mutter kann den Marmor berühren, mit den Fingerspitzen den in den Stein gravierten Namen anfassen. Wir aber werden fern sein, und das Telefon, das nur eine körperlose Stimme übermittelt, erscheint meiner Mutter wahrscheinlich gespenstischer als dieses Urnenfeld, zu dem sie Tag für Tag pilgert, um das Gespräch mit dem Toten fortzuführen.

Sie hat abgenommen, seit er tot ist, was wohl eine Bekundung postumer Solidarität ist. Mein Appetit ist eher gewachsen. Ich denke öfter an eine Szene an seinem Sterbebett. Ich blickte über seinen sich mühsam, aber regelmäßig hebenden Brustkorb hinweg nach draußen in den verschneiten Garten, in den ich die vom Frühstück übriggebliebenen, aufgefalteten Butterpäckchen gestellt hatte, für die Vögel. Nach einer Weile erschien eine Amsel, schrieb hüpfend ihre Krallenrunen in den Schnee und pickte schließlich das Fett aus der Folie; der Zufall der Perspektive fügte es so, dass es aussah, als triebe der schwarze Vogel seinen spitzen, gelben Schnabel wieder und wieder in das Herz meines Vaters. Ich rührte seine Hand an, und er öffnete die Augen. Ich wies ihn auf die Amsel hin; er lächelte, als er hinsah, dann wandte er den Kopf und musterte mich. "Du schaust schlecht aus", befand er. "Es reicht, wenn ich vom Fleisch falle. Iss wenigstens du!"

Also esse ich. Als wir abends um acht in Offenburg ankommen, habe ich kräftig Appetit. Ich erwarte ein hübsches und genießerisches badisches Weinstädtchen; der Ort hat allerdings Böckser. Erst noch ganz angetan von einer Kneipe am Platz, über den die breiten Lichtfächer der sinkenden Sonne hinstreichen, treibt uns der kredenzte Müller-Thurgau jedes Wohlwollen schnell aus. Versteht man unter Müller-Thurgau hier eine Cuvée aus Essig und Limonade? Auch die Speisekarte gibt uns Rätsel auf. Da ist etwa ein Rösti Zürcher Art, das unter seinen Zutaten ein Rahmgeschnetzeltes aufführt. Die Kombination von Rösti und Geschnetzeltem ist klassisch, aber was um Himmels willen soll mit Käse überbacken bedeuten? Was sollte man bei einem Zürcher Geschnetzelten überbacken wollen? Entsetzt machen wir uns auf die Suche nach einem Lokal ohne solch lästerliche Neigungen, aber es wird nicht besser. In Offenburg scheint man geschmolzenen Käse auf Fleisch zu lieben; kein Restaurant kommt ohne Cordon Bleu aus, und schließlich statuiere ich: in ein Wirtshaus, in dem so ein Zeug serviert wird, setze ich keinen Fuß. Wir klappern Lokal um Lokal ab, und zuletzt landen wir dann doch wieder bei Andres, seinem dubiosen Müller-Thurgau und seinem noch viel dubioseren Rösti. Immerhin ist die Kellnerin hübsch, wenn auch nur auf den ersten Blick: auf den zweiten sieht man, dass sie genauso überbacken ist wie die Gerichte, die sie bringt - eine dicke Schicht Abdeckcreme kaschiert ihre Akne.
Das Rösti kommt in einer gußeisernen Pfanne, was, wie immer in solchen Lokalen, eine ratsherrenhafte Solidität suggerieren soll. Das Geschnetzelte besteht aus gewürfeltem und angebrannten Schweinefleisch, das man unter einer fädenziehenden Käsehaut hervorklauben kann. Das Rösti, klassischerweise ein feiner Knusperfladen, ist in Rahmsoße und ausgeschwitztem Käsefett ersoffen und über den Garpunkt hinaus schon wieder in einen Zustand der Glasigkeit geraten. 
Wir verstehen, warum die Schnapsauswahl hier so reichhaltig ist; ein solches Essen kann man nur mit großen Mengen nachgeschütteten Tresters überstehen.
Dabei geht's auch anders: Dagmars Flammkuchen ist eine feine und knusprige Teigplatte mit einer Auflage von Crème fraîche, deren Säuerlichkeit selbst die dicken Speckstreifen noch mit Frische ausbalanciert. So treffen sich auf unserem Tisch zwei Emblemprodukte der Nachbarländer: dem Elsass muss man dabei zweifellos mehr Esprit und Finesse zuerkennen, während der Schweizerische Teller die kulinarische Verkörperung des Reduits darstellt: schwer und dumpf und nahrhaft in langen Wintern; ein Essen, nach dessen Genuss, oder besser Verzehr man sich in seine Bärenhöhle zurückzieht, um mit brummelnden Gedärmen zu verdauen. Ein Essen übrigens auch, das wenig aromatische Binnenkontraste, kaum Spitzen und pikante Einlagerungen kennt, sondern alle Elemente gleichmäßig mit Röstaromen überzieht und vereinheitlicht. Aus dieser Offenburger Röstipfanne dampft der Traum der Schweizerischen Volkspartei vom traditional homogenen Helvetien, das sich ganz der Süffigkeit des einander Ähnlichen hingibt. Mir jedenfalls bekommt das nicht. Lieber breche ich noch ein Stück von Dagmars Flammkuchen ab und knabbere daran, als den fetten Schlotz aus meinem Ratsherrnpfännchen auszulöffeln.

22. Mai. Offenburg - Brive.

Ein langer Autobahntag. Die Franche-Comté zieht an uns vorüber, das Burgund, die Auvergne. Am frühen Abend kommen wir in Tulle an. François Hollande amtierte, bevor er Präsident wurde, hier als Bürgermeister. Hollandes politische Gegner hätten vor der Wahl nur landesweit ein paar Stadtansichten Tulles plakatieren müssen, um den Kandidaten ganz und gar zu diskreditieren. Die Stadt, von der die Tüllspitze ihren Namen hat, atmet heute Tristesse aus wie Leute, die es aufgegeben haben, sich die Zähne zu putzen. Der Tüll ist der Jogginghose gewichen, und wenn hier noch etwas an die feinen Muster erinnert, die in der belle époque den Schleiern eingewirkt waren, dann sind es die Tätowierungen der Schausteller. Am Fluss sind Jahrmarktsbuden aufgebaut, Autoscooter, Karussells, Schießstände. Da ist auch eine Wasserbahn voll dahintrudelnder Badeentchen, die man mit einer Angel herauspflücken und gegen Plastikrosen und Plüschbären eintauschen kann, aber es gibt kaum Kundschaft. Die Schausteller sitzen missgelaunt in ihren Buden; ihr Zahnstatus ist im Allgemeinen schlecht, und auch die Tatoos sind nur selten mit spitzer Nadel gestochene Kunstwerke, sondern eher mit dem Kugelschreiber in die Haut geeggt. Einer am Karussell will ein etwa dreijähriges Mädchen auf ein goldenes Einhorn heben, aber das Kind wehrt sich mit Händen und Füßen. Man kann nur seinen physiognomischen Instinkt bewundern, der beim Blick in diese Visage sofort mögliches Unheil wittert.
Der zentrale Platz der Stadt ist adrett: gepflegte Fassaden, sorgfältig restaurierte Stadtpaläste mit Turmerkern und Fachwerk, in der Mitte ein Brunnen; alle Versatzstücke französischer Provinzherrlichkeit sind versammelt, aber das Volk will nichts davon wissen und pfeift auf solche Bürgerträume. Stattdessen trifft man sich unten an der Corrèze auf schäbigen Barterrassen. Da nehmen auch wir unseren Aperitiv, doch die Wirtin - fuchsienfarbene Pelzweste mit einem Fellbesatz am Kragen, der vermutlich einmal bauschig war, bis er von den im Mundwinkel hängenden Kippen nach und nach abgeflämmt wurde - lässt uns deutlich spüren, dass wir in ihrer Pinte nichts verloren haben. Bourgeoises Pack wie wir gehört nicht hierher.
Da es auch unmöglich ist, in Tulle etwas Vernünftiges zu essen zu bekommen (es gibt ein sehr feines und sonst nur sehr unfeine Lokale), fahren wir weiter nach Brive. Es ist schon neun, als wir dort ankommen, und so sind wir nicht wählerisch, sondern gehen in das erste beste - was nicht ganz dasselbe ist wie das erstbeste - Restaurant. Es ist kaum größer als eine Imbissbude und bietet ein paar kombinierte Menüs an, von denen wir nicht viel erwarten. Doch schon die Vorspeise ist erstaunlich gelungen. Die Rillettes im Blätterteig mit ihrer Modulation von knisternder Hülle zum saftigen Kern bieten genau den Reiz einer musikalischen Sequenz, den das Offenburger Rösti vermissen ließ: hier ein Übergang von Dur zu Moll, ein Quartvorhalt, ein aufgefächerter Akkord, wo das Rösti nur eintönig und immer wieder in das selbe dumme Alphorn getutet hat.

23. Mai. Brive bis St-Jean-Pied-de-Port.

Weiter auf der Autobahn Richtung Bordeaux. Immer wieder rufen die Schilder Ortsnamen und Landschaften auf, die uns eigentlich vertraut sind, aber von der Autobahn aus erkennen wir nichts wieder. Die Autobahn ist eine Augenbinde aus Asphalt. Man sieht nichts mehr. Ich weiß, wie anmutig und reizvoll das Périgord ist; doch die Autobahn planiert die Landschaft, tilgt alle Details, oder erweckt vielmehr den Eindruck, als gäbe es gar keine Details, sondern nur noch landschaftliche Abstraktion. Die Autobahn ist nicht nur - um einen Ausdruck Marc Augés zu benutzen - ein Nicht-Ort, sie verwandelt auch ihre Umgebung in einen solchen. Wir fahren durch Niemands- und Nirgendwoland, dem jeder eigentümliche Charakter abgeschliffen wurde. Hinter Bordeaux allerdings, als die Strecke durch die Kiefernwälder der Landes geht, wird der Unterschied von Autobahn und Landstraße ohnedies hinfällig. Die endlosen Forste sind aus der einen wie der anderen Perspektive gleichermaßen monoton.

Halt in Espelette, der Heimat des berühmten, scharf-fruchtigen Baskenchili. Auch schöne Stoffe aus schwerer, farbenfroh gestreifter Baumwolle gibt es dort, aus denen Dagmar Tischwäsche machen will. Wir nehmen einen Café im Dorf, und wieder - wie jedesmal, wenn wir dort einkehren - hören wir eine derb verschrobene Blasmusikversion von Udo Jürgens' Griechischem Wein. Das Stück ist populär im französischen Südwesten und wird gern auf den ferias der Gegend gespielt: wahrscheinlich läuft es hier in Endlosschleife; denn auch abends, als wir in St-Jean-Pied-de-Port unseren Txapa trinken (Weißwein, Kirschlikör, piment), pfeift am Nachbartisch ein müder Wanderer den Refrain. Offenbar ist es nicht nur die Hymne des Bayonner Rugbyclubs, sondern auch der Jakobspilger.
Eigentlich schade, dass Sant Iago nichts mit dem biblischen Erzvater zu tun hat. Der Jakob aus dem Alten Testament wäre ein guter Rugbyspieler gewesen: schon im Mutterleib hat er seinen Zwillingsbruder Esau an der Ferse festgehalten, was beim Rugby vermutlich ein erlaubtes tackling ist. Später rang er am Fluss Jabbok eine Nacht lang mit dem Engel, der ihm schließlich die Hüfte ausrenkte. Ich werde den Verdacht nicht los, dass der Gottesbote damals foul gespielt hat.

24. Mai. St-Jean-Pied-de-Port bis Haro.

Es ist Pfingstsonntag. In Roncesvalles, wo drei der vier großen französischen Jakobswege zusammentreffen, feiert man den Gottesdienst; wir gesellen uns kurz dazu und sind beeindruckt: die Pilger singen lautstark und volltönend einen Hymnus mit, der, gegen die deutsche Gotteslob-Tradition gehalten, fast schon schmissig wirkt und auch bei einem Volksfest gut aufgehoben wäre. Hier wird auch nicht so zaghaft und zittrig nach Tönen getastet wie in deutschen Korchenbänken; man schmettert beherzt drauflos. Wenigstens vokal ist das eine Demonstration der ecclesia militans; nicht unpassend für einen Ort, an dem der Legende nach die christlichen Heere Karls des Großen einst gegen die Mauren gefochten haben sollen. Karls Heerführer Hruotland, der Held des Rolandslieds, ist hier gefallen. Zu spät hat er in sein Horn Olifant geblasen, um Karls Hauptstreitmächte herbeizuholen. Man könnte fast den Eindruck haben, dass die Pilger in Roncesvalles das Versäumnis von damals jetzt gutmachen wollen und aus voller Kehle nach himmlischem Beistand rufen.

Weiter in Richtung Pamplona. Die ersten Eindrücke spanischer Landschaft treffen uns mit Wucht. Das weite, sacht gewellte Hügelrelief, das sich vor uns ausdehnt, flößt mir Unbehagen ein. Ich komme mir vor wie wehrlos dem Himmel ausgesetzt. Das Land gewährt keine Nischen, keine Rückzugsräume und Schutzwinkel, es ist nach allen Seiten offen. Es ist nicht eingefaltet, sondern wie mit dem Spatel ausgestrichen. Es hat kein Inneres, ist ganz Oberfläche, preisgegeben, dem Himmel ausgeliefert. Ich spüre etwas Wundes, Nacktes, Aufgeschürftes und Verletztliches darin, doch das Verletzliche bin natürlich nur ich selbst. Ist das eine atavistische Regung, die sich dem rätselhaften Überleben eines Instinkts verdankt, den ich sonst nur von Hühnern kenne, die sich unter offenem Himmel und ohne Unterstand nicht sicher fühlen und in dauernder Angst leben, ein Habicht könne auf sie herabstoßen? Doch es ist keine Angst, die ich spüre, nur ein gewisses Unbehagen und ein Gefühl von Überforderung meiner Wahrnehmung. Allmählich glaube ich zu verstehen, woher es rührt: die Landschaft wirkt in ihrer Weite ungegliedert und in Beliebigkeit zerlaufen. Es ist weniger der Umstand, dass weite Flächen nicht bewirtschaftet scheinen, sondern das Fehlen strukturierender Blickachsen und Gewichtungen in Relief und Kolorit. Ich erinnere mich an Kleists Eindrücke vor Caspar David Friedrichs Mönch, der einsam vor der Wasserwüste des Meeres steht; Kleist schreibt, der Betrachter fühle sich angesichts dieser Einförmigkeit und Uferlosigkeit, als seien ihm die Augenlider weggeschnitten worden. Der Blick kann keine Ordnung mehr in das Bild bringen, er hat den Halt verloren und ist einem entropischen, strukturlosen Einerlei ausgesetzt, das sich irreal anfühlt und so amorph unfertig, wie Träume unfertig sind und voller weißer Flecken. Schließlich verstehe ich: der liebe Gott ist mit dieser Landschaft einfach nicht fertiggeworden; er hat angefangen, daran herumzubasteln, dann aber in Ermangelung einer wirklich zündenden Idee die Lust verloren und den ganzen Krempel liegen gelassen.
Das führt hier zu der etwas ungewöhnlichen Situation, dass die spanischen Straßenbauer ihre Aufgabe schneller erledigt haben als der Herrgott selbst. Die Straßen sind fertig, und nun muss man nur noch darauf warten, dass die Landschaft hinterherkommt. Einstweilen aber wirken die Autobahnen und die Nationalstraßen so pompös überdimensioniert wie in jedem Neubaugebiet, in dem man noch nicht begonnen hat, die Baugruben auszuheben. Die Straßen schmiegen sich nicht an die gegebene Landschaftsformation an; sie werden ihr als einer tabula rasa auferlegt.

Puente la Reina: das Städtchen ist bis auf ein paar Pilger und Männer in Rennradtrikots verwaist. Wir nehmen einen café con leche und ein Croissant. Das Croissant sieht aus wie ein feister und grimmiger Mönch, der bis zur Brust in die Porzellanmilch eines Tellers eingelassen ist - die Zipfel stellen seine dicken Arme dar, die mit geballten Fäusten auf den Tisch einzutrommeln scheinen, das gut aufgegangene Mittelstück bildet seine Schultern, und der Blätterteiglappen, der die Mitte krönt, ist zu einem fast lutherisch bärbeißigen Schädel geschwollen. Das ist als Skulptur ehrfurchtgebietend, hindert uns allerdings nicht daran, diesen mürrischen Mönch in Stücke zu reissen und in den Kaffee zu tunken. Nimm das, Schismatiker!
Als wir zurück zum Auto gehen, hat die Stille der Straßen ein Ende: die Messe ist soeben aus und das Volk strömt in Feiertagskluft aus der Kirche. Binnen kurzem füllen sich die Bars. Nach der pfingstlichen Ausgießung des Heiligen Geistes ist jetzt die Ausgießung profanerer Spirituosen dran; die Kellner laufen mit Gin- und Brandyflaschen herum und füllen die Gläser.
Wir fahren aber ein paar Kilometer weiter nach Cirauqui, das auf eine Hügelkuppe gebaut ist. Auch hier sind die Straßen wieder leer; von dem Sonntagmittagscorso, wie wir ihn aus Italien kennen und auch hier erwartet hätten, keine Spur. Alle Gassen sind stumm. Nur aus einem Haus dringt Stimmengewirr; ein kleines Messingschild weist den Bau als dörflichen Jugendclub aus. Der Eingang wirkt wie der eines Mietshauses, aber hinter einer unscheinbaren Tür im ersten Halbstock entdecken wir einen veritablen Gastraum voller Gebrabbel. An einem guten Dutzend Tische sitzen vorwiegend ältere Herrschaften, Männer im Anzug, aufgetakelte Damen mit riesigen Bifokalbrillen und onduliertem Haar, und ein Kellner schafft auf großem Tablett Kelchgläser mit cochenilleroten und curaçaoblauen Cocktails an die Tische. Es ist Mordsbetrieb, und man muss schreien, um den Lärmpegel zu übertönen, weshalb der Lärmpegel immer mehr ansteigt und man noch lauter schreien muss; dennoch wirken alle sehr zufrieden (auch der alte Mann, der inmitten des Trubels allein sitzt und seine Zeitung liest, scheint sich wohlzufühlen; wahrscheinlich hat er sein Hörgerät ausgeschaltet). Wir stellen uns an die Theke, ordern Wein und schnappen uns Tapas von den Tellern: Muslitos und Schinkenbrötchen, frisch aus der Küche gebrachte Pilzkroketten, auf deren Panade noch das Frittierfett glitzert, Bratpaprika, deren Stengel wir, wie sich das gehört, auf den Boden werfen, und die Servietten gleich hinterher. Abfall auf den Boden zu schmeißen erfordert anfangs Überwindung, gehört sich aber wohl so. Ich komme mir anfangs dabei vor wie ein Mädchen, das seinen ersten Kuss gibt. Beim ersten Mal hastig und verschämt, gelingt es mir nach und nach immer lässiger, und schließlich tu ich's richtig gern.

Wir statten der Kirche einen Besuch ab und haben das Glück, dass der Pfarrer zugegen ist und sich bereitwillig als Führer andient. Er stammt aus Polen, weshalb sogar ich sein Spanisch verstehe. Ich möchte allerdings nicht wissen, wie die einheimischen Gläubigen seine Predigten aushalten. Für sie muss sein Spanisch wirken, als sei's im polnischen Permafrostboden festgefroren; eine steife, unendlich verlangsamte Version ihrer eigenen, zungenfertig hitzigen Stakkato-Sprache.

Haro hätte es schwer, in meinem Gedächtnis Spuren zu hinterlassen, wenn wir dort nicht übernachtet hätten. Das Städtchen soll der Hauptort des Rioja sein, doch die Bodegas sind am Sonntagabend geschlossen, das Städtchen leergefegt. Immerhin gefallen uns die verglasten Balkonvorbauten der Häuser, und eine muraille-Malerei am Platz, auf der ein jovialer Polizist mit riesigem Schnauz die schwankenden Trunkenbolde nicht wegsperrt, sondern sie gütig vor dem Sturz bewahrt.

25. Mai. Haro bis Palencia.

Es ist nach unserem Empfinden schon später Vormittag, als wir in Santo Domingo de la Calzada ankommen, aber in der Stadt werden erst jetzt die Rolläden hochgezogen. 
Die Kathedrale hat romanische Ursprünge, deren Bescheidenheit und Schlichtheit immer noch die Atmosphäre des Raums bestimmen, auch wenn die Gotik sich ihrer Deckengewölbe bemächtigt und ein farbenfroh bäuerliches Barock seine Altäre in die Nischen gestellt hat. Selbst das riesige und ganz und gar vergoldete Altarretabel trumpft in dem gedämpften Licht nicht gleisnerisch auf, sondern hält sich in einer Seitenkapelle diskret abseits. Es scheint so etwas wie die gute Stube, die es früher einmal auf dem Land gab: ein Raum, in dem man alle Insignien seines Wohlstands versammelte, den man aber nur zu sehr besonderen Gelegenheiten benutzte - bei Hochzeiten und zum Aufbahren der Toten - und ansonsten pfleglich verschonte. Mehr noch als dieser dezent beiseitegeräumte Goldretabel ist aber der gallinero ein Zeichen alter Bäuerlichkeit. Über einer Pforte im Kircheninneren liegt ein vergitterter Stall, in dem aus Tradition ein Hahn und eine Henne gehalten werden. Der Brauch erinnert an eine Legende, in der ein schon gebratenes Hähnchen vom Teller eines Richters auferstand, um mit seinem Gekrähe die Unschuld eines zu Unrecht zum Tode Verurteilten zu bezeugen. Ob es wohl auch heute noch ab und an zu solchen Interventionen des Hahns kommt? Nicht nur in dieser Legende, auch in der Bibel schreit ein Hahn, um eine Lüge zu entlarven: in der Nacht vor Jesu Kreuzigung verleugnete Petrus dreimal seinen Herrn, bevor der Hahn seinen Morgenruf ausstieß und dem Jünger seinen Verrat zu Bewusstsein brachte. Müssten einem bibelfesten Priester nicht Bedenken kommen, wenn am Ende der Messe ein Hahn krakeelt? Müsste ihn da nicht der Verdacht anwandeln, dass er in der Predigt, beim Glaubensbekenntnis, bei der Wandlung dreimal die Unwahrheit gesagt hat? Und müsste es nicht - dem Gesetz des Zufalls und der unendlichen Reihe gemäß - irgendwann einmal passieren, dass ein Gockel präzis jedem zweifelhaften Glaubensartikel des Credo ein kritisches Kikeriki folgen lässt? 
Wahrscheinlich widerfährt einem solchen wahrheitsliebenden Gockel dann genau das, was auch anderen Ketzern geschehen ist: er endet auf dem Scheiterhaufen oder im Feuerofen. Von Jan Hus bis Giordano Bruno ist allerdings nicht überliefert, dass sie kross gebraten und mit Zwiebeln und Paprika nach der Exekution einem Prälaten zum Abendessen serviert worden wären.

In den Nebengelassen des Baus werden allerlei sakrale Schmuckgegenstände gezeigt, Bischofsstäbe, Messgewänder, Monstranzen. Vor allem aber gibt es große Vitrinen, in denen biblische Szenen und Stadtprozessionen mit Playmobilfiguren nachgestellt sind; dafür haben nicht bloß ein paar Kinder ihre Spielzeugkiste geopfert; hier geht's ins Große. Da ist eine Detailversessenheit und Opulenz am Werk, die in Quadratmeterzahl und Figurenmenge mit den grandiosesten Hervorbringungen neapolitanischer Krippenkunst rivalisiert: Jesus vor Pilatus, umringt von Volk und römischen Legionen; Kreuzigung und Hirtenanbetung; die Prozession zur semana santa mit allen Karren und Kapuzenbruderschaften, Krankenwagen, Kinderabordnungen, Klerikern und kommunalen Kohorten, die zu Hunderten vor den getreu nachgebildeten Fassaden Santo Domingos paradieren.
Auf den ersten Blick wirkt die Sache lächerlich und unpassend: nicht nur, weil man bei diesem Aufgebot von industriell hergestellter Massenware weniger die Glocken hört, die bei der Wandlung von Brot und Wein geläutet werden, als das Klingeln der Ladenkassen beim Einkauf von zweitausend Playmobilfiguren, und auch nicht, weil eine Religion, die einer Gesellschaft von Ziegenhirten und Bauern entsprungen ist, den Verfahrenstechnikern, Chemikern, Maschinenbauern etc., die in den Playmobilfabriken beschäftigt sind, etwas einfältig vorkommen muss, sondern vor allem, weil die Zusammenstellung von sakralem, erhabenem Gegenstand und Kinderspielzeug die Religion als letzten Endes doch etwas infantile Veranstaltung zu entlarven scheint, bei der es einen nicht wunderte, wenn auch Darth Vader und Spiderman in der Prozession mitmarschierten.
Aber vielleicht ist das zu kurz gedacht, und nichts als Hochmut. Denn warum sollten Plastikfiguren sich nicht eignen, in ihnen und über sie hinweg die Präsenz Gottes zu spüren? Verdankt sich Religion nicht überhaupt der menschlichen Fähigkeit zur Abstraktion und Überschreitung des Augenscheins, also zum symbolischen Transfer des handgreiflich Gegebenen? Ein paar aufeinandergeschichtete Steine genügten Abraham als Altar, ein Widder reichte aus, um ihn an Isaaks Statt zu opfern. Mit solchen Ersetzungen beginnt menschliche Kultur: in dieser fundamentalen Geste hat fast alles, was den Menschen ausmacht, seine Wurzel: Zeichen, Sprache, Quidproquo und Äquivalent steigen alle aus dem selben Boden. Die Kunst und das Geld, die Liebe und das Wissen: sie stammen von dort, wo Kinder mit Puppen spielen.

Weiter nach Burgos. Unablässig ziehen nun Pilgergrüppchen am Straßenrand Santiago de Compostela entgegen. Die Wanderung auf dem Jakobsweg hatte ich mir immer als beschwerliche, aber doch besinnliche Unternehmung vorgestellt; eine Gelegenheit zur Einkehr auf stillen Pfaden, fernab vom Brausen der modernen Welt. Jetzt sehe ich sie im Gänsemarsch, ausgerüstet mit Vibramsohlen-Stiefeln, Goretex-Jacken und Aircomfort-Rucksäcken am Rand einer Nationalstraße dahinstapfen; kann sein, dass sie Spiritualität atmen; vor allem aber wohl Spritgeruch.

Die Kathedrale von Burgos. Die Türme sind schon von unserem Parkplatz aus zu sehen, ein Gesteck aus feinen Nadelspitzen als Krone (es könnte freilich auch eine riesige Strickliesel sein), zwei schlanke Turmzepter daneben. Beim Näherkommen löst sich die Massivität dieser beiden in eine steinerne Häkelarbeit auf, die wie ein ferner Vorschein der Eiffelturmverstrebungen wirkt, in denen Substanz durch statische Funktionalität ersetzt ist. Die schiere Masse des Baus ist gewaltig; die Kronenspitzen, die man ihm aufgesetzt hat, verleihen ihm dennoch einige Filigranität. Sie mit einer feingliedrigen Krone zu schmücken, um sie zierlicher erscheinen zu lassen, ist ein Trick, der bei einer dicken Prinzessin wohl noch nie angeschlagen hat, aber hier nimmt es tatsächlich etwas von der Wucht des Baukörpers weg. Man hat es überhaupt verstanden, die überbaute Fläche durch Balkonrahmungen, Emporen, Türmchen, Erker und angeklebte Fialen aufzulockern. Der Betrachter hat nicht einen massiven Block, sondern agglomerierte Vielfalt vor Augen. Die französischen Kathedralen der Epoche stehen sehr viel geschlossener und verdichteter da; sie sind reich an Details, aber verzetteln sich nicht. Sie nehmen sich zusammen und verzichten fast nie auf die stark aufragende Frontfassade, mit der sie ein kraftvolles Zeichen der Macht und der Einheit setzen. Zudem sind ihre Flanken meist fester beieinander, und selbst, wenn wie in Notre Dame oder in Reims Strebebögen vonnöten sind, folgen diese einer einheitlichen, modularen Logik, wovon hier keine Rede sein kann. Beim Umwandern des Baus kommt es einem vor, als sei er nicht nur zur Verherrlichung Gottes errichtet worden, sondern als sei auch des Gesindes gedacht worden, das seiner Verschläge bedarf; überall sind Nischen, Kammern und kleine Anbauten angefügt, die an Abtritte erinnern. Das alles stellt ein seltsames Formenwirrwarr dar, das sich nicht nur an der Vielzahl der Einzelheiten zeigt, sondern auch die Einzelelemente selbst befallen hat: Türmchen, die mit einem quadratischen Grundriss beginnen, werden als Oktogon fortgesetzt und wandeln sich schließlich zum Zylinder. Die Kapitelle von Pfeilern und Stützen sind mal geschindelt, mal kanneliert, die Fialen mal von bekrabbten Rippen gegliedert, mal glatt, mal bepickelt. Zwischen den Baugruppen stehen Balkons und Umgänge mit Geländer, nach vorn tretende oder sich in Schatten und Enge zurückziehende Turmgrüppchen. Das hat bisweilen etwas von den Architekturen des Sinnlosen, wie Piranesi sie phantasierte, aber anders als bei Piranesi (oder bei Borges) drückt diese Wirrnis nichts Klaustrophobisches aus, und nicht die Unentrinnlichkeit des Labyrinths. Im Gegenteil: das ist die erste Kathedrale, die ich kennenlerne, die sich ganz der Idee urbaner Heterogenität und Liberalität verschrieben zu haben scheint. Dieses Bauwerk ist eine Stadt en miniature. Sie feiert die Vielfalt, die individuelle Nische und das nicht stilistisch Subsumierte. Auch architektonisches Abweichlertum findet hier seinen Ort; Unterschiedliches darf darin friedlich koexistieren, alles, selbst das Seltsamste, wird geduldet und irgendwie integriert.
So gewaltig die Ausmaße der Kathedrale sind, und so sehr sie das Stadtbild beherrscht: von Nahem besehen, stellt sie nicht Herrschaft über eine Stadt dar, sondern ist ihre repräsentative Verkörperung und ihr Spiegelbild. In Frankreich und Deutschland sind die großen Bauten der Gotik fast immer Demonstrationen von Macht, sie signalisieren Entschlossenheit und einen gebündelten Willen; ihr architektonischer Gestus drückt Einheit aus und fordert Einheit als Unterwerfung ein. Dieser der Gotik sonst so eigentümliche Wille zu einer hierarchischen und systematischen Gliederung scheint im ursprünglichen Entwurf von Santa Maria durchaus vorhanden gewesen zu sein, und er ist auch jetzt noch in manchen Partien, die mit majestätischem Applomb auftreten, sichtbar. Doch wird die Strenge immer wieder gebrochen; und da ich nicht glaube, dass die Bauherren das mit Absicht getan haben, wird es wohl eher so sein, dass diese Strenge verwässert, aus den Augen verloren und vertändelt wurde; und die von untätigen Jahrhunderten unterbrochene Baugeschichte hat sicherlich das ihre dazu beigetragen, dass die Kirche heute auf so einnehmende Weise uneinheitlich wirkt. Diese Uneinheitlichkeit ist auch das Werk der Zeit, und eine solche Kathedrale kann nicht das für sich beanspruchen, was so viele der französischen in ihrem Erscheinungsbild behaupten: Zeugnis einer überzeitlichen und ewig unwandelbaren Wahrheit zu sein.
Aber es ist merkwürdig: zwar verkünden die französischen Kathedralen in ihrem Äußeren zumeist eine massive und einschüchternde Erhabenheit. Sie sind die machtvollen Throne Gottes. Undenkbar, dass sie, wie die der Bau in Burgos, Dachterrassen und Empörchen beherbergten, die wie zum Lustwandeln oder zum neckischen Versteckspielen zwischen Nischen und Erkern einladen. Von außen gebieten die gotischen Dome Ehrfurcht und Demut, Unterordnung und Gehorsam. Doch sobald man das Portal durchschritten hat, tut sich zumeist ein großer, einheitlicher Raum auf, der das hohe Volk und das niedrige gleichermaßen umfängt. Von außen mögen sie starken Zwingherrn ähneln, die das Volk unter ihrer Fuchtel halten; doch innen finden sich Volk und weltliche Herrscher im selben Raum zusammen. Zwar gibt es auch im Norden Chorumgänge und Lettner, die das Allerheiligste vor der profanen Gemeinde absperren, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir bald als typisch spanische Gepflogenheit kennenlernen werden: die architektonische Marginalisierung des Kirchenvolks. 
Ich hatte, grade angesichts der Ausmaße von Santa Maria, im Innern überwältigende Weite erwartet. Aber der viele Raum ist in lauter einzelne Gelasse abgetrennt und zerschachtelt, er ist ein Gestückel von Kompartimenten und privaten Andachtssalons. Jede notable Familie scheint ihr eigenes Gottesdienstabteil gehabt zu haben, und zwar, wenn möglich, keine randständige Nische, sondern ein Grundstück in bester Lage. Natürlich ist alles von erlesenem Prunk; hier wollte sich keiner lumpen lassen. Aber ich frage mich, wo das Volk eigentlich zur Messe ging, und wie es dort hinkam? Die Mitte des Baus nimmt der Binnenchor ein, wo die Kleriker in geschnitztem Gestühl, gut abgeriegelt gegen das Laienvolk, ihre Gottesdienste feierten, und um diesen Kernbereich schließen sich die Kapellen der Adelsfamilien wie Bienenwaben. Der Kultusbezirk für die einfachen Gläubigen ist ganz nach hinten an den Rand gedrängt; er wirkt wie die Wartehalle eines stillgelegten Bahnhofs.
Den Unterschied lohnt es festzuhalten: so volkstümlich und der Vielfalt aufgeschlossen sich die Kathedrale von Burgos von außen gibt, im Innern ist ihr Prinzip Segregation und Ausschluss. Die Kathedralen des Nordens treten herrisch auf; aber innen heißen sie alle gleichermaßen willkommen. Hier ist das Gegenteil der Fall.
Die Flure, die hinausführen, riechen nach Behörde: Seife und Stockflecken.

Mittagessenszeit. Unweit der Kathedrale gibt es eine Fressgasse mit einigen Bars und Gemüseläden. Zum Gemüse zählen offenbar auch die steigenweise feilbotenen Schnecken, die an den Latten ihrer Kisten hochkraxelnd die Flucht versuchen, was wenig Erfolg verspricht, weil die Gemüsefrau ein Auge darauf hat und regelmäßig die emsigsten Schnecken von der obersten Bande fegt. 
In der Bar gegenüber herrscht Hochbetrieb, und der Mann hinter der Theke ist schwer am Schuften. Mit der Linken zapft er ein Bier, pflückt mit der Rechten ein bocadillo aus dem Tresen, während er mit dem Fuß schon eine Kiste Wasser dem Kühlschrank entgegenschiebt und nebenbei mit ein paar Kopfbewegungen den Kellner zu einem Tisch in der Ecke dirigiert. Selbst als er mit einem sparsamen Heben der Augenbraue nach unseren Wünschen fragt, bleiben seine anderen Körperteile nicht untätig, füllen den Kühlschrank, räumen Teller ab, wischen den Tresen. Ich habe kaum cer- gesagt, als er schon ein Glas unter den Zapfhahn hält und ein -veza einlaufen lässt. So prompt bin ich noch selten bedient worden. Mit rauher Stimme will er wissen, ob wir die Schnecken und die Kutteln à la Burguelesa als racion oder media racion wollen, und wechselt sofort Oktave und Pression, als er, in einer Art vokal geknödelten Druckluftprojektils, die Bestellung in Richtung Küche weiterbefördert. Solch professionelle Geschicklichkeit verfolge ich immer gerne, und die Kutteln wie die Schnecken, die bald in heißer, mit Chorizo- und Speckstücken aromatisierter Brühe serviert werden, sind ausgezeichnet. Der einzige Wermutstropfen ist, dass die raciones zu groß sind, als dass wir noch von den aufs Einfallsreichste belegten montaditos kosten könnten, die in den Vitrinen ausgestellt sind: kleine Weißbrotscheiben mit Wurst oder Käse, auf die ein Dekorum aus Wachtelspiegeleiern, gebackenen Paprikastreifchen oder Sardellen, krausen Sprossen, zu grünen Rosettenfächern geschnittenen Gurken oder in Bierteig zu krossen Locken ausgebackenen Kalmaren gehäuft ist.  Der Geräuschpegel ist gewaltig; an den Tischen wird staccato palavert, der Fernseher hat auch sein Wörtchen mitzureden, und der Barmann scheppert nicht etwa nur so genussvoll mit dem Besteck und mit den Tellern, weil ihm dadurch die Dinge leichter von der Hand gingen, sondern offenbar vor allem, weil Lärm im Allgemeinen ein belebendes Element ist und Atmosphäre schafft.

Nachher ist es dafür um so ruhiger. Wir wandeln den platanenbestandenen Corso hinab, der hinter dem alten Theater am Fluß entlangführt. Wer überhaupt hier spaziert, spaziert nach Hause. Der Kontrast zwischen dem soeben erfahrenen Tempo und Lärm und der nun plötzlich wie ausgestorbenen Stadt ist ernüchternd. Es ist, als seien wir von einem rauschenden Fest unversehens vor die Tür gesetzt worden; die Stadt hat uns die Tür vor der Nase zugeschlagen. 
Wir versuchen auf einer Parkbank ein Nickerchen und gehen dann doch, weil der Versuch erfolglos bleibt, zum Bus, um dort ein wenig zu schlafen. Aber die Spannweite der spanischen Nachmittagsruhe erreichen wir nicht. Als wir nach einer halben Stunde Siesta wieder nach draußen treten, liegt Burgos immer noch in tiefer Stille, die Straßen sind von der Sonne wie ausgefegt und mit grellen Lichtborsten gekehrt, und nur wir Idioten haben's noch nicht begriffen, dass jetzt Pause ist.
Wir wandern trotzdem beflissen die Straßen ab, schauen diese und jene Fassade an (kleine steinerne Säugetiere, die sich in die Winkel eines Portals klammern, darüber Wappen und Jochbügel und stoßdämpferartige Wendel aus Stein, weiß der Himmel, was den Steinmetz hier geritten hat), bewundern ein Stadttor, Paläste, das Rathaus, und schließlich verfügen wir uns zu dem ausgewiesenen Stellplatz. Der ist leider so unwirtlich und laut, dass wir diese späte Nachmittagsstunde lieber nutzen, um nach Palencia weiterzufahren. 

Dort parken wir den Wagen zwischen ein paar Dutzend riesiger Wohnmobile. Ein stetes Band von Joggern schnürt hier vorüber; der Weg am nahegelegenen Kanal scheint eine beliebte Laufstrecke zu sein. Gleich hinter dem Parkplatz liegt ein großes Krankenhaus, an dessen Pforte wir auf dem Weg in die Stadt vorüberkommen. Die geriatrische Abteilung hat grade Ausgang: ganze Trauben von alten Leuten schieben ihre Rollatoren am Trottoir entlang, tapern auf Gehstöcke gestützt dahin, werden in Rollstühlen geschoben; viele der greisen Gesichter wirken desorientiert (in der Tat ist es ein psychiatrisches Hospital), und es muss ihnen durchaus wunderlich vorkommen, wie die so zahlreich aus der Stadt strömenden Jogger in ihren farbenfrohen Trikots zwischen ihnen hindurchspringen wie flinke Hindernisläufer, die einen Parcours aus menschlichen Slalom-Marken absolvieren. Es ist ein Bild zum Heulen: um die dreißig, vierzig alte Leute, denen jede Bewegung Mühe macht, und dazwischen schwarmweis hindurchwimmelnd fast harlekinshaft bunt dahinhüpfende Sportler, die dankbar die Gelegenheit zu ergreifen scheinen, diesen menschlichen Baumstümpfen gegenüber Reflexe und Wendigkeit zu trainieren. 

26. Mai. Palencia - Salamanca.

Valladolid. Das Seltsame an Städten wie dieser ist die Kluft zwischen einer großen Vergangenheit und einer Gegenwart, die der Geschichte nicht mehr gerecht wird. Der Mantel, den die Alten hinterlassen haben, ist zu groß geschnitten; jetzt füllt man ihn nicht mehr aus. Jedenfalls gilt das für das historische Zentrum an einem Dienstagvormittag. Das städtische Leben ist daraus ausgewandert. Man weiß nicht mehr viel mit den alten Plätzen anzufangen. Sie werden pietätvoll bewahrt, und wohlhabende Müßiggänger schlürfen da und dort ihren Kaffee, aber es liegt ein musealer Schleier darüber. Die Gassen um die Plaza Mayor wirken wie die verlassenen Flure eines Palasts, in denen Putzbrigaden nach Schichtende ihre Wischmobs und Eimer unterstellen.
Vor der prächtigen Fassade der Universität tummeln sich keine Studenten, auf dem Platz gegenüber mit dem Denkmal des Cervantes auch nicht; in dem alten Bau wird wahrscheinlich nicht mehr gelehrt, sondern nur noch verwaltet. Auf den Parkbänken um das Cervantes-Denkmal gackern Mädchen in Schuluniform, Karokniestrümpfen und Faltenrock; von der altehrwürdigen Stadt ist vor allem ein Pausenhof geblieben.
Handel und Wandel, alle urbane Geschäftigkeit ist aus dem Zentrum gewichen und in die angrenzenden Viertel ausgepresst worden. Diesmal ist nicht nur eine Seitenkapelle der Kathedrale wie in Santo Domingo, sondern der ganze Stadtkern die gute Stube: das Prunkzimmer des Anwesens, aber selten benutzt; angestaubt und muffig.
Wir machen einen langen Spaziergang im Park, wo alte Herren Pfauen um sich scharen, um ihnen Brotstücke hinzuhalten. Die kobaltblauen Vögel springen hoch und schnappen sich die Bissen aus der Hand. Wenn sie genug haben, verfügen sie sich in die Bäume, wo sie ihre lange Federschleppe frei herabhängen lassen und den Park mit ihren misstönenden Schreien erfüllen.
Wir schnappen unsere eigenen Mittagsbissen in einer Tapasbar und fahren dann weiter, obwohl es uns ein wenig leidtut um diese Stadt, in der vielleicht mehr zu entdecken gewesen wäre, wenn wir besser danach gesucht hätten. Denn es mag sein, dass es sich hier genau umgekehrt als bei der Kathedrale verhält, die von außen barocken Überschwang verheißt und den Besucher dann mit der nüchternen Kasernenkahlheit ihres Inneren enttäuscht; die Seitenkapellen sehen aus, als hätte man keine Heiligen, sondern Pferde darin halten wollten.
Im Supermarkt am Stadtrand. Von außen nur ein schäbiger Betonkasten, hat er innen einen reich versehenen und gewaltigen Tabernakel mit Schinkenkeulen. In der Stadt sind die Fassaden prächtig, und hinter den Fassaden ist es karg. Am Rand der Stadt sind die Fassaden armselig, aber ihr Inneres ist saftig: eine ideale Konstellation, um an der Universität Seminare über die Dialektik bei Don Quijote abzuhalten.

Mittägliche Siesta am Duero. Robinienpollen schweben als dicke Schneeflocken um uns herum; der ganze Boden ist mit weißem Flaum bedeckt, und ich schnaufe feuchte, warme Luft in den über das Gesicht gelegten Hut. Seit langer Zeit wieder ein Flugtraum; ich erhebe mich mühelos, tauche in einen Blütenkelch und sauge etwas Süßes ein. Dann, als sei ich durch irgendeine Pforte gestürzt, stellares Flimmern.

Gegen fünf kommen wir in Salamanca an. Wir parken am Rand der Altstadt, an der Grenze von Waschbeton und altem Sandstein. Ein paar Schritte nur, schon passieren wir das Haus, in dem Miguel de Unamuno 1936 starb, der Dichter war und Gelehrter, republikanischer Antirepublikaner und franquistischer Antifranquist, Liberaler, katholischer Marxist, Spiritualist und Materialist - alles in allem die tragische Gestalt eines bürgerlichen Intellektuellen, der in einem Zeitalter ideologischer Extreme ein grandioser Individualist sein wollte. Doch dabei ging es ihm wie jemanden, der über ein loses Parkett schwimmender Eisschollen wandern muss: er setzt seinen Fuß auf eine davon, und prompt droht die labile Platte wegzukippen, sodass er sich auf die nächste Scholle rettet, die aber, kaum, dass er sich darauf stellen will, ebenfalls abschmiert und in den eisigen Sulz absticht, weshalb er auf die nächste springt, und immer so weiter... Im Jahr 31 ruft er (ohne in irgendeiner Weise dazu legitimiert zu sein) in Salamanca die Republik aus, fünf Jahre später, enttäuscht und schockiert ob der Rücksichtslosigkeit der Republikaner, stellt er sich an die Seite der Aufständischen unter Franco, doch muss er schnell erkennen, dass diese den linksradikalen Teufel auch nur mit einem rechtsradikalen Beelzebub austreiben wollen. Bei einem Festakt, dem er als Universitätsrektor präsidiert, kommt es zum Eklat. Francos Frau sitzt neben ihm, als er seine Stimme gegen den Aufstand der Rechten erhebt. Die Monate, die ihm noch bis zu seinem Tod bleiben, verbringt er im Hausarrest. Vor dem Haus steht ihm zu Gedenken heute eine grobe, kubistisch inspirierte Bronzeskulptur. Der Faltenwurf seines Universitätstalars ähnelt in der gebrochenen Schroffheit seiner Linien einem in Segmente und Steinstränge zersprungenen Felsen, aber auch in der heterogenen Vielfalt dieser aufgesprengten Binnenstruktur, trotz der Kehlungen, Auskerbungen, Schrunden und Verwachsungen der Bronze, bleibt der Gestalt im Ganzen eine unbeugsame Massivität. Der Eindruck der Skulptur verändert sich allerdings je nach Lichteinfall. Als wir später wieder daran vorüberkommen und die Lichter der Barterrassen auf der Bronze glänzen, wirkt die Figur noch kantiger und roher, während am nächsten Morgen die Linien vom frühen Licht geglättet und gerundet erscheinen, als seien sie über Nacht behutsam ausgebügelt worden.

Die Altstadt ist ein Wunderstück, und um so wunderbarer, als ihr Prunk nur selten ins Auftrumpfende umschlägt. Es gibt da Fassaden, deren Schmuck dem goldgelben, rötlich überschimmerten Sandstein so reich und fein eingegraben ist, dass man diese filigranen Arbeiten nach den Silberschmieden plateresk benannt hat; Festons und Rocaillen, so zierlich gefertigt, dass man sich kaum vorstellen kann, dass hier mit Hammer und Steinmetzeißel gearbeitet wurde und nicht mit der  Nagelfeile und dem Puderquast einer Kosmetikerin. Selbst die Bauten, die durch ihre schiere Größe Macht und Autorität demonstrieren, tragen oft ein hübsches Antlitz; sie verhüllen die klassische Strenge ihres Aufbaus durch eine gewisse Putzlust, was ihnen das gewinnende Wesen von liebenswürdigen Prinzessinnen verleiht, die eher gefallen und bezaubern als beherrschen wollen. 
Zwar sind die meisten Gebäude von nüchterner und kantiger Trutzigkeit, mit Außenmauern, die fensterlos sind wie Bunker. Doch der Abglanz einiger reich geschmückter Fassaden genügt, um den Charakter des Ganzen in ein milderes Licht zu setzen. Gewiss tragen auch die vielen Studenten zum Charme dieses ehrwürdigen Viertels bei; sie sitzen lesend und plaudernd auf Freitreppen, von denen man eigentlich erwartet, dass Richter und Anwälte mit gewichtigen Aktenmappen unter dem Arm zu ihren Prozessen stapfen. Aber studentische Lässigkeit überspielt den ernsten Habit der Gemäuer, und in dieser Atmosphäre haben wir selbst bei einem Palast wie der Casa de las conchas, den ein Professor des Rechts und Mitglied des Santiago-Ordens erbauen ließ, nicht das Gefühl, dass sich hier die Staatsmacht ein Denkmal gesetzt hat. Ich vermute aber, dass genau das die Absicht war: der Bau wurde 1493, ein Jahr nach der erfolgreichen Reconquista, begonnen, und die 300 Sandsteinmuscheln, die seine Fassade zieren, huldigen sicher Sankt Jakob als dem Maurentöter. Im 9. Jahrhundert soll dieser in einer Schlacht gegen die Mauren eingegriffen haben, stolz auf seinem Schimmel fechtend. Seither feiert man den matamoros als Spaniens Schutzpatron. Doch trotz dieses martialischen Ursprungs erscheinen mir die Muscheln, mit denen die Mauern armiert sind, heute für ein paar Momente wie die Schalen, die Kinder den Wänden einer Sandburg eingedrückt haben: die Symbole von Kampf und Sieg als ein Kindervergnügen. 
Anders als sie es mit Sandburgen tut, reißt die Zeit nicht alle Bauwerke nieder; sie gibt ihnen nur einen anderen Sinn. Jetzt beherbergt die Casa eine Bibliothek; ich will das als ein gutes Geschichtszeichen nehmen, auch in diesen Tagen. Doch als wir mit Blick auf die Kathedrale einen Aperitiv nehmen, steht eine Polizeistreife auf dem Vorplatz, die Hände auf der Maschinenpistole; der Krieg mit den Mauren ist alles andere als beigelegt.

27. Mai. Salamanca.

Im Convento de las dueñas, einem Kloster von Dominikanerinnen. Wenn ich nicht schon gewusst hätte, dass dies ein Frauenkloster ist, hätte ich es beim ersten Blick in den Garten im Kreuzgang erkannt; die weibliche Hand ist sofort sichtbar. Vom Obergeschoss der Galerie kommt das Frauliche der Bepflanzung noch klarer zur Geltung: die Rabatten sind kurvig, gebaucht und nischenreich. In Männerklöstern gibt man sich weniger solcher lebendigen und Muster- und Formenvielfalt hin; da zirkelt man seine Rabatten, zieht gerade Winkel, hält fest an der Ideologie männlicher Rationalität, an Klarheit, Geometrie und Symmetrie. Dieser Garten hingegen ist nicht flächig und auf ideale Draufsicht getrimmt, sondern von üppiger und schwellender Körperlichkeit. Auf kleinem Raum entfaltet sich hier ein Bild traditionell weiblichen Selbstverständnisses. In Farbigkeit und Form der Beete frönen die Nonnen dem Femininem, auf das sie Verzicht getan haben. Sie leben die Farbenfreude und die Formenlust, die ihnen am eigenen Körper versagt ist, im Garten aus. Weil sie schwarz tragen müssen, ziehen sie dem Garten ein buntes Blumenkleid an.
Eine dueña ist nicht einfach eine Nonne aus Berufung: dueñas sind Töchter aus gutem Hause, die nicht standesgemäß verheiratet werden konnten oder aus anderen Gründen, über die diskretes Schweigen geboten ist, ins Kloster gegeben wurden. Das erklärt, warum die Kapitelle in der oberen Kreuzganggalerie so drastisch geraten sind: offenbar hielt man es bei dieser besondere Klientel für erforderlich, den didaktischen Effekt der Kapitellfiguren zu verschärfen; solch dämonischer Gestalten bedarf man nicht, wenn man nur belehren will, solche Fratzen braucht man zur Einschüchterung. Die Nonnen müssen rechte Luder gewesen sein, wenn sie derlei Bilder zu ihrer Zucht nötig hatten.

Der Blick, den man von der Galerie aus über die Stadt hat, ist allerdings entzückend. Über den Dachziegeln des Umgangs ragen hier die Kuppeln der Kathedrale auf, dort das griechisch anmutende Satteldach von San Sebastian, dann die Laternentürme von Clerecia. Wohin der Blick sich auch wendet - er findet immer ein freigestelltes oder bislang nicht aus dieser Perspektive und in dieser Konstellation erblicktes Bauwerk. Die Stadt zu durchwandern ähnelt dem Schütteln eines Kaleidoskops; auf Schritt und Tritt verändert sich die Zusammenstellung der Prospekte, und neue Durchblicke und Vignetten tun sich auf. In anderen Städten, wie etwa Florenz, imponiert das Panorama, der einzelne Bau oder die Fülle der versammelten Sehenswürdigkeiten, wenn sich mit einem Mal der Dom, das Baptisterium, der Campanile, oder auf der Piazza delle Signoria die Loggien und die Uffizien präsentieren. Doch bestehen die Plätze jeweils für sich; die Tallage der Stadt verhindert die Überlagerung und Verschränkung der Ansichten. In Florenz flaniert man durch ein Kabinett von schönen Individualitäten; hier hingegen erscheint das Einzelne immer vor einem aufgefächerten und gestaffelten Hintergrund, der dafür sorgt, dass auch die ferneren Teile der Stadt immer in den Nahblick hineinragen und gegenwärtig bleiben. Die ästhetische Wirkung Salamancas verdankt sich diesem kontrastiven Prinzip; nie ist etwas einfach es selbst: es ist schön, weil es sich von etwas Anderem abhebt, mit diesem Beziehungen eingeht und sich in das Geflecht des Ganzen einwebt. Ich kenne keine Stadt, die allein ihrer Anlage wegen prädestiniert wäre, eine Universität zu beherbergen. Wer wachen Auges durch Salamanca geht, bekommt vielleicht eine Ahnung von Sinn und Verfahren der Humanwissenschaften.

Die Kathedrale, vielmehr: die Kathedralen, denn als man die neue baute, ließ man die alte dahinter bestehen. Der alte Teil stammt aus romanischer Zeit, wirkt aber, als hätte ein chthonischer Gott ihn tief ins Erdreich versenkt, noch weit älter. Passenderweise dienen die Säle und Kammern, die sich dem Altarraum anschließen, heute vor allem als Grablegen, und so wandert man durch dieses steinerne Totenreich nicht wie durch eine Kirche, sondern wie durch die Traumgelasse dunkler Märchenwelten, wie sie Don Quijote in der Montesinos-Episode phantasiert hat. Ein Grabmal hat es mir besonders angetan: der Bischof liegt etwas schräg auf seinem marmornem Kissen und hält seinen Bischofsstab nonchalant in Händen. Über sein Gesicht spielt eine solche Heiterkeit, dass man den Tod nur für eine besonders spaßige und genießerische Form des Angeschickertseins halten möchte, und man hat jeden Moment das Gefühl, dass gleich eine dueña aus dem Stein treten und in einem Leintuch das tropfende und immer noch schlagende Herz des Toten herbeitragen könnte, um es ihm wieder einzusetzen.
Die neue, der alten vorgebaute Kathedrale ist, nun, pracht- und prunkvoll, originell auch in mancher Hinsicht. So haben etwa die Rippen des vorderen Chorgewölbes eine goldflimmernde Beflaumung, die aussieht, als hätte sich über dem Altar ein Konvent von goldenen Tausendfüsslern zu einer kribbeligen Orgie versammelt, aber das hilft nichts. Das hilft alles nichts. Das viele Gold hilft nichts, das aus Amerika eingeführt wurde und all die Kunstfertigkeit hilft nichts, in der man Altäre und Retabel mit dem importierten Gold belegte, und die Mathematik hilft nicht, die solche Gewölbe und Ornamente herzustellen half. Die Orgelpfeifen, die in der Mitte der Kirche erschallen sollen wie die Trompeten der Erzengel, helfen wahrscheinlich auch nichts; sie tröten ins Leere. Es wird viel Aufwand betrieben, um die Angst zu bannen und Gott gnädig zu stimmen. Man baut fürstliche Paläste, um ihn zu verherrlichen, schmeichelt ihm mit allen Mitteln seine Huld und sein Wohlwollen ab, aber weder mit Reichtum noch mit Vernunft noch mit Kunst wird man der Sorge Herr, er könne sein Gesicht von den Menschen abwenden und seine Hand von ihnen nehmen. Diese Angst geistert durch die riesige Halle, und je größer man derlei Gotteshäuser baut, desto lauter tönt ein hohler Widerhall durch ihre Räume.
Als wir nach der Besichtigung der neuen Kathedrale noch einmal in die alte hinuntersteigen, ist uns, als sei dort im Dunkel der Krypten und Ausschachtungen eine elysische Heiterkeit zuhause, und als tummle sich da unten stumm eine Gesellschaft wissender Spötter, die über die Thronhallenpracht da oben nur milde lächeln können. Oben mag es Tabernakel geben; da unten wissen sie, wo die Weinkeller sind.

Nachmittags Aufbruch zur Sierra de Francia, eine gute Stunde Richtung Südwesten. Die Strecke ist meist dürr und öd: Ebenen, in denen links und rechts immer wieder kleine Erhebungen liegen wie überdimensionale Fladen, die nicht der Erde und ihren inneren Kräften ausgepresst scheinen, sondern von vorsintflutlichen Tieren wahllos dort hingesetzt.
Schließlich finden wir einen Campingplatz. Von ein paar Weibern abgesehen, die am Rand hausen, sind wir die einzigen Gäste. Die Saison hat noch nicht begonnen, und all die Wohnwagen, die hier mit fest eingemauerten Reifen geparkt sind, von Zäunen und darüber gespannten, schattenspendenden Netzen gesichert, sind noch leer. Die Parzellen sind von weißgekalkten Mäuerchen abgeteilt und in Zeilen angeordnet; das verleiht dem Ganzen eine sehr viehzüchterische Anmutung.
Abends Lärm von Tieren: Kühe, Esel, Hunde, die über die Ebene plärren; auch Vogelkinder nahebei, schrill um Futter bettelnd.


28. Mai. Sierra de Francia

Wir atmen auf. Jetzt, in den Bergen, wird es grün. Auf dem höchsten Gipfel des Massivs - 1700 Meter - hat man einer schwarzen Madonna ein Heiligtum errichtet. Markanter als diese alte Pilgerkirche ist freilich ein weißer Obelisk, der von weitem wie das Monument einer Rakete und sehr phallisch aussieht, in Wahrheit aber als Funkmast dient. Es ist einsam dort. Trotz des Wochenendes, und trotz des berauschenden Fernblicks hat kaum ein halbes Dutzend von Besuchern den beschwerlichen Weg hier hinauf gefunden. Der Steinböcke sind mehr: misstrauisch lagern sie im Schatten des Konvents.  Der Leithammel schenkt uns einen verdrießlichen, von seinem Kinnbart unterstützten Pharaonenblick; seine schweren, geriffelten Hörner reichen, um uns Respekt einzuflößen. Der Bock muss sich noch nicht einmal erheben, um seine Kraft zu demonstrieren; sie zeigt sich ganz in der ruhigen Selbstsicherheit seines Blicks.
Lästiger sind die Insekten; hier schwirrt überall ein Gewimmel winziger Fliegen, das so dicht ist, dass man mit jedem Atemzug ein paar Gramm vibrierenden Inhalats einsaugt; schließlich halten wir uns ein Taschentuch vor den Mund und atmen durch den Filter wie durch eine Gasmaske. Natürlich fühlt man sich trotzdem sekkiert und gepiesackt; ich werde partout den Verdacht nicht los, dass dieser Ziegenpharao uns diese Wolke inquisitorischer Insekten auf den Hals gehetzt hat wie eine biblische Plage.
Der Blick in die Ferne ist grandios: verblauende Hügelwellen, die am Horizont in ein Meer zu verlaufen scheinen, das Hunderte von Kilometern entfernt ist.
Da ist eine riesige Sonnenuhr aus grobem Beton, zehn Meter Durchmesser, gewölbt wie ein Brennglas, in dem die Sonne das ihr dargebrachte Opfer ganz von selbst anzünden könnte. Am Rand der Schale führen Gänge in ein muffiges Gelass darunter; aber das haben sich die Insekten erobert, die in schwarzen Wolken darin wimmeln. Ich werde das Gefühl einer sinistren Bedrohung nicht los, das die Insekten freilich nur illustrieren. Es ist die ganze Anlage, die Feindseligkeit atmet. Der raketenartige Funkmast, die Brennglassonnenuhr (es heißt, schon Archimedes habe mit Hilfe von Brennspiegeln feindliche Schiffe in Brand gesteckt), zudem die topographischen Einrichtungen an einer Steinbalustrade, wo man durch Fadenkreuz und Kimme die Dorfflecken in den Tälern ins Visier nehmen kann: das alles ist untergründig von einer Wehrhaftigkeit durchzogen, als hätte der Ort einmal als Gefechtsstand gedient. Wenn dem so gewesen sein sollte, dann hat er seine Aufgabe erfüllt. Bis auf ein paar Dörfer in der Ferne liegt das Land so karg da, als hätten es nach irgendeiner Gigantenschlacht nie wieder Menschen gewagt, sich in diesen verwunschenen Gründen anzusiedeln.
So grau die Felsen aus der Ferne aussehen, so farbenprächtig sind sie von Nahem: Flechten färben sie grünspanscheel, mit Farbverläufen von Braun über Curry zu Orange, mit taubenblauen, von einem weißblättrigen Schimmelrand gesäumten Flecken. Das Rot allerdings, das hier und da die Hänge überzieht, stammt nicht von Flechten, sondern ist der stark eisenhaltige Stein selbst; mit seinen weißen Splitterkanten ähnelt er dem fettgemaserten Anschnitt des tiefdunklen Iberico-Schinkens, den wir bald so reichlich sehen werden. 

Mittag in La Alberca. Das Dorf ist in der Hauptsaison offenbar ein beliebtes  Ausflugsziel, was der Monokultur von Läden, die Wanderbedarf und Souvenirs anbieten (geschnitzte Stöcke, Mützen und Lederhüte, meist weiß man nicht, was Bedarf und was Souvenir ist), leicht abzulesen ist. Dazu gibt es allerlei nutzloses Haushaltszeug aus Holz und Leder, letzteres deutlich Souvenir, denn wer würde seinen Salat je in ledernen Schüsseln reichen?
Noch ist Mai; die Plaza Mayor mit ihren Arkaden ist fast leer. Die Geranien, die üppig von den Balkonen leuchten, finden kaum Bewunderer. Die Arkaden werden von steinernen Säulen gestützt, die wie Überbleibsel aus römischer Zeit wirken; darüber liegen weißgekalkte Fachwerkgeschosse, Holzböden und Balken, die von der Zeit durchgebogen sind. Es wirkt, als sei das Dorf einmal eine römische Provinzhauptstadt gewesen, über die Jahrhunderte aber verbauert und von Stein auf Holz heruntergekommen. Wir essen am Platz eine parrillada de verdura (Gemüse vom Grill) und Spanferkel. 
Erst allmählich begreifen wir, wie modular man in Spanien die Speisen zusammenstellt. In Frankreich hält man am Standard des Menüs fest, das sich gemäß irgendeiner Sonatenhauptsatzform oder Komödientheorie gestaltet (kecke Exposition, herzhafte Peripetie, süße Versöhnung). Die Spanier sind da unkomplizierter und freier; ganz ersichtlich liegt ihnen weniger an systematischer Stimmigkeit als ihren nördlichen Nachbarn. 
In der Glanzzeit des spanischen Dramas wurden zwischen dessen Akte sogenannte entremés eingeschoben, kleine Schwänke, die mit dem Hauptstück nichts zu tun hatten, sondern nur einen Entlüftungsschacht in das pièce de résistance der Tragödie treiben sollten, die sich auf der Bühne abspielte. Die entremés belüfteten den schweren Dramenteig, stachen Löcher in den Applomb des Einheitszwangs. Es handelte sich um eine frühe Form des zapping für ein Publikum, das nicht lange bei einer Sache bleiben konnte oder wollte. Beim Essen hat sich diese Wahlfreiheit erhalten; es muss nicht einem aus höfischer Sitte abgeleitetem Zeremoniell, sondern darf der Spontanität des Gelüsts folgen. Diese Präferenz für lockere Kombinatorik hat sich auch in der Preisgestaltung niedergeschlagen. Anders als in französischen Restaurants sind die Preisunterschiede zwischen einem Menü und einem Essen à la carte gering; das begünstigt ein eher naschhaftes Verhalten, ebenso wie die meist bestehende Möglichkeit, zwischen einer ganzen Portion, einer halben, oder gleich der tapas-Version zu wählen. Der Gast bleibt in der Zusammenstellung der Speisenfolge recht ungebunden. Woher das wohl kommen mag? Das spanische Hofzeremoniell galt zu Zeiten des Cervantes als das strengste und formellste in ganz Europa; von daher wird diese kombinatorische Liberalität wohl nicht stammen. Eher leuchtet mir die Herkunft aus dem Hungerleidertum der Pikaros ein. Die Helden des spanischen Schelmenromans von Lazarillo de Tormes bis zu Quevedos Buscon musste ihre knappen Bissen schnappen, wo sie sie kriegen konnten. Wer nicht mehr zu kauen hat als einen Schippel Heu, wird sich um eine elaborierte Menüfolge keine großen Gedanken machen.

Erst zuhause konnte ich den erschütternden Film sehen, den Buñuel in den frühen dreißiger Jahren in dieser Gegend gedreht hat, die damals so arm und elend war wie kaum ein europäischer Landstrich sonst: Las Hurdes - Land ohne Brot. Getreide, aus dem man Brot hätte backen können, gedieh nicht auf den am Fluß angelegten Terrassen, für die man in Säcken Erde von weither heranschaffen musste, und die auch nur dann ein Jahr lang fruchtbar genug für Kartoffeln war, wenn das Feld nicht schon zuvor in einer Überschwemmung davongespült wurde. Im Mai und im Juni, wenn die Kartoffelvorräte aufgebraucht waren, ernährten sich die Einwohner von unreifen Kirschen, die ihnen die Ruhr bescherten. Durch eins der Dörfer lief ein Rinnsal Wasser, in dem die Schweine soffen, Frauen ihre Töpfe spülten, und Männer ihren Durst dort stillten, wo eben noch die Schweine hineingepisst hatten. Man sieht ein Weib mit einem riesigen Kropf ihr Kind säugen; sie sieht aus wie sechzig und ist doch bloß früh verbraucht und halb so alt. Die stockigen Wasser brüten Anopheles-Mücken und Malaria aus. Kinder verrecken auf offener Straße an der Diphterie. Die paar Ziegen, die man besitzt, werden von Zwergen und Kretins gehütet, die wegen des Mangels und der Inzucht häufiger sind als die Ziegen. Buñuel, der Surrealist, schwelgt in der Betrachtung ihrer Abseitigkeit.
La Alberca genoss als Hauptort der Region im Vergleich zu den Bergdörfern noch ein wenig Wohlstand; doch die Feste, die man hier feierte, zeugten gleichwohl von barbarischer Grausamkeit. Die jungverheirateten Männer ritten die Dorfstraße entlang, um den Hähnen, die kopfüber an einer quergespannten Leine aufgehängt waren, bei lebendigem Leib den Kopf abzureissen. Wenn alle jungen Gatten ihren Hahn enthauptet hatten, schenkten sie aus großen Kannen Wein für alle aus. Das Blut, das den aufgehängten Hähnen aus dem Hals spritzte, verwandelte sich in den Wein, der reichlich aus den Tüllen floss.

Als wir nachmittags in Mogarraz Station machen, das heute zu den pueblos mas bonitos de España zählt, hat sich gewiss vieles verändert; doch in der Bar, in der wir einen Kaffee nehmen, zeigt ein Fernseher Stierkampf, als sei ein Nachmittag, der nicht mit Blut begossen ist, von Haus aus zur Freudlosigkeit verdammt. Außer uns und dem Wirt, der seine Theke schrubbt, ist nur noch ein einziger Gast da. Über die Schulter des Stiers strömt ein pulsierender Blutschwall, und der Alte schlürft seinen Roten so lustvoll, als sauge er direkt an dieser Quelle.
Die Hausmauern des Dorfs sind mit großformatigen Portraitbildern in dick aufgetragenem Acryl gepflastert, die meisten davon etwa ein auf zwei Meter, manche größer, und es ist sehr merkwürdig, die Hauptgasse entlangzugehen, keinem lebendigem Menschen zu begegnen und nur den Blick dieser Acrylaugen auf sich zu spüren. Es ist eine starke Beschwörung von Abwesenheit, eine geisterhafte Präsenz in Grautönen. Wie viele mögen es sein? 200? 500? Noch mehr?  Wie selbstverständlich bin ich überzeugt, dass es sich bei den Porträtierten um Opfer des Bürgerkriegs, um Verschleppte, Gefolterte, Hingerichtete handeln müsse; zu sehr ähnelt der künstlerische Duktus jenem, der in Deutschland die Erinnerungspolitik an die Opfer des Dritten Reiches prägt. Doch diese Galerie des Gedenkens ist nicht den Deportierten gewidmet; sie zeigt gerade jene Mogarreños, die das Dorf nach Krieg und Diktatur nicht verlassen, sondern hier ausgehalten haben. Vielleicht gehörte dazu ein Opfermut, der dem der Regimegegner nicht nachstand.

Wir folgen einer Abzweigung, die zu einem Mirador führt. Mir gefällt allein das Wort, das sich vom lateinischen mirari für bewundern herleitet; im Spanischen ist das euphorische Moment aus dem Wort verschwunden, mirar heißt ganz profan schauen. Aber in dem Aussichtsbalkon, an dem wir schließlich unser Lager aufschlagen, leuchtet der alte Sinn wieder auf. Wir stehen über einer Flusskehre des Alagon, der in einen Stausee weiter im Süden einmünden wird. Das Wasser liegt als stahlblau leuchtendes Collier um die von der Flusswindung fast abgeschnürte und tropfenförmig ausgepresste Halbinsel, deren Färbung zu dieser Stunde vom zarten Smaragd der Gräser ins Kiefergrün der Bäume übergeht. 
Ich schaue und denke, nach einem Vergleich suchend, Collier, und dann denke ich wieder: Garotte.
Wir sind allein; über Meilen kein Mensch. Hinunterblickend ahne ich in der Form der Flusswindung und in den Spiegelungen von Wolken und Baumreihen eine riesenhaft vergrößerte Zellstruktur, einen Organismus, der unendlich langsam atmet und sich unablässig neu gestaltet und entstaltet, Stoffe auspresst und sich andere einverleibt, neue Adern und Kapillare erzeugt, Knochen schafft und Muskeln, während andere verkümmern. Die Welt ist ein großes Tier.


29. Mai. Caminomorisco - Plasencia.

Die Rundfahrt durch die Sierra de Francia führt uns noch einmal nach La Alberca. Auf einer Wiese am Ortsrand sind zehn ärmliche Marktstände aufgebaut. Das Gemüse wird von der Ladefläche eines kleinen Lasters herab verkauft; auch eine alte Frau hat bloß die Heckklappen ihres Kastenwagens geöffnet und wartet, auf einem Klapphocker sitzend, auf Kundschaft. Sie gibt uns einen der schneeweißen, frischen Schafskäse aus der Steige; er ist feucht und gummihaft  und wird nach nichts schmecken. Auch die Tomaten sind nicht besser; obwohl der Gemüselaster aussieht, als hätte er seine Fracht eben erst vom Bauern nebenan geholt, besteht die Ladung aus Treibhausware aus Almeria. Die Tomaten bekommen hier wahrscheinlich zum ersten Mal Sonnenlicht, das nicht durch Folie gefiltert ist, auf ihre makellose Pelle. Am Rand des Dorfes schauen wir sehnsüchtig in Gärten, in denen das Gemüse noch auf echter Erde gezogen wird. Vor hundert Jahren wäre diese schmale Subsistenzwirtschaft Zeichen des Elends gewesen. Jetzt, in Zeiten des Überflusses, sieht's aus wie paradiesische Fülle.

Gegen Mittag kommen wir nach Bejar. Es ist keine ganz kleine Stadt, und ihre Mitte ist so weitläufig angelegt, als sei sie einmal größer gewesen oder hätte es jedenfalls werden wollen. Aber die Stadt um diesen Platz ist weggewelkt und wie verschrumpelt. Nach der Art der Bebauung zu schließen, florierte die Stadt in den Siebzigerjahren; damals muss es hier Fabriken gegeben haben. Damit scheint es vorbei; jetzt lebt man davon, die Einkaufsbedürfnisse der Leute aus dem Umland zu bedienen. Deshalb gibt es viel mehr Geschäfte mit Schuhen, Kleidern, Haushaltswaren etc. als Bäcker und Metzger und Gemüsehändler. Die primären Bedürfnisse werden in den Dörfern selbst befriedigt; die Stadt hält die komplizierteren Sachen vor, und darum wandern wir in zunehmender Verzweiflung die Hauptstraße entlang: wir suchen Brot und Gurke, und finden bloß Prada und Gucci, oder vielmehr deren billige Nachahmer. Wenn wir auf der Jagd nach Stilettos, Lippenstiften oder Abendkleidern gewesen wären - kein Problem. Auch Gasofenzubehör, Kruzifixe, Karnevalsmasken wären leicht zu kriegen. Brot allerdings, Gemüse, ist schwieriger. Schließlich nehmen wir in einem Laden eine gute Lage sündhaft teuren pata negra mit, und einen Pyramidenstumpf von Ziegenkäse, der mit Räucherpaprika affiniert ist: der junge beau, der dort arbeitet, handhabt sein Schinkenmesser so elegant wie Zorro sein Florett.

Zu Mittag in Hervas, einem Städtchen, das in den Straßennamen die Erinnerung an das Judenviertel bewahrt, das bis zum Alhambra-Edikt von 1492, als die Juden das Land verlassen oder konvertieren mussten, Bestand hatte. Inzwischen haben sich sogar wieder einige Juden dort angesiedelt. Aber das koschere Restaurant, das ein deutsch-englisches Paar dort aufgemacht hat, ist heute geschlossen, und so essen wir in einer Bar, wo uns ein dicker Junge von vielleicht 16 Jahren sehr zuvorkommend und freundlich bedient. Nur wenn er nichts zu tun hat, schaut er mit einem Ausdruck so herzerweichender Traurigkeit vor sich hin, so dass ich vier cañitas trinke, bloß um ihn mit den vielen Bestellungen von seinem Elend abzulenken. 
Es sind noch keine Ferien. Das bedeutet: er geht er nicht mehr zur Schule, sondern schmort schon jetzt in einem zähen Saft aus Dahocken, Bierzapfen, Tellerbringen, Abräumen, der sich nicht mehr groß verändern wird. Noch ist er dick; in einigen Jahren wird er von der (allerdings sehr guten) Küche seiner Mutter fett geworden sein. Wenn er seine Ellbogen auf die Theke stützt, hat er bereits den ganzen Habitus eines müden, wampigen Mannes Mitte fünfzig, den das Leben langsam auswringt. Ihm gegenüber hängen an einem Balken große Schinkenkeulen am Haken; in jedes Stück ist unten an einem Stäbchen ein kleiner, oben offener Kegel eingestochen, der das ausgeschwitzte Fett auffangen soll. Vielleicht sollte man dem armen Kerl auch einfach solche Dinger in die Arschbacken rammen.

Wir halten Siesta an einer kleinen Aufstauung des Rio Cuerpo de hombre. Im Wasser plantschen und kreischen Kinder; ein Blütenflaum von Robinien treibt über den Platz, und der Busfahrer, der die Kinder hierhergebracht hat, lässt den Motor laufen; wahrscheinlich funktioniert sonst seine Klimaanlage nicht.
Über Straßen, die seit langem nicht mehr ausgebessert wurden, zur Embalse von Gabriel y Galan. Damit die Autofahrer nicht mit unverantwortlich überhöhter Geschwindigkeit über die Schlaglöcher und groben Risse im Asphalt rasen, hat das Straßenbauamt alle paar hundert Meter Teerschwellen gießen lassen, wie man sie zur Verlangsamung an Ortseingängen nutzt. Das hat eine interessante Logik; statt mit dem Teer gleich die Schäden zu beheben, wendet man Material und Mühe auf, um den Fahrer vor diesen Schäden zu warnen. 
Wir wollen zu einem Ort, der in den 60er Jahren wegen der Flutung des Tales evakuiert wurde, dann aber doch nicht im Wasser versank. In unserem Führer hieß es, Studenten aus ganz Spanien seien damit beschäftigt, das Dorf wieder instand zu setzen; aber in den 15 Jahren, die seit Erscheinen des Führers vergangen sind, scheint nicht viel geschehen, und von emsigen Studenten ist keine Spur. Nur eine Schulklasse ist hier, die irgendwelche Übungen in Teambildung macht, an die ich mich nicht mehr erinnere, nur noch, dass sie irgendwas mit Wasser zu tun hatten und dass alle Kinder patschnass waren. 

Unweit liegen die römischen Ruinen von Caparra. Der Weg dorthin ist bezaubernd und von saftigen Weiden mit lockerem Eichenbestand gesäumt; imposante basaltgraue Findlinge liegen darin, oft in Gruppen, manchmal Solitäre von drei Metern Höhe und zehn Metern Breite. Welche Eiszeit mag sie hier zurückgelassen haben? Diese Spuren aus paläolithischer Zeit berühren mich jedenfalls mehr als das eingezäunte Ruinenareal. Dort stoßen wir auf ein Besucherzentrum, das von dem einzigen menschlichen Wesen auf dem Gelände betreut wird; sonst sind wir allein. Die Ausstellung sei kostenlos, sagt der Mann; wir eilen zügig an Schautafeln und Vitrinen mit Keramikscherben vorüber, werfen einen Blick auf die Bilder mit den Mauerresten und dem plumpen Portal, welches das eigentliche Schaustück des kostenpflichtigen Terrains ist. Das Portal besteht aus vier Bögen auf quadratischem Grundriss, ist also eigentlich kein Portal, wenn man mit dem Wort die Idee eines Durchgangs verbindet, der eine Zone von der anderen trennt. Es ist ein Portal als Geste, als klobig aufstampfender Quadropode. Rom hat sich hier als trampelnder Elefant verewigt, stumpf und plump und gewaltig. Ein ungefüges Monstrum, das die iberische Provinz weniger schmückt denn vielmehr als gefräßiges Vieh abweidet und niedertrampelt. Sicher hat das Portal anders gewirkt, als es noch in eine Stadt eingebettet war; aber manchmal schält die Zeit Beschönigungen und Rationalisierungen von den Dingen und hinterlässt den harten Kern des Kolonialismus: Macht, Gier, Unterdrückung. Hier zumindest habe ich den Eindruck, dass Rom hier nicht huldvollerweise seine Kultur verbreiten, sondern nur seine Macht und furchteinflößende Stärke demonstrieren wollte. 

Weiter nach Plasencia. Es ist Zeit für den Aperitiv. 
Als wir von unserem Parkplatz ins Zentrum gehen, strömen feschgemachte junge Leute ebenfalls in die Richtung, aber ach: feschgemacht ist eine sündhafte Untertreibung. Die Straßen wimmeln von geschniegelten, aufgeputzten, vor lauter Schick grausig entstellten Jugendlichen. Die Mädchen sind schwer mit Schminke verspachtelt, mit Tuscheklumpen in den Wimpern, Abdecklack, um Pickel und Poren zuzuschmieren, pastos aufgetragenem Lidschatten, Haarspray, das ganze Programm. Die Klamotten, die sie tragen, sind Karneval oder Travestie: Kinder, als geile Vamps maskiert. Sie stöckeln auf hohen Hacken (ohne es zu können), haben Röcke mit Schlitzen bis zur Hüfte oder gleich Minis an, die auch auf dem Straßenstrich als sexy durchgingen. Die Jungs sehen aus, als hätten sie sich aus Papas Kleiderschrank bedient; bei vielen davon kann man nur hoffen, dass sie eines Tages noch reinwachsen. Offenbar handelt es sich um einen Abschlussball. Mütter lecken ihre Finger ab und klatschen die Tolle ihres Sprößlings mit Spucke an. Zuppeln an Krawatten, an Aufsteckfrisuren, justieren Dekolletees und Gürtel. Wenn ältere Schwestern dabei sind, zwei- oder siebenundzwanzig, fehlt das Element des Kinderfaschings, das die Fünfzehnjährigen noch entschuldigen mag; bei ihnen schlägt das Nuttige noch stärker durch.
Wäre ich nicht bloß ein geschmäcklerischer Mitteleuropäer mit etwas abweichenden Schönheitsidealen, sondern ein prüder Eiferer, der diese flittchenhafte Aufmachung als Zeichen der Sittenverderbnis beklagt, würde ich den Zorn Gottes auf diese schamlosen Dirnen herabrufen, und ihn bitten, Feuer und Schwefel regnen zu lassen. Irgendwo scheint aber ein anderer strenger Zelot zu sitzen und für ein solches Strafgericht zu beten, denn als wir uns etwas außerhalb der Stadt bei einer Eremitage installiert haben, die der Virgen del puerto geweiht ist, hat sich über der Sierra de Gredos ein Unwetter alttestamentarischen Ausmaßes zusammengebraut. Über den Bergen leuchtet es schwefelgelb; bald schießen die ersten Blitze auf die sündige Stadt nieder; Donner rollt grollend durch die Wolken, dann stürzt die Sintflut vom Himmel.

30. Mai. Plasencia - Cáceres.

Am Morgen ist Gottes Zorn gestillt. Keine Wolke trübt das reine Blau, und selbst die monumentale Steinskulptur, die uns gestern abend noch als Heiligtum von archaischer Bosheit erschienen war, wirkt jetzt weniger brutal als vielmehr verschmitzt. Sie stellt irgendein drei Meter hohes Vieh dar, das aus dem Felsen geschlagen wurde, ein klobiges Wesen mit dicken Lippen, fetten Wülsten um Stumpfnase und Augen, und einer Art Panzerplatte auf dem groben Haupt; halb aztekisches Idol, halb ein Stier mit kupierten Hörnern.

Über die Autobahn nach Cáceres. Anders als in Frankreich macht es hier keinen großen Unterschied, ob man die Autobahn oder kleinere Straßen nimmt. Man gewinnt der Landschaft keine größeren Reize ab, wenn man sich in die Kleinteiligkeit des Straßennetzes begibt. In Frankreich tut sich darin oft eine große Vielfalt auf, die von der Autobahn aus kaum zu würdigen ist. Die Autobahn ebnet nicht nur die Art ein, wie man sich bewegt, sondern auch die Landschaft drumrum. Sie wird auf ihre großen Züge reduziert, aufs Allgemeine, während die Details verschwinden. In Spanien besorgt diesen Effekt schon die Landschaft selbst. Diese Eintönigkeit ist dem Klima geschuldet, aber auch der extensiven Bewirtschaftung des Landes, die durch das jahrhundertelange Großgrundbesitzertum noch befestigt wurde. Die gemischte und variationsreiche Kulturlandschaft, die in Europa meist das Bild prägt, der dort oft kleinteilige Wechsel von Wald und Weide, Feldern und Wiesen, Weinhängen und Gärten, ist hier selten. Ebenso selten sind die kleinen Sträßchen, die im Norden nicht nur die Dörfer miteinander verbinden, sondern sich auch zwischen den Besitzungen der Bauern entlangschlängeln. Die Straßen sind die Nähte, die den Fleckenteppich der Fluren zusammenhalten und gliedern. Das Straßennetz Spaniens ist wohl auch darum so weitmaschig geblieben, weil das Land weniger in einzelne Besitzungen zersplittert ist. Auch heute liegen die großen Fincas kaum an der Straße, auf dem Weg von hier nach dort: sie sind weiträumig von eingezäuntem Land umgeben und nicht eigentlich Teil des Straßennetzes, sondern nur an dieses gleichsam angekuppelt: ihre Wirtschaftswege gehören ihnen selbst, statt als Transversale oder Querverbindung dem allgemeinen Verkehrswesen sich einzugliedern. Das hat gewiss gute Gründe und ist ganz offenbar Folge der ausgedehnten Weidewirtschaft und der althergebrachten Latifundienstruktur; es vertieft aber die landschaftliche Eintönigkeit noch. Das, was anderswo die Autobahn für die Wahrnehmung bedeutet - eine Monotonisierung und Homogenisierung des Erfahrungsraums - leistet hier das Land selbst; nicht nur, weil die Zäune der dehesas die Funktion von Leitplanken übernehmen, sondern auch, weil die Landschaft nur selten zum Anhalten und Verweilen einlädt. Zwar wäre es ein Leichtes, hier und da am Straßenrand Zonen zum Innehalten einzurichten, Aussichtspunkte, Picknickplätze, kleine Areale für eine Pause. Es gäbe dafür auch Gelegenheiten, am Ufer des Rio Tajo, auf Anhöhen, die weite Blicke auf gewaltige und erhabene Einöden ermöglichen, oder einfach eine Nische mit schattenspendenden Bäumen. In Frankreich hätte man sich derlei nicht entgehen lassen und sofort ein paar Tische aufgestellt, und vielleicht ein Fernrohr dazu oder eine Marmortafel zur topographischen Orientierung. In Spanien jedoch spart man sich die Mühe, und da, wo man sie dennoch unternimmt, wirkt das Ergebnis weniger wie ein einladender Rastplatz als wie ein didaktischer Fingerzeig, warum Picknickplätze hierzulande idiotisch sind. Die Tische nämlich stehen, wenn es sie gibt, immer auf unwirtlichen Brachflächen, mit beschnittenem Ausblick oder von Dornengestrüpp bedrängt; vor allem aber: in praller Sonne. Es ist wie offener Hohn auf die Idee, draußen sitzen zu wollen. Es offenbart die Sonne als feindliche Macht, die es hierzulande zu meiden gilt. Der locus amoenus, jene anmutige, von Bächen durchrieselte Naturszenerie, die so beredt in den Büchern von Cervantes' Zeitgenossen gepriesen wurde, und dem auch Cervantes gerne schwärmerisch huldigte - im Don Quijote spielt er kaum eine Rolle. Dafür gibt es eine Unmenge von Episoden, die in Wirtshäusern und Schenken spielen, im Schatten, hinter kühlen Mauern. Draußen halten sich nur Leute auf, die dort zu tun haben: Reisende und Bauern, Schäfer und Ganoven. In Frankreich oder Italien hat man um 1600 schon Geschmack am Lustwandeln und am arkadischen Herumlungern unter Bäumen gefunden; in Spanien verfügt sich, wer's kann, in die Kneipen. Das zumindest hat sich in den vierhundert Jahren seit Don Quijote nicht geändert.

Der Tajo: er ist schon hier ein breiter Fluß, lange bevor er als Tejo bei Lissabon ins Meer strömt. Seine Wasser bringen die Ufer kaum zum Grünen: eine Wasserrinne, die die umliegende Erde kaum tränkt und belebt. Auch hier bemerke ich wieder die Grenze, eine Scheidelinie, die zwei Sphären schroff trennt, wie die Zäune, die den öffentlichen und den privaten Raum separieren. Die Ufer sind hier keine Übergangszonen, in denen sich eine Vermischung und Anverwandlung der Sphären vollzieht, sondern ein greller und unvermittelter Kontrast. Auch das werden wir noch oft sehen: die embalses, die Stauseen, liegen in berückendem Türkisglanz in ihren Senken, aber es ist etwas Merkwürdiges und beinahe Irreales an ihnen. Es irritiert, dass ihre Ufer von der Feuchtigkeit kaum berührt werden. Da sind riesige Wassermassen, aber das Land drumrum bleibt unbeeindruckt und dürr. Dieser schroffe Sprung von See zu Steppe ist auffallend; ich bin Übergänge gewohnt, sickernde Kontinuen. Natürliche Seen sind meist auf irgendeine untergründige Weise mit ihrer Umgebung verbunden; ihr Blau oder ihr mooriges Braun ist von chromatischen Modulationen zum Grün hin eingefasst. Es gibt etwas Osmotisches, Metabolisches darin, ein Austausch oder eine Teilhabe. Die embalses hier leuchten oft in so prachtvollem Türkis wie schreiend blau gefärbte Swimmingpool-Wannen, die man von weither angeliefert und dann hier eingelassen hat. Manchmal erinnern sie an den Lidschatten schrill aufgedonnerter Weiber: grell herausstechend aus dem sandigen Einerlei.

Ich bemerke, wie sich die Beobachtungen, die ich hier in Spanien mache, allmählich um das Motiv des Gegensatzes gruppieren. Es ist etwas Manichäisches um dieses Land - nicht in religiöser oder politischer Hinsicht (zumindest bin ich nicht kundig genug, dazu etwas zu sagen, auch wenn ich den Zeitungen oft genug von der Unversöhnlichkeit der Lager und ihrer Unfähigkeit gelesen habe, Kompromisse einzugehen), aber in der Landschaft und in der Gestaltung des Raums. Dieser Spur gilt es nachzugehen.

Cáceres. Die Plaza Mayor ist ein langgestrecktes Rechteck, und die Schatten der kantigen Gebäude zeichnen sich scharf auf dem Pflaster ab. Ein Turm, sehr trutzig und grob, beherrscht das Geviert. Hier ist der Eingang zur ciudad monumental, einem imponierend einheitlichen mittelalterlichen Ensemble. Die Einheitlichkeit ist freilich mit musealer Frigidität erkauft; da hilft auch der Flamenco-Gitarrist nicht, der an einer Bruchsteinmauer lehnt und seine Arpeggios heruntergniedelt. Ein skandinavisches Pärchen fotografiert ihn so verstohlen, als versuchten sie, ein Stück aus einem Souvenirladen zu stehlen. Es gibt allerdings noch nicht einmal einen Souvenirladen; keine Bar, die auf ein schnelles Bier einlädt; ich kann mich nicht an irgendein Geschäft erinnern. Da ist nur saubergeputzte, von allen Spuren modernen Lebens sorgfältig gereinigte Monumentalität. 
In der Kirche wird geheiratet, weshalb ein Türsteher den Besuchern den Eintritt verwehrt. Das ist einerseits begreiflich, denn schließlich verlangt eine Messe als Kultus Teilnahme und verträgt sich nicht mit touristischer Schaulust. Andererseits, erstens, ist diese spezielle Hochzeitsgesellschaft mir zuwider: sie kommt mir vor wie ein Filmteam, das die Kirche und den Platz exklusiv als Set gemietet und damit das Recht erworben hat, jeden, der nicht dazugehört, auszuschließen. Und andererseits, zweitens, denke ich auch an eine Hochzeit in einer Kirche in Limoges, in die wir einmal hineingerieten, und bei der wir als Zufallsgäste so wohlgelitten waren, als verträten wir die Instanz der Öffentlichkeit en général und als läge den Brautleuten auch an dem Segen derer, die nicht der Familie, den Freunden, den persönlich Bekannten angehören, sondern einer namenlosen Allgemeinheit. Diese Geste von selbstverständlichen Universalismus vermisse ich hier; stattdessen herrscht hier der Geist von Abschottung und Trennung, der aber nicht nur für die Hochzeitsgesellschaft gilt. Die ciudad monumental - dieses denkmalpflegerisch so fein präparierte Viertel - verdankt sich in ihrer musealen Leblosigkeit genauso einem Drang zur Trennung der Sphären, nur, dass hier nicht der Clan von Familie und Freunden von der Allgemeinheit geschieden wird, sondern die Vergangenheit von der Gegenwart. Man hat säuberlich die hehren Zeugnisse der Geschichte von der profanen Welt des Alltags abgeteilt, mit dem Effekt, dass das historische Viertel so leer geworden ist wie ein Beinhaus, durch das nur noch die Touristen spuken. Es ist nicht mehr der Ort, an dem die Einheimischen sich zuhause fühlen; offenbar sind hier zuviele Knochen und zuwenig Fleisch. 
Vor der Kirche in Limoges waren Marktstände aufgeschlagen; die Hochzeitsgesellschaft spazierte zwischen Gemüsehändlern und Metzgern hindurch. Entrecôtes und Ochsenschwänze gingen über die Theke, Tomaten wurden angepriesen, Ziegenkäse verkauft; doch hier und da ruhte kurz das Geschäft, weil eine Gemüsefrau die Braut küssen wollte und der Schlachter in seiner blutbeschmierten Schürze dem Bräutigam die Hand schüttelte. Diese Durchmischung von Festtag und Alltag schien mir ein guter Segen für eine Hochzeit - jedenfalls ein angenehmeres Zeichen als die abgeschlossene Gesellschaft vor San Francisco Javier.
Auch auf der Plaza Mayor ist wenig Betrieb, die Bars sind kaum besucht. Erst an der Stirnseite des Platzes, wo die Gran Via einmündet, wird es belebter. Die Leute flanieren lieber an Schaufenstern entlang als an altem Gemäuer, oder sie treffen sich in den Parkanlagen der Avenida de España, die von Marktbuden gesäumt ist. Churros essend, steht man vor dem Kurorchester, das in einem Pavillon paso dobles und Walzer spielt. Nicht, dass irgendwer zuhörte; man ist zu sehr damit beschäftigt, Bekannte zu begrüßen, sich Getränke zu besorgen und die Kinder zu hüten, die geschniegelt und gestriegelt sind: kaum ein Mädchen, das nicht ein Kleid mit Schleifchen und Rüschen trüge, kaum ein Junge, der nicht ordentlich gekämmt und mit sorgfältig geknöpftem Hemd über den Platz liefe. Wie in Italien kleidet man die Kinder als kleine Erwachsene, und manchmal - jedenfalls häufig genug, um aufzufallen - tragen Vater und Sohn ähnliche Garderobe, eine Identität, die von den Mustern der Hemden und der Farbe der Hose bisweilen bis zu den Schuhen hinunterreicht; wenn es noch Sitte wäre, Umhänge zu tragen, zierte sicher das Familienwappen ihren Rücken.
Im Touristenbüro hat man uns auf die feria hingewiesen, die an diesem Wochenende stattfindet. Zwei Corridas sind angekündigt. Um fünf marschieren wir zur Arena; ein Zelt ist daneben aufgebaut, in dem heftig getrunken wird; besonders beliebt ist Gin Tonic, den man ungefähr eins zu eins gemischt aus großen Plastikbechern säuft. Eine Blaskapelle steht mitten zwischen den Trinkenden und schmettert laut und schräg ein paar Stücke, dass einem die Ohren dröhnen. Die dumpfen Schläge auf der großen Trommel erlegen ihren Rhythmus meinem pochenden Herzen auf. Ich bin bang und zugleich euphorisch erregt. Ich weiß: der Stierkampf wird mich stark beeindrucken.
Wir kaufen bei ein paar Schreihälsen noch für ein paar Euro Sitzpolster, in den spanischen Farben rot und gelb gestreift, dann suchen wir unsere Plätze. Ich bin zum ersten Mal in einer Stierkampfarena und schlicht überwältigt. Die ästhetische Wirkung des Runds ist bezwingend. Beim Kauf der Karten steht die Wahl nicht zwischen so abstrakten Kategorien wie Parkett oder Loge, sondern vor allem zwischen sol y sombra. Beim Blick auf den Kreis begreife ich, dass Sonne oder Schatten hier nicht nur Fragen der Bequemlichkeit berühren und die Bereitschaft, Hitze und gleißendes Gegenlicht zu erdulden. Die Dualität von Licht und Dunkel zeichnet sich in nahezu metaphysischer Bedeutsamkeit auf dem Arenasand ab. Der Kampf, den wir bald erleben werden, ist hier schon in abstraktester Form zu sehen: das langsame und deutliche Voranschreiten des Schattens auf dem hellen Grund, der Tausch von Licht und Schwärze, in dem das Sinken der Sonne aufgewogen wird durch den Triumph des Stiertöters. Ich ahne eine archaische Religiosität in dem Ritus, der uns bevorsteht; späte Gefolgsleute des Manichäismus oder des Mithraskults. Wir werden sehen.
Die Ränge füllen sich schnell. Bald bemerken wir, wie eng es zugeht. Ein Platz besteht nicht wie gedacht aus einer Stufe zum Sitzen und einer für die Füße. Man muss sich arrangieren und seine Schenkel tapfer um den Rücken seines Vordermanns schließen, und es auch aushalten, dass der Zuschauer dahinter einem die Beine ebenfalls an die Rippen legt. Eine allgemeine Verklammerung von Extremitäten beginnt, fast schon ein Aneinanderschmiegen und Ineinanderschlüpfen der Leiber wie beim Tanz oder in der Liebe. Normalerweise bin ich zimperlich gegenüber Menschenansammlungen und neige zu Beklemmungen, wenn mir Unbekannte zu dicht auf die Pelle rücken. Aber hier bemerke ich, dass mir dieses große Gemenge der Körper durchaus behagt. Der Begriff des Volkskörpers, wenn nationalistisch gemeint, ist widerwärtig; es ist schade, dass das Wort so besudelt ist, denn es ist genau das richtige für das, was ich jetzt empfinde. Dieses enge Beisammen der Leiber gibt mir die Sicherheit, dass ich bei aller bangen Erregung doch in einem großen und mächtigen Organismus geborgen bin. Mir ist so wohl als wie fünfhundert Säuen; die Masse schützt mich; sie umhüllt mich wie ein Panzer aus Fleisch und Fett und Knochen, und das ist auch gut, denn bald wird die schreckliche Bestie aus ihrer Tür preschen, feindselig, bedrohlich, zerstörerisch, und dann werden wir fünfhundert gegen eins sein.
Das Schauspiel beginnt aber nicht mit einer Bekundung der animalischen Macht des Stiers, sondern mit einer sehr formellen Zeremonie. Unter den Klängen des paso doble reiten zwei Männer in schwarzen Umhängen ein, weiße Spitzenkrausen um den Hals, auf dem Kopf einen schwarzen Zweispitz mit hohem Federbusch. Es sind die alguacilillos in der Uniform von Sergeanten des 18. Jahrhunderts, der Epoche, die dem Stierkampf sein heutiges Gepräge gab. Damals, als die Corridas noch meist auf den plazas mayores stattfanden, war es der alguacilillos Amt, dafür zu sorgen, dass der Platz von allen, die nichts darauf zu suchen hatten, geräumt wurde, und dann vom Präsidenten der Corrida (der Bürgermeister oder sonst ein Notabler) den Schlüssel zum Stierzwinger entgegenzunehmen. Die Zeremonie wird also von den Repräsentanten der Staatsmacht eröffnet: alles soll hier nach Gesetz und Ordnung geschehen, und die corrida, weit davon entfernt, eine anarchische und viehische Ausschreitung darzustellen, ist im Gegenteil auf äußerste Pünktlichkeit und Regelgemäßheit ausgerichtet. Mit einer Amtshandlung der Autoritäten beginnend, ist sie Ritual; ist etwas in ihr Exzess, dann ein kanalisierter - nicht anders als der organisierte Karneval, der ja gleichfalls mit der Übergabe von Schlüsseln an die Narren durch den Bürgermeister anhebt. Die Kostüme der Toreros, die nun hier in der Arena das Regiment übernehmen, erinnern tatsächlich ein wenig an die Tracht von Karnevalsprinzen: die Kniebundhose und die Jacke sind mit soviel glitzernden Pailletten und Litzen und Tressen besetzt, dass einem Kölschen Jecken der Mund wässrig werden müsste, und auch der Kappe des Toreros - die in Wahrheit von einem militärischen Zweispitz abgeleitet ist - fehlt nicht viel, um die Schrumpfform einer veritablen Narrenkappe in ihr zu entdecken.
Die Toreros begrüßen das Publikum. Jeder Matador - der Mann, der zwei Stiere töten wird - hat drei Toreros als Helfer, und je zwei armierte Männer, die auf schabrackengepolsterten Pferden sitzen und Lanzen in Händen halten.
Schließlich leert sich das Feld; die Toreros nehmen ihre Plätze hinter den Schutzwänden ein. Dann öffnet sich das Tor des Zwingers, und der Stier stürmt heraus.
Er strahlt enorme Wut und Angriffslust aus. Das feige und freche Pack der Toreros, die ihn sogleich mit ihren flatternden Lappen zu reizen beginnen, ist ihm zuwider. Die Arena ist sein Territorium; er hat es gar nicht gern, wenn seine Auslauffläche von diesem Gesindel okkupiert wird. Immer wieder muss er diese dreisten Laffen in ihre Schranken weisen und sie hinter die Barrieren zurückscheuchen. Es sind Eindringlinge; vielleicht Rivalen, vielleicht sogar Feinde. Der Stier benimmt sich nobel. Er ist stolz, aufrichtig, tapfer. An seinem Mut besteht kein Zweifel. Die Menschen hingegen, die mit ihren Capotes wedeln und ihn locken, wirken ganz und gar nicht heroisch, im Gegenteil. Ihre bunten Anzüge sehen nun wirklich harlekinshaft aus, wie die Kluft von läppischen Manegenclowns. Es sind feige Gecken, die den offenen Kampf scheuen und sich, kaum dass der Stier auf sie zurennt, gleich wieder hinter ihre Bretterwand flüchten. Sie foppen ihn. Wenn nicht ab und an einer sich vorwagte und durch sein elegant geschwungenes Cape, das mit dem Stier auf Tuchfühlung geht, seine Tapferkeit und sein Geschick unter Beweis stellte, wären sie nicht mehr als ein paar heimtückische und schäbige Gesellen, die sich über jemanden lustig machen, der ihre Sprache nicht versteht. Sie machen sich einen billigen Jux daraus, einen ehrlichen und mutigen, wenngleich naiven Bauernburschen zu übertölpeln und sich auf seine Kosten zu amüsieren.

Aber ich denke nicht daran, über den gefoppten Stier zu lachen; er bleibt selbst in dieser Verhöhnung majestätisch. Seine Kraft und seine Schönheit werden nicht gemindert, nur weil er töricht mit einem Horn Holzsplitter aus der Plankenwand reißt, hinter der die feixenden Clowns sich in Sicherheit gebracht haben, oder weil er immer wieder nur das geschwenkte Tuch attackiert und nie den, der es schwenkt. Nein; hier geht es nicht darum, den Stier dem Gespött preiszugeben wie in den französischen toro-piscines, wo man den Stier in einer mit gewässerten Planen ausgelegten Manege ausrutschen und dahinschlittern sehen möchte und ihn zum Opfer abgeschmackten Slapsticks macht. Dies hier ist kein Slapstick; dies ist ein konzentrierter Kampf, und er wird so ernst und respektvoll geführt, wie es einer kultischen Handlung zukommt, in der zwei Prinzipien von grundlegender Gegensätzlichkeit aufeinandertreffen. Denn dies ist evident: hier messen sich nicht zwei gleichartige Kräfte wie in allen sportlichen Konkurrenzen; hier treffen zwei antagonistische Kräfte aufeinander, was die corrida eher der antiken Tragödie ähneln lässt als einem Tischtennismatch. Aber mehr noch als an Sophokles muss ich an Homer denken, genauer, an die Zyklopenepisode in der Odyssee. Der Zyklop ist der einäugige und brutale Barbar, dem aller Hintersinn entgeht und der nicht über die unmittelbare Begierde und ihre Befriedigung hinauszudenken vermag. Genauso verhält sich der Stier: an Kraft ist er zwar ein Riese, doch an List überragt ihn der Mensch. Als der Zyklop Odysseus nach seinem Namen fragt, gibt dieser sich in einem Wortspiel als outis aus, was ebenso kleiner Odysseus bedeutet wie Niemand. Diese List wird ihm das Leben retten. Denn als er schließlich Polyphem das Auge ausgebrannt hat und dieser seine Brüder zu HIlfe rufen will, fragen sie, was geschehen sei, woraufhin er antwortet: Niemand hat mich geblendet, sodass die Zyklopen sich wieder schulterzuckend um ihren eigenen Kram kümmern. Polyphem versteht die Doppeldeutigkeit nicht (er hat ja auch nur ein Auge), er kann nicht zwischen Zeichen und Sache, zwischen Maske und Ding unterscheiden. Am nächsten Morgen retten sich Odysseus und seine Gefährten aus Polyphems Höhle, indem sie sich an den Bauch der Schafe klammern, als der Riese sie durch die Höhlenluke auf die Weide treiben will und erloschenen Augenlichts jedes Tier abtastet, auf dass ihm nicht etwa ein fliehender Mensch entgehe. Auch nun wird Polyphem Opfer des Anscheins. Er begreift im Wortsinn nur den Träger, nicht das, was dieser trägt. Polyphem ist direkt, unmittelbar, grade, ganz wie der Stier. Odysseus hingegen spielt über Bande. Er ist einen Schritt voraus, nicht weil er schneller zu Fuß, sondern weil er viver im Kopf ist. Der Zyklop fällt auf die Oberfläche herein, so wie der Stier auf das Tuch. Er verrennt sich in seine Gradlinigkeit, in den unauflöslichen Konnex von Reiz und Reaktion. Das Thema des ersten tercios könnte man darum die Vergeblichkeit des Ungestüms nennen; der didaktische Sinn (wenn es denn einen gibt) scheint eine Mahnung zu Berechnung und Besonnenheit.
Aber neben dem didaktischen Zweck besteht auch der operative, den Stier zugleich zu reizen und zu ermüden. Man lässt ihn sich müdelaufen. Die geschwenkten Capes provozieren seine Sprints, und wir haben genug Gelegenheit, seine Wucht und seinen Elan zu bewundern, während er sich verausgabt und sinnlos seine Kräfte verschleudert. Noch ist es die Phase des Flirts und der Werbung, ein Spiel der Verlockungen. Ich ahne, wieviel erotische Symbolik in dem Anrennen des Stiers liegt, als ich das Fächerfächeln der Frauen auf den Rängen sehe; da flimmert und zittert es wie Bienenflügel, die surrend Blütenkelche erobern, und mit einem Mal begreife ich auch, warum die Capes pinkfarben sind. Schon zu Beginn hatte es mich gewundert, warum in dieser maskulinen Sphäre der Corrida ein Tuch, das eine visuell so prominente Stelle im Geschehen einnimmt, von geradezu schreiender Mädchenhaftigkeit ist. Mag sein, dass sich die Geschlechterzuordnung von Farben im Lauf der Geschichte verändert hat und dass Rosa erst im 19. oder frühen 20. Jahrhundert zur weiblichen Symbolfarbe geworden ist. Aber es sollte mich dennoch wundern, wenn hinter dem Stierhorn, das sich in das rosa Tuch zu bohren sucht, nicht auch ein Phallus steht, der hinter einem Weiberrock auf das dahinterliegende Rosa aus ist. All die Figuren, die der Torero mit dem Cape vollführt - die Veronikas, Chicuelinas, Serpentinas etc. -  sind in ihrer ganzen Ausdrucksqualität ja nicht Kampf, sondern immer Reizung, Lockung, Verführung: Gesten neckender Liebesanbahnung, die heute so aus der Mode gekommen sein mögen wie fallengelassene Taschentücher, aber jahrhundertelang zum Spiel gehörten. 
Doch bald wird Ernst aus dem Spiel. Die Phase des Flirts ist vorüber; jetzt kommt es, allerdings mit vertauschten Rollen, zur Defloration. Auf ihren schabrackenummantelten Pferden reiten die Picadores ein, die Beine gepanzert, die Stiefel nicht in Steigbügeln, sondern in robusten Eisenschuhen, eine Lanze in der Hand.
Wieder wird dem Stier ein Ziel für seine Wut geboten; doch jetzt ist es nicht mehr dieses körperlose und schattenhafte, flatternde Tuch, das von einem gelenkig ausweichenden Mann geführt wird, sondern ein schweres, standhaltendes Tier. Das Pferd ist um einiges größer als der Stier, zudem wirkt es durch die Schabracken und den Reiter darauf massiv wie eine Burg. Der Stier, obwohl eine halbe Tonne schwer, scheint mir in der Proportion zum Pferd etwa vergleichbar mit einer großen Dogge, die einen stattlichen Hirsch anspringt. Der Stier rennt gegen den Pferdebauch an und treibt seine Hörner in die Matte. Das Pferd wankt; Kraft drängt gegen Masse. Der Stier wühlt mit den Hörnern in dem Schutzpolster, und es scheint ihm vollkommen gleichgültig, dass der Reiter ihm dabei seine Lanze in den Nacken treibt und das Fleisch so aufreißt, dass das Blut bald in einem wahren Springquell herausströmt. Schließlich weicht er zurück - weniger der Schmerzen wegen, die ihm der Lanzenstich bereiten muss, als wegen der Ablenkung durch die Toreros, deren Capotes  seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch hat der Stier wirklich Schmerzen? Die einzige Empfindung, die man ihm sofort ansieht, ist Wut. Vermutlich ist sein Sensorium so mit Adrenalin oder Serotonin geflutet, dass er die Wunde kaum fühlt. Zudem ist Schmerz ohnehin relativ; Nietzsche sinniert einmal darüber, ob der Schmerz, den die in Jahrmillionen getöteten Tiere empfunden haben, in der Summe nicht geringer sei als die Migräne eines einzelnen neurasthenischen Menschen von heute. Hinter der offensichtlichen Provokation, mit der Nietzsche seine mitleidstrunkenen Zeitgenossen schockieren wollte, steht aber die ernsthafte Einsicht, dass es keinen Sinn hat, die Schmerzempfindlichkeit eines Menschen einfach identifikatorisch und projizierend auf die Empfindungswelt eines Tiers zu übertragen. Die Kampfeslust des Stiers wird von dem Lanzenstich eher noch angestachelt. Sein Fell glänzt von Blut; es läuft in einem breiten Streifen von seinem Nacken herab. Aber als er das zweite Pferd bemerkt, horcht er nicht erst in sich hinein, um die Schwere seiner Verletzung und das Maß seines Schmerzes zu ermessen, sondern wirft sich sofort wieder in die Schlacht. Er drängt seine Hörner unter den gepolsterten Bauch des Pferdes und hebt die Kruppe dieses schweren Tiers ein paar Handbreit an. Das Pferd hat Mühe, Stand zu bewahren und angelt mit dem Hinterlauf nach Bodenkontakt. Aber da ist bereits die Lanzenspitze wieder im Nacken des Stiers, bohrt und wühlt im Fleisch, bis der Stier, einmal mehr eher von den Toreros abgelenkt als dem Schmerz nachgebend, von dem Pferd ablässt. 
Bislang haben wir den Stier auf zwei Arten bewundert; einmal als Läufer, der angesichts seiner Masse erstaunlich geschwind die Arena durchquert, nun auch als geballte, stumpf vorwärtsdrängende Kraft. Zuerst wird das Auge von dem Gegensatz angezogen, der zwischen Farbe und Wendigkeit und Eleganz des geschwungenen Tuchs auf Seiten des Toreros und dem schwarz dahintrabenden Stier auf der anderen Seite bestimmt ist. Der Torero übernimmt in dieser Phase die geschmeidig weibliche, lockende Rolle; der Stier, dumpf und gedrungen, bildet den männlichen Gegenpart. Die Picadores stellen dem Stier dann eine andere Herausforderung; nun muss er sich nicht gegen Eleganz und List bewähren, sondern gegen eine ihm selbst ähnliche Macht: das gepanzerte Pferd und die Lanze des Reiters sind in gewisser Weise ein Spiegelbild des Stiers. Masse steht gegen Masse, die Hörner stehen gegen die Lanze.
Auch im folgenden tercio, in dem die banderilleros ihre Arbeit tun, gibt es ein Moment der Symmetrie. Die banderillas sind mit Widerhaken versehene Spieße, deren Schaft mit bunten Papierflitter berüscht ist, und die im Nacken des Stiers plaziert werden müssen. Bevor der banderillero zum Lauf ansetzt, hebt er seine ausgebreiteten Arme: seine Silhouette ist eine Abstraktion des Stiers selbst; die Arme mit den nach unten weisenden Spießen sind Mimesis der Hörner. Er läuft, schlank und tänzelnd, auf den Stier zu, der sich seinerseits in Bewegung setzt; ein kleiner Hakenschlag genügt als Finte, um den Stier zu verwirren. Doch bleibt es ein riskantes Unterfangen, den Stier nur zwei Handbreit vor den Hörnern entfernt zu passieren und die banderillas in seinen Nacken zu rammen: noch ist der Stier gut bei Kräften und hat kaum etwas von seiner Angriffslust und seiner Spritzigkeit eingebüßt. Doch die drei Spießpaare, die neue Wunden aufgerissen haben, werden bald ihren Tribut fordern. Das Blut rinnt jetzt nicht nur; es sprudelt in hastig pulsenden Schwällen über die Stierschulter. Aber der Stier scheint noch nicht erschöpft, als die faena beginnt, der letzte Akt der Tragödie.
Dies ist der Auftritt des Matadors, des Mannes, der tötet, und der muleta. Die capote, deren Pink und Gelb an die Morgenröte und die Venus, rosig und blond, gemahnte, wird durch das rote Tuch der muleta ersetzt. Das Blut, das aus dem Stier strömt, bekommt in ihm sein Pendant.
Von nun an werden Matador und Stier intim. Was mit der capote geschah, war nicht mehr als ein Flirt, ein Zuzwinkern von fern und ein unverbindliches Aneinandervorbeistreifen. Die muleta aber ist das blutige Laken einer Hochzeitsnacht. Der Matador steht nah am Stier, er lässt ihn nicht mehr laufen, sondern sucht ihn in handgreiflich nahe, aneinandergeschmiegte fintierte Windungen zu verwickeln. Wenn das Treiben mit der capote Verführung und Lockung zum Liebesspiel war, ist dies hier sein Vollzug. Und eine Lehrstunde - vielleicht in Sachen Liebeskunst, jedenfalls aber in Sachen Selbstkontrolle und Selbstbändigung. Es ist nicht anders als in den südfranzösischen Stierhatzen der courses camarguaises. Auch da ist das moralische telos des Spiels die Niederringung des Wilden, Ungebärdigen, Unbeherrschten: die jungen Männer zeigen, indem sie das stößige Tier zähmen, dass sie imstande sind, sich selbst zu bezähmen. Es ist eine symbolische Probe auf ihre Ehefähigkeit, also die Bereitschaft, sich in die soziale Ordnung und ihre Institutionen einzufügen. (Ich will hier nicht weiter ausführen, was ich in meinem Reisebericht von 2013 geschrieben habe.) Der Kampf der jungen Camarguaisen mit den Stieren ist auf symbolischer Ebene im Grunde ein Kampf mit sich selbst; in den spanischen Arenen tritt dieser inhärente Doppelgängertum weniger durch den Kontext des Brauchtums (der in Frankreich durch eine karnevaleske Übernahme der Stadtherrschaft durch die Jugend als Initiationsritual markiert ist) als durch die Tracht des Toreros zutage. Der Torero trägt Attribute des Stiers an sich: die montera, der Hut, hat seitlich zwei knaufartige Ausbuchtungen, welche die Ansätze von Hörnern andeuten, oder die vielmehr deutlich das Fehlen von Hörner oder, noch treffender, deren Kupierung, bekunden. Der Torero ist ein Stier ohne Hörner. Zum rituellen Habit gehört auch das straff geschnürte Haarschwänzchen, die coletilla: ein mimetischer Tribut an den Schwanz des Stiers, und zugleich seine willentliche Schrumpfung und Bändigung. Dieses Stummelzöpfchen ist, ebenso wie die Hornknäufe der montera, die Reduktion von Körperlichkeit auf Zeichenhaftes. Der Matador zieht sich aus der kruden Unmittelbarkeit zurück und handelt symbolisch. Er lässt sich vor dem Stier von der muleta vertreten; er ringt nicht selbst mit ihm, sondern lässt das Tuch für sich arbeiten. Das Ungestüm verlässt nach und nach das Tier; seine Kräfte schwinden. Er hat sich so oft um sich selbst gedreht, ist so oft in Taumel und Verwirrung geraten, dass der Torero ihm eine Ruhepause gewährt. Schwer atmend steht der Stier in der Arena; er hält sein Haupt nun tiefer; die Wunden in seinem Nacken haben seine Muskeln geschwächt. Unablässig rinnt das Blut in einem breiten Streifen an seinen Schultern herab. Er steht und schnauft; sein ganzer Leib pumpt Luft. Plötzlich seicht er. Es ist das Eingeständnis seiner Niederlage. Seine kämpferische Spannung löst sich; er überlässt sich dem Vegetativem.
Doch er ist immer noch nicht am Ende. Der Matador lockt ihn wieder zu sich; die Bewegung der muleta ist ein Reiz, der nichts von seiner Macht eingebüßt hat und das Tier, so müde es auch sein mag, zum Kampf anstachelt. Der Torero muss ihn weiter ermüden, denn der Stier trägt den Kopf noch immer zu hoch. Die Stelle im Nacken, wo das Schwert eindringen muss, um das Tier mit einem Stich zu töten, wird durch das Stierhaupt noch verdeckt, auch wenn der Torero alles tut, um den Blick seines Gegners auf einen winzigen Tuchzipfel der muleta zu lenken, die vor ihm im Sand liegt. Erst, wenn der Stier sich tief dort hinabbeugt, kann der Todesstoß gelingen. Da, nach einem raschen Zucken des Tuchs, senkt der Stier das Haupt; der Matador schnellt mit gestrecktem Schwert nach vorn, und die estoque dringt in den dargebotenen Nacken ein. Der Stier brüllt, springt, läuft: er ist nicht tödlich getroffen. Das Schwert wippt auf seinem Rücken und dehnt, hin und herschwingend wie das Pendel eines Metronoms, die Wunde. Schließlich springt die estoque heraus. Der Stier aber ist jetzt so geschwächt, dass der nächste Versuch glücken muss. Das Publikum zischt, um die wenigen, die jetzt noch tuscheln, zur Ruhe zu bringen; dies ist ein heiliger Moment. Das Schwert schiebt sich tief in den Körper. Doch der Stier fällt nicht. Immer noch steht er und schwenkt das Haupt; seine Hörner suchen den Feind. Aber schon sind die Gehilfen des Matadors zu Seiten des sterbenden Tiers und wedeln ihre capotes ihm entgegen, von links, dann von rechts, von links, von rechts, in regelmäßigem Wechsel, als wiegten sie ihn in Schlaf. Das Pink und das Gelb der Tücher sind die Farben flackernder Flammen; das Opferfeuer um den Stier brennt.
Der siegreiche Matador steht derweil vor dem röchelnden Vieh, dem das Blut aus dem Maul tropft. Mit erhobenen Armen feiert er prahlerisch seinen Triumph, das Becken vorgereckt, als hätte er den Stier - man verzeihe die Ausdrucksweise - totgefickt. Er prahlt, wie ein junger Flegel prahlt, wenn er einem Schwächeren die Fresse poliert hat, das Kinn vorgeschoben, Brust raus; seine Eier sind die dicksten im Revier.
Einen Moment lang war ich bereit, das Geschehen als heiliges Opfer und als schmerzliche Klimax eines tiefgründigen Antagonismus zu betrachten, doch schon nach wenigen Augenblicken verwandelt es sich in die Abart einer banalen Schulhofschlägerei und ihrer läppischen Pathosformeln. Aber vielleicht ist das eine der Lehren, die ich daraus ziehen kann: das Heilige ist möglicherweise auch nur die Übersteigerung profaner ethologischer Sachverhalte, und hinter der Opfergabe steckt möglicherweise nichts anderes als tierische Rivalität und Balzverhalten. Und doch... Die Rituale der Corrida scheinen mir so befrachtet mit Bedeutungen und übereinandergelagerten Sinnebenen, dass ich ein Urteil besser noch aufschiebe. Eine Lesart erfüllt sich jedenfalls zum Teil: wie die antiken Tragödienfeste endet die Corrida mit einem Satyrspiel. Kaum hat der Stier sein Leben ausgehaucht und kaum wurde ihm ein Ohr abgeschnitten, mit dem der Triumphator als Zeichen eines guten Kampfs belohnt wird, trabt ein Maulstiergespann in die Arena. Die Mulis tragen einen Kopfputz, wie er Pferden bei Staatsbegräbnissen aufgesetzt wird, und rote, goldgesäumte Satteldecken. Es ist die Travestie eines Trauerzugs; nach dem Heroentum des Tötens nun das Davonschleifen des Kadavers durch die unedle und sterile Kreatur; zudem absolvieren die Maultiere ihre Aufgabe nicht, wie es sich für einen Trauerzug gehörte, langsam und gravitätisch, sondern flotten Schrittes als bäuerlich profanen Arbeitseinsatz. Der Stier hinterlässt eine breite Schleifspur im Sand, die ziemlich exakt den Diameter der Arena einzeichnet.
Für kaum eine Minute, nachdem der Matador seinen Sieg gefeiert, die ihm als Ehrenbezeugung von den Rängen zugeworfenen Hüte aufgesammelt und wieder zurückgeworfen hat, die Fotografen ihre Bilder geschossen, alle Gratulanten, Adoranten, Ministranten und Kozelebranten ihre Umarmungen ausgetauscht und die Arbeiter die Arena von allen Spuren des Kampfs gesäubert, blutverklumpten Sand aufgekehrt, die Fläche mit Rechen geglättet und mit drei Kreidekreisen neu markiert haben - für kaum eine Minute also liegt die Arena wieder in vollkommener Ruhe, beinahe als tabula rasa da. Nur die konzentrischen Kreidekreise gliedern die Leere, so klar wie das Planetenmodell des Ptolomäus: Erde, Mond, Merkur, Venus. Wieder kommt mich die Ahnung an, als sei der Stierkampf eigentlich das Abbild eines kosmischen Ablaufs. Ich denke an Mithras, jenen Gott, der im ersten Jahrhundert nach Christus, im römischen Reich so viel Zulauf hatte. Auch im Mithraskult tötete man Stiere; Bilder zeigen den Gott, der einem Stier den Dolch einstößt; in den Mantel des Mithras sind Tiere eingewirkt - Schlange, Hund, Skorpion -, die wahrscheinlich Sternbilder vorstellen. Hipparchos hatte entdeckt, dass das Frühlingsäquinoktium sich langsam verschob; ein Jahrtausend lang hatte es im Sternbild des Stiers gelegen; nun erhob sich in den Tagen der Tag-und-Nacht-Gleiche der Widder. Eine neue Ära hatte begonnen, und Mithras machte, indem er den Stier erschlug, der alten den Garaus. Durch dieses Opfer sorgte Mithras für den Fortbestand und die Erneuerung der Welt. Doch was erneuert der Stierkampf heute?
Der zweite Stier, der in die Arena stürmt, wird zu Pferd bekämpft. Diego Ventura ist der Rejoneador, ein stolzer Reiter im Samtjackett und kreisrundem, breitkrempigem Filzsombrero: ein Meister. Auch seine Pferde sind virtuos. Sie tänzeln vor dem Stier, schlagen Haken, springen in diagonalen Seitwärtsbewegungen dem Stier davon, dessen Horn nur Zentimeter von ihrer Kruppe entfernt ist und dieser aber auch dann nicht näherkommt, wenn er zu Zwischensprints ansetzt. Die Feinabstimmung von Pferd und Reiter ist ebenso staunenerregend wie die Furchtlosigkeit des Pferds. Ventura lockt den Stier immer wieder so an, dass dieser das Pferd scheinbar in eine Ecke treibt, aus der es kein Entrinnen mehr gibt; doch in einer überraschenden Volte, einer plötzlichen Pirouette, einem schnellen Satz beiseite ist das Pferd der Falle entwischt und gewinnt wieder offenes Feld, ohne freilich je in einen würdelosen Galopp zu geraten, der wie Flucht aussehen könnte. Selbst im Rückzug bewahrt es die manierierte Gangart des Seitsprungs, die ebenso offene Verhöhnung ist wie die Piaffen - das Traben auf der Stelle - die es vor dem stehenden Stier vollführt, um ihn zum Angriff zu reizen. Der Reiter hat drei Arten von Stichwaffen: er beginnt das Schlachten mit zwei fahnengeschmückten Lanzen, die auf elegante Weise das zuwege bringen, was auf ihre grob bohrende Art üblicherweise die picadores tun, dann folgen im zweiten tercio die banderillas. Wie ihre Kollegen zu Fuß bewegen sich Ross und Reiter in grader Linie auf den Stier zu, fintieren einen Haken und setzen die Spieße. Für die faena schließlich hat der rejoneador drei fast dolchkurze Spieße in der einen Hand, und er umreitet den Stier wieder und wieder in einem engen Kreis, während der Stier nicht weiß, wie ihm geschieht, und er sich immer dem Pferd hinterherdreht und dabei doch unablässig nur um sich selbst, bis einer der Dolche in seinen Nacken dringt und der Reiter den Kreis, in dem er den Stier eingeschnürt hat, öffnet, sodass der Stier, trotz der neuen Wunde wie befreit, endlich wieder ein Ziel vor Augen hat, dem er hinterherrennen kann, statt weiter in diesen verhexten Kreis gebannt zu sein, in dem er nur um sich selbst rotiert ist wie ein irrlaufender Uhrzeiger, der die Sekunden bis zum Exitus zählt. Doch da führt ihn der Reiter schon wieder in eine neue Selbstumkreisung, beugt sich vom Sattel herab, setzt den nächsten Dolch und tätschelt dann noch Stirn und Horn seines Opfers, schließlich das Horn ergreifend, während er immer noch seinen Kreis reitet, als führe er den Stier wie an einem Gängelband.
Als der letzte Dolch gesetzt ist, springt Ventura vom Pferd und geht vor dem sterbenden Stier in Positur. Noch hält sich das Tier auf den Beinen; sein Kampfgeist ist ungebrochen, aber der Wille erreicht den Körper nicht mehr. Einst stieß er, jetzt stupst er nur noch. Ventura steht ungeschützt vor der massigen Kreatur, ohne Tuch, das den Stier ablenken, ohne Schwert, das ihn abwehren könnte. Die Gehilfen fächeln mit ihren capotes, doch es ist nicht mehr nötig, den Stier in den Tod zu wiegen, es ist schon vollbracht. Der Stier hat nur noch eine kurze Frist, bevor er zusammenbrechen wird, und Ventura streicht ihm zärtlich über die Stirnlocke. Er nimmt Abschied. Dann ist es soweit: consumatus est.
Nach der corrida (weitere vier sterbende Stiere, einer, der über schon früh über die Bande sprang und im Umgang wütete, ein verletzter Matador, dem der Stier den Lichtanzug zerriss und eine Fleischwunde beibrachte, ein Novize, der fünfmal zustach, bis der Stier endlich verreckte), zerstreut sich das Publikum überraschend schnell. Ich bin aufgewühlt, so begeistert wie schockiert, so fasziniert wie zittrig; ich habe den Eindruck, einen Blick in den Abgrund getan zu haben, in dem Glanz und Elend des Menschen zu einem schillernden Gebräu verrührt sind. Die corrida ist grandios und schäbig, abstoßend und wunderbar, sie ist ebenso tiefsinnig wie oberflächlich, so schrecklich wie schön. Kurz: sie ist ein großes Kunstwerk, das mit einem Bein in Neolithikum steht, mit einem anderen auf Ithaka, dem dritten in Jerusalem, und dem letzten, im Sand scharrenden Spielbein, im Heute. Die corrida touchiert Himmel und Hölle, und ich kenne wenige Gebräuche, die eine ähnliche Spannweite von Bedeutung hätten.

Auf unserem Stellplatz unterhalb der Innenstadt haben sich Nachbarn eingefunden. Der Mann erzählt uns seinen Stierkampfscherz: ein Tourist bestellt in einem Restaurant neben der Arena jeden Sonntag Cojones, ohne zu wissen, worum es sich dabei handelt. Sie schmecken ihm, und es sind gute Portionen. Nur einmal bekommt er nur läppische Knödelchen auf den Teller, und so fragt er, warum das Fleisch diesmal so wenig sei. Na, antwortet der Kellner, die Cojones kommen aus der Arena. Wenn der Torero gewinnt, sind die Portionen groß, na, und wenn der Stier gewinnt...

31. Mai. Cáceres - Trujillo.

Durch die Dehesas zum Park von Monfragüe. Auf dem Weg das starke Gefühl, nicht voranzukommen. Nichts verändert sich. Wir fahren durchs Immergleiche. Es ist nicht Wüste, aber ihr doch sehr ähnlich. Dass wir uns wieder nordwärts wenden und bis auf ein paar Kilometer den selben Landstrich berühren, den wir schon einmal durchmessen haben, verstärkt diesen Eindruck noch. Mir geht das Töten im Kopf um. Töten und immer wieder Töten. Ich frage mich, ob das Stiertöten der Versuch ist, der Monotonie dieses Landes Herr zu werden, indem man ein derbes Zeichen der Endlichkeit gegen das Nicht-Endende des Landes setzt. 

Wir steigen zum Sanktuar von Monfragüe hinauf. Ein Hund kläfft unaufhörlich alles an, was sich bewegt. Oben angekommen würde ich am liebsten dasselbe tun. Die Weite des Landes höhlt mich aus. Ausdehnung ist nur ein anderes Wort für Beklemmung. Über uns kreisen Geier und Habichte. Ich warte lange, schaue, beobachte, ob endlich einmal ein Vogel hinabsticht und auf Beute geht, aber sie kreisen einfach unaufhörlich weiter. Wir stehen an der Balustrade der Aussichtsplattform; der Tajo windet sich durch die grün beflockten Hügel; die Seitentäler sind wegen der Staumauer im Osten vollgelaufen. Die Auszweigungen des Flusses sehen von hier oben aus wie smaragdgrüne Zellmembranen, die die Landmasse in handliche Blöcke spalten. Soweit das Auge reicht, ist nirgendwo kultiviertes Land, nur Gestrüpp und Dürre. Eine Brücke, schnurgerade und mit Doppelpfeilern ins Wasser gerammt, verbindet die Ufer. Die Brücke ist nicht schön, ohne jede Eleganz; sie wirkt eher wie eine Zahnklammer oder eine Apparatur, die gebrochene Knochen schient, aber ich merke, wie mich ihr Anblick dennoch tröstlich berührt. Sie ist ein Versuch, die heillose Verlassenheit des Landes zu verpflastern, eine menschliche Ader in Sand und Stein zu legen. Dabei ist die Brücke von hier aus gesehen nicht mehr als eine dürftige Bretterplanke und eine pionierhafte Kolonialisierungbemühung. Die Geier kreisen weiter, Sekundenzeiger ihrer eigenen Zeitrechnung. 

Wir fahren am Tietar entlang. Irgendwo wandert eine Rinderherde entschlossen und zielstrebig hinter dem Zaun, als hätten sie einen Treiber hinter sich. Aber wahrscheinlich streben sie nicht einem Ziel zu, sondern nur von etwas fort. Dann ist da ein Bahnhof, Estacion de la Bazagona, ein Flecken im Nirgendwo, einen Kilometer südlich einer Autobahnausfahrt, die ebenfalls nirgendwo ist: keine Ansiedlung, keine Stadt, noch nicht einmal ein Dorf, nur die Offerte einer Anbindung an das Verkehrsnetz, doch das Angebot wurde ausgeschlagen, und das Senfkorn, unter Dornen gesät, hat nie eine Frucht getrieben. Da ist der Fluss, die Autobahn, der Schienenweg, aber all das reichte nicht hin, einen Ort zum Blühen zu bringen. 

Ins Vera-Tal. Das Tal ist berühmt für seinen geräucherten Paprika. Sofort bemerkt man den Wohlstand. In jedem Dorf gibt es einen umzäunten Bezirk, den wir erst für einen Kinderspielplatz halten, bis wir begreifen, dass es sich um eine Ansammlung von Trimmgeräten für Erwachsene handelt. Wir haben an einem solchen Ort nie jemanden treten, hüpfen, stemmen oder werkeln gesehen, aber das heißt nicht, dass die Spanier nicht leidenschaftliche Sportler wären. Durch die unwirtlichsten Gegenden traben Jogger; Greise strampeln im Morgenlicht steile Bergstraßen hinan, die Gesichter selbst schon Stein geworden, aus Placken von Kalk und rotem Oxid zusammengespachtelt, aber ein stationäres Zirkeltraining ist offenbar nichts für die Leute. Das leuchtet mir sofort ein. Das Land hat etwas derart in sich Verschlossenes oder Unerschlossenes, dass man keine Milch aus ihm treten kann, indem man auf der Stelle tritt. Wenig lädt hier zu Ankommen und Bleiben ein; die Reize wollen geduldig aus der langen Strecke gemolken sein, sie öffnen sich allenfalls im Passageren. Straßendörfer. Aufgefädelte Häuser, Reihen, die nicht um ein Zentrum gruppiert sind. Serialität statt System - jedenfalls eine andere Art von System als wir es kennen. Als wir nach Jaraiz kommen, ist Mittagszeit. Das nicht ganz kleine Dorf wirkt verwaist und verschlossen. Wir irren darin entlang. Es gibt da etwas wie eine Fußgängerzone, aber dort finden sich nur eine Eisdiele und zwei Kneipen, vor denen ein paar versprengte Gäste sitzen wie Reisende, die darauf warten, dass endlich ihr Zug ankommt. Kein Essen. Aber dann stoßen wir auf eine Bar, unansehnlich von außen, ohne eine Veranda, die zur Einkehr einlüde. Auch da niemand, der draußen sitzt. Nur ein bisschen Gewimmel von Begrüßung und Abschied vor der Tür. Es hat die Anmutung eines kleinen Treffs, in dem man seinen Aperitiv nimmt oder einen schnellen Frühschoppen nach der Messe.  Aber wir irren uns: drinnen ist es rappelvoll. Die Wirtstochter nimmt sich unsrer an, besorgt Hocker, erklärt uns, was es zu essen gibt, indem sie freimütig an ihren Ohren zupft und dazu grunzt: Orejas sind frittierte Schweineohren. Dass sie mit der Hand Serpentinen über ihre Bauchdecke fährt, muss nicht sein: dass callos Kutteln sind, weiß ich. Meinen Rechner nimmt sie willig in ihre Obhut und bringt ihn zum Laden in die Küche. Es ist laut und schmutzig, das Essen ungemein schmackhaft. Am Nebentisch, wo sich die weitere Verwandtschaft des Wirts versammelt hat, werden Kichererbsen aufgetragen, Salatschüsseln, Platten mit dampfenden Speckschnitten. Dagmar gnurpselt an den knorpeligen, dünnen Ohrentriangeln, ich schlabbere die süffigen callos. Das lautstarke Palaver füllt den Raum mit der Atmosphäre einer Familienfeier. Wir trinken Wein, als würden wir mitfeiern. - Das Essen ist günstig. Als die Wirtin den Betrag nennt, kann ich es kaum glauben und frage nach, ob sie wirklich alles berechnet hat. Aber sie nickt; hat alles seine Richtigkeit. - Wir fahren zum Kloster von Yuste. Karl V., der Mann, in dessen Reich die Sonne nie unterging, der Mann, der Rom plündern ließ, der Herr über halb Europa und die Königreiche von Mexiko und Peru war, der Mann, dessen Wahlspruch plus ultra lautete - immer weiter - hatte sich am Ende seines Lebens, in dieses abgelegene Kloster zurückgezogen, müde des Herrschens und seine Seele Gott anempfehlend. Wir halten dort bloß Siesta (das Kloster hat sonntags geschlossen) und fahren dann weiter durch die Sierra und die im Süden gelegenen Dehesas. 

Im Abendlicht kommen wir in Trujillo an, Heimat so vieler Konquistadoren, darunter der berühmteste: Francisco Pizarro. Auf der Plaza Mayor ist ihm ein Reiterstandbild aus Bronze und Grünspan gewidmet, auf dem Pizarro mit seinem kühn gefiederten Helmbusch aussieht wie ein exaltierter Wiedehopf. Auch das Pferd trägt, wie Pizarro, einen Helm mit einer schnabelartigen Auskragung, dazu noch überdimensionierte Halbkuppeln über den Augen; es wirkt wie ein merkwürdiges Mischwesen aus einem Pferdeleib und dem Kopf einer Garnele. Der Pferdeschweif hat denselben gezwirbelten Dreh wie die beiden langen Schöpfe auf dem Helm Pizarros. Wenn man solche Dinge nicht aus der Geschichte der Rüstungen kennte, würde man dieses Reiterstandbild als eine Ausgeburt mythologischer Phantastik auffassen, gleich den Zentauren, den Greifen oder anderen Chimären: mythologisches Mestizentum. Pizarro hat ein sehr fremdes Land unterworfen, er hatte eine Inkaprinzessin zur Frau - wie sollte er davon unberührt bleiben? Wie sollte er sich nicht in ein exotisches Gebilde verwandeln, in ein Mestizenwesen, halb Mensch, halb Tier? 
Wir nehmen ein Glas Wein auf der Terrasse und schauen den Störchen zu, die hier auf allen Türmen nisten. Am Stuhlbein lehnt eine Tüte mit besonderen Bieren der Region, eben gekauft. Ein Laden hatte noch auf. Das Paar, das ihn betreibt, erklärte, dass man zwar kein Englisch und kein Deutsch könne, aber Italienisch und Französisch verstünde, das seien schließlich alles romanische Sprachen. So liebenswert die beiden sind: sie verstehen weder das eine noch das andere. Es ist wie bei Maultieren: sie stammen von Pferd und Esel ab, aber weder mit den einen noch den anderen können sie Gesprächsnachkommen zeugen.
 Unweit der Altstadt ist ein Stellplatz für Wohnmobile ausgewiesen. Autos würden sich dort wohlfühlen; Menschen nicht. Wir verkriechen uns unweit davon im Schatten der Stierkampfarena. Zwei Ornithologen spähen das Nest eines Greifvogelpärchens aus; unweit davon trainiert ein junger Mann seinen Kampfhund; wie auf einem corso joggen oder walken Leute auf dem Spazierweg vor uns, bis es dunkel wird, und noch darüber hinaus, dann mit Stirnlampen, deren Lichtkegel wippende Keile in die Nacht schneiden. Vor den Mäusen, die hier im Gestrüpp rascheln, fürchten wir uns weniger als vor den Vögeln, die unversehens darauf herabstoßen könnten. 

1. Juni. Trujillo - Merida.

Am Morgen wieder in die Stadt. Einer der Paläste, die die Plaza Mayor säumen, ist eine wunderbare Mischung aus Pracht und lässiger Verwahrlosung: eine seiner Ecken ist reich mit Wappen und Ornamenten verziert, mit den Porträts von Pizarro und seiner Indio-Gemahlin sowie deren Tochter, die dann das Ehebett von Pizarros Bruder Hernando schmücken sollte. Die Figuren auf dem Dachgesims haben deutlich indianische Gesichtszüge, wie uns das Fernglas verrät. Dort oben hat in Mauerritzen und Ziegelspalten allerlei Gestrüpp Wurzeln geschlagen; die Indios sehen aus, als hätten sie sich aus der spanischen Zivilisation wieder auf die sichere Anhöhe eines Tafelbergs geflüchtet, von dem sie misstrauisch auf den Platz herabblicken. Der mächtige, mittig aufgesetzte Kamin des Palasts trägt eine Krone: auch sie ist struppig und zerzaust wie die Gebüsche am Sims; ein Storch wohnt darin; jetzt offenbar der wahre König des Hauses. 

Die schönste Kirche Trujillos ist der Santa Maria geweiht. Eine Frau sitzt strickend in einem Verschlag neben dem Portal und versichert uns, die Eintrittskarte lohne sich: esta es la iglesia màs bonita del ciudad. Sie hat recht. Der ursprünglich romanische Bau hat innen ein elegantes gotisches Skelett bekommen. Den Altar überragt ein großes Retabel mit gut zwei Dutzend Gemälden, die an einen großen Adventskalender erinnern, ein jedes Türchen von einem Goldbogen überspannt. Wir steigen auf den Turm: die alten Paläste, die von unten noch so städtisch-elegant wirkten, zeigen sich von oben als trutzig und wehrhaft. Selbst die Zypressen, die zahlreich zwischen den Mauern aufragen, stehen neben den Zinnenreihen wie Soldaten auf Wache. Die Stadt ist nicht groß; sie ist nur eine Oase inmitten weiten Ödlands: ein Umspannwerk, Strommasten, deren graue Metallgerippe sich wie Mahnmale vor dem ausgedörrten Boden abzeichnen, dann die Steppe bis zu den schattenblauen Bergen in der Ferne. 
Nachmittags Ankkunft auf einem Campingplatz außerhalb Meridas. Der Platz ist ruhig; nur eine Gruppe halbwüchsiger Stare macht Rabatz und fordert, schrill piepend, Futter von den Eltern.


2. Juni. Merida - Almonaster.

Merida, eine römische Gründung, war vor zweitausend Jahren die Hauptstadt Lusitaniens. Jetzt verwaltet sie die Reste. Wir besichtigen den Zirkus (ein Bolzplatz), das Amphitheater (eine Baugrube, in der Mitte planiert, teils von steinernen Sitzreihen umgeben, teils von rötlichen Erdwällen), das Römische Theater. Dessen Bühnenhausfassade ist freilich beeindruckend: Säulenreihen auf Säulenreihen gestapelt. Besonders vor dem knallblauen Himmel wirken die aufeinandergestellten Säulen imponierend in ihrer Nutzlosigkeit und der schieren Bekundung der Mühsal, die es gekostet haben muss, sie dort zu errichten. Ich bin nicht empfänglich für antike Denkmäler, und die Pietät, die manch Gebildeter brav dafür hegt, scheint mir eben dies: brav. Antikenenthusiasmus kommt mir manchmal vor wie Stubendienst unter den Gefreiten Goethe und Schiller. Dabei berühren mich viele dieser alten Monumente nicht erhebend, sondern beklemmend. Sie machen mir Angst. Hier in Merida bekomme ich eine Ahnung, warum. Es ist das Modulare und Repetitive daran. Die römischen Stadtgründungen beginnen mit einer ursprünglichen rechtwinkligen Kreuzung, an die sich ein Raster, die Iteration des rechten Winkels, anschließt. In diesem Theaterbau kehrt die Iteration wieder, die Wiederholung des Immergleichen. Gewiss hat die römische Zivilisation auch andere, wildere und vitalere Seiten, aber in seinen monumentalen Aspekten macht sich doch vor allem ein geometrisch-rationaler Starrsinn geltend, der mir unbehaglich ist. 

Als wir auf dem Weg zurück wieder durch das Amphitheater gehen, spüre ich die Sitzreihen als Klammer und als die Backen einer Zange, die sich um die leere Mitte zu schließen droht. Ob Tragödien dort aufgeführt wurden oder Possen, Satyrspiele oder heitere Bärenhatzen: was heute davon erhalten ist, atmet Zwang und Enge, selbst unter freiem Himmel. Die Säulen sind Gitterstäbe, das Amphithater ist eine gigantische Daumenschraube. Dass Ceres, Göttin der Fluren und Felder, in der Mitte der Theaterbühne thront, ändert daran nichts. Die Erneuerung, für die sie Verantwortung trägt, ist nichts als Wiederholung. 

Vor allem aber hadere ich mit der Einzäunung der Areale, mehr noch als beim Theater bei dem Gelände, auf dem die Reste eines römischen Columbariums und die Ruinen einer Villa aus dem städtischen Leben weggesperrt sind. Als staubige und etwas verwahrloste Grünstreifen liegen sie neben den Gehwegen wie Brachen. Kurz kommt mich der kindische Wunsch an, dass all diese historisch bedeutsamen und denkmalpflegerisch behüteten Orte wieder zu echtem Leben erwachen möchten: dass man Boule spiele in der Arena, picknicke im Chorraum, dass Kinder um die Bruchstücke der Sarkophage tollten. Noch vor einem guten Jahrhundert soll die Orchestra mit Kichererbsen bepflanzt gewesen sein; wahrscheinlich hat man, wie auf das Forum Romanum noch zu Claude Lorrains Zeiten, das Vieh hierher zum Weiden getrieben. Jetzt weiden hier nur noch Touristen und verleiben sich, statt Gräsern und Blättern, Bilder ein.

Auch die Alcazaba am Fluss ist eine archäologische Brache: die dicken Mauern sind gut erhalten und der Blick auf die römische Brücke über den Guadiana kann man reizend finden. Der Blick zurück in den Innenhof dagegen fällt auf Kiesaufschüttungen oder aus dem Grund gekratzte Mauerreste, die zu bewundern oder auch nur zu verstehen mir Sensorium und Bereitschaft fehlen. 

Immerhin finden wir ein Restaurant, für das nicht, wie für viele andere, vor dem Römischen Theater Werbezettel samt Ermäßigungscoupons verteilt werden. Dass in dem Raum, dessen gekalkte Wände nur mit ein paar Kupferpfannen dekoriert sind, vor allem Handwerker und Büroangestellte ihr Mittagessen nehmen, ist ein gutes Zeichen. Die Wirte - Mitte dreißig, offenbar zwei Brüder - blicken ernst, ja grimmig drein: dass sie Stammgäste halten können, wird kaum an ihrem gewinnenden Wesen liegen. Der eine zapft konzentriert Bier, der andere kümmert sich um die Gäste an den Tischen. Aber was heißt schon kümmern? Er macht kein Wort zuviel, also gar keins, sondern nickt nur zum Gruß, legt die Speisekarte hin und nimmt die Bestellung mit einem Brummen auf, das eher das Begleitgeräusch seines Nickens ist als eine Lautäußerung. Aber immerhin wünscht er Guten Appetit, als er das Essen bringt. Sein Que approveche ist auf anderthalb Silben verdichtet; er muss es ebenso lang in sich geschmort haben wie die Ochsenschwanzbrühe, die zu einer schlackenlosen Essenz aus nicht als Geschmack reduziert ist. Er fragt auch nicht, wie das Fleisch gebraten sein soll; wer es hier nicht blutig will, ist fehl am Platz.

Das Museum für Römische Kunst. Der Bau ist zurecht gerühmt für seine klare Formensprache, in der moderne Abstraktion und historischer Anspielungsreichtum vereinigt sind. Er ist aus den schmalen Ziegeln gemauert, wie sie auch die Römer verwendet haben, und innen von neun hintereinandergestaffelten Bögen gegliedert, die an den Trajansbogen erinnern, den die Stadt stolz zu ihren antiken Hinterlassenschaften rechnet, obwohl er im Original nicht mehr ist als ein plumpes Trumm aus kolossalischen Steinblöcken. Hier aber, im architektonischen Zitat, wird dieser primitive Bogen elegant verwandelt und gleichsam geläutert: die dünnen Ziegel, aus denen er gefügt ist, lösen die groben Blöcke des alten arco in filigran schraffierte Leichtigkeit auf, und der Tunneleffekt der in einer Flucht angeordneten und sich perspektivisch verjüngenden Bögen ist atemberaubend - bis mit einem Mal all das in meiner Wahrnehmung kippt wie ein Vexierbild und ich in den Bögen nur noch aufgerissene Mäuler und in den von Streben unterteilten Oberlichtern nur noch gebleckte Zahnreihen sehen kann: das Ganze ist ein Schlund, der gerippte Rachen eines hungrigen Raubtiers, und mir kommt eine Stelle aus Ovids Metamorphosen in den Sinn, von der ich nur noch die Schlüsselsentenz tempus edax rerum weiß: tempus edax rerum, tuque, invidiosa vetustas, omnia destruitis vitiataque dentibus aevi paulatim lenta consumitis omnia morte, lautet die ganze Stelle: Zeit, du gefräßigste du, du neidisches Alter / alles zerstört ihr, verzehrt allmählich, was vorher der Stunden / Zähne benagt und und geschwächt, in langsam schleichendem Tode... 
Aber die Zeit schafft auch Neues, in unablässigem Wandel. Vielleicht ist mir diese archivalische Bewahrung der antiken Bestände in Merida so zuwider, weil diese Reste nicht in neue Lebendigkeit eingespeist werden. Es ist merkwürdig, dass das Museum diese Transformation auf seine Art zuwege bringt, während die Originalstätten wie nekrotisches Gewebe im Leib der Stadt liegen. Man wagt es nicht, dem pietätvoll verehrten Leichnam den Stromstoß zu versetzen, der ihn wieder atmen ließe; aus denkmalpflegerischer Rücksicht will man ihn lieber nicht erwecken und in die Gegenwart entlassen. Die Sorge um die Vergangenheit ist erkauft mit der Strangulation der Gegenwart. 

Wir verlassen die Stadt früher als wir erwartet hätten, doch ihre Reize sind erschöpft. Es geht weiter südwärts in die Ausläufer der Sierra Morena, jenem Gebirgszug, in den Don Quijote sich zurückzog, um, wie es einem verliebten Ritter gemäß ist, dem Wahnsinn zu verfallen und Narrheiten zu begehen. In Almonaster nehmen wir in der Terrasse eines Hotels einen Aperitiv und reiten dann, auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz, die Berge hinauf. Bei der ersten guten Gelegenheit weidet eine Herde Ziegen unter der Aufsicht eines Hirten und eines kleines Männchens in einer Art Wanderuniform. Doch weiter oben ist auf der Karte noch eine Ruine verzeichnet, da wollen wir hin. Oben ist von einer Ruine nichts zu sehen; es muss sich um die Ruine einer Ruine handeln. Stattdessen gibt es eine Funkstation - und ein kleines Gehäus mit Fenstern in alle vier Himmelsrichtungen, von dem aus man weit über das Bergland der Sierra sehen kann. Wir haben eben unseren Campari-Soda eingeschenkt und uns mit Blick über die Hügel eingerichtet, als das Männchen in Wanderuniform seinen Toyota hier parkt. Es ist ein Feuerwächter; das Häuschen ist sein Auslug. Wir unterhalten uns prächtig. Er spricht Spanisch und Gestisch. Die Einsamkeit, in der er seinen Tag verbringt, hat ihn das langsame Sprechen gelehrt, das kommt mir sehr zupass. Während Spanisch sonst gern mit einem Maschinengewehr verglichen wird (zurecht), ähnelt die Sprache dieses Mannes eher einer Holzraspel: rauh und viel Geduld erfordernd. Eine Wolkenfront zieht über die Sierra Morena. Ab und an wetterleuchtet es in der Ferne, vereinzelt wehen graue Regenschleier über die Hügel, aber hier bei uns ist es trocken. Der Mann gibt uns sein Wort drauf, dass es so bleiben wird; er kennt den Zug der Wolken. Um acht Uhr abends endet dann sein Dienst. Wenn jetzt irgendwo der Blitz einschlägt und ein Wald in Flammen aufgeht, muss der liebe Gott sich kümmern.

3. Juni. Almonaster - Sevilla.

Am nächsten Morgen sehen wir das Männchen wieder. Wir waren nach Almonaster hinuntergefahren, um uns dieses schmucke kleine Städtchen anzusehen. Schon der Name ist interessant: das Al ist arabischen Ursprungs, das monaster weist auf ein christliches Kloster hin, eine historische Überlagerung, die in Spanien ebenso häufig ist wie der Umstand, dass der Bau, der dem Ort seinen Namen gegeben hat, auf den Resten eines römischen Tempels von den Westgoten errichtet, dann von den Arabern zur Moschee und schließlich im 13. Jahrhundert wiederum von den Christen zu einer Einsiedelei umgestaltet wurde. Von außen sieht man der Anlage die mezquita kaum an: auf den ersten Blick erkenne ich darin nur eine Abart romanischer Baukunst; eine wuchtige Masse Stein mit einem gedrungenen Rundturm und einem höheren mit quadratischem Grundriss, der allerdings keine Spitze hat, sondern eine offene Plattform mit Balustrade. Aber selbst das ist nicht spezifisch arabisch, sondern könnte eine spätere Zutat sein. Im Inneren jedoch wirkt unverkennbar muslimischer Geist: er ist nicht gerichtet, nicht auf ein Allerheiligstes hin orientiert. (Jetzt verstehe ich auch ein wenig, was mich etwa an der Kathedrale in Burgos so irritiert hat: auch da gab es diesen Vektor nicht, der die Kirchen in den seit je christlichen Ländern prägt. Es gab Gebetskabinette, modular aneinandergereiht, Separées der Andacht; wahrscheinlich ist mein Eindruck nicht falsch, dass das etwas mit sozialer Segregation zu tun hat, aber das genügt mir nicht als Erklärung. Es ist einfach ein ganz anderes Raumempfinden. In den meisten romanischen, den gotischen, auch den barocken Kirchen Europas - Frankreich, Italien, Deutschland - spürt man einen Sog, einen Zug zu etwas hin. Die Orientierung ist freilich auch für Muslime von Bedeutung; beim Gebet wendet man sich gen Mekka. Aber in der Architektur der Moscheen kommt das nicht zum Ausdruck. Deren Raumordnung ist ausgeglichener, beruhigter, spannungsärmer. Die Moscheearchitektur vermittelt ein Angekommensein, eine Arretierung. Ihre Geometrie ist dem stabilen Quadrat, nicht der Kurve der Parabel verpflichtet. Das Faible für das geschwungene Ornament kompensiert das. Aber das Ornament läuft immer in sich zurück, verhakt und verschlingt sich in sich selbst. Das Ornament - zumal das muslimische - ist zumeist die Wiederkehr des ewig Gleichen, es umspielt das bereits Erfüllte, schmückt es aus, preist es in unablässiger Reprise. Ich werde noch genug davon zu sprechen haben - aber selbst in diesem schlichten Bau ist eine bestimmte Mentalität und ein bestimmtes Lebensgefühl zu spüren: eine Sicherheit und Gottgewolltheit des Geschehens, Zufriedenheit, mit dem, was ist. Da ist kein Sehnen und Sich-Verzehren in diesem Raum, nur gestilltes Behagen. Der Raum inzitiert keine Bewegung und kein Streben zu einem Ziel hin. Er ruht in sich selbst. Nur eine Bewegung ist in ihm: das unablässige plätschernde Rinnsal, das aus einem Brunnen quillt und in einem schmalen Ablauf der Pforte entgegensickert, bis es schließlich draußen im Erdreich verläuft. Das Wasser ist immerzu da, und mit ihm das Heil. Das Heil muss nicht erfleht, erstritten, erbettelt werden: Gott hat seine Huld bewiesen, indem er für das stete Fließen des Wassers Sorge trug. Das Paradies ist schon gegenwärtig; es bedarf keiner architektonischen Muskelspiele, die von der Mühe und der Sehnsucht sprechen, es zu erlangen. Die Bögen, die den Raum stützen, müssen sich nicht in steilen Kurven spannen; duldsam tragen sie, wie Kamele ihre Höcker, Lust und Last des Daseins. Es ist ein Ort des Glücks und stiller Seligkeit. Nur die Schwalbe, die sich von uns gestört fühlt, fährt schrill schimpfend aus ihrem Nest, als wir ihr zu nahe kommen. Sie schneidet steile Parabeln und abrupte Kehren in die dämmernde Luft: Finten und Ablenkungsmanöver, die uns aus diesem ruhigen Paradies verscheuchen sollen. Aber es hätte derlei nicht gebraucht; mir wird ohnehin fad. Das Paradies ist nichts für mich. Es wird mir zu schnell langweilig darin.

Wir wandern wieder ins Dorf hinunter, zu den weißgekalkten Häusern, die uns schon auf unserer Serpentinenabfahrt entgegengeleuchtet hatten. Von da aus war das Dorf zweigeteilt: die braune hochgelegene Mezquita links, und rechts darunter das salzweiße Dorf, wie eine Herde von Schafen, die aus der Schwemme kommen. Das Dorf schien demütig, unterworfen, glänzte aber doch um so vieles heller als der erdbraune Tempel. Die weißen Häuser schienen sich dem Heiligen entgegenzudrängen, und doch, während ich das Foto betrachte, das ich von der Höhe aus gemacht habe, kommt es mir vor, als sei nicht die Mezquita das Heilige, sondern der Drang des Dorfes, sich ihr zu nähern. Dieser Wille lässt die Häuser erstrahlen; die Spannung bringt sie zum Leuchten; wie bei jeder Batterie ist auch hier mehr das Gefälle zwischen den Polen als ihr Equilibrium die Bedingung. 

Im Dorf herrscht lässiges Vormittagsleben. Frauen gehen einkaufen, Männer sitzen auf den Bänken zusammen und palavern. Wir trinken Kaffee in einer weißen, breiten Gasse, die von großen, zwischen den Dachtraufen gespannten Stoffbahnen beschattet wird. Die Cafés sind in Spanien weniger als anderswo im Süden die Domäne der Männer; meistens sitzen Frauen dort zusammen, gepflegte und sorgfältig frisierte ältere Damen, die die Zigarette zwischen den Fingern ebenso souverän handhaben wie den Fächer. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie dort nur auf dem Weg zu ihren Besorgungen einkehren; trotzdem ist oft eine Aura der Geschäftigkeit und des Tätigseins um sie. Man sieht es an der Art, wie sie rauchen, ihren Fächer schwingen, wie sie sprechen; da ist eine Straffheit und Gespanntheit in ihren Gesten und ihrer ganzen Haltung, die den lässig an den Theken lümmelnden Männern oft fehlt. An den Frauentischen herrscht ein höherer Tonus, und manchmal habe ich fast den Eindruck, dass die Frauen hier immer noch eine Arbeitsamkeit ausleben, die die Weibergenerationen vor ihnen auf das Wäschewaschen am Wäscheplatz oder auf andere gemeinschaftliche Arbeiten verwandt haben. Die Arbeiten gibt es nicht mehr, aber die Agilität, die sie einmal geprägt, und das Geplauder, das sie begleitet hat, ist immer noch da. Wahrscheinlich sind Rauchen und Fächern eine Art von Leerlaufhandlung, wie die Phantomjagd von Katzen, die satt, aber nicht ausgelastet sind.

Vielleicht aber kommen diese Damen überhaupt nur in dieses Café, weil es von einem überaus leutseligen und attraktiven jungen Mann geführt wird, einem gebürtigen Kolumbianer, der einmal als Straßenmusiker durch Spanien gereist ist und dabei seine Frau kennengelernt hat. So hat es ihn nach Almonaster verschlagen; jetzt klopft er rhythmisch Siebträger aus und schäumt Milch.

In der Kirche des Dorfs treffen wir unseren Feuerwächter von gestern abend wieder. Statt der Wächterkluft trägt er eine konfirmandenhafte Anzugjacke. Ohne seine Kappe erkenne ich ihn erst gar nicht: ich sehe nur ein Männchen, das verzückt die ländlich feingemachte Madonna über einem Seitenaltar betrachtet. Ihr blumenbeladener Hut, die Ohrringe, die feinen Finger verleihen ihr ganz das Air einer guten Partie; sie sieht aus wie eine reiche Bauerntochter, die das Rühr-mich-nicht-an gibt, aber doch bebend erwartet, dass ihr jemand zwischen die Schenkel fasst. Der Blick des Feuerwächters ist ein einziges Schmachten; er verliert sich in der Anbetung dieser ländlichen Muttergottes. Gestern abend ist er nicht so zusammengezuckt, als die ersten Blitze über den Hügeln niedergingen, wie jetzt, da wir herankommen und ihn aus seiner Andacht aufstören. Er blinzelt irritiert, als hätten wir ihn bei unzüchtigen Gedanken ertappt; wir schütteln Hände; aber schon kommt die Mesnerin heran und holt ihn für die Vorbereitung der Fronleichnamsprozession am nächsten Tag. Zusammen stecken sie die Tragstangen in das goldbestickte Tuch des Prozessionshimmels. Doch dann klopft er allzu ungestüm auf den aufgespannten Brokat und lässt eine graue Explosion von Staub aufwölken, die auf ihn niedersinkt wie Ascheregen - wohl die Überbleibsel seiner Liebesglut für die Madonna.

Nach Jabugo. Spaniens Stolz ist sein jamon iberico, nicht zu Unrecht. An einer Mauer dieses Schinkenstädtchens ist ein großes Plakat affichiert, das einen Schinkenstreifen in Rot-Weiß-Rot als spanische Flagge zeigt, flatternd an der Klinge eines Filetiermessers.
An der Hauptstraße, die am Rand des Ortes dahinführt, wartet ein Schinkenladen neben dem anderen auf Kundschaft; der Ort selbst ist verschlossen. Der Hauptplatz liegt leer im grellen Licht, in den Gassen sind alle Fenster mit hölzernen Läden oder schweren Bastmatten gegen die Hitze gewappnet. Wir gehen eng an den Mauern entlang, wo noch ein schmales Schattenband Schutz gegen die Sonne spendet. Ab und zu plitschen Wassertropfen auf den Stein: die Klimaanlagen sondern Kondenswasser ab. Natürlich halten sich die Bewohner drinnen, in der Kühle ihrer Häuser auf. Ich weiß das, und trotzdem werde ich das beunruhigende Gefühl nicht los, durch eine Geisterstadt zu wandeln, eine verwaiste, der Einsamkeit und Leere preisgegebene Siedlung.

Aracena immerhin, das nächste Städtchen auf unserer Strecke, ist lebendiger; es hat kaum 8000 Einwohner, muss aber die Urbanitätsbedürfnisse für wahrscheinlich zehnmal so viel Leute abdecken. Zudem zog Anfang des 19. Jahrhunderts eine Tropfsteinhöhle offenbar genug Besucher an, um den Bau eines mondänen Casinos zu erlauben, das in diese ländliche Gegend einen Hauch von belle époque brachte.  Auch ein paar Straßenlaternen, die wie aus Paris importiert erscheinen, hat man hier aufgestellt, um geschmiedete Balkongitter und den Golddekor auf den Kapitellen zu illuminieren. Außerdem beleuchten sie die gipsweiße Skulptur irgendeines braven Priesters, der im Chorhemd und mit knabenhaft trauriger Miene auf einem hohen Sockel steht. In den Händen hält er etwas Rundes - vielleicht einen Kranz oder einen Heiligenschein, vielleicht aber auch nur eine Kappe. Ich weiß nicht, was für eine Geschichte sich hinter diesem Statue verbirgt; wenn sie keinen Priester darstellte, könnte man meinen, sie zum Gedenken an einen armen Tropf errichtet worden, der im Casino seinen letzten Pfennig verspielt hat und jetzt die Kappe in den Händen dreht, mit der er seither um Almosen bettelt. 

Allmählich gewöhnen wir uns an die spanischen Essenszeiten. Es ist halb zwei, und wir haben noch keinen Hunger: es ist zu früh fürs Mittagessen. Das wollen wir bis Nerva verschieben. Der Weg dahin führt durch hügelige Dehesas; plötzlich aber passieren wir Bergbaugerätschaften: schmalspurige Schienen, auf denen Lorenzüge vor sich hinrosten; große Anlagen für Schüttgut, Kräne, Seilbahnen und Förderbänder. Unklar, ob hier wirklich noch gearbeitet wird. Das Gelände ist nicht ganz verlassen, aber es ist auch nicht genug Betrieb, als dass man glauben könnte, hier würde noch gefördert. Aber das ist alles bloß Vorspiel und Andeutung; denn nach diesen Vorwerken tut sich plötzlich eine Landschaft auf, wie ich sie - so brachial, so gewaltsam - noch nicht gesehen habe. Hier sind die Minen von Rio Tinto: ein sorgfältig gestuftes, terrassiertes Gebiet, sandbraun und schwarz, mit Striemen von rotem Eisenoxid und guanoweißen Schmierern. Es ist nichts als Stein und Mineral, ohne jede Vegetation. Riesige Bagger und Förderbänder stehen wie vorzeitliche Ungetüme auf den Halden. Es fällt schwer, dabei nicht an Dantes Höllenkreise zu denken, an Zikkurate oder die Stufenpyramiden der Azteken, über deren Treppen das Blut der Menschenopfer in Strömen herabfloss. Es ist eine geschundene Erde. Jede Pflanze, die dort wachsen könnte, ist weggekratzt, zermalmt, vernichtet worden. Die Terrassen in ihrem Ebenmaß und ihrer Steriliät atmen eine solche Lebensfeindlichkeit, dass hier nichts gedeihen kann als die geometrische Abstraktion eines Landschaftsreliefs, die Brutalität eines mathematischen Modells. Man hat alles aus der Erde gewrungen, was nicht Stein, Erz, Rotoxid war, bevor man sich daran machte, die kostbaren Grundstoffe freizulegen und den Zugang zu ihnen in gegliederter Anordnung zu gestalten. Kurz: ich bin begeistert. Die Minen sind Poesie, ins Große geschrieben, Hexameter in Quadratkilometern. Kunst mag in Stein, Vers, Flötenlied ihren Anfang genommen haben: gegen derlei fromme und von Subtilität beseelten Formen gehalten sind die Minen Titanenwerk: eine Schöpfung, die an Erhabenheit und Maßlosigkeit nicht mit menschlichen, sondern mit göttlichen Rivalen wetteifert. Zumindest gelingt diesen terrassierten Halden, was großspurige Ästhetiker, die, lautstark die kunstreligiöse Pauke schlagen und so gern das alte Phrasenstroh von der Kraft der Kunst ausdreschen, für diese Kunst in Anspruch nehmen: Erschütterung, Reflexionsanreiz, ästhetische Prägnanz. Und sogar Schönheit - eine brutale und monströse Schönheit, grausam und auf den ersten Blick herzlos: aber Schönheit.

Nerva: ein Städtchen, scheinbar verwaist wie so viele Siedlungen hier, doch der Eindruck ist nur der Mittagsstunde geschuldet. Das Zentrum, jetzt leer, liegt erwartungsvoll da: Bänke, Arkaden, Sitzstufen. Kulissen, die schon bereitstehen, sich abends zu füllen. Tagsüber schlafen die Städte; sie erwachen erst spät. Trotzdem finden wir eine Kneipe. Eine Tafel verkündet Hay caracoles: es gibt Schnecken. Das ist eine auffällige Wendung. Schnecken werden häufig angeboten, und immer mit dieser Formulierung. Nirgendwo kommt man auf die Idee, auf eine Tafel Hay carilladas oder Hay pulpo zu schreiben. Nur den Schnecken kommt dieser fröhliche Ausruf zu, als hätte man ausgerechnet hier ein außergewöhnliches Jagdglück zu vermelden, und ich stelle mir vor, wie Schneckenfänger sich zur Jagd auf dieses schwer zu stellende Wild versammeln und dann nach geduldigem Lauern jedes davonsausende und dann doch erhaschte Weichtier mit diesem Triumphschrei quittieren: hay caracol!  Die Schnecken, die so angepriesen werden, sind nicht die fleischigen Weinbergschnecken des Burgund, wie sie mit Petersilienbutter in ihren Häusern versiegelt aus dem Ofen kommen, sondern winzige Tierchen, die in einer scharf würzigen Brühe gekocht werden. Meistens ragen ihre feinen Fühler ein klein wenig aus ihren Häuschen, grade weit genug, dass man sie mit den Zähnen fassen und dann heraussaugen kann. Zu schneller Sättigung taugt das nicht; das wäre wohl auch einer Schnecke nicht angemessen. Caracoles zu essen braucht Zeit. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum sie so euphorisch annonciert werden. Schneckenessen verlangsamt die Nahrungsaufnahme; es dehnt das Mittagsmahl aufs Angenehmste aus und hilft, den Mittag, der wegen der Hitze ohnehin zu nichts anderem nutze ist, mit gemächlicher Näscherei zu erfüllen. Hay caracoles ist der energische Schlachtruf der Trägheit, und schon allein darum liebe ich diese Speise. Zudem mag ich das trockene Geklimper der Gehäuse in der Schüssel, die der mineralischen Dürre des Landes so entsprechen. Die harten, schützenden Schalen sind wie die Gehäuse, in die sich auch der Spanier tagsüber einzuschließen pflegt, um der Auszehrung durch die sengende Hitze zu entgehen. Das berühmte Marx'sche Diktum, dass alle bedeutenden Ereignisse sich zweimal begeben, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce, trifft abgewandelt vielleicht auch hier: das emblematische Tier Spaniens, der heldenhafte, tapfere, großartige Stier, hat sein klandestines Pendant in der kleinen Schnecke: hier die Hörner, dort die empfindlichen Fühler, hier Attacke, dort Rückzug, hier Ungestüm, dort Bedacht. Die Schnecke ist der Königsnarr des toro, sein Schatten, sein Trug- und Wahrbild.

Am späten Nachmittag kommen wir in Sevilla an. Der behördlich ausgewiesene Stellplatz ist eine asphaltierte Fläche am Guadalquivir, unwillig verwaltet von Beamten, die sich nicht für die Betreuung von Wohnmobilen, sondern nur für die von Lastwagenfahrern berufen fühlen. Wir fallen bloß lästig. Dass wir wissen wollen, wo der Bus in die Stadt abfährt, und wie wir wieder zurückkommen, wird als impertinente Zudringlichkeit aufgenommen. Hier herrscht eine Behördenmentalität, die außerhalb Südeuropas längst beseitigt und durch den Dienstleistungsgedanken ersetzt ist. Jetzt aber können wir das überkommene Selbstbild des Beamten als eines Machthabers, der huldvoll gewähren oder weniger huldvoll versagen kann, noch einmal erleben. Sei's drum; um fünf sind wir in der Stadt.

Schon der Torre del Oro amüsiert mich. Ich weiß sofort, dass mir die Stadt gefallen wird: aus einem robusten Polygonsockel spitzt keck und schlank eine filigrane Laterne hervor. Wie sie so aus dem massigen Sockel hervorkommt und den Zinnenkranz hoch überragt, ähnelt sie einem Stachel, der aus dem Korpus eines dicken, mürrisch brummenden Urzeitkäfers ausgeschoben worden ist. Das hat etwas zugleich Wuchtiges, Martialisches wie frivol Verspieltes: eine Überlagerung von Wehrhaftigkeit, Neugierde, Vorwitz. Machtwille und kapriziöse Laune, Stolz und Ironie sind zugleich zu spüren: Kennzeichen souveräner Urbanität. 

Da ist die Giralda, der Alcazar, die Kathedrale: es sind die Embleme der Stadt, wir werden sie morgen ansehen. Die Avenida de la Constitucion ist gesäumt von belle époque nach maurischer Art. Es gibt atemberaubende Fassaden darunter, die ein komplexes Spiel aus Polychromie, Bogenformen, Fensterformaten und gegeneinander versetzten Simshöhen entfalten: eine Ordnung, die nicht von einfältiger Achsensymmetrie bestimmt ist, sondern von einem sehr verwickelten Gespür für Gewichtungen, in dem Harmonie nicht von vordergründiger Einheit, sondern von einer Balance der Unterschiede bewirkt wird: auf den ersten Blick sind all die Spitzbögen und Rundbögen, die kugelförmigen und die eckigen Zinnenaufsätze, die karierten Schmuckbänder und und die backsteinroten Flächen, der Rundturm zur Rechten und der quadratische Grundriss zur Linken nichts als Gegensätze, und das Gesamte scheint nur ein verworrenes Gewürfel von Unterschieden, das von einem abwechslungssüchtigen Baumeister, der sich nur an der Variation delektiert hat, nicht gebändigt werden konnte. Doch bemerkt man bald, dass trotz aller oberflächlichen Heterogenität eine hintersinnige Symmetrie das Ganze durchwirkt. Entsprechungen und Gegensätze sind sorgfältig ausgewogen, wobei, wie es einer alten Handelsstadt zukommt, die Währungen ineinander umgerechnet werden können: Farbflächen sind in Masse konvertibel, die Spitzbögen hier werden mit quadratischen Formen dort saldiert, die blau-weißen Streifen der Turmkuppel rechts werden durch die roten Zinnen des Eckturms links ausgeglichen: es ist eine innere Unruhe in dieser Fassade, fast eine Feindseligkeit der Elemente, und doch ist das Ganze in bemerkenswertem Gleichgewicht. Wenn ich mich nicht falsch erinnere, ist das Haus jetzt im Besitz einer Bank, einer Versicherung, einer Investmentfond-Gesellschaft. Ob zu deren Portfolio wohl auch Drei-Sterne-Restaurants, Kunstsammlungen oder die Minen von Rio Tinto gehören? Geburtskliniken und Waffenschmieden, Tabakfabriken und Pharmaunternehmen, die den Chemismus von Krebs erforschen?

Im Portal der Kathedrale stehen drei Ministranten; sie tragen Kronen aus geprägtem Goldblech, deren wappenförmig erhöhte Stirnseiten mit Silber belegt sind. Putten oder Flammen umtanzen die Ränder, ich kann es nicht recht erkennen. Nur bei dem größten Jungen in der Mitte sitzt die Krone. Den beiden anderen rutscht sie in die Stirn - hier wird sie nur von den Ohren gehalten, dort liegt sie auf einem grellblauen Brillengestell auf. Alle drei tragen über roten Röcken weiße Chorhemden mit roten, wie Geschenkbänder geschlungenen Kragenschleifen. Der mittlere hat ein breites Band aus Goldbrokat um den Hals, an dem eine schwere Glocke hängt, die er bald mit seinen weißbehandschuhten Händen läuten darf. Hinter den drei Jungen stehen die Teilnehmer der Prozession bereit, priesterlich gekleidete junge Männer, die Fahnen tragen oder silberne Kerzenständer. Ob es wirklich künftige Priester sind? Einer davon jedenfalls checkt, bevor es losgeht, wenig andächtig noch mal die Mails auf seinem Smartphone. 

Wir nutzen die Gelegenheit, auf einen Sprung in die Kathedrale zu schauen, denn morgen soll sie für Besucher geschlossen sein: Fronleichnam steht bevor. Aber schon jetzt sind große Bereiche darin abgesperrt. Wir begnügen uns mit ein paar Blicken auf die Deckengewölbe. Was mir in den hiesigen Kirchen bereits hier und da andeutungsweise aufgefallen ist, ist hier sehr prägnant ausgeführt. Ich bin freilich kein Experte und vielleicht irre ich mich. Aber die vielfältig überkreuzten Gewölberippen erscheinen mir nicht als konstruktive Notwendigkeit, sondern wirken fast wie aufgeklebtes Dekor: eine komplizierte Ornamentik, deren eigentlich tragende Bögen von einem Netz von zusätzlichen Verstrebungen so eingebunden werden, dass ihre Funktion weniger im Tragen und Stützen als einzig im Verzieren besteht. Die Bögen wollen nicht als Elemente der Statik, vielmehr als Schmuck wahrgenommen werden. Es sind keine Gewölberippen, die materiellen Zwecken unterworfen sind, sondern die Strahlen und Verbindungslinien eines geordneten Kosmos, den sie verherrlichen sollen. Zu dieser Eskamotage der funktionalen Rolle der Bögen trägt auch bei, dass die Ausfachungen von unzähligen steinernen Noppen oder Pickeln bedeckt und die Bögen selbst bossiert sind. So wirken sie eher wie Gliederketten, wie ein Geschmeide, das locker auf der Brust einer Königin aufliegt, denn wie massives Tragwerk. 

Doch jetzt ist keine Zeit, weiter darüber nachzusinnen, denn die Prozession hat begonnen. Von draußen tönen schwere Trommeln. Ein gravitätischer Trauermarsch, sehr militärisch und wuchtig, setzt sich in Bewegung. Funebrer Pomp aus Pauken und Trompeten. Eine Kapelle, vierzig Bläser, zehn Trommler, schreitet im getragenen Rhythmus den Ministranten hinterher, der Glocke, der Fahne, den Kerzenstangen. Die tragische Dumpfheit der Trommeln gibt den Grund für das auftrumpfende Schmettern der Trompeten. Die Trommeln sprechen vom Tod, vom Auspumpen des Blutes, vom unausweichlichen, stampfenden Näherkommen des Todes. Die Trompeten aber strecken dem Tod die goldene Zunge heraus, quäken höhnisch ihren Widerstand. Die Fanfaren behaupten einen Triumph über das düstere Murmeln der Trommeln; sie blecken die Zunge, oder mit dem schönen bayrischen Ausdruck: sie derblecken ihn. Blech bleckt den Bleschel. Pange, lingua

Auf der Plaza de San Francisco verdecken die Zeltaufbauten für diese Prozessionsstation das Rathaus: girlandenumwickelte Säulen, rote, goldbefranste Samtbahnen, Heiligenskulpturen auf Sockeln in Rot und Gold. Bislang dachte ich, die spanischen Nationalfarben rührten von der Sonne her, die so viel Hitze und Glut über das Land gießt: die Farben des Feuers, zu einer Flagge gefasst. Jetzt erscheinen die Farben in sakraler Abwandlung, und hinter dem Gelb und dem Rot machen sich das edlere Gold und der Purpur geltend. Ich erinnere mich, dass auch bei den Fronleichnamsprozessionen, bei denen ich als Kind ministrierte, die Fenster und die Altäre mit solchen goldgebänderten Samtfahnen geschmückt waren: Spaniens Farben kommen mir mit einem Mal wie die Abschattung katholischer Liturgiegebräuche vor; diese wiederum folgen wohl ihrerseits römischen Traditionen, dem Senatorenpurpur, der goldbestirnten Purpurtoga des Triumphators, und ich merke, dass ich immer wieder der Versuchung auf den Leim gehe, im Antlitz dieses Landes den unmittelbaren Abdruck der Natur zu sehen, und doch nur Geschichte finde, Kultur; thesis, nicht physis. Ich suche nach der Sonne und sehe nur Schatten und Schatten von Schatten, eine Abfolge historischer Kontingenzen. Wahrscheinlich verdankt sich sogar die Flagge des Landes irgendwelchen zufälligen royalen Allianzen; mag sein, dass das Rot von den Habsburgern kommt, und das Gelb von den Bourbonen, ich weiß es nicht. Vielleicht ist irgendein westgotischer König in Blut und Eiter verreckt, und seine Nachkommen haben ihm ein Wappen in den Farben seines Todes gelassen... Aber auch, wenn die Flagge sich nur solchen geschichtlichen Zufällen verdankt, scheint sie doch die naturhafte Essenz dieses Landes zum Ausdruck zu bringen. Wäre es vorstellbar, dass über den Burgen und den Stierkampfarenen eine Fahne flatterte, grün wie Farn und feuchtes Moos? Niemals. Zudem scheint mir Spanien eine große Kraft zu haben, sich die heterogensten Einflüsse so anzuverwandeln, dass sie wirken wie diesem Land ursprünglich zugehörig. Die Sonne schmilzt die Unterschiede ein; die Hitze rührt es zu einem großem Amalgan zusammen. Selbst in dem Orchesterstück, dessen Generalprobe hier auf der Bühne abgehalten wird, klingt trotz der kontinentaleuropäischen Herkunft (Fauré? Saint-Saëns?) und trotz der behutsamen Spielweise der Musiker etwas vom paso doble an, wie er in der Arena angestimmt wird, wenn der Matador das Schwert entgegengenommen hat, mit dem er den Stier töten wird. Selbst die Architektur - so disparat sie als Stilimport manchmal ist, Empire, belle époque, vom alten Mudejar oder den flämischen Moden, die Karl V. mitgebracht hat, ganz zu schweigen - bewahrt immer eine gewisse hispanidad und bestimmte nationale Eigentümlichkeiten, und oft sind diese Abwandlungen des Kontinentalstilsdan dem spanischen Klima geschuldet: Balkonvorbauten, Patios, Abschirmungen.

Wir essen im Triana-Viertel jenseits des Flusses. Die Busse, die uns zu unserem Parkplatz bringen könnten, haben ihren Betrieb eingestellt oder nachts ihre Routen geändert oder wir sind schlichtweg zu doof. Schließlich nehmen wir ein Taxi, das dann, wenig ortskundig oder schlicht betrügerisch, seltsame Schleifen und Umwege fährt, möglicherweise auch einfach einen Mudejarfahrstil pflegt, also mit viel Gekringel wenig Raumgewinn erzielt. Trinkgeld? Muss nicht sein; Muslime trinken nicht.

4. Juni. Sevilla.

Feiertag. Ein langer Fußweg führt uns zum Gelände der Iberoamerikanischen Ausstellung von 1929. Ein prachtvoll gemeinter und von atztekisch verzierten Pavillons gesäumter Boulevard führt von hier ins Zentrum. Wir haben Karten für einen dieser Doppeldeckerbusse, die Stadtrundfahrten veranstalten. Aber nur die roten Busse sind für uns; der konkurrierende grüne schmeißt uns gleich wieder raus. Doch wie schon gesagt: grün ist ohnehin nicht die Farbe Spaniens, und der rote lässt nicht allzulang auf sich warten.

Am Torre del oro steigen wir aus. Es ist schon wieder so heiß, dass ich nach einer caña giere. Zeit genug haben wir. Die Kathedrale gehört heute den Gläubigen, und vor dem Alcazar stehen die Touristen in so langen Schlangen um eine Audienz beim Geist von Pedro dem Grausamen, den man auch den Gerechten nannte, an, wie es sie zu dessen Lebzeiten wahrscheinlich nicht gegeben hat. Da besteigen wir lieber wieder unseren Doppeldeckerbus und lassen uns durch die Stadt kutschieren. Es ist allerdings eine seltsame Art der Besichtigung; es hat etwas Zimperliches, Reserviertes. Ich komme mir vor wie ein Forscher, der seine Objekte observiert, indem er sie durch eine Aussparung in der Glasscheibe an langen Pinzettenstäben herumschiebt. Man schaut auf das armselige Fußgängervolk herab, fährt hindurch wie ein metallummanteltes Auge, das eine Biopsie urbaner Plaque vornimmt. Gesimse, die von unten schmuck und anmutig aussehen, wirken aus vier Metern Höhe bloß schmutzig und grob. Der Stuck enthüllt sich als Taubendreck; der Blick hinter die Kulissen, über die schönen Fassaden hinweg, ist ein Blick auf die Notdurft einer Stadt, die nicht gebaut worden ist, um aus solcher Perspektive beschaut zu werden. Ich mache eine Art umgedrehter Sancho-Panso-Erfahrung; auf seinem niedrigen Esel reitend sah Sancho die Wirklichkeit, bar aller Verklärung. Ich sehe die Stadt von oben, aber von hier aus trübt sich der Glanz des Ideals ebenso ein. 

Wir bekommen eine SMS von Freunden, die uns eine Tapas-Bar im Macarena-Viertel empfehlen. Bestens, wir sind grade in der Nähe, und es ist Essenszeit. Die Bedienungen sind wunderbar anzusehen: wenn man sich einmal gefragt hat, warum junge Leute Piercings und Tatoos tragen, dann ist hier die Antwort: weil es verdammt gut ausschauen kann. Das heißt freilich nicht, dass die hippen Ganymede ihr Kellnergeschäft verstünden. Zunehmend amüsiert verfolgen wir, wie sie Tablett um Tablett an Tische liefern wollen, die etwas ganz anderes bestellt haben. Manche Gäste weisen die nicht georderten Teller zurück; andere lassen sich von ihrer Appetitlichkeit verlocken und nehmen sie, obwohl nicht bestellt, trotzdem. Das schafft ab und zu Probleme im Ablauf, aber offenbar sind wir nicht die einzigen, die bereit sind, ein ziemliches Maß an Zufall und Überraschung hinzunehmen. Wer hier isst, hat Zeit, und Lust sowieso, blindlings über die Palette der Häppchen hinzustöbern. Es gibt Thunfisch-Tataki (roh bis auf eine hauchdünne Röstspur vom sekundenkurze Anbraten) mit einer asiatisch abgewandelten Aioli, ein tiefrotes Rindersteakstück, in dem keck eine Harpune mit angebratener Tomate steckt, die mit einem rotem Paprikawimpel so piratenhaft beflaggt ist wie das Haupt der Kellnerin, deren Irokese in einem Mahagonikupfer schimmert, wie man es nie im Leben einer Punkgöre, sondern allenfalls einer mondänen Diva zutrauen würde, die sich fürs Olympia zurechtgemacht hat. Etwas ist mit einem Lockenkopf aus Sprossen und toupiertem Gemüse angerichtet, auf einem anderen Teller ragen große Garnelen aus dem Reiskegel wie im Sprung erstarrt, das weiße Fleisch glänzend im orangerot aufklaffenden Mantel des Panzers. Dramatische Drapierungen aus Kartoffeln, auf denen gelb und rot Tomaten und Paprika stecken wie triumphierende Bergsteiger, die ihre Fahne auf dem bezwungenen Gipfel aufgestellt haben, während eine Gletscherzunge aus Safranmayonnaise über die Hänge dieses Pico Patata rinnt; darunter, auf der Schieferplatte, Inseln von leuchtendem Räucherpaprikapulver, Tupfer von Rotweinreduktion, Salzflocken. Dem Anrichten der Teller wird in Spanien generell mehr Sorgfalt entgegengebracht als in Deutschland; aber auch, wenn in Deutschland die Teller mit Aufmerksamkeit und Sinn fürs Detail dekoriert werden, erlebt man selten solche visuellen Dramen wie hier: bei uns geht es hübsch, geschmackvoll, diskret zu; hier oft exaltiert, kühn aufgestapelt, fulminant. Man kommt selten ohne einen optischen Blitz aus, irgendein Element, das ins Gericht hineinfährt wie eine Banderilla in den Stier. Die Dinge werden nicht geruhsam auf dem Teller verteilt - Sättigungsbeilage links, das Fleisch zum Gast - sondern zum Kampf in der Arena gestellt: da ist oft ein Aufbäumen, eine leidenschaftliche Geste, Zeichen der Tötung. Der Spieß, der so viele der Tapaselemente zusammenhält, ist nicht einfach der Bequemlichkeit des Essers geschuldet; er ist die rituelle Spur der Lanze, die man dem Tier in den Nacken stößt. Der Teller ist mit Paprikapulver gesprenkelt wie mit Blutstropfen; die rote Schote weht als muleta über dem Fleisch. Der Tod wird auf den Platten nicht schamvoll verhehlt, sondern dramatisch inszeniert. 

Irgendwann im Lauf dieser Tage werde ich denken: Spanien ist das Land der Wahrheit: das Land, in dem Lebensnot und Grausamkeit so ungeschminkt zutage treten wie in keinem anderen Land, das ich kenne. Jedenfalls werden hier die Zwänge, die das Weiterlebenwollen mit sich bringt, nicht sentimental bemäntelt, sondern im Gegenteil in Gold und Blut ausgestellt. In der Arena schlachtet man in liturgischem Brokat, nicht im aseptischen Kittel der Apotheker. Auf den Tellern schlägt sich die Spur dieses heiligen Opfers nieder. Man kaschiert nicht den Schrecken, das Blut, das Zittern, das mit dem Töten einhergeht. Die Tragödie, dass töten muss, wer leben will, wird nicht nur in der Stierkampfarena breit ausgemalt und mythologisch-kosmisch überhöht (der schwarze Stier gegen den Mann im traje de luz, sombra gegen sol): sie wird auch auf den Platten, in den Tapas-Tresen, in der Art, wie man die Speisen anrichtet, ausgetragen. 

Wir schmausen lang und ausgiebig, dann ist eigentlich Zeit für eine Siesta. Aber wo sie abhalten? Und wie überhaupt die Zeit herumbringen, bis die Stadt wieder aus ihrem Nachmittagsschlummer erwacht? Wir beschließen, die Stadtrundfahrt von neuem aufzunehmen; diesmal nicht schaulustig, sondern den Bus als wagon-lit benutzend. Wir dämmern durch die Stadt; aber werden wach, als wir am Torre des los Perdigones vorüberkommen. Ganz oben in diesem hohen Quader (eher ein steil aufragender Barren) soll es eine der seltengewordenen camerae obscurae geben. Ein hinkender kleiner Mann führt uns zum Aufzug, gibt uns Zeit für einen ausgiebigen Rundblick über die Stadt, bis er uns vom Umgang nach drinnen bittet. Noch schimmert die weiße Fläche in der Mitte des Raums verschwommen; der Führer navigiert an einem Seilzug eine Linsenhalterung, und aus der dunstigen Helligkeit schält sich in unerhörter Klarheit das Panorama heraus, das wir eben noch mit unbewaffnetem Auge gesehen haben. Ich hatte nicht geahnt, welch scharfe Bilder diese so alte Konstruktion auf die Projektionsfläche werfen kann. Der Mann schwenkt mit sicherer Hand seinen Seilzug und präsentiert, jede in einem dankenswert langsamen Spanisch erläuternd, die Sehenswürdigkeiten Sevillas, wobei er nicht versäumt, immer wieder irgendein Detail heranzuholen, das in seiner Schärfe frappiert: wir sehen die Wasserspeier der Giralda, die Spritzer, wenn ein Kind von der großen Rutsche der Isla magica herunteraust und ins Becken eintaucht. Wir können die Autonummern der Wagen entziffern, die über die Kilometer entfernte Brücke fahren, erkennen die Farbe der Mütze, in der ein Bettler vor dem Corte Ingles Almosen empfängt (es sind nicht viel), verfolgen, wie ein nackter Mann auf einer der zahllosen Dachterrassen der Stadt sich erhebt und auf dem Sprungbrett am Rand seines Swimmingpools auf und ab wippt: er wähnt sich sicherlich unbeobachtet; allein die Diskretion unseres Führers verhindert, dass ich die sonnenbadende Frau auf einer Liege ausgiebiger mustern kann. Ob der spanische Vorläufer von Lesages Hinkendem Teufel wohl an die Camera obscura gedacht hatte, als er seinen diablo, selbst ungesehen, alles sehen ließ, was in den Häusern vor sich ging? 
Der Führer ist ein freundlicher und gebildeter Mann; warum er sein Brot wohl mit dieser sicher schlecht bezahlten Tätigkeit verdienen muss? Aber er macht ganz den Eindruck, als sei ihm Geld weniger wichtig als das Vergnügen, über die Stadt und ihre verschwiegenen Winkel nach Belieben verfügen zu können. Dass er hinkt, passt ins Bild: motorisch behindert, lässt er die Linse wandern. Sicher kennt er auch die Aleph-Erzählung von Borges; er ist belesen, nachdenklich, sehr sympathisch. Als sich herausstellt, dass wir uns auf Französisch unterhalten können, taut er vollends auf. Wir sprechen über Deutschland, das er schätzt, besonders die Kühle, das Grau des Himmels, den Saft der Wiesen und Wälder. In Spanien litte man monatelang unter der Hitze und dem erbarmungslos heiteren Himmel. Ich kontere, in Deutschland litte man unter dem Trüben, dem Regen, dem Grau. Von November bis April gäbe es draußen kein Leben, man sei im Inneren der Häuser eingeschlossen. Er kontert, in Andalusien sei es von Mai bis Oktober draußen unerträglich, kein vernünftiger Mensch verbrächte seine Zeit außer Haus. Wer sich in den Straßen bewege, sei schnell nass bis auf die Haut, aber nicht vom Regen, gegen den man sich immerhin schützen könne, sondern von klebrigem Schweiß, dem man nicht entginge, wie viel die Frauen auch fächelten und wie sehr die Männer auch versuchten, sich mit eiskaltem Bier abzukühlen. Arbeiten könne ohnehin niemand. Das liege an der Hitze, aber auch an der Absurdität, dass Spanien an der mitteleuropäischen Zeit festhalte, die Franco während des Zweiten Weltkriegs eingeführt habe, um sich den Nazis anzubiedern. Jetzt beginne der Tag zu früh und ende zu spät. Dazu die unselig lange Mittagspause, die den Tag zusätzlich verlängere und die freie Zeit in die Nachtstunden verlagere: kaum ein Kind käme vor Mitternacht ins Bett, die Erwachsenen natürlich noch später. Die Spanier schliefen eine Stunde weniger als andere Europäer, weil die Nacht die einzige Zeit sei, in der es sich halbwegs angenehm atmen lasse. Er hielt in seinem Sermon inne, lächelte. Ob es da nicht besser sei, fragte ich, wenn die Spanier gleich tagsüber schliefen und nachts arbeiteten? Sein Lächeln wurde breiter Selbstverständlich, sagte er; das wäre eine Lösung für die Misere dieses Landes. Die Idee eines solch taglichtscheuen Vampirlebens gefiel ihm. Er war wahrhaft ein Bewohner der camera obscura, ein  Gesicht, porös aus Schatten und Helligkeit gekehlt. Er hatte Sinn für Spiegelungen und Umkehrungen, und die Dunkelheit sagte ihm zu. Das Licht, das von der Projektionsfläche aufstieg, fraß grelle Löcher in seine Wangen. Wahrscheinlich wohnte er hier oben im Turm, und nachts hing er kopfüber von einem Balken, die Hautflügel vor der Brust zusammengefaltet. Ich hätte gern den Abend mit ihm verbracht, aber scheute mich, ihn einzuladen. Heute bedauere ich meine Scheu; es wäre ein anregender Abend geworden. Wir nehmen herzlich Abschied und versagen uns grade noch die fällige Umarmung. 

Von ihm haben wir auch erfahren, dass die vielen Orangenbäume, die Sevillas Straßen säumen, Bitterorangen sind: sie sind, wenn nicht als Konfitüre eingemacht, ungenießbar. So können wir wenigstens einer Gruppe von Franzosen, die diese Früchte pflücken, Aufklärung verschaffen, und Aufklärung ist den Franzosen seit Rousseau und Diderot ja ohnehin das Liebste. Einer frisst trotzdem das bittere Zeug; offenbar ein Anhänger de Sades, der noch ganz andere Dinge verzehrt hat. 

Wir bummeln durch die verwaisten Gassen. Da ist eine deutsche Bäckerei namens Das Brot, pan aleman, ökologisch und handgemacht, und es ist seltsam, etwas Deutsches einmal als exotisches Einsprengsel in der Fremde zu sehen. Spanische Restaurants und Lebensmittelläden in Deutschland ist man gewohnt; dass es auch andersrum gehen könnte, wundert mich; dann wundere ich mich, dass es mich wundert.

Wir landen wieder an der Alameda von Herkules, einem Etwas, von dem man nicht weiß, ob man es Platz oder Allee nennen soll, an dessen schmaler Stirnseite auf zwei Säulen die verwitterten Statuen von Herkules und Julius Cäsar stehen; der eine soll die Stadt gegründet haben, der andere hat sie zur römischen Kolonie erhoben. Die langgestreckte Fläche macht den Eindruck, als hätte sie in der Antike als Austragungsort für Wagenrennen gedient, später vielleicht für Stierhatzen, Prozessionen, faschistische Aufmärsche. An diesem Feiertagsnachmittag spielen vor allem Kinder zwischen den Fontänen, die aus dem Pflasterstein spritzen. Die Eltern sitzen plaudernd an den Cafétischen und kümmern sich erfreulich wenig um die Rangeleien ihrer Blagen, die Männer - es sei nicht verschwiegen - schlichtweg gar nicht; Kinder sind Frauensache, selbst an diesem durch und durch urbanen und modernen Ort. Es gibt, soweit ich das beobachten kann, auch kein jeweiliges Aushandeln der Frage, wer nun zuständig für das Aufkleben des Pflasters oder das Anziehen trockener Kleidung ist. Der Vater holt sein Handy heraus und wischt auf dem Bildschirm herum, während es selbstverständlich die Mutter ist, die das Kindergesicht trockenreibt. Die Geschlechterrollen sind einerseits sehr traditionell und festgeschrieben; andererseits scheint Spanien ein Paradies für Schwule. Nirgendwo sonst in Europa habe ich so viele schwule Pärchen Hand in Hand gehen sehen. Die Befreiung des Mannes vom Stereotyp des Machismo macht zweifellos Fortschritte; es erhält sich darin jedoch ein egozentrisches und antifamiliales Moment. Die Emanzipation von der gängigen Geschlechterrolle besteht nicht in einer Neuverteilung der Aufgaben, sondern im Rückzug in Männergesellschaften. Das ist eher Sparta als gender mainstreaming. 

Wir kehren wieder im Duo Tapas ein und weiden bis nach Mitternacht den Rest der Speisekarte ab. Das Häppchenessen kommt uns sehr entgegen, sowohl der Vielfalt des Angebots als auch der freien Auswahl wegen. Wieder muss ich an die französische Küche denken, die in ein rigides und zeremonielles Korsett der Gänge geschnürt ist. Da waltet eine Teleologie, oder jedenfalls ein teleologieförmiges Narrativ, das vom säuerlich-frischen Beginn über die zentrale Herausforderung und Kraftprobe des Hauptgangs zur letzlich süßen Belohnung des Desserts führt. Man könnte fast den Eindruck haben, dass die französischen Menüs auf das Handlungsgerüst des höfischen Romans nach Art von Chrétien de Troyes zurückgehen: Auszug, Kampf und Belohnung. Derlei gibt es in Spanien natürlich auch, aber die pikareske Tradition der Hungerleiderhelden ist eben stärker; ich habe es bereits erwähnt. Die spanischen Restaurants legen ihr Augen- und Gaumenmerk weniger aufs Epische als auf den Drei-Minuten-Gassenhauer. Not und Knappheit bestimmen das Essen nicht mehr, aber das Happenhafte hat sich hier dennoch erhalten und zu innerer Komplexität weiterentwickelt; ebensoviel Ideen und Elemente, aber auf kleinerem Raum: Beatles statt Bruckner. Tupfer von Paprikacreme, die genauso effektvoll sind wie die süffigen Piperaden des französischen Südwestens. Hier zieht man die Idee der Masse vor. Der Pikaro hat gegessen, um satt zu werden, ist es aber nicht geworden. Jetzt isst man Häppchen, um nicht zu schnell satt zu werden, und jammert so inniglich wie der ewig hungrig bleibende Schelm, wenn man es dann doch geworden ist, dass man nicht mehr weiternaschen kann. 
Diesmal sparen wir uns bei der Heimfahrt gleich die schwierige Suche nach einem Bus und nehmen ein Taxi. Der Chauffeur ist ein Meister seines Fachs; er gleitet in bewundernswerter Geschmeidigkeit durch den Verkehr, nutzt jede Lücke in den Nebenspuren, um zügiger voranzukommen, ohne irgendjemandem zu nahe zu treten oder zu behindern; ein Fahrer, der es nicht nötig hat zu bremsen, weil es ihm genügt, im gegebenen Moment Gas wegzunehmen und, statt seine Bewegung zu hemmen, sie nur zu verlangsamen; es ist ein Vergnügen, im Fond zu sitzen und dieser Demonstration müheloser Eleganz beizuwohnen. Der spanische Fußball hat einige Jahre lang eine vergleichbare antizipatorische Virtuosität und Gespür für Freiräume und Bewegungsvektoren gepflegt; es ist fast schade, dass die Fahrt so schnell zu Ende geht.

Am Rand des kleinen Wäldchens, hinter dem unser Stellplatz liegt, haben sich Scharen von jungen Leuten zu einem botellón versammelt, einem jener Massenbesäufnisse auf öffentlichen Plätzen, die Usus geworden sind, seit man über Facebook schnell ein paar Tausend Teilnehmer mobilisieren kann, die mit botellónes - dicken Buddeln - anrücken und diese zu Scherben, Urin und Erbrochenem metabolisieren. Den Rekord dieser Gelage scheint Sevilla zu halten: vor zehn Jahren waren hier 70 000 Menschen zusammengekommen. Seither versucht man wohl, diese Sitte oder Unsitte in Griff zu bekommen; selbst dem trink- und feierfreudigen Spanien bleiben zuviel Glassplitter und Kotzelachen zurück. Immerhin ist bemerkenswert bei diesen Feiern, wie überhaupt bei den hiesigen Picheleien, dass sie selten in Gewalt umschlagen. Wir haben in unseren Wochen hier viele Betrunkene gesehen, oft in Männergruppen. In Deutschland heißt es in solchen Fällen, vorsichtig zu sein: da brütet meist eine Aggressivität und eine dumpfe Wut, die nur nach einem Anlass zum Ausbruch sucht. In Spanien hingegen scheint es keine Verknüpfung von Alkohol und Gewalt zu geben; es fehlt das Brauchtum der zünftigen Bierzeltrauferei, generell die Reizbarkeit. Betrunkene Deutsche suchen oft nach einem Gegner, an dem sie - was für ein treffender Ausdruck - ihr Mütchen kühlen können. Betrunkene Spanier ziehen das Weiterfeiern jeder Schlägerei vor, die manch bayrischen Bierdimpfl erst den Zacken des Fasses ins Gesicht haut. Dem Fass den Zacken ausschlägt? Der Krone den Boden? Ganz egal: Hauptsache drauf. Hier aber gehen nur Flaschen zu Bruch, keine Kiefer. Das Taxi rollt über glitzernden Asphalt. Von unserem Platz aus sehen wir jenseits des Flusses das Riesenrad, beleuchtet, still. 

5. Juni. Sevilla - Rota.

Früh am Alcazar. Die Anlage wirkt von außen klobig und grobschlächtig, zumal gegen die daneben gelegene Kathedrale gehalten, deren Kuppeln, krabbengeschmückte Bögen und Fialen große Finesse ausstrahlen. Der Alcazar scheint dagegen bloß die Bastion eines Kriegers: wehrhaft, massiv, eine Panzerung aus Stein. Dass man hier seit je das Kriegerische gewohnt ist, zeigt sich, als wir beim Eintritt auf Waffen durchleuchtet werden. Mein Taschenmesser, das man mir noch nicht mal im Petersdom abgenommen hat, wird in Verwahrsam genommen. Dabei wüßte ich gar nicht, was ich aus herostratischem Kunsthass oder als Terrorakt hier mit einem Messer aufschlitzen sollte. Die Pracht des Alcazars ist nicht auf Leinwand gemalt oder in Teppiche eingewoben; Steinmetze und Mosaikleger haben den Ruhm Pedros des Grausamen in haltbarerem Material verkündet; an diesem Stein würde sich mein Messer nur Scharten holen. 
Es ist für den unkundigen Besucher der meisten Herrschaftsresidenzen schwer zu sagen, welche Funktion die Räume einmal hatten; das Mobiliar ist verschwunden, das Volk, das die Säle vielleicht einmal belebt hat, die Lakaien, die auf Befehle warteten, die Höflinge und Bittsteller, die hohen Gäste, die Würdenträger und Diplomaten: all das ist versunken und vergangen. Es bleibt nur diese tote Hülle, der fossile Abdruck eines Lebens, das ich mir kaum ausmalen kann. Jetzt ist er ein Korallenriff von Ornamenten, und mir bleibt nichts, als anhand der Versteinerungen über das Lebensgefühl zu spekulieren, das hier vielleicht einmal zuhause war. 
Zuerst fällt natürlich der reiche Ornamentschmuck um das Portal ins Auge. Die Fassade ist von einem filigranen Liniengewirk überzogen, in dem Regelmäßigkeit und Abwechslung eine bewegliche Balance gefunden haben. Da ist ein unablässiges Gewimmel von Linien und Bahnen und Kurven, aber es führt nirgendwohin; jede Linie mündet wieder in sich selbst zurück und flicht sich gefügig der immer selben Verknotung und Verknüpfung von neuem ein. Das alles strahlt eine ungeheure Rationalität und Sorgfalt in der Behandlung des mathematischen Aufgabe der Flächenfüllung und ornamentalen Parkettierung aus. Aber es bricht nirgendwo aus. Es ertüftelt Raster und ersinnt verschlungene Gitter, Strukturen der Einschließung. Es ist, bei aller Regsamkeit im Detail, im Ganzen ein Monument der Erstarrung. Pedro war ein christlicher Herrscher, aber das merkt man seinem Bauwerk nicht an. Nichts Eschatologisches ist daran zu spüren, nicht die zehrende Erwartung des Messias, der das Entkommen in eine ganz andere Welt verheißt. Das ornamentale Gestrick an diesen Wänden weist nicht auf etwas Anderes: es feiert das Immergleiche. Es ist Zyklus, nicht Ascensus. So wundervoll die Ornamente und ihre kunstvollen Verschlingungen wirken: es sind Figuren der Strangulation und der Stagnation. Schleier und Gitter. Als der Palast in der Mitte des 14. Jahrhunderts erbaut wurde, errichtete man in Frankreich, in England, in Deutschland gotische Kathedralen. Die bestimmende architektonische Geste war die des Aufschwungs und des Emporstrebens; es ging nicht nur um ein neuplatonisches Durchströmtwerden lichten Raums, wie es Abt Suger in Saint-Denis propagierte: die Dynamik war darüber hinaus vertikal, raumgreifend, voller Überbietung. Nichts davon findet sich im Alcazar. Er ist ein Monument des Behagens und des Müßiggangs. Die Ornamente erinnern an die Kritzeleien, die man an den Rand des Notizblocks malt, wenn man sich bei einem Telefonat langweilt. Die gotischen Kathedralen sind Zeugnisse einer Leidenschaft für das Zeitliche, was ich erst jetzt, ex negativo, begreife. Sie formen den Verlauf einer Reise, sie sind zielgerichtete Bewegung. Man tritt durchs Portal und beginnt eine Pilgerschaft zum Altar hin; auf den Weg begleiten überall Geschichten den Gläubigen, Hagiographien, Exempla, Bilderzählungen. Die Stationen des Kreuzwegs markieren Etappen; Chorumgang und Krypta wollen durchmessen werden. Da waltet eine Dramaturgie, die oft unklar ist und flexibel, aber immer der Idee eines Wegs assoziiert. Irgendetwas flüstert immer: weiter, weiter: geh.  
Natürlich ist der Alcazar kein sakraler Raum; es handelt sich um den Palast eines weltlichen Herrschers. Aber auch die Kathedrale daneben, welche die Überbauung einer Moschee ist, hat Teil an diesem anti-eschatologischen, anti-historischen Impuls. Als die christlichen Könige auf den Grundmauern der Moschee die Kathedrale errichten ließen, orientierten sie sich am kontinentalen Stil der Gotik. Aber die äußere Hülle täuscht. Was sie nicht übernahmen, ist der vektorielle Charakter  der nördlichen Vorbilder, ihr Gerichtetsein auf etwas hin. Gewiss: die Kathedrale ist hoch, ihre Ausmaße sind gewaltig, die Zier innen wie außen ist von überbordendem Reichtum. Doch kaum hat man die Kirche betreten - gleich, durch welches Portal, durchs Haupttor oder durch den Touristeneingang auf der Südostseite - findet man sich in einer verbauten Riesenhalle. Die Weite, die das Gebäude von außen verspricht, wird im Innern verschachtelt und zerstückt. Es ist wie in Burgos, wie in Salamanca. Man wollte einen Dom bauen, der der Größe, der Macht und der Majestät Gottes gemäß sei. Doch dann schrak man vor der Offenheit und Weite des Raums zurück, der sich da auftat, und hauste sich ein. Anderswo flankieren Seitenkapellen die Schiffe; hier werden Chöre gleich in die Mitte der Kirche gesetzt und von Mauern eingefasst. In gewisser Hinsicht ist das nicht unüblich: das Heilige wird auch nördlich der Pyrenäen besonders bewehrt und umschlossen; dass ein solcher Bezirk aber mitten ins Hauptschiff gepflanzt wird, ist eine Abweichung, die ins Auge fällt und erklärungsbedürftig ist. 
Aber schon der Ausdruck Mitte führt in die Irre. Er legt nahe, dass hier das Zentrum des Kultes wäre. Dem ist nicht so; es handelt sich nur um einen einzeln exklusiven Bereich, nicht um den Hauptaltar. Es ist der Chor der Kleriker, der die Mitte der Kathedrale gekapert und okkupiert hat. In der Romanik hätte man dies sicherlich noch bequem rechtfertigen können; Gottesdienste und Gebete waren in jener Zeit noch ständischer organisiert als im 15. Jahrhundert; der Klerus hat für das Volk, nicht mit ihm gebetet. Seit Franz von Assisi, Meister Eckhart und den Beginen, seit Occam und Cusanus war das Laienvolk nicht mehr bloß das Mündel religiöser Praxis, sondern zunehmend eigenständiges Subjekt, vollends dann in der Reformation. Der so zentral eingesetzte Retrochor der spanischen Kathedrale dementiert diese Entwicklung; er nimmt dem Volk den Raum und installiert sich als düsterer Gegenblock in der Kirche; man ist fast geneigt, ihn als Bekundung der Inquisition aufzufassen, die in Spanien blutiger als irgendwo sonst gewirkt hat. Es besteht freilich kein funktionaler Zusammenhang zwischen der spanischen Inquisition, die auf heuchlerische Konvertiten und dem Koran nur scheinbar abschwörende Morisken Jagd machte, und den Retrochören, aber doch ein atmosphärischer. Man spürt eine bestimmte Haltung zur Welt, eine prägnante Mentalität. Die Kirche, die der Weite Gottes geweiht sein sollte, nimmt Züge einer Kerkerarchitektur an, und selbst die posaunenhaft geblähten Pfeifen der prächtigen Orgel ragen in den Raum wie Knasthoflautsprecher. Trotz der imponierenden Größe des Raums fühle ich mich beengt und eingezwängt; zudem widert mich der ausgestellte Reichtum des Retabels ebenso an wie die Kelche, Hostienbecher und liturgischen Gewänder, die in den Nebenräumen ausgestellt sind. Ab und zu haben solche Schätze etwas gewinnend Naives und Feierndes. Hier und heute sind für mich sie nur obszönes Schatzkammergerümpel, das ad maiorem gloriam dei aus den Goldzähnen verbrannter conversos zu Messkelchen und Kaselspangen getrieben wurde. 

Aber vielleicht treibt mich nur eine misanthropische Anwandlung zu solch unverhältnismäßigen Spekulationen; die schnatternden Besuchergruppen fallen mir auf die Nerven, das allgegenwärtige Flimmern der Handybildschirme, die Wurschtigkeit, mit der die Leute Bilder abgreifen, ohne sich die Sachen selbst anzusehen, die stumpfe Respektlosigkeit, mit der sich Leute, den Apparat im Anschlag, direkt vor einem aufpflanzen, um ein Foto zu schießen. Die Respektlosigkeit verdrießt mich: es ist unverschämt und zudringlich mir gegenüber, und es ist eine Unverschämtheit und Zudringlichkeit der Kathedrale gegenüber, in die soviel Mühe, Sorgfalt und Geist eingegangen sind, und die man sich jetzt mit der Ignoranz von Landsknechten, die in Rom die Kirchen plündern, als Bilderbeute in die Tasche stopft. Zugleich fällt mir mein eigener Dünkel auf die Nerven, der glaubt, um so viel schonender und behutsamer mit dem Bauwerk umzugehen, feinsinnig und verständnisvoll, sich aber in Wahrheit genauso verfügend beträgt. Ich benehme mich vielleicht nicht wie ein barbarischer Landsknecht, der nur Trophäen sammelt. Aber bin ich nicht ein Aushorcher und Verhörer, ein hinterlistiger Inquisitor, der seine Objekte auf die Streckbank legt, um ihnen ein Geständnis abzupressen und das Bekenntnis historischer Schuld und Schande zu entlocken? Und der den Dingen damit nur Motive, Strategien, Taten unterschiebt, die sich auch in ihrem dunkelsten historischen Unterbewusstsein niemals geregt haben? 

Darum, zum Ausgleich, eine zweite Hypothese, warum das Innere von Santa Maria de la Sede und generell die spanischen Dome so obstipiert, so verstopft und verbaut sind: die spanische Landschaft ist vor allem eine Erfahrung der Weite. Mehr als in anderen Ländern Europas wird man hier einer scheinbar endlosen Homogenität des Reliefs ausgesetzt. Auch die Landschaft ist meistens, wie die ornamentbedeckten Wände des Alcazar, von repetitiver Flächigkeit, sie ist arm an Kontrasten und dramaturgisch ergiebigen Wendungen. Wer von Madrid nach Sevilla muss, lernt die Weite in all ihrer quälenden Eintönigkeit kennen. Weite kann hier gar nicht Offenheit, Aufatmen, freies Land bedeuten, sondern immer nur Schinderei. Hitze, grelles Licht, Dürre. Reisende sind immer der (wie Karl May sagen würde) unbarmherzig sengenden Sonne ausgesetzt. Wie sollten sie sich nicht nach Schatten und Kühle sehnen? Die Stadtpaläste haben eine Technik zur Abwehr der Hitze entwickelt, eine mehrfache, lamellengleiche Ummantelung. Man muss schon die Mauern, hinter denen man lebt, vor der direkten Sonne schützen; darum baut, wer es sich leisten kann, eine zweite Mauer um das Haus. Diese Einschachtelung - die Idee des Patios - läuft natürlich der Intention der Gotik zuwider, das Licht so ungehindert wie möglich durch den Baukörper strömen zu lassen und alle Wände, die nicht als Tragwerk nötig sind, niederzureißen. Die Gotik wollte verschlanken, erhöhen, entkörpern: aufräumen für das freie Spiel des Lichts. In Spanien hat man die Dome wieder mit dunklem Gerümpel vollgestellt. Man hätte dort gleich bei der Romanik bleiben sollen: die massiven Mauern und schmalen Lichtscharten, die ganze trutzige Gebärde dieses Stils passte besser zu den klimatischen Erfordernissen des Landes. In den grauen Ländern des Nordens ist das Licht, das Abt Suger so beredt pries, willkommen: ein freundliches und mildes Medium, den Augen wohlgesonnen und leicht wie Luft. In Spanien wiegt das Licht schwerer; es lastet und drückt; es reibt und presst. Es ist kein unkörperlicher Glanz, sondern schwerer Beschuss. Die Sonne verströmt sich nicht in heiter singender Helligkeit: sie lädt solare Korpuskel über dem Land ab, die vollgesogen sind mit Schweiß und Hitze. Dieses Licht britzelt stachlig auf der Haut wie Glutfunken, die man aus Feuerstein schlägt. Der Mann in der Turmkanzel der camera obscura hatte schon recht: die spanische Sonne ist das Revers des nördlichen Regens. Das Licht kommt hier oft genug so scharf herunter wie bei uns der Hagel, nur salziger und so scharfkantig wie Kristallsplitter: ein Photonengeprassel, das die Netzhaut schmirgelt und zerschleißt. 

Wir essen zu Mittag in einer Kneipe hinter der berühmten Maestranza-Arena. An den Wänden stehen mannshoch Getränkekisten, die Tische sind wacklig, und im Klo haben zittrige und wenig zielsichere Greise Pfützen hinterlassen, die sorgfältige Sandalennavigation erfordern. Aber die frischen Garnelen, die man hier brät, sind vorzüglich, und auch die Brühe im Napf mit den Caracoles ist von aromatischer Tiefe, die an Intensität jener in den Toiletten nicht nachsteht, nur besser abgeschmeckt ist. Die Kneipe wird von einem jungen Mann geführt, dessen Hauptbeschäftigung darin besteht, seine Großeltern an der Mitarbeit zu hindern. Er eilt vom Zapfhahn nach hinten, um seinem Großvater den Cruzcampo-Träger aus den Händen zu nehmen, oder seiner gebrechlichen Großmutter, die sich anschickt, den Boden zu wienern, wieder aufzuhelfen und der Halsstarrigen den nassen Lumpen zu entwinden. Mit Mühe zwingt er sie an den hintersten Tisch im Raum, wo an der Wand gerahmte Photographien von anderthalb Jahrhunderten Wirtsdynastie hängen, und man merkt ihm an, dass es ihm lieber wäre, wenn seine Großeltern auch nur noch als Fotos da wären. 

Nur aus Neugierde betreten wir einen Laden für Stierkampffolklore; aber als ich Ponchos dort liegen sehe, packt mich eine irrationale Begierde; wahrscheinlich hat sie entfernt etwas mit Clint Eastwood in Spiel mir das Lied vom Tod zu tun, und wie großartig und idiotisch er damit aussah, aber auch mit der Hoffnung auf einfache Temperaturregulierung durch ein solches Kleidungsstück. Pullover hat man an oder nicht. Kutten, Ponchos, Überwürfe, sind durch einfaches Beiseiteschlagen, Zurückwerfen, Aufklaffenlassen graduell temperierbar. Aber das ist nur Ausrede und Vorwand. In Wahrheit gefällt mir vor allem die Primitivität dieser Dinge; sie verzichten auf Nähte, Zusammenstückeln von Einzelteilen, Anmessung ans Individuum. Es sind die abstraktesten Kleidungsstücke überhaupt, die schlichteste und allgemeinste Form der Einhüllung und Bedeckung des Körpers; einfacher ist nur noch die blanke Decke: das weiße Leintuch, auf das die wichtigsten Etappen unserer Existenz geschrieben werden. Auf diese Leinwand kritzeln Menschen Zeugung und Fieber, Schlaf und Geburt, Blut und Scheiße, Sperma und Träume: Sema und Tod. 

Sevilla hat uns erschöpft. Wir sind ausgelaugt und des Stellplatzes - der unwirtlich ist und allzu weitab - überdrüssig. Des Flanierens müde geworden, sehnen wir uns nach kürzeren Wegen. 
Jerez verheißt von ferne ebendie kleinstädtische Gelassenheit, die wir suchen. Aber die Stadt des Sherry ist reizloser als wir uns das hatten vorstellen können, umgürtet von gesichtslosen Bauten, öd und fad dort, wo sie ihr Zentrum ausweist. Männer krakeelen an den Terrrassentischen; Stammtischdumpfheit,die sich mit Fernsehlärm mischt. In der Barvitrine werden angeschrumpelte Bocadillos feilgeboten, Tapas an Spießen mit  welken Basilikumblättchen auf Halbmast. Vielleicht gibt es irgendwo in der Stadt charmante Winkel, aber nichts verlockt uns, sie zu suchen. Wir begnügen uns mit einem fino in einem Straßencafé; daneben hat ein Korbflechter seine Werkstatt. Hier gibt es die schweren Bastmatten, mit denen man die Fenster gegen die Sonne bewehrt; sie hängen draußen, unten meist auf dem Gitter der Balkonbrüstung aufgelegt, damit sie nur Schatten spenden, aber immer noch Luft zwischen sich und dem Fenster zirkulieren lassen. Ein X aus Bastbändern versteift die Matten; ich glaube nicht, dass es dabei auf die stabilisierende Funktion ankommt; die Matten sind solid genug, um ein Leben lang zu halten; wichtiger scheint mir das dicke X, das der Hitze mitteilen will, dass hier kein Durchkommen ist. 

Der Laden bietet Taschen, Körbe, Untersetzer, Stühle mit gedrechselten Beinen und geflochtenen Sitzen an, aber auch cinturones de semana santa, Gürtel für die Karwoche. Ein solcher Büßergürtel hängt neben Kartoffelkörben und Bastpoufs aus: drei Hände breiter, rauher Bast, den sich die penitentes auf die bloße Haut schnallen. Wie lange hält die Haut das aus, bevor sie aufgescheuert ist und zu bluten beginnt? Und wie lange halten wir es in diesem Kaff mit großem Namen und schäbiger Wirklichkeit aus? Genau einen Fino und einen hastigen Toilettenbesuch lang, dann fahren wir weiter an die Küste, nach El Puerte an der Mündung des Guadalete. Der Name des Flusses soll auf den Hadesfluss Lethe zurückgehen (Guada ist arabisch für Fluss); schon die Griechen sollen sich hier mit den Phöniziern geschlagen haben. Wer von den Wassern der Lethe trank - und das waren fast alle, die in den Hades eingingen - vergaß sein früheres Leben. Könnte es einen schöneren Namen für den Fluß geben, der durch einen Ferienort strömt? Wer hier Urlaub macht, will keine Geschichte, keine lastende Vergangenheit; der will nur Sonne, Meer und Sand, etwas Elementares (abgesehen von Sonnencreme, Strandmuscheln, Kühltaschen, schnelltrocknenden Bermudas, Eis am Stiel und Bier, was alles nicht sonderlich elementar ist. sondern ziemlich avanciertes Industriewesen erfordert). Der Ort hat etwas Gespenstisches. Abgesehen von der Uniformität der Straßen, einer elenden Abfolge von Appartmenthäusern und Bungalows, ist es vor allem die Ausschilderung, die albtraumhafte Züge trägt. Vertraut man den Wegweisern, gerät man schnell in  Wiederholungsschleifen und in die routinehaften und ausweglosen encores, die einem so oft die letzten Stunden des Nachtschlafs vergällen. Die Schilder verheißen den Weg ins Zentrum und führen doch nur immer wieder die Peripherie entlang oder lassen einen wieder und wieder ins Leere laufen wie einen Stier, der von den capas der Toreros gefoppt wird. Das Zentrum entzieht sich uns ebenso wie der Campingplatz, dessen Existenz von Straßenatlas, Reiseführer, manchen Schildern sowie dem eigentlich allwissenden Google zwar behauptet wird, der aber für uns gleichwohl absconditus bleibt: Straßen enden vor Brachflächen, in Sackgassen, sie münden in Feldwege, vor Absperrungen, in Privatbesitz, und selbst das Navigationsgerät scheint in der Lethe  abgesoffen und zeigt nur ein weißes Nichts. Schließlich nehmen wir aufs Geratewohl einen Kiespfad, der ein bisschen bebaut aussieht. Die Hütten hat man offenbar als Provisorien begonnen, dann aber doch Stück für Stück dauerhafte Behausungen daraus zusammengeschustert. Die Schäbigkeit ist nicht dem Mangel an Geld geschuldet - die Autos, die davor parken, belegen den Wohlstand der Bewohner - sondern eher der Sorge, die Behörden könnten doch eines Tages diese schwarz hingebauten Datschen abreißen. Da richtet man sich dann doch lieber im billigen Vorbehalt ein, damit die Planierraupe nichts Wertvolles abräumt.
Dann, plötzlich und ohne jede Ankündigung, als handle es sich um ein geheimes Lager, der Campingplatz. Die Stellplätze sind von dunklen und feinmaschigen Kunststoffgittern überspannt, was vermutlich nur dem Schutze vor der Sonne dient, aber ich komme nicht umhin, an Tarnnetze eher militärischen Zuschnitts, Guerillanester, Terrorcamps zu denken. Meine Intuition geht in der Tat nicht ganz fehl; hier machen Familien Urlaub. Wie sollte man das sonst nennen, wenn nicht Terror?
Die meisten Wohnwagen stehen offenbar das ganze Jahr über hier. Neben uns eine Familie, die wir nicht zu Gesicht bekommen, zuhörend aber allmählich kennenlernen: ein mürrischer Großvater, brummelnd und knurrig, der nur ein wenig fidel wird, wenn er mit seinen Enkeln zu schaffen hat. Das Feld beherrschen aber die Frauen: drei Schwestern und die Mutter, jede auf ihre Weise streng und abkanzelnd dem Patriarchen und den Kindern gegenüber. Als gegen Mitternacht nur noch die Weiber zusammensitzen, verschwindet der hierarchische Ton aus den Stimmen, aber nicht die Spannung. Ich verstehe nichts, habe keine Ahnung, wovon sie sprechen. Ich bin ganz auf Intonation und Puls verwiesen, habe aber das Gefühl, dass das aussagekräftiger ist als alle Inhalte. Erst ist da viel schwesterliche Rivalität im Spiel, Kränkung auch und Zorn und Eifersucht; auch die Mutter kann sehr schnippisch werden. Wahrscheinlich wäre ich, wenn ich die Sprache verstünde, an der Oberfläche ihrer Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten hängengeblieben und hätte das bisweilen heftige Stakkato von Geschimpfe als die Hauptsache genommen. Aber in dem Ton liegt bei aller Spannung trotzdem soviel Gemeinsamkeit und unverbrüchliche Nähe, dass es mich - da ist es schon zwei vorüber - nicht wundert, dass der Abend in Eintracht und unter viel Gekicher endet. Vermutlich plantschen sie im warmen See familiärer Erinnerungen und Anekdoten. Hier scheint nichts vergessen: von wegen Lethe! 
Es ist übrigens das einzige Mal auf dieser Reise, dass wir mit bloßen Füßen am feucht überspülten Meeresstrand dahinwandern. Gleich hinter dem Campingplatz liegt der Atlantik.

6. Juni. Rota - Barbate.

Wir wollten den Tag dort verbringen, am Strand lesen, ruhen, baden. Doch das Wetter, sonst über so viele Wochen wolkenlos und heiß, ist ausgerechnet heute nicht danach. Am Morgen nieselt es, und eine ungemütliche Brise bläst. Also fahren wir weiter. Die Freundin, die uns schon die wunderbare Tapasbar in Sevilla empfohlen hat, hat uns auch Conil de la Frontera ans Herz gelegt. Das ist ein lebhafter Touristenort voller Bars und Geschäfte, Restaurants und Eisdielen. Es sind viele Wochenendausflügler hier, und die meisten davon wollen, wie man so sagt, einen draufmachen. Auffällig sind vor allem die Gruppen, die Jungesellen- oder -gesellinnenabschied feiern; ein Brauch, der in den letzen zehn oder fünfzehn Jahren nach Europa eingewandert ist, auch wenn solche rites de passage natürlich universeller Natur sind, und sie auch in dieser modernen Fassung auf uralte Elemente zurückgreifen. Zum Beispiel sehen wir - hier, in Granada, Cordoba, Madrid - die künftigen Ehemänner häufig im Weiberfummel, in Netzstrümpfen und high heels, die Augen und die Lippen grell geschminkt; die Verkleidung (oder wie man in diesem Fall wohl sagen könnte: die Verpuppung) gehört ebenso dazu wie der Exzess, also Alkohol, Farbigkeit, Lärm, offensives Ansprechen Unbeteiligter. Vor dem Akt, der die institutionelle Versesshaftigung des Individuums besiegelt, wird noch einmal der Gegensatz inszeniert; der Mann erprobt sich als Frau, die bald zu erwartende familiale Intimität muss durch einen grellen Exorzismus von Kommunikationspromiskuität erworben werden. Im Junggesellenabschied wird noch einmal der große Verband zelebriert, man präsentiert sich enthemmt der Allgemeinheit und nimmt ein Bad in der Menge. Bald genug steht man nur noch in trauter Zweisamkeit vor dem Waschbecken und putzt sich brav die Zähne. 
Damit einher geht natürlich eine Lizenz zum Obszönen und Anzüglichen. In Madrid werden wir in der U-Bahn einem Trupp von Frauen begegnen, die fröhlich farbige Silikon-Dildos wichsen, und die Leute im Waggon amüsieren sich darüber, einschließlich meiner. Ich stelle mir vor, wie es wohl wäre, wenn eine Frau ohne Begleitung mit einem solchen wippenden Gummischwanz in der Bahn herumhantierte. Wahrscheinlich würde man die Polizei holen und die Irre abführen lassen. Den bachelorettes lässt man derlei selbstverständlich durchgehen.
Längst hat sich die Industrie solcher Bräuche angenommen, die ja ein Seitentrieb des Karnevalsgeschäfts sind: Teufelshörnchen für die Mädels, mit Sprüchen bedruckte T-Shirts, Schnorchelgerätschaften zum Einsaugen von Alkohol, grotesk riesige Spaßbrillen und lustig gemeinte, knallbunte Hüte. Das alles ist schreiend vulgär und billig, wahnsinnig geschmacklos, aber genau darum geht es ja: dem zivilisierten Rahmen, der sich bald um die Kandidaten schließen wird, noch einmal für ein Wochenende zu entwischen. Das Treiben mag ein ordinärer Exzess sein, und man kann allzu leicht den Eindruck haben, als würden da nur ein paar junge Leute auf pöbelhafte Weise Spaß haben wollen. Gewiss, das ist alles Plastik; Perücken aus Polyester, Einmal-T-Shirts mit aufgepressten Slogans, Wegwerf-Accessoires für vier neunzig. Aber strukturell unterscheidet sich das alles kaum von den Riten und Gebräuchen, mit denen Initianden am Amazonas und am Kongo, in Sibirien, Athen und Polynesien jahrtausendelang in die Gesellschaft eingeführt wurden. Die Grammatik scheint immer dieselbe: Umkehrung, Spiegelung, definitio ex negativo. Wie sollte ich nicht vor dieser anthropologischen Konstante Respekt und, ja, auch ein wenig Ehrfurcht empfinden?

Zu Mittag verlassen wir trotzdem das Städtchen. Dagmar träumt von einem Restaurant an der Küste, in dessen Küche die Fische im Kescher zappeln und die Garnelen noch ihre Antennen regen. Hungrig, und darum eigentlich mit jedem Mist zufrieden, maule ich die ganze Fahrt über ihren naiven Glauben, dass es so etwas noch gäbe, aber dann gibt es genau das: einen weißgestrichenen Pfahlbau über der Mole, der aussieht wie ein zufällig an Land gespültes Fischerboot, hier gestrandet und vollgeschwemmt mit fangfrischem Fisch. Ein kühler Hauch maritimer Mondanität ist über die Wände hingegangen. Hier verkehren eher Sportbootbesitzer als Fischer, doch der Fisch scheint trotzdem frisch angelandet, die zamburiñas - die kleineren Schwestern der Jakobsmuschel - sind hocharomatisch, und so sanft gebraten, wie es sich gehört, die Dorade danach macht den Eindruck, als hätte man den Fisch neben dem Grill liegen lassen, vergessen und dann doch zur rechten Zeit und glasig an der Gräte serviert. Wir sitzen draußen gleich an der Brüstung des Balkons; als die Vorspeise kommt, wird die dicke Klarsichtplane hochgezogen, die gegen die atlantische Brise schützen soll; der Wind hat jetzt nachgelassen, was den Damen am Nachbartisch angenehm sein wird, die sehr auf ihre Frisuren bedacht sind. Während wir essen, schweigen die Böen; erst danach wird der Wind wieder unwirsch. Nach dieser wunderbaren Mahlzeit fahren wir an die Klippen und halten dort Siesta, während von Westen Wolken und Wogen sich grau dem Land entgegenwerfen. 

Ein paar Kilometer südlich liegt der feingemörserte Strand von Trafalgar. Heute scheint die Gegend vor allem ein Hippie-Reservat, über das Admiral Nelson und Napoleon wahrscheinlich einträchtig die Nase rümpfen würden. Mich erheitert vor allem, dass es hier fast noch regulierter als sonst zugeht. Der Parkraum ist knapp und muss darum über Gebühren gesteuert werden. Der Weg von den Parkplätzen zu den Stränden ist gesäumt mit Buden, in denen indianisch anmutender Türkisschmuck, Drahtspinnen zur Kopfhautmassage und getöpferte Bongs feilgeboten werden: es ist eine Drosselgasse für das Hippie-Milieu, die nicht viel anders aufgebaut ist als an den klassischen Seniorenausflugszielen im Rheingau, am Tegernsee oder in der Lüneburger Heide: die Homogenität des Publikums, Bewirtschaftung der Zugänge, folkloristische Drapierung der Ansässigen bleibt sich gleich. Dass die Ansässigen hier Batikhemden und spirituell förderliche Armreifen tragen statt Dirndlschürzen und Charivaris macht da keinen großen Unterschied.

Obwohl - einen Unterschied gibt es vielleicht doch: in Oberammergau oder an der Mosel empfangen die Einheimischen die Gäste als Andere, sie erwarten keine Assimilation. Gäste kommen, Gäste gehen. Das sorgt für eine gewisse Gleichgültigkeit, die eine nahe Verwandte von Toleranz ist. Hier hingegen wabert etwas Exklusives über den Sandwegen, etwas sektiererisch Ausschließendes, das sich merkwürdig anfühlt. Es ist eine seltsame Umstülpung. Ich komme mir hier vor wie sich ein Schwarzer in Oberammergau vorkommen könnte: als unzugehörig beäugt und verworfen; als jemand, der nicht konform ist. Ich bin ein biederer Mann um die fünfzig, beleibt, untrainiert, blass; die langen Hosen und die langen Hemdsärmel weisen mich als sonnenscheu aus; es fehlt mir nur noch das Schmetterlingsnetz und die Botanisiertrommel, um als versponnener Sonderling inmitten dieses Strand- und Surfervolks vollends zum Gespött zu werden. Dieser Eindruck ist natürlich reine Einbildung; ich glaube nicht, dass überhaupt irgendjemand Notiz von mir nimmt. Aber Habitus und Kleiderordnung hier sind so einheitlich, dass ich den Eindruck einer verschworenen Gemeinschaft nicht abschütteln kann, und ich gehöre nicht dazu. 

Die Frage, ob man dazugehört, stellt sich auf Reisen üblicherweise nicht, denn als Tourist gehört man selbstredend nicht dazu, was aber nichts ausmacht. Man ist Zaungast; schaut, was geschieht. Hier aber ist der Zaun nicht dafür da, darauf zu sitzen und gemütlich Ausschau zu halten; er ist ein Trennungsinstrument;  er scheidet die, die dazugehören, von denen, die das nicht tun.

Das Sonnen-, Surfer- und Slacker-Paradies ist ein Ghetto, oder vielmehr, da es den Insassen nicht von außen aufgezwungen wurde, eine gated community: eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Es ist eine Ironie der Geschichte: das Hippietum, einst mit der Forderung nach Liberalität und nach der Duldung abweichender Lebensformen aufgetreten, erscheint hier als Uniformitätsapparat. Ein Spießertum aus Dreadlocks und Piercings, das abschätzig jeden beäugt, der aus dem ästhetischen Raster fällt. Aus dem Schmodder der Vergangenheit taucht plötzlich die Erinnerung auf, wie wir als Vierzehnjährige, Sechzehnjährige Jeansmarken als klassifikatorische Merkmale verwendet haben: Wrangler, Rifle, Levis. Nach dieser pubertären Distinktionswut fühlt sich das auch hier an. Es ist ein bisschen schaurig.

Wir übernachten an einem Wanderparkplatz mit Blick auf die Bucht von Barbate. Zuhause sind wir, wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, vor solchen Plätzen gewarnt worden; wenn ich Autoaufbrecher wäre, wäre das auf jeden Fall eine feste Station auf meiner nächtlichen Route. In der Tat glitzert alle paar Meter Glassplitterstreu auf dem Boden. Hier sind schon reichlich Fenster eingeschlagen worden. Aber ich bin fest überzeugt, dass man sich hier nur an alleingelassenen Autos vergreift. Wir sind sicher.

7. Juni. Barbate - Vejer.

Beim Frühstück. Ein Auto kommt an, ein Paar steigt aus und begibt sich auf den Wanderweg. Bis auf Wanderschuhe und Sonnenhütchen sind die beiden splitternackt. Mich würde natürlich am meisten interessieren, welche Schuhmarke Nacktwanderer vorziehen. Die Frau hatte eine Tätowierung oberhalb der Hüften, aber ich konnte nicht erkennen, ob dieser blaue Pigmentschweif Nike oder Puma gewidmet war. Grüble aus diesem Anlass darüber nach, ob Tätowierte eigentlich an Nacktbadestränden zugelassen sind, oder auch umgekehrt, ob sie ohne Badehose Strände besuchen dürfen, die Nackte ausschließen? Die  Begegnung stellt mich schon zu dieser frühen Stunde vor schwierige Fragen: wie nackt ist ein Tätowierter? Kann ein Tätowierter überhaupt nackt sein? Ist Tätowierung nicht so etwa wie der Versuch, in jedem Moment wenigstens ein bisschen angezogen zu sein?

Nach dem Frühstück machen wir einen Spaziergang auf den Spuren der Nackten. Da ist der Ozean, die nadligen Kiefern, das dichte Pelzgrün der Hügel und das daunige Gewuschel niedriger Sträucher. Da sind feist gewundene Stämme, die sich mit dicker und krokodilschuppiger Borke in den Sand krallen, schließlich der Rest einer Bunkeranlage, der in die Erde gerammt ist und wie ein mykenischer Helm aus schmalen Sichtscharten grimmig und misstrauisch südwärts schaut, Richtung Afrika.
Die Uferlinie (wir wandern nicht weit genug, als dass ich das bestätigen könnte) wird mit solchen Monumenten der Abwehr bestückt sein, und ich denke an die Reste des Atlantikwalls an Frankreichs Küsten: sie sind kein Jahrhundert alt, und doch merkt man ihnen schon an, wie sie in die Natur zurücksinken und als steinerne Grate und Knorpel von den geduldig mahlenden Gezeiten verschlungen werden. Alljährlich stürzen dort meterdick armierte Geschützstände von den abbröckelnden Dünen und rollen in der unendlichen Verlangsamung der Erdgeschichte dem Meer entgegen. 

Nach Vejer: Das Städtchen liegt zehn Kilometer landeinwärts, aber das Meer hat es gezeichnet. Mit seinen weiß getünchten, maurisch wirkenden Häuserkuben, die der Hügelflanke aufsitzen, ähnelt es der Gischt einer Schaumkrone, wie sie von den Meereswellen mitgeführt wird. Seit gestern fegt Wind über Costa de luz und Kap Trafalgar. Aus dem Nichts stieben Sandwirbel auf und tanzen wie die Gespenster von Derwischen über den Boden - gebauschte Hosen, fliegende Gewänder, und ein Turban, dessen Scheitel sich dem Zenit entgegenschraubt. Ein paar Sekunden später sind die Sufis fortgehuscht, wuscheln durch Pinienkronen oder toben eine Hügelflanke hinab. 

Es ist Flohmarkt in der Stadt. Die weißen Gassen sind mit bunten Auslagen gefleckt, viel Selbstgehäkeltes darunter, grobe Töpfererzeugnisse; Kinder, die aus dem Alter gekommen sind, wollen Spielzeug loswerden. Die Männer, die Bücher oder Comics verkaufen, sind offenbar Aristoteliker und haben die Idee des gerechten Preises, nicht das flexible Spiel von Angebot und Nachfrage im Sinn. Der Misserfolg einer solchen Verkaufsstrategie gräbt unzufriedene, grämliche Striemen in die Gesichter, jedenfalls, als wir ankommen.  Als wir drei Stunden später die Gassen wieder hinabwandern, haben die Beiden kaum etwas verkauft und sehen trotzdem sehr viel heiterer aus, was entfernt damit zu tun haben könnte, dass sie mittlerweile schon bei der dritten Flasche Wein sind. 

Von den drei Stunden haben wir eine mit der Erkundung des Orts verbracht (die Kirche, die man in ökumenischer Beflissenheit aller gotischen  Himmelsstürmerei entkleidet und zum gekalkten Kubus plattiert hat), und zwei vor einer Kneipe, wo wir erst eine caña nehmen, und dann, nach dem Rundgang, knusprig frittierte chipirones.  Am Nachbartisch tränken ein paar junge Frauen ihre Tostadas tassenweise mit Olivenöl, dann wird frisches Tomatenfrito darübergehäuft. Die Kirche am Platz, deren Fassade stark verwittert und von Salzausblühungen und Flechten überzogen ist, läutet ausgiebig zu Mittag. An dem Giebelreiter über dem Portal verblüfft ein Davidstern: er ist zwar von drübergeschmiertem Putz halb verdeckt, aber das hat man offenbar nicht getan, um das jüdische Symbol auszulöschen, sonst hätte man's gleich richtig gemacht. Es ist verwunderlich; das Zeichen ist kein beliebiges Ornament (jedermann identifiziert es unverzüglich als jüdisch) und es prangt an einer so prominenten Stelle der Fassade, dass es ins Auge springen muss. Dabei ist es zu alt, als dass es als Emblem der Versöhnung gemeint sein könnte. Von den katholischen Königen der Reconquista bis zu Franco kann man Spanien kaum als Hort religiöser Toleranz bezeichnen. Die Sache bleibt rätselhaft, zumal in einem Ort, der für seine Frömmigkeit und Sittenstrenge berühmt ist. Noch bis in die späten dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten sich die Frauen hier so zu verschleiern wie in den rigidesten Gegenden Arabiens; sie lugten nur mit einem Auge durch einen schmalen Sehschlitz aus ihrem christlichen Hijab heraus: eine Skulptur, die als basaltschwarzes Monument auf einem Aussichtsbalkon errichtet ist, erinnert daran. 

Die Züchtigkeit, zu der damals die Frauen angehalten waren, hat sich verloren; auf dem Campingplatz unterhalb der Stadt, wo wir einkehren, laufen die Frauen in erfreulicher Ungeniertheit herum, erfreulich nicht, weil erotisch, sondern weil unerotisch. Es geht hier sehr familiär zu. Papa grillt, während er Bier trinkt und sich die Wampe krault, und Mama trottet bis aufs Minimum entblößt von den Spülbecken zurück zum Wohnzelt, ohne dass irgendwer Skandal schriee. Der Stachel des Begehrens wird gezogen, indem der weibliche Körpers enzaubert und normalisiert wird, nicht, indem man durch Verbergen irgendein Mysterium zu bewahren sucht. Ob das auch der tiefere Grund für den Davidstern an der Kirche in Vejer ist? War das Offensive daran durch Zurschaustellung einzugemeinden, das provokante Emblem zu entschärfen, indem man es zuließ?

Die Familien, die hier das Wochenende verbracht haben, packen allmählich ihren Krempel zusammen, schließen die Zelte, decken Planen über Möbel und Grills. Bevor die Sonne untergeht, herrscht Ruhe auf dem Platz. Nur ein paar alte Leute, die hier nicht nur an den Wochenenden, sondern den ganzen Sommer über leben, bleiben übrig. Ach, ja: und wir.

8. Juni. Vejer - Ubrique.

Der Weg nach Tarifa geht durch unermessliche Windplantagen. Auf den Hügelkämmen stehen die Windräder dicht an dicht. Ihre kreisenden Flügelschwärme verleihen der Landschaft etwas emsig Schwirrendes. Überall ist Bewegung und Betriebsamkeit, aufgeregtes Winken und Blinken. Ich muss an die Bilder des Ölbooms vor anderthalb Jahrhunderten denken, an all die Fördertürme, deren lange, stetig auf und ab wippende Ausleger großen Vögeln ähnelten, die mit dem Schnabel in der Erde nach Futter pickten. Die Windräder haben andere Techniken, Energie zu fangen; sie müssen nicht dumpf schuftend die Zunge immer wieder in die Ölpfützen tunken. Sie haschen nach Luft, sie tanzen, fahren Karussell, lassen sich treiben. Es gibt vielleicht kein besseres Bild für erneuerbare Energie als diese wirbelnden Räder und ihren ewigen Kreislauf. Sie signalisieren Mühelosigkeit und Verschwendung, Passivität und Aktivität fallen in ihnen zusammen, Erleiden und Bewirken sind ihnen eins. Es ist Arbeit und Feier zugleich, und ich will nicht leugnen, dass mir diese Koinzidenz gefällt - übrigens ebenso wie die Windparks selbst. Sentimentale Naturliebhaber mögen von Verschandelung der Landschaft sprechen. Aber in Wahrheit verwandeln die Windräder die öde Steppe in einen Raum von sehr eigener Prägung und einem gewissen ästhetischen Reiz. Wie die Stauseen, die in so unwirklichem Türkis in den Tälern leuchten, sind auch die Windparks nicht schön im Sinn von Lieblichkeit und Anmut; auch die ästhetische Kategorie der Erhabenheit trifft die Sache nicht ganz, obwohl ein Moment von menschlicher Naturbewältigung darin anklingt. Doch dies hier ist anders: man wird von dieser Landschaft nicht überwältigt; die klassische Idee des Erhabenen gründet immer auf der Gefährdung der kreatürlichen Existenz, die den verschlingenden Weiten des Ozeans, den gewaltigen Abgründen der Berge, den vernichtenden Weiten der Wüste ausgesetzt ist. Hier hingegen wird die Kreatur nur von der kargen Armseligkeit der Vegetation bedroht, von Öde und Langweiligkeit. Die Antwort darauf besteht in einer Verregelmäßigung: in Geometrie, Iteration, Wiederholung. Auch das ist eine menschliche Geste, die das Ungemessene bändigt und ihm eine Form auferlegt, und ich bin - ohne jede Ironie - beeindruckt. 

Tarifa: der südlichste Punkt des Kontinents. Keine fünfzehn Kilometer trennen Europa hier von Afrika. Als die Eiszeit das Mittelmeer trockengelegt hatte, war es nicht mehr als ein Tagesmarsch durch die Senke, die einst die beiden Erdteile getrennt hatte und bald wieder trennen würde. Die Menschen aus der afrikanischen Savanne nutzten den Übergang, um im Norden nach besseren Bedingungen zu suchen; der Drang danach hat nicht aufgehört; die Stürme auf die Zäune von Ceuta und Melilla bezeugen es. 

Die Nähe der Kontinente erzeugt starken Winddruck; die Region ist surfer's paradise. Um die alte Stadt liegen mehrere Ringe von Appartmenthäusern und Hotels; die Straßen sind breit und windig; wahrscheinlich bremst im Sommer der Trubel die Böen, die heute hier entlangfegen. Unten am Fährhafen, im alten Zentrum erwarten wir eben diesen Surfertrubel, chillige Lounge-Cafés mit Café del Mar-Berieselung, Boutiquen mit Batiken, und scharenweise junge Leute, die mit Energydrinks und Shishas herumblubbern. Aber das Städtchen ist unaufgeregt und gelassen, man werkelt hier und da an den Fassaden eines Häuschens herum, tüncht, bessert aus, wie man das in Ferienorten eben so tut, bevor die Saison beginnt. Wir nehmen einen Kaffee. Neben uns labt sich ein Rentnerpärchen an riesigen Sangriakelchen (so erfüllen sich all meine Vorurteile in Umkehrung: aus jung wird alt, aus der Guarana wird Sangria, aus der gurgelnden Shisha ein Strohhalm). Dagmar will ihren üblichen caffe con leche - mucha mucha leche, pocito caffe - und der Kellner (ein piratenhaft tätowierter und verpiercter Bursche, hinter dessen Abenteureraufmachung ein überraschend friedfertiges und liebes Lächeln hervorkommt) sagt etwas wie manzado, was sie wolle, sei ein manzado, und als er den Kaffee bringt und er perfekt ist, erklärt er noch mal, manzado und zupft an seinem Hemdchen herum, das sei auch manzado. Ich gebe alle Synonyme von Hemdchen, Leibchen, T-Shirt, die mir einfallen, in mein Wörterbuch ein, alle Verschriftungsmöglichkeiten seines Nuschelns - ist ja auch schwierig, deutlich zu artikulieren, wenn an Lippen und Zunge überall Metall klimpert -, mansado, manzarro, manzalo, aber nichts bringt ein brauchbares Ergebnis, bis wir es schließlich, beim Bezahlen, auf dem Bon finden: manchado. Das rätselhafte Wort meinte nicht T-Shirt, sondern fleckig, beschmutzt, gescheckt. Schnell hatte ich Manu Chaos Namen darin entdeckt (das mestizenhaft Gescheckte), etwas länger dauerte es, bis ich in dem manchado das italienische macchiato begriff; so einfach kann Sprache sein. 

Da ist ein Laden, der uns seiner bunten Foutas wegen anzieht. Die Verkäuferin darin, attraktiver als die meisten Spanierinnen, die wir bislang gesehen haben, spricht ein hervorragendes Englisch; kein Wunder, sie kommt aus Bristol. Zwei Jahre hat sie mit ihrem boyfriend dort gelebt, bis er das englische Grau und den Niesel nicht mehr ausgehalten hat. Jetzt ist sie in Tarifa. Wie lange wir hier schon hier seien? Ein Tag? That's ok. Tarifa's good for one day. Later on, you know... Sie sehnt sich nach einer Großstadt. 

Wir besichtigen brav das Fort Guzmans des Guten. Von den Zinnen aus kann man gut den Fährhafen sehen, der darunter liegt: von hohen Zäunen eingefasst Flutlichtmasten: eher ein Gelände zur Kasernierung oder ein kahles Vorwerk als ein Brückenkopf zwischen den Welten. Wir wandern eigens die Straße hinunter, um ein Foto des anthrazitgrauen Atlasgebirges jenseits der Meerenge machen, von Scheinwerfermasten und Zaunpfählen demanchado. Aber welch schäbige Beschönigung! In das Bild des Übergangs, in diese Spannung von Europa und Afrika gehören die Insignien der schwer bewachten Grenze.

Von Tarifa aus fahren wir vorüber an Gibraltar, bevor wir uns nordwärts in die Berge wenden: da ist der Naturpark Los Alcornocales mit seinen riesigen Korkeichenwäldern, den Aussichtspunkten, den vom Wind gezurrten Bäumen und den nimmerendenen, gewundenen Wegen. Ich erinnere mich an fast nichts mehr bis auf den allgemeinen Eindruck, dass wir die Schönheit der Region verschenken, indem wir sie mit dem Wagen durchmessen. Es gibt Gegenden, die sich für diese Art des Reisens eignen; dann tun sich große Prospekte auf, man ergötzt sich an der brüsken Veränderung der Landschaft, oder an ihrer allmählichen Verwandlung; man genießt den Wechsel zwischen Berg und Tal, Enge und Weite, Licht und Dunkel, oder erfährt die Majestät flächiger Eintönigkeit. All das kann ein starker Reiz sein; diese Strecke ist nur ermüdend. Aber ich verstehe schließlich, dass es falsch wäre, das der Gegend anzukreiden. Es ist nur das Auto, das ihren Zauber (der dennoch als Verheißung über ihr liegt) zu erschließen verhindert. Das Auto erlegt dem Park einen Rhythmus auf, der ihm nicht steht. Hier wäre gut wandern. Man müsste ins Filigran eintauchen, sich dem Detail widmen, in das raschelnde und duftende Gestrüpp eindringen. Die Auflösung, die das Auto vorgibt, passt hier nicht; Auto und Umgebung haben inkongruente Maßstäbe; es ist, als würden wir auf der Rückseite einer Stickerei entlanggeführt, an Knoten und losen Enden; man kann von diesem verso aus nur erahnen, welche Schönheiten das recto birgt. 

Ubrique, am frühen Abend: die Stadt war einmal berühmt für ihre Lederwaren; geblieben ist davon nur ein tantenhafter Provinzschick in der Fußgängerzone, die in einem tödlichen Feng-Shui das Zentrum durchfurcht. Diese zona peatonal ist zwar der Treffpunkt der Einwohner, der soziale Mittelpunkt des Ortes, aber die lange Schneise vermittelt eine beständige Unrast. Die Eisdielen und Bars haben draußen zwar Tische aufgestellt, und es sitzen auch Leute daran, doch mich verlässt dabei keinen Augenblick das Gefühl, im Weg zu sein und irgendeinen Fluss von Kräften zu blockieren, der partout durch diese Straßenrinne strömen will. Man hat in einem Straßencafé nicht oft den Eindruck, in einem Behördenflur darauf zu warten, dass seine Nummer aufgerufen wird und man weiter muss, um etwas zu erledigen, aber genau so fühlt es sich hier an. Offenbar sind wir nicht die einzigen, denen es so ergeht, denn in und um Ubrique herrscht ein Bewegungsdrang, der selbst für Spanien ungewöhnlich ist. Alllgemein begegnet man im Land mehr Joggern als irgendwo sonst, in den Städten, in der Einöde der Gebirge, wo das nächste Dorf fünfzehn Kilometer entfernt ist, an Küstenstraßen, in den Dehesas; überall laufen die Leute, aber hier, um Ubrique herum, hat diese Lauferei epidemische Ausmaße angenommen. Wir schlagen unser Lager an einer großzügigen area recreativa außerhalb der Stadt auf (Grills, Bänke, überall Kippen, eine weitläufige, von Wegen durchzogene Parklandschaft), und es traben unablässig sportliche Menschen vorüber; selbst nach Einbruch der Dunkelheit hüpfen flackernde Lichtpünktchen durch die Finsternis: Jogger, die sich mit Stirnlampen durch das Bergwerk der Nacht schlagen und aus diesen nokturnen Flözen Brocken von Fitness nach Hause schleppen. Ich verstehe es sogar ein bisschen: wenn ich aus Ubrique käme, würde ich auch versuchen, wegzulaufen.

Zum ersten Mal fällt mir auf, dass trotz der großen Ähnlichkeit von Fauna und Flora zu Südfrankreich hier kaum Zikaden zu hören sind; als eine Grille auf meinem Buch landet und einen grotesken Schatten über Horcynus Orca wirft, weiß ich, dass es auch hier diese schrillenden Wesen gibt; aber man achtet nicht auf ihr Zirpen, weil es von den Hunden übertönt wird, die sich bis nach Mitternacht die Kehlen heiserbellen.

9. Juni. Ubrique - El Burgo.

Die Alcornocales verbargen den plumpen Linsen der Windschutzscheibe ihre Reize. Auf der Strecke von Ubrique nach Zahara de la Sierra adaptieren sich Blick und Landschaft. Wir sehen wieder scharf: weites Bergland, eine Palette von gelb zu braun und grün, mit magentafarbenen Einsprengseln aus Oleander und Zistrosen. Wir verfolgen lang den Flug der Geier und Greife über den Klippen von Grazalema, geblendet von der gleißenden Sonne. Eine Schlange vertrocknet auf dem Serpentinenweg zur Aussichtsplattform, wie ein Emblem die Windungen des Pfades vorwegnehmend, auf dem sie den Tod gefunden hat. Dann leuchtet der Stausee im Tal, geschmolzener Türkis in der Siedepfanne. Drei Halbinselfinger langen als Miniaturpeleponnes in die blaugrüne Pfütze; Kreta ist versunken; das dürre Libyien ist eine Viertelstunde Rudern entfernt.

In Zahara war am Wochenende Fiesta. Den Montag hat man sich wohl zur Erholung gegönnt; jetzt, am Dienstag, hilft das ganze Dorf zusammen, die Spuren des Festes zu beseitigen. Vor allem das Zusammenfegen der Streu aus Olivenlaub und Heu und Eukalyptus, die Plätze und Gassen bedeckt, macht Arbeit. Zuerst denke ich, dass man für eine Stierhatz gestreut hat, doch man hat die Fronleichnamsprozession begangen. Das eine, scheint mir, ist so gut wie das andere: man führt sein Opfertier durchs Dorf.

Zu Mittag wollen wir in Ronda sein; wir passieren den Stausee unterhalb Zaharas, und das ergreifende Mahnmal, das uns fast an jedem dieser embalses begegnet: die dürre Krone eines ertrunkenen und von den Wassern überspülten Baums. Alles, was an ihm sprießendes Leben war, ist fort: Blätter, Rinde, Knospen. Es bleibt nur das harte Abstraktum des Kernholzes, das Gehörn, das das tote Lebewesen aus dem Wasserspiegel herausstreckt wie eine Fluchhand.

Ronda ist die heilige Stadt des Stierkampfs. Die Dynastie der Romeros, die der modernen Corrida ihr Gepräge gegeben haben, stammt von hier. Pedro Romero (Enkel von Francisco, Sohn von Juan) hat man vor der Arena einen Gedenkstein errichtet. Auch Rilke, der einen Winter hier zugebracht hat, ist diese Ehre zuteilgeworden. Selbst Fahrschulen sind heute nach dem Dichter benannt, und ich frage mich, ob deren Eleven heute Verse lernen müssen wie "Wer, wenn ich hupte, hörte mich denn aus der Engel Straßenverkehrsordnungen, und gesetzt selbst, es nähme mir einer plötzlich die Vorfahrt - ich vollbremste vor seinem stärkeren Dasein...". Auch der Parkplatz, an dem wir den Bus abstellen, trägt Rilkes Namen; wr hoffen, dass die Gitterstäbe des Zauns nicht nur den Willen von Rilkes Panther betäuben,sondern auch den von Automardern.
Die Stadt liegt grandios auf einer steilen Felsklippe; ein Abgrund von hundert Metern Tiefe trennt die beiden Teile, aus denen die Stadt besteht. Der Abgrund wäre wohl leicht aufzufüllen, wenn man sich entschlösse, einmal eine Wochenration Touristen hinunterzuwerfen. Ich mag die Stadt vom ersten Moment an nicht. Es ist mir zuviel Applomb darin, zuviel Spektakuläres; zudem berührt mich die Schlucht unangenehm. Ich kann die Felsen - fast lotrecht abfallend und mit einem Schorf von vertrocknetem Gras überzogen - nicht als gewaltiges Naturschauspiel sehen, sondern nur als eine schlecht verheilte Narbe, etwas Grobes, Schrundiges, das in die Stadt hineingehauen ist. Ob die Romeros wohl Tag für Tag von der Puente nuevo in diesen Riss geblickt haben, bevor sie ihrem Tagwerk als Schlächter nachgingen? Haben sich in ihren nächtlichen Träumen die abgeschliffenen, kolossalen Felsblöcke über dem Fluss in die Schultern und Schädel der Stiere verwandelt, denen sie das Schwert in den Nacken rammten? Ich muss zugeben: es gibt dort reizende Gärten, sonnenschirmüberspannt und palmenbeschattet, Konquistadorenhäuser mit atztekischen Karyatiden, das klassische Ebenmaß der Rathausloggien, vor denen dicht belaubte Orangenbäume Wache stehen. Aber all das hätte nicht genügt, die Stadt in wohlwollender Erinnerung zu behalten, wenn da nicht die Arena wäre: sicher die schönste, die ich in Spanien gesehen habe. Die Tribünen von filigraner Eleganz, der Stein der Säulen vom Alter abgetönt, und der maisgelbe Sand, der wie die nahrhafte Spiegelung der Sonne die Arena füllt: all das gibt ein äußerst harmonisches Gebilde ab; hier sorgen die überdachten Ränge noch zusätzlich für eine besondere Behaustheit; die Loggien erzeugen noch mehr Familiarität als es die der Sonne ausgesetzten Sitzreihen anderer Arenen tun, gleich, wie eng zusammengespresst man dort sitzt. Hier deckt ein gemeinsames Dach die Zuschauer, verbindet sie ideell zu einem oikos. Die corrida beansprucht nirgendwo klarer als hier ihre Funktion der kollektiven Identitätsstiftung. Über der Präsidententribüne stehen die Worte: Pro republica est dum ludere videmur (es scheint ein Spiel; doch wir tun es für die Republik). Das Gemeinschaftsstiftende der corrida scheint den Erbauern dieser Arena sehr bewusst gewesen zu sein. Der Stier ist ein Sündenbock: das Tier, das geopfert werden muss, um gesellschaftliche Einmütigkeit herzustellen. Um diesem Opferaltar findet sich das Volk zusammen. 

Das kleine Museum, das man in den Umgängen hinter der Arena errichtet hat, ist allerdings eine Enttäuschung. In den Vitrinen hängen Stierhäupter, hier eine grimmige und bärbeißige Trophäe, daneben das fast freundlich wirkende Haupt eines Tiers, das aber doch so viel Wut und Tapferkeit an den Tag gelegt haben muss, dass man es für würdig befand, hier aufbewahrt zu werden. Einige prachtvolle trajes de luz, gestickte Kappen, die Armierungsteile der picadores, Lanzen, beflitterte banderillas. Ein paar Goya-Repliken, historische Stiche, Stierkampfplakate aus der belle époque. In dem kleinen Laden, der sich an die Ausstellung anschließt, verkauft man allerlei Paraphernalien, den üblichen Tand aus bedruckten Seidentüchern, Fächern und Schlüsselanhängern mit pink-gelben capote-Miniaturen. Ich hatte freilich gehofft, dass es in dieser tienda auch ein paar Grundlagenwerke zu Geschichte und Deutung der corrida gäbe. Das Angebot ist schmal und besteht vor allem aus verschiedenen Ausgaben von Hemingways Tod am Nachmittag. Aber ich suche etwas, das über dessen Feier von Heldenmut und sportsmanship hinausgeht und mit etwas mehr Intelligenz und Kundigkeit in die archaischen Schichten dieser Tradition eindringt. Immerhin stoße ich auf die kleine Broschüre eines französischen Philosophen, der 50 Gründe, die Corrida zu verteidigen, zusammengestellt hat. Das ist ein Anfang.

Die Sierra östlich von Ronda ist von grandioser Unwirtlichkeit; anders als die meisten der bislang durchmessenen Sierras ist diese hier geradezu offensiv abweisend. Steingrate liegen wie Gerippe in der Hitze. Der Fels, zu scharfkantigen Lamellen gebrochen, wirkt wie ein Spaltprodukt: eher im Zerfall als im Aufbau begriffen. Mir ist klar, dass solche Begriffe in geologischer Perspektive deplaziert sind, aber ich spreche auch nicht als Geologe, sondern nur als dilettierender Physiognomiker. Als solcher würde ich unterscheiden zwischen Bergen, die einen gewissen Zelldruck aufweisen und anschwellen, sich aufwölben, Raum und Höhe gewinnen, Bergen, die strotzen und prangen und sich dem Himmel entgegenrecken - und den Landschaften, in denen es weniger Berge als vielmehr Trümmeranhäufungen gibt: Bruchwerk, an denen die klimatischen Gewalten sich schon länger zu schaffen gemacht haben, abgenagtes und ausgefressenes Felsenzeug, das von allem Fett und Bindegewebe befreit ist, ausgelutscht von brennenden Tagen und eisigen Nächten, ausgewaschen von den Winterregen und geschunden vom Solanowind. Man verstehe mich nicht falsch: die abgewrackte Anmutung dieser Sierra ist ästhetisch äußerst reizvoll. Sie ist nicht lieblich, hat aber Charakter. Wenn man ein Landschaftspendant zu Quevedos Buscon suchte, würde man hier fündig. Buscons Ausgezehrtheit, seine bis auf die Knochen heruntergebrachte Konstitution, ist hier vom Menschlichen ins Geologische transponiert. 

Dagmar hat auf der Karte einen Mirador entdeckt, erfahrungsgemäß eine gute Übernachtungsgelegenheit. Diesmal ist es das nicht; weniger, weil im Kies überall Scherben von eingeschlagenen Autofenstern funkeln, als weil der Parkplatz am Fuß des Aussichtspunkts im Wald liegt und keinen Blick ins Weite erlaubt. Dabei ist es doch grade der Blick ins Weite, weshalb man hierherkommt. Am Gipfel des Berges steht eine Skulptur von Vater und Sohn. Der Vater hat eine Hand auf der Schulter seines Sprößlings; mit der anderen Hand weist er weit übers Land. Die Geste ist großartig und verheißungsvoll; sie wird allerdings ein wenig davon beeinträchtigt, dass sie sich auf Hügel richtet, wie man sie sich öder kaum vorstellen kann. Der Vater zeigt, um seinen Sohn patriotisch zu begeistern, in die Zukunft. Aber diese Zukunft da - sie sieht arg nach Paläolithikum aus. 

Wir fahren weiter nach El Burgo. Ein Kaff, aber eins mit einer ferreteria. Eine Öse an meinem Messeretui ist kaputt, und Dagmar hat eine Idee, wie sie zu reparieren wäre. So stehen wir in dem Laden, zwischen Rattenfallen und Motorsensen und Männern mit Stahlkappenschuhen. Dagmar ist die einzige Frau, und die Kundschaft raunt, als sie dem unbeholfenen Mann hinter dem Tresen die Zangen aus der Hand nimmt und die Öse so aufbiegt, dass das Problem schnell gelöst ist. Ich weiß nicht, was mehr Raunen erzeugt: dass sie ein so patentes Weib ist, oder dass sie einmal mehr den Vorsprung von german täcknick unter Beweis gestellt hat.

Übernachtung außerhalb des Städtchens an einem kommunalen Grillplatz. Zehn Grills, und niemand da außer uns. Wir essen Käse und sehen den Hirten zu, die eine Schafherde über die abgeernteten Felder nebenan führen. Es sind vielleicht dreißig, vierzig Tiere, nach heutigen Maßstäben eine armselige Menge. Ein paar Ziegen sind auch dabei; sie bilden die Nachhut für das, was selbst die Schafe verschmäht haben. Den Hirtenhunden ist das alles zu dürftig. Sie langweilen sich und kundschaften lieber aus, was wir so für welche sind.

10. Juni. El Burgo - Granada.

Wir treffen dieser Tage immer wieder auf Dürftigkeit und Mühsal in bislang ungekanntem Maß, heute etwa auf einen Flicken Feld in Hanglage, an dem ein Bauer den Weizen mit der Sichel schneidet und zu kleinen Kegelgarben zusammenstellt. Das archaische Bild wirkt um so bizarrer als keinen halben Kilometer entfernt Schnellstraßenauffahrten hochfunktionale Infrastruktur demonstrieren und breite Stromtrassen von den nahen Stauseen sich über die Hügel schwingen. Die Gleichzeitigkeit dieser Dinge frappiert. Wenn in Frankreich oder Deutschland noch jemand so von Hand erntete, würde er Bilder davon zumindest bei facebook posten, um für seine Bio-Hazienda oder Erlebnisurlaub im 19. Jahrhundert zu werben. 

Wir wollen in die Berge von Torcal, aber der direkte Weg dorthin ist wegen Straßenarbeiten gesperrt. Ein radebrechender Nordafrikaner hält hier eigens Wacht, um dem Reisenden die Sperrung mitzuteilen, die anderswo lakonisch durch ein Umleitungsschild signalisiert werden wäre. Aber offenbar kommen Nordafrikaner hier billiger als Umleitungsschilder, die im weiteren auch fehlen. Da das Navi versagt, müssen wir uns auf gut Glück durchwursteln und irren durch die Lande, indem wir immer die Straße nehmen, die am wenigsten den Eindruck macht, sie könnte unversehens im Nichts enden. Wir nehmen einen weiten Umweg, der uns, weil reizvoll, nicht reut, ja, für den wir sogar dankbar sind, da er uns in solche Abseiten führt, in denen der Weizen von Hand geerntet wird und zutrauliche Esel am Gatter stehen, die sich (wie wir) über ein wenig Abwechslung freuen. Schließlich gelangen wir in die Ausläufer eines Städtchens; die Straße ist demoliert, überall Schlaglöcher und an den Rändern wegbrechende Asphaltschindeln. Die Häuser Baracken, vor denen sich Gerümpel anhäuft, an das man sich so sehr gewöhnt hat, dass es niemandem mehr einfiele, es wegzuräumen, weil es längst Teil der natürlichen Umgebung geworden ist. Keine Wegweiser; nur das diffuse Gefühl, in Privatgrund einzudringen. Aber ganz plötzlich, einmal abgebogen, kippt der ganze Eindruck, wie bei einer Stickerei, die von links auf rechts gedreht wird, und sich all die losen Enden und beziehungslosen Fadenschnippsel des Unterfutters mit einem Mal zur Schauseite fügen: wir kommen aus dem Staub von hinter der Bühne auf die Szene, und das Städtchen entpuppt sich unversehens als gradezu geschniegelt und aufgeputzt. Die Reisenden, die von der Hauptstraße her ankommen, werden von einer bunt bepflanzten Festwiese empfangen, die Häuser sind mit Wimpeln geschmückt, und die Fassade des Museums, in dem die Zeugnisse prähistorischer Besiedlung der Region gesammelt sind, ist nach dem Geschmack eines überregionalen und tendenziell urbanen Publikums schick zurechtgemacht. Der Asphalt hier vorn ist so glatt und von so gediegenem Anthrazitgrau wie ein Sonntagsanzug aus Flanell, und sogar die Straßenkehrer (die in der Schmuddelzone des Orts mehr zu tun hätten) winken uns mit ihren Besen zu wie mit Blumensträußen. Aufs Ganze gerechnet muss man aber sagen: mehr sombra als sol.

Später führt der Weg an einem Stausee entlang. Die Farbe dieser Speicher ist fast immer von einem intensiven Türkis, das grell von den sandfarbenen Ufern absticht. Ich habe meist das etwas missliche Gefühl einer Überbelichtung oder eines Farbfehlers. Die Farbe hat einen Stich, sie ist forciert wie ein nuttiger Lidschatten. Auch hier keine harmonische Farbanpassungen oder einen skalierten Übergang vom Festland zu Wasser, sondern scharfes Kontrastieren. Das hat der schroffen Fügung wegen seinen Reiz, aber man spürt dabei auch eine gewisse Brutalität, eine Wunde, die Menschenhand geschlagen hat. Die Seen erinnern an die Kokarden, die man dem Kampfstier in den Nacken pflanzt, bevor er in die Arena getrieben wird; sie ist ein türkisfarbener Bluterguss im Sand, eine blau schillernde Banderilla.

Nach einigen Irrwegen (das Navigationsgerät hilft genauso wenig wie die Karte) kommen wir zu Mittag in Torcal an. Die Wanderung zum Gipfel unternehmen wir en plein soleil, und sie ist zwei Stunden länger als erwartet: die Straße zum höhergelegenen Parkplatz wird gerade neu geteert, wir müssen von unten starten. Die Gesteinsformationen oben sind immerhin sehenswert: die Felsen liegen in flachen Scheiben aufeinander, in Tellerstapeln aus grauem Granit. Eine besondere Mineralienmischung und Druck hat den Fels zu solch geschichteten Blätterplatten ausgewaschen. Selbst bei den Kuppen, die auf den ersten Blick noch glatt und homogen wirken, machen sich bereits die ersten horizontalen Riefen bemerkbar, die über kurz oder lang aufspringen und den Stein zu solchen Lamellen auffächern werden. 

Unten im Dorf essen wir zu Mittag. Das Essen ist nicht sonderlich gut (ein etwas angetrockneter Teller Paella, ein Stück Huhn, das man postum auf der Warmhalteplatte entehrt hat), aber wir sind - zu hungrig, um zu schmecken - trotzdem glücklich. Wir waren ernsthaft in Sorge, nichts mehr zu bekommen. Doch anders als in Frankreich ist die Mittagszeit nicht reglementiert und auf zwölf bis zwei beschränkt. Hier wird die Gliederung des Tages laxer gehandhabt; dem entspricht die flachere Gliederung des Raums. Die mitteleuropäische Landwirtschaft ist relativ stark diversifiziert. Fruchtfolgen, kleinteilige Felder, vielfältig nutzbare Böden begünstigen die Abwechslung. Als wir von Torcal nach Granada aufbrechen, gibt es nichts mehr anderes als Olivenhaine. Es beginnt eine Zone überwältigender Eintönigkeit, und das nicht zum ersten Mal. In der Extremadura waren es die Dehesas, hier sind es die Olivenpflanzungen, die das Landschaftsbild vollkommen bestimmen. Über Kilometer und Kilometer murmelt die Landschaft immer das Gleiche; sie erzählt nicht: sie betet, repetitiv, sie wiederholt und wiederholt. Während der Stunden, in denen wir durch diese Landschaft rollen, ist genug Zeit, darüber zu meditieren.

Die Olivenbäume sind in genau bemessenen Abständen voneinander gepflanzt. Das geht nicht anders zu als auf Kartoffeläckern, Weizenfeldern, Weingärten. Aber das schiere  Ausmaß der Olivenpflanzungen ist wahrhaft schwindelerregend; doch wohl noch mehr als die Endlosigkeit ist es die Richtungslosigkeit, die mich beunruhigt. Äcker und Weinhänge sind in Zeilen organisiert - aus dem lateinischen Wort für das umfriedete Ackerland pagus ist die Schriftseite pagina geworden - und diese Struktur der Schrift flößt mir offenbar auch bei Äckern das vertraute Gefühl ein, es mit einer sinnvoll gereihten, diskursiven und vektoriellen Ordnung zu tun zu haben. Eben dieses vertraute Gefühl ist dem Auge hier entzogen: die Regelmäßigkeit wirkt nicht linear, sondern in ihrer Homogenität entropisch. Die Schrift ist Ornament geworden, ein zielloses, blankes Weiterwuchern. Für Landschaften wie diese hat Hegel die Formel von der schlechten Unendlichkeit gefunden: eine bloße Erstreckung ohne Entwicklung und telos - ein Ausfächern des Immergleichen. Ich spüre etwas, das dem Gefühl von Ziellosigkeit im Alcazar von Sevilla ähnelt; bald werde ich in der mezquita von Cordoba und in Granadas Alhambra andere Ausprägungen dieser Wahrnehmungsform oder Geisteshaltung kennenlernen. Es ist, als sei Geschichte schon an ihr Ende gekommen; als sei der Wille Gottes bereits erfüllt, und der Menschheit bliebe nur noch, immer mehr Schnörkel und Ranken in den Kranz einzuflechten, der das Haupt des Weltenherrn krönt.

Granada. Wir richten uns für die nächsten Tage an einem Campingplatz  in der suburb ein. Gleich über die Straße liegt ein großer Supermarkt mit einem gutem Sortiment an Meeresfrüchten; ins Zentrum braucht man eine halbe Stunde mit dem Bus.

Die Capilla Real, in der die katholischen Könige Ferdinand und Isabel begraben liegen. Im Jahr 1492 fiel ihnen zugleich Amerika und Granada als letzte muslimische Stadt der Reconquista zu. Ferdinand und Isabel, von der Idee religiöser Reinheit besessen, ließen Juden und Muslime taufen oder ausweisen, und machten aus der Inquisition, die bislang nur über die Reinheit der Lehre wachte, einen Verfolgungsapparat für Morisken und Marannen. Es ist ein seltsamer Zufall, dass dieser so entschiedene Zwang zur Homogenität im Innern mit einem bislang unerhörten Ausgreifen ins Fremde zusammentrifft. Es ist ein wenig, als sei da ein Immunsystem Amok gelaufen, und als hätte es, von der Fremdheit des neu entdeckten Kontinents infiziert, versucht, auch die Elemente der Andersheit auszuscheiden, die es so lange ohne Schmerzen in sich getragen hat. Wahrscheinlich ist es kaum mehr als eine symbolische Koinzidenz, aber aus historischer Ferne betrachtet erweckt das Spanien des Siglo d'oro doch den Eindruck einer gewissen Fiebrigkeit und Erhitzung. Da ist ein Organismus, der mit Stoffen konfrontiert ist, die er noch nicht kennt; er reagiert alarmiert, mit einer merklich erhöhten Ausschüttung von Abwehr- und Angriffsstoffen. Hispanien wird von Histaminen geflutet. Aus den Abbauprodukten dieser immunologischen Schlachten nährt sich die Literatur, auch wenn man ihr kaum noch ansieht, aus welchen Ausgangsstoffen sie das Gebräu ihrer Texte zusammengerührt hat. Ein Jahrhundert metabolischer Aktivität hat die großen geschichtlichen Brüche und tektonischen Verschiebungen zu einer obsessiven Mikrologie von Verdauungsstörungen umgeformt: Quevedo verfuhr in seinem Abenteuerlichen Buscon vielleicht am ungeniertesten mit diesem Thema, aber auch Gongaras Lyrik ist die geschwollene Aufblähung eines Bauchs anzusehen, der sich grummelnd und knurrend müht, die heterogensten Stoffe und wildesten Mischungen zu verwursten. Und Sancho Panza, der heilige Bauch? Er sehnt sich so danach, Statthalter einer Insel zu werden, aber sein Schicksal ist es, sich zur Rettung Dulcineas tausend Peitschenhiebe zu verabreichen: die Eroberung wird zur Selbstgeißelung.

Auch Spanien muss leiden für die Eroberung der großen Insul Amerika. Man taufte die Azteken mit Pocken und bekam zum Tausch die Syphillis. Tomaten und Paprika, Chili und Kartoffeln, Kürbisse und Tabak nahm man mit Freuden an: vor allem das Silber aus den südamerikanischen Minen war willkommen; der prächtige Metallschmuck spanischer Kirchen verdankt sich den Reichtümern aus dieser Zeit. Aber der Zustrom aus den Minen von Potosí erzeugte auch die große Silber-Inflation, welche die Wirtschaft Spaniens ruiniert hat. Ein Autor, der erkannte, dass das viele Geld die eigene Produktion lähmte und auszehrte, schrieb um 1600: "Spanien ist arm, weil es reich ist." Der Boom ist nichts als Schein. Calderon und Lope de Vega sprechen auf ihre Weise von diesem Gefühl, Cervantes ohnehin. Es ist alles ein Traum, Ausgeburt und Leihgabe überbordender Phantasie. Die Tartschen sind aus Pappe, der Helm ein Rasierbecken. Die Wirklichkeit aber besteht nicht aus Riesen oder taktmäßig stampfenden und klirrenden Heeren, sondern aus Windmühlen und Walkwerken. Der irrende Ritter verkennt vor allem das aufkommende Zeitalter der Manufakturarbeit. In Flandern, das bald spanische Besitzung werden wird, wird Tuch gewebt, werden Handelsflotten gebaut und in großem Maß Waffen geschmiedet. Man lebt von seinem Industriefleiß, nicht vom Import schimmernden Silbers, während in Spanien die Latifundien unrentabel werden und die Notabeln nur noch an den Quais von Cadiz stehen und die Ankunft der Galeonen erwarten, die neuen Stoff aus Bolivien heranschaffen, mit dem die Luxusgüter Flanderns bezahlt werden können. In der Sakristei der Capilla sind solche Luxusgüter zu sehen: die bewundernswerte Feinmalerei Rogier van der Weydens und Hans Memlings ist von einer Realitätssättigung, gegen welche selbst Botticelli und Perugino wie naiv überlebte Träumer wirken. Die flämische Schule ist nicht unbedingt anmutig; aber sie hat einen scharfen Sinn für die individuelle Wirklickeit, der den spanischen Retabeln der Zeit fehlt. Die silbernen Rahmen schönen zu sehr.

Die unweit gelegene Kathedrale ist mir auf den ersten Blick unsympathisch; auf den zweiten auch. Vielleicht ist es der viele weiße Stein, der hier verbaut ist und der mich unangenehm an eine Hochzeitstorte mit zu viel Baiser erinnert; vielleicht auch die merkwürdige Unreinheit des Stils. Obwohl ich sonst wenig Neigung zum Purismus habe, verdrießt mich hier die Mischung aus Renaissanceklarheit und überall an den Rändern hervorbrechendem Barock. Die Kapitelle wollen sich schon in Rüschenüberschwang und leerem Dekor verlieren, aber noch trauen sie sich nicht recht. Das hat etwas Verhuschtes und Beklommenes: wie eine alte Jungfer, die ihrer Sittenstrenge wegen geachtet wird, sich jedoch heimlich in das Ankleidezimmer ihrer leichtlebigen Nichte schleicht und dort deren Ballkleider, Broschen und Haarschleifen anprobiert, aber immer mit schlechtem Gewissen und in der Furcht, dabei ertappt zu werden. 

11. Juni. Granada.

Da hat die Basilika von San Juan de Dios, die wir am nächsten Morgen besuchen, schon ganz anderes Format. Hier ist Barock in rückhaltloser Enthemmung zu sehen, ein dick gebutterter Prunk voller Gold und Glanz und Spiegelwahnsinn, eine rasende Hingabe an den schimmernden Reichtum der Welt. Die Kirche - ein Schatzkästlein aus vielen Schatzkästlein, fraktal gestaffelt - ist in jedem Winkel und jeder Nische und jeder Fläche überkrustet von Ornamenten; es gibt allerdings gar keine Flächen, sondern immer nur Nischen und Einwölbungen und Ausstülpungen, Blasiges und Poriges, Gefälteltes und Gerüschtes... Krater und in Gold erstarrter Auswurf wechseln sich ab, und jeder Blick der Augen muss sich durch ein unwegsames Gelände voller Überraschungen - abrupte Abgründe, Wirbel, steile Gipfel - vorankämpfen. In die goldenen Krusten sind immer wieder Fenster und Trichter eingelassen, die in eine imaginäre Tiefe führen, manchmal in die Blindheit eines Spiegels, manchmal auf eine Figur, von der unklar ist, ob sie nur eine aus dem Zufall geborene Form oder die trübgewordene Spur eines Porträts oder eines Symbols darstellt - man weiß es nicht. Wichtig ist vor allem, dass keine Stelle leer gelassen wird, und dass, wohin auch immer der Blick fällt, der Geist nicht rastet und unbeschäftigt bleibt. Die Welt ist voller Rätsel und Bedeutsamkeiten. Im Gewimmel der Formen muss er nach Lösungen suchen, und wird doch immer nur in neue Rätselhaftigkeiten geführt. Diese Kirche, die so sehr mit sinnlichen Reizen prunkt, hat doch nichts anderes im Sinn als die Unzulänglichkeit und Täuschbarkeit der Sinne darzutun. Ein Vexierspiel; Glimmerflimmern. 

Von den Säulen scheint das Gold in dicken Strömen herunterzulaufen wie geschmolzenes Wachs, und nur die weise Vorsehung des Schöpfers hat es so gefügt, dass die herabrinnenden Bäche sich zu Ornamenten, Akanthusblättern, Festons und Rocaillen gestaltet haben. Der Brand, der das Gold der Säulen geschmolzen zu haben scheint, lässt sie selbst in der Zerstörung noch als schöne auferstehen. Überall findet man Zeugen eines erstarrten Loderns: goldene Flammen säumen Bilderrahmen und Friese; sie schlagen aus Herzen, tanzen über Häuptern und züngeln nach Sündern. Diese Kirche ist auch ein Brennofen, der die Seelen ausglüht und die Leiber verzehrt; doch zugleich liegt der Verdacht nie fern, dass dies alles nur Theater ist. Dem Spektakel religiöser Inbrunst, das hier mit solch furorhaftem  Aufwand inszeniert wird, kann man von Galerien und Logenplätzen aus zusehen, derweil man sich auf samtgepolsterten Sitzen Luft zufächelt. Wahrscheinlich wird man hier während der Messe sogar mit Zitronenwasser und Orangensorbet bedient, mustert die señoritas unter ihren geklöppelten mantillas, spinnt Fehden weiter und macht Geschäfte. Vor allem Geschäfte: die Kirche mit ihrem überbordenen Prunk macht ganz den Eindruck, als könnte sie auch ein Kaufhaus für luxuriöse Einrichtungsgegenstände sein. (Oft allerdings auch wie eine gigantische Sammlung von Tinnef, wie sie ein geschmackloser Trödler, der sich nur allzu leicht von Vergoldungen und buntem Glas blenden lässt, angesammelt haben könnte.)  Auch diese Deutungen gehören zum Vexierspiel von San Juan. Ihre Fülle lässt sich kaum auf eine einheitliche Interpretation reduzieren. Anders als romanische oder gotische Gotteshäuser ist dies kein Ort intensiver Konzentration, sondern explosiver Entgrenzung. Die traditionelle Ausrichtung auf Chor und Altar täuscht darüber hinweg, was in Wahrheit hier geschieht:  Auflösung und Aufsprengung. Mit welcher Lust hätte Giordano Bruno hier gepredigt! Dieser Irrgarten aus Anspielungen, Täuschungen, Scheinnischen und versteckten Umgängen müsste ihm ebenso zugesagt haben wie die Vielfalt der Perspektiven und Spiegelungen. Der gegenreformatorische Wahnsinn dieser Kirche ist nicht immer, wie es oberflächlicherweise bisweilen als alleiniges Ziel der nachtridentinischen Politik unterstellt wird, katholische Propaganda mit allen Mitteln der Illusionierung: hier jedenfalls, in San Juan, spricht sich auf wahrhaftige Weise ein Weltgefühl aus, dem die Welt ins Wirbeln geraten ist, und das zwar an allen Ecken und Enden versucht, die Löcher zu stopfen, durch die die Unendlichkeit des Kosmos in das brüchige Gehäuse pfeift, aber letztlich doch nicht leugnen kann, dass die Hierarchien der göttlichen Schöpfungsordnung längst zerfallen sind und dass die Karten neu gemischt werden. 

Die Gänge, in die uns die Kustodin nach einer Weile führt, geleiten uns in die Räume oberhalb es Altars, die wir von unten aus erst für optische Täuschungen gehalten hatten. Jetzt durchschreiten wir diese Gelasse, die fast noch dichter dekoriert sind als das Schiff unten. Hier wird das Ganze vollends zur Wunderkammer: die Reliquien in ihren Vitrinen - Knochen und Schädel, einbalsamierte Organe, heilige Holzsplitter und Textilfetzen - sind fast gleichrangig neben exotischen Trouvaillen, glänzenden Muscheln und Mosaiken von Fabelwesen ausgestellt. Das Kreuz Christi bildet immer noch die Mitte: doch an seinen Rändern setzen sich überall schon profane, vor allem aber exotische Dinge an. In die Welt des siebzehnten Jahrhunderts ist so viel Fremdartiges und Neues eingesickert. Die Vielzahl der Welten, von der Bruno sprach, ist unabweisbare Wirklichkeit geworden. Brunos Intuition, dass eine unendliche Welt es nicht zulässt, dass sich allein in einem galiläischen Prediger, der im Jahr 753 ab urbe condita geboren wurde, Gott inkarniert habe und nirgendwo sonst, zerstört den Auserwähltheitsanspruch der Christenheit. Gegen die Kränkung, dass wir nur eine Form unter vielen anderen sind, rebelliert die Kirche von San Juan de Dios unter Aufbietung aller Mittel - und gesteht doch in ihrer neurotischen Überfülle und in der Multiplizierung und Komplizierung ihrer Perspektivik ein, dass sie zur Einfalt der romanischen Gottesgewissheit nicht mehr fähig ist. 

Diese Gespaltenheit zwischen Glaubenwollen und Dementi, dieses Zugleich von Selbstbehauptung und nagendem Zweifel macht die Kirche zu einem veritablen Meisterwerk. Es verdrießt mich ein wenig, wenn die Besucher den Bau kitschig und prahlerisch nennen und, ihre vermeintliche Geschmackssicherheit unter Beweis stellend, es damit bewenden lassen. Die Abwertung des Barock ist ebenso wie die Abwertung des Historismus meist nur geschmäcklerische Gedankenfaulheit: ein Mangel an Bereitschaft oder Fähigkeit, sich auf eine Ästhetik einzulassen, die vom eigenen, engen Kanon abweicht. Dabei ist es mir vollkommen rätselhaft, warum man vor den manchmal nur süßlichen und banalen Pinseleien Raffaels in Ehrfurcht erstarrt und den wilden Barock der Asambrüder oder den der Baumeister von San Juan de Dios als unwert abtut. Lichtenbergs Aphorismus von Büchern und Köpfen passt generell für Köpfe und Kunstwerke: wenn die beiden zusammentreffen, und es klingt hohl, muss es nicht immer Schuld des Werks sein.

Wir treffen uns zu Mittag mit einem Freund, der grade mit seiner achtzehnjährigen Tochter in der Sierra Nevada wandern war und nun in Granada ist. Er wusste nur, dass wir durch Andalusien fahren, jetzt finden wir uns in der selben Stadt. Die zwei sind auf den Mulhacen gestiegen, die höchste Erhebung Spaniens; ihre Waden sind flammrot gebrannt, aber die in ihren Beinen gespeicherte Tageshitze hat wohl nicht gereicht, sie auch nachts warmzuhalten. Im Waschtrog vor der Schutzhütte begann das Wasser einzufrieren. Die zwei begleiten uns nach dem Essen noch zur Alhambra, deren imposante Steinquader wir vom Mirador auf dem Albaicin-Hügel aus schon bewundert haben: die Burg liegt jenseits des Tals auf einem bewaldeten Hügelkamm; dahinter, in der Ferne, die Sierra Nevada, über der weiße Wolken stehen wie der stehengebliebene, luftige Traum von schneebedeckten Gebirgen. 

Die Alhambra: In den Anlagen des Generalife haben sich die Nasriden einen Paradiesgarten geschaffen. Hoch über der sandfarbenen Stadt, dem engen Gewirr der Gassen und Plätze weit enthoben und mit Blick in die Weite, die sich in wüstenhafte Dürre verliert, beginne ich zu verstehen, warum die Bildwelt nicht nur des Islam, sondern überhaupt die der abrahamitischen Religionen ihre Glücksorte mit reichem Pflanzenwuchs und rieselnden Bächen versehen hat. Es sind Oasen; Wadis der Fülle, die nach langen Wüstenwanderungen schattige Kühle und sprudelnde Quellen bereithalten. Von dieser biblischen Bildherkunft zehrt sogar noch die Glücksverheißung der Gärten des Nordens, deren Fontänen und Kanäle ansonsten fast nur noch ästhetische Zwecke bedienen. In den ariden Regionen des Südens sind die aufspringenden Wasserfächer nicht nur ergötzliches Spiel, sondern unmittelbares Zeichen für die Erfüllung leiblicher Bedürfnisse: man wusch und kühlte sich, man stillte seinen Durst. Der Sonnenkönig, Herr von Versailles, dem das Wasser als gefährliches, schädliches Greuel galt, mit dem er ungern in Berührung kam, ließ seine Gärten gleichwohl mit Brunnen und Wasserspielen beleben. Doch das Vergnügen daran war vorwiegend ästhetischer Natur und wenig mehr als bloße Augenlust. Hier hingegen leuchtet der Naturgrund des Wassers sofort ein. Das Wasser wird zum Realsymbol: Zeichen und Realität von Erfüllung zugleich, Bild und Einlösung des Bildes. Die Kluft zwischen Bedeutung und Sein schließt sich. Der Generalife will die Oase und ihre Sublimierung in einem sein. Das unterscheidet den Ort von einer Kirche wie San Juan de Dios: hat die katholische Basilika sich ganz im Bild und bloß Symbolischen eingerichtet, im Verweis auf Transzendentes, verweist dieser Garten auf sich selbst und seine reale Existenz. Er ist bereits die Erfüllung, die das Christentum nur als jenseitige erträumt. 

Als wir in der sala regia die reiche Ornamentik sehen, frappiert mich einerseits die Ähnlichkeit mit San Juan, andererseits die ungeheure Differenz dazu. Beide Epochen lieben das Ornament. Barock wie nasridische Kunst überziehen die Wände bis in den letzten Winkel mit dekorativen Mustern. Sie teilen den selben horror vacui: nichts darf leer bleiben. Technisch teilen sie ihre Bevorzugung weicher Materialien, Gips und weiches Holz, gefügiger, bildsamer Stein; formal teilen sie den Vorbehalt gegen die schlichte Gerade. Alles Gerade wird von Kurvaturen gelockert. Exzentrisches, Elliptisches, Gebauchtes und Tailliertes weicht den rechten Winkel und mit bloß einem Zirkelstreich Geschlagenes auf. 

Trotz dieser Ähnlichkeiten könnte es nichts Unterschiedlicheres geben: die muslimische Ornamentik ist ohne Geheimnisse. Sie kennt keine Rätsel - jedenfalls erscheint es mir so. Es mag sein, dass auch in dieser Kunst eine tiefsinnige Symbolik waltet und dass in diese Muster Mysterien sonder Zahl eingeflochten sind. Wenn dem so ist, erkenne ich sie nicht. Die Schriftzeichen sind unlesbar - auch sie sind für meine Augen nichts als kalligraphische Schnörkel, die sich wie durch Zufall dem fraktalen Wuchern der ornamentalen Linien eingepasst haben. Ich bin ganz ganz auf diesen oberflächlichen Eindruck angewiesen; kein Vorwissen hilft mir weiter, diesen Geflechten eine Bedeutung abzugewinnen. Mein Gefühl sagt mir (doch ich weiß wohl, welch armseliges Instrument das Gefühl ist, wenn man einer großen und fernen Kultur begegnet), dass es sich hier nicht um eine Ästhetik der Bedeutsamkeiten handelt. Die Ornamente sind nicht symbolisch; Emblembücher und Attributsammlungen helfen hier nicht weiter. Hier werden keine Geschichten erzählt, keine mythologischen Szenen aufgeboten, keine Märchen und Legenden in Erinnerung gerufen. Wenn hier überhaupt erzählt wird, dann von dem langsamen Wachstum und der unendlich verzweigten Durchwurzelung  der Flächen durch das feingliedrige Kapillar der Ornamente.  Alles umfasst sich, umschlingt sich, überkreuzt sich, windet sich umeinander. Wimmelnde Vegetativität allerorten, ein Sprießen und Gedeihen: die Feier einer unaufhaltsamen Fruchtbarkeit, die Leben sagt und immer mehr Leben. Ich bin sehr fasziniert. Je mehr ich mich in diese Gebilde vertiefe und sie aus der Nähe ins Auge fasse, desto stärker wird die Faszination. Bei oberflächlicher Betrachtung drängen sich die großen Muster in ihrer Regelmäßigkeit auf; kommt man ihnen näher, wird klar, dass sie aus einer unerhörten Vielfalt von kleinen Mustern bestehen, die sich wiederum aus noch kleineren Mustern zusammensetzen, und diese wiederum aus noch kleineren. 
Ich habe wenige Zeilen vorher den Ausdruck fraktal gebraucht; jetzt merke ich, dass er hier falsch wäre. Fraktale sind selbstähnlich: ihre Grundform wiederholt sich auf jeder höheren Stufe. Dies hier ist nicht fraktal; von Selbstähnlichkeit keine Spur. Die Grundelemente entfalten sich schon sehr bald zu Gebilden von großer Individualität. Man findet keine Uniformität und keine Wiederholung von Identischem, sondern überall Differenz und Eigenheit: ein unendliches Feld von Variationen. Das überrascht mich: die Landschaften Spaniens sind so iterativ geprägt, dass ich ganz unbedacht davon ausgegangen war, eine solche Immergleichheit auch hier zu finden. Aber ich muss mich korrigieren. Unter dem scheinbar Immergleichen und Regelmäßigen tut sich eine unübersehbare Vielfalt von Abweichungen und Kontrasten auf. Die Fülle im Detail ist atemberaubend: da sind auf engstem Raum Sterne und Blumen, Spiralen und Kringel, Trauben und Lettern, Dreiecke und Flechtbänder. Erst wenn man zwei Schritte zurücktritt, klärt sich das Gewimmel etwas und die übergreifenden Formen kommen wieder in den Blick: bläulich hinterlegte Schriftbänder sind wie Fachwerkbalken in den kleinteiligen Teig des Gipses eingestemmt. Als große Schleusentore und Sperrmauern halten sie das brodelnde Plankton des Individuellen im Zaum; sie zähmen und bändigen das Aufbegehren des Einzelnen und fügen es harmonisch ins große Ganze. 

Ich beginne zu ahnen, dass die Ornamente hier auch ein Herrschertraum von dieser harmonischen Bändigung sind. Ein halbes Jahrtausend später wird Hegel vergleichbare Versuche unternehmen, den Einzelnen mit dem Ganzen zu versöhnen und ihm zu erklären, dass sein partikulares Interesse mit dem Interesse des Gesamten zusammenfällt. Einmal darauf aufmerksam geworden, sehe ich, dass die verwinkelte Anordnung dieser bläulichen Bänder an die Gestänge und Hebelwerke einer großen Mechanik erinnern. Fritz Lang könnte daraus die Idee für die Maschinen geschöpft haben, an denen die Arbeiter der großen Metropolis schuften. Auch Charlie Chaplins Kampf an den Uhrwerken in Modern Times hat in den Gipsinkrustierungen der Alhambra eine ferne Patenschaft. 

So hat sich für mich im Verlauf kaum einer Viertelstunde der erste Eindruck der Alhambra vollständig in sein Gegenteil verkehrt: wenn ich anfangs darin eine Oase gesehen habe und einen irdischen Paradiesgarten, die Erinnerung an arkadische Einfachheit und das dankbare Entgegennehmen von Gottes Gaben, sehe ich jetzt das Bild einer Zwingherrschaft, die sich an der Unterwerfung und Indienstnahme von Menschenherden ergötzt und die diese Unterwerfung sogar noch als Naturfülle zu kaschieren die Dreistigkeit hat: sie gibt als reichen Heckenwuchs, als Sternenglanz und freie Vielfalt aus, was in Wahrheit nur das Flechtwerk zur Fesselung von Menschen ist, die doch überall in Banden liegen. Mit wieviel Sklavenblut hat man die Beete hier gedüngt? Mit wieviel Arbeiterschweiß sie getränkt? Wieviel Peitschenriemen haben sich hier in geschwungene Ornamentschnörkel verwandelt, und wieviel Ketten haben sich als die Bahn heiter wandelnder Gestirne getarnt? Die verschlungenen Bänder und Verzweigungen der Ornamente erscheinen mir jetzt nicht mehr als zweckfreies Spiel, sondern als Verklausulierung von Herrschaft und Knechtschaft. Schon sehe ich überall Zwang: die in Reihe geschalteten Wasserbögen im Patio de la Acequia; die so ebenmäßig beschnittenen Gebüschquader; die geharkten Wege; selbst die prächtige Bougainvillea, deren purpurblaue Blüten an der Mauer des Patio prangen, erinnert mich mit ihren über den Blütenbüscheln herausschießenden grünen Trieben an die ballistischen Kurven einer Explosion: als hätte man die schöne Pflanze an die Wand gestellt und füsiliert, spritzen die frischen Zweige wie peitschende Fontänen davon; darunter der aufgerissene Leib aus offenen Blüten. Wenn in Goyas berühmtem Gemälde von der Erschießung der Aufständischen die zentrale Figur nicht mit einem weißen Hemd bekleidet wäre, würde sie dieser Bougainvillea noch mehr ähneln. Aber lass nur ein paar Salven in dieses Hemd gehen, und es würden blutige Blüten auf der Brust des Rebellen aufspringen...

Das gleichmütige Rieseln der Wasserbögen lässt mich wieder vergessen, dass ich für einige Momente einen Blick in den Grund von Gewalt geworfen habe, der diese paradiesische Residenz geschaffen hat. Der Tag ist zu schön für das trostlose Geschäft der Ideologiekritik.

Wir wandern weiter zu den Nasridenpalästen, dem Herzstück der Anlage. Heute muss der Tourist einen genauen Zeitplan einhalten; eine präzise Logistik regelt die Besichtigungsströme. Das ist angesichts des Andrangs natürlich verständlich und nicht zu vermeiden. Anderswo würde ich auch das nicht als Missklang empfinden; hier scheint es mir dem Geist des Ortes zuwiderzulaufen.

Die Schlösser christlicher Könige sind Repräsenationsräume; die Zimmerfluchten und Galerien darin sind die Instrumente, um Distanz aufzubauen, sie verkörpern die unendliche Entfernung und die Mühe, sich dem König zu nähern. Man lässt sich in solchen Zimmern nicht nieder, sondern durchmisst sie allenfalls auf seinem Weg zum Lever. Das Passagere ist ihnen einbeschrieben. Nicht umsonst heißt es Zimmerflucht: hier hält man nicht inne; man hastet voran. Derlei ist die perfekte Umgebung für den heutigen Tourismus, dem es ja auch nicht ums Verweilen gehen kann, sondern um das möglichst vollständige Abarbeiten einer Sehenswürdigkeit. Die Architektur der Nasridenpaläste scheint mir aber einen ganz anderen Charakter zu haben. Die Notwendigkeit zur Verbindung der Räume hat natürlich auch hier Gänge und Raumabfolgen geschaffen. Aber sie werden nicht zu Zimmerfluchten, sondern allenfalls zu Wandelgängen. Es ist weniger telos in ihnen als in den Korridoren der nördlichen Schlösser. Es geht kein Sog durch diese Mauern, nur eine sanft fächelnde Brise. Jeder Patio vermittelt den Eindruck, dass man bereits am Ziel angekommen ist. Obwohl der ornamentale Schmuck der Wände und der Fenster immens ist, hat man kaum den Eindruck der bemühten Prächtigkeit, der einen in Versailles, Schönbrunn oder Herrenchiemsee überkommt. Das liegt sicherlich an der vegetabil wirkenden Ornamentik: - trotz des enormen Aufwands scheinen die Ranken und Verästelungen des Wandschmucks nicht erarbeitet und mühsam zusammengebosselt, sondern wie von selbst gewachsen: Kristalle, die sich aus innerem Drang zu Mustern zusammenschließen, majestätische Gesträuche, die sich, unhörbar raschelnd, zu raumgreifenden Gebilden entfalten. Es würde mich nicht wundern, wenn die Uhren hier ihren Dienst verweigerten und stehenblieben wie in Dornröschens Schloss. Aber die steinernen Ornamenthecken des Palastes überwuchern nichts, das nur auf den Moment der Erweckung wartete: hier gibt es kein Erwarten und kein Erwachen; die Vollendung ist schon da. Diese Architektur spricht nicht von der Zukunft, nicht von Drang und Streben. Sie begeht still den Moment von Erfüllung, dem man nur in heiterer Kontemplation beistimmen kann. Ob die Baumeister hier wohl im Abendlicht die verfemten Seiten des Averroes über die Ewigkeit der Welt gelesen haben, die Ausführungen des Aristoteles über die Glückseligkeit, und seine Zeilen aus De anima über die Einkehr der Seele in den nous

Es gibt indes auch in der Baukunst des Nordens vergleichbare Orte; manch klösterlicher Kreuzgang strahlt eine ähnliche Zeitlosigkeit aus, und - merkwürdig genug - selbst um die absolutistischen Schlösser herum, deren Inneres so viel Unrast und Zugigkeit verströmt, ist zumeist etwas angelegt, das den Arabesken der Alhambra nahekommt: ich sprche von den Gärten. Im Abendland sind sie es, die das in den Interieurs oft so betriebsame Dekorum zu einem Bild friedvoller Gemessenheit herabstimmen und eine Atmosphäre gestillter Harmonie erzeugen. 

Gärten indes sind vergänglich und verletzlich. Die Jahreszeiten pflügen über sie hin; sie blühen, prangen, welken und vergehen. Sie werden von den Monaten durchgewalkt, von Nachtfrösten hart gestriegelt, von den Herbststürmen gebeutelt und zerrupft. Ihre Anmut ist fragil; sie bedürfen beständiger Fürsorge. 

Die Nasriden haben auch das Innere ihrer Paläste in Gärten verwandelt, doch es sind Gärten aus Stein: Palmenhaine und Astwerk umgeben den Gast, doch nichts davon welkt. In Stein geschnittene Laubschatten sorgen für Kühle, Blenden, die durchbrochen sind wie Blätter, an denen nur noch die Adern stehen, bedecken die Mauern. Nichts davon ist sterblichee Materie; alles ist Übertrag vergänglichen Lebens in dauerbare Materie. Alles ist durch eine leichte Abstraktion geläutert und bloßer Naturnachbildung enthoben. Die Schuppenmuster der Kapitelle sind zu geometrisch, um ganz Rinde oder Zapfenschindel zu sein. Die Ornamente, die sie sich wie Ranken über die Wände winden, verschlingen sich zu oft mit den Schwüngen der arabischen Schrift, als dass man sie einfach mit den pausbackigen Fruchtgehängen und Laubgirlanden des Abendlands gleichsetzen dürfte. Den Künstlern ist es zumeist gelungen, das Bilderverbot des Islam zu befolgen. Die Naturformen hier sind Idee der Formen, nicht diese selbst. Es ist eine übersetzte und in mathematische Regelmäßigkeit transponierte Natur: Natur, die Geist geworden ist. 

Im Myrtenhof gibt es ein rechteckiges Wasserbecken, dass vollkommen still den Comaresturm widerspiegelt: keine Kräuselung und keine Welle verunruhigt die Reflexion. Der Baumeister hat die Zuflüsse so konstruiert, dass der Zustrom des Frischwassers die Oberfläche nicht in Bewegung versetzt; in majestätischer Ruhe glänzt der Spiegel. 

"Manche freilich liegen immer mit schweren Gliedern bei den Wurzeln des verworrenen Lebens. Anderen sind die Stühle gerichtet bei den Sibyllen, den Königinnen, und da sitzen sie wie zu Hause, leichten Hauptes und leichter Hände."
Hofmannsthals Zeilen kommen mir in den Sinn, als wir vom Turm der Alcazaba aus auf die Reste der Kasematten schauen. Das Bollwerk sitzt wie ein Schiffssporn auf dem Hügel, und von hier aus wirkt es, als führe die ganze Alhambra einen Angriff auf die Stadt, die sich jenseits des Taleinschnitts ausbreitet. Was für ein Ort wäre das für eine camera obscura! Unten sähe man das Gewimmel in den Gassen, brütendes, schmorendes, schmutziges Leben, und hier oben die geläuterten und geklärten Formen des Schönen. Was man aber vermutlich nicht zu sehen bekäme, das wären die kantigen Grundmauern selbst, die von den Stallungen und Soldatenquartieren der Alcazaba übriggeblieben sind, das krude und brachiale Raster militärischer Anlagen, das alles trägt, die Sibyllenstühle und die müden Leiber, die Mühe und den Trost, die Gewalt. Und das Glück; auch das. Vor allem das.

12. Juni. Granada - Trevelez.

Es ist  Samstag, als wir abreisen. Zu unserer Linken erheben sich die Berge der Sierra Nevada. Am Südrand des Massivs fahren wir von der Autobahn ab in die Alpujarras, ein entlegenes, von steilen und kurvigen Straßen kaum erschlossenes Tal. Die Fahrt wird uns lang; es gibt keinen Platz, wo wir den Rest des Tages ruhig verstreichen lassen könnten. Ich muss nichts über die Geschichte des Tals wissen, um sofort zu sehen, dass hier über Jahrhunderte Freischärlergebiet war, ein unwegsamer maquis, in dem sich Bluträcher verbargen, denen die befehdete Familie auf der Spur war, Partisanen, deren Steckbriefe auf den Dorfplätzen aushingen, Banditen auf der Flucht und Ziegenhirten, die von der Einsamkeit zu allerlei zärtlichen Schrullen verführt wurden. Aber für uns ist kein Platz. Auch in Pampaneira nicht, wo wir Halt machen. Es gibt hier ein halbes Dutzend Läden, die alle das selbe Sortiment feilbieten: grob gewebte, kratzige Decken, Keramik aus Marokko, Ponchos (halb Wolle, halb Viskose, alle von ungeheurer Hässlichkeit), mit Polyesterfleece unterlegte Hemden aus Nepal und Bangladesh. Vor allem Letztere stellen mich vor ein Rätsel. Welche Beziehung besteht zwischen Alpujarra und Himalaya, dass Leute, die in dieses Alpujarra-Dorf kommen, als lokales Souvenir asiatische Hemden kaufen? Immerhin ist die Sierra Nevada der höchste Gebirgszug Spaniens, gewissermaßen der iberische Himalaya. Möglicherweise genießt Nepal auch einen guten Ruf, wenn es um warme Kleidung geht; wer, wenn nicht dieses Volk, das da auf dem Dach der Welt herumkraxelt, weiß, wie man sich vor Wind und Kälte schützen muss?  Aber wie kommt es, dass hier auch körbeweise von Stoffechsen gibt, die, mit irgendeinem Füllmaterial ausgepolstert, von deutlich atztekischem Aussehen sind? Derlei wird, denke ich, doch eher am Maccu Piccu verhökert, aber das kleine Schild am Echsenbauch verrät, dass das Tierchen in Marokko gefertigt wurde. Womöglich handelt es sich hier um einen transnationalen Zusammenschluss von Hochgebirgskooperativen. Ich stöbere ein wenig in den Pullovern und finde in der Tat welche mit Lamas auf der Brust; auch spitze Wollmützen mit zipfeligen Ohrenklappen nach Andenart und mit der eher andenuntypischen Zusammenstellung 10% Alpaka, 40% Schurwolle, 50% Polyacryl, liegen in den Regalen. Eigentlich fehlen nur noch in Colorado gefilzte Tirolerhüte und Lodenkotzen vom Kilimanjaro, um diese merkwürdige Laune der Globalisierung zu komplettieren.

Wir trinken einen Schluck auf einer Barterrasse, unter der ein reisender Masseur seinen Behandlungsstuhl aufgebaut hat. Das Ding ist ein bizarres Gestell aus Holz und Peddigrohr, in das sich seine Behandlungsobjekte wie in eine Ganzkörperorthese klemmen. Es sieht nach Folter aus, aber seine Patientinnen lächeln verzückt auf die Gasse hinaus, während er an ihnen herumdrückt und ihre Lendenwirbel lockert. 

Beim Bezahlen bleibe ich vor dem Bar-Fernseher hängen, der gerade das letzte tercio eines Stierkampfs überträgt. Der Matador ist blutjung und bedroht den Stier mit einer sehr juvenilen Einschüchterungsgrimasse, indem er das Kinn vorschiebt, die Oberlippe aufwirft und von Zeit die Lippen vorstülpt, was dann freilich etwas albern an die Schnute eines Putzerfisches am Aquariumsglas erinnert. Die Fernsehkamera enthüllt noch deutlicher als der Blick von den Arenarängen, wie sehr jeder Kampf einer Corrida ein Duell zwischen zwei jungen Männern ist - Kontrahenten, Rivalen, pubertäre Schulhofhelden sind es alle beide, ob Mensch oder Stier. Jeder Mann kennt die Gesten des Toreros aus seiner Adoleszenz; kaum einer wird von diesen Protzgebärden verschont geblieben sein; diejenigen, die sich daran erinnern, waren vermutlich die Unterlegenen; die Sieger siegten, weil sie sich nicht mit so läppischem Nebenwerk wie Beobachten, Erinnern, Verstehen abgaben, sondern genug damit zu tun hatten, zu gewinnen. Der Kampf verpuffte ihnen im Triumph. Der Sieg überstrahlt die Details des Hergangs. Nur der Verlierer strichelt das graue Blei in allen Einzelheiten aus, hadert und sinnt, grübelt und spinnt; so schult er seine Klugheit. (Hegel hat dieser Dialektik einige seine überzeugendsten Gedankengänge gewidmet; das Kapitel über Herr und Knecht aus der Phänomenologie des Geistes ist so hellsichtig, dass Nietzsche ein ganzes Buch (die Genealogie der Moral) daraus gemacht hat.) Es ist nur eine halbe Kontrafaktur, dass der Stier, der so vielen Veronikas auf den Leim gegangen ist und sich, naiv genug, so lange hat vorführen lassen, plötzlich beim Durchgang durch die muleta durch irgendeinen Zufall den Kopf wendet und den Torero aufs Horn nimmt und hochhebt. Die Hornspitze geht am Bauch des Mannes vorbei, er wird nicht durchbohrt, aber als er sich von dem Stier löst, ist sein Gesicht dennoch blutbespritzt. Das Tier hat ihn mit dem Blut gezeichnet, das ihm aus den Banderilla-Wunden am Nacken strömt. Der Mann stürzt; der Stier trampelt auf ihm herum, presst ihm den Schädel auf den Brustkasten, knackt mit seinen harten Hufen ein paar Rippen, demütigt seinen Meister. Abends, wenn er den Lichtanzug abgelegt hat, ist darunter sicher am ganzen Körper blau wie Tinte, resedarot. Es gelingt ihm, von dem wütenden Stier, der sich einen Dreck um die herbeigeeilten und mit ihren capas wedelnden peónes schert, davonzukriechen und sich in Sicherheit zu bringen. Als er wieder auf den Beinen ist und den Kampf nun zu Ende führen will, ist sein Gesicht verzerrt vor Feindseligkeit. Es ist ein ganz persönlicher Hass; eine Gier, es dem Feind heimzuzahlen, der ihn für ein paar Sekunden zur herumhampelnden und lächerlichen Marionette gemacht hat. Hier will jemand nicht einfach siegen; das ist kein Sport auf dem Arenasand. Der Matador will Rache, will die schmachvollen Momente, als er sich gegen das Wühlen des Stierschädels an seinem Leib schützen musste, tilgen. Jetzt scheint er keinen anderen Gedanken zu haben, als diese Kränkung zu vergelten. Der Stier steht erschöpft und Blut spuckend vor ihm, ein schnaufendes und geschlagenes Vieh, das jetzt keine Gegenwehr mehr leisten kann. Immerhin dringt die Klinge richtig in den gebeugten Nacken; das Tier sackt zusammen, schwenkt den Kopf, stemmt sich wieder auf, doch schon sind die peónes da, um es mit ihren capas in den Tod zu wiegen. Ein Flimmern von Rosa und Gelb, Vulva und Eiter: inter faeces et sanguinem stürzt der Stier. Im selben Moment schaltet der Sender auf das dümmlich grinsende Kindergesicht des Moderators. 
Den Tod, der das Spiel erst aus dem Unverbindlichen befreit, will man den Zuschauern offenbar nicht zumuten. Dabei ist es nur dieser Anblick des Todes, der die Corrida davor bewahrt, dem Zynismus des Spektakels zu verfallen: die steif abgespreizten Beine des Stiers, die plumpe Masse, auf die das gestürzte Tier mit einem Mal reduziert ist, Hanken und Wamme, obszön preisgeben. Erst die in diesem Anblick sichtbar werdende Entwürdigung verleiht dem Ganzen die Wucht einer Wahrheit und einer Erschütterung, die tiefer reicht als der Tanz der muleta. Doch indem man dem Zuschauer den Anblick des Kadavers erspart, nimmt man dem Stier, den man geopfert hat, die heilige Dunkelheit, die damit einhergeht. Heiligkeit, Dunkelheit, Opfer sind große Worte. Im Fernseher werden sie klein und bedeutungslos, unhörbar. Der Zynismus ist nicht, dass man den Stierkampf im Fernsehen überträgt; er besteht darin, dass man ihn nicht solange zeigt, bis die geschmückten Maultiere das tote Tier aus der Arena gezogen haben. 

Weiter bis Trevelez. Seit drei Wochen kennen wir fast nur noch laue Abende. Jetzt ist es empfindlich kalt. Wir sind auf 1600 Metern Höhe. Das erste Mal auf dieser Reise müssen wir den Abend im Bus zubringen. Im Dorf - eine gute Viertelstunde Fußweg entfernt - wird an diesem Wochenende gefeiert. Raketen steigen auf; Böller erschüttern die Luft bis zu uns, aber ein Spanier, den ich bei den Duschen treffe - ein zauseliger Aussteiger um die fünfzig mit einer jungen Frau, die einen greinenden Säugling wiegt, möglicherweise sind sie auf der Flucht nach Ägypten - zuckt auf meine Frage nur abschätzig mit den Schultern. Es sei eben ein Dorffest, plump und provinziell, das lohne den Weg nicht.

14. Juni. Trevelez - Castillo de Baños. (der 13. Juni fehlt!)

Am Morgen machen wir die Bekanntschaft eines jungen deutschen Pärchens, das mit einem alten Bulli zu den Surferstränden Tarifas und Portugals unterwegs ist. Vielmehr: nicht wir machen ihre Bekanntschaft, sondern ihre Tochter mit uns. Daidalina, wie sie sich selbst nennt, ist drei Jahre und taucht bei uns auf, als wir frühstücken. Sie ist neugierig und zutraulich, und mehr noch: anhänglich. Besonders mich hat sie in ihr kleines Kinderherz geschlossen; ihr Vater, Max, wird mir im Lauf des Tages verraten, dass Marlene (wie sie in Wirklichkeit heißt), nun, ältere Herren liebt. Daidalina nimmt es mir noch nicht einmal übel, dass ich ihr beim spielerischen Herumschleudern die Wachstumsfuge an der Schulter so weit dehne, dass ein Nerv in den Spalt springt und eingeklemmt wird. Sie weint eine halbe Stunde, dann ist es wieder gut. Ihr Brüderchen Karl hat vier Zähne und mag die Welt; Daidalina ist kapriziös; Karl ist einfach und glücklich.

Im Dorf kommen  wir grade rechtzeitig zum Ende des Gottesdienstes. Gleich neben der Kirche ist eine Bar, in der wir die einzigen Gäste sind. Offenbar gehört es sich nicht, während der Messe in der Bar am Tresen zu stehen und eine caña zu nehmen, und die Wirtin bedenkt uns bei der Bestellung mit einem missbilligenden Blick. Aber aus dem Kirchenportal wölkt der Weihrauchdunst so stark heraus, dass wir uns in Sicherheit bringen und die gereizten Kehlen befeuchten müssen. Die bereitstehende Blaskapelle freilich hält den Dampf aus. Kinder und Jugendliche, angeführt von einigen wenigen Erwachsenen, polieren ihre Instrumente. Als die Prozession losmarschiert, bin ich hellauf begeistert. Die individuellen Fehler summieren sich zu einem Gesamtklang von schräger Vollkommenheit. Die Musik fühlt sich an wie ein aus den Bergen herausgeschlagenes Stück Erzgestein: scharfkantig und schief gewachsen, voller Poren und Blasen und brüchigem Glimmer. Das energische Dirigat verhindert nicht die beständigen erosiven Verwerfungen in Rhythmus und Melodie; in der musikalischen Tektonik knirscht und reibt es gehörig - hier splittert ein Trompetenton ab wie eine schartige Felskante, dort kollert und grummelt eine Tuba, als bräche eine unterirdische Höhle zusammen, und die Trommelwirbel rasseln so holperig dahin wie der Beginn eines Murenabgangs. Es ist katastrophal und wunderbar, eine wunderbare Katastrophe, und wir wären dieser kakophon trötenden und trommelnden Truppe gerne hinauf ins Oberdorf gefolgt, wenn mich nicht Daidalina, die wohl eine entfernte Namensbase des Labyrintherbauers ist, an die Hand genommen und verkündet hätte: jama ammam. Das bedeutet ungefähr: jetzt gehen wir essen. Natürlich gehen wir essen, en famille. Im Restaurant erweitert die Kleine nach und nach ihren Radius, büxt immer wieder aus, um sich draußen am Werbeständer für Eis sattzusehen oder um Bekanntschaft mit anderen älteren Herren zu schließen, was ich meinerseits nicht so gern sehe, da ich, wenn auch nur um wenige Stunden, ältere Rechte habe und diese flatterhafte Seele lieber wieder von spanischen Weintrinkern wegpflücke und an den Familientisch hole. Die Kleine ist es ganz zufrieden; sie betrachtet meine Besitzansprüche als Liebesbeweis; und hat ja auch recht damit.

Am Nebentisch sitzt ein Pärchen in den späten Zwanzigern, allem Anschein nach aus Holland. Während bei uns munterer Betrieb herrscht (Karl spuckt Bohnensuppe aus, Daidalina entdeckt das Prinzip des Katapults anhand von Löffel und Tellerrand, Papa betrinkt sich, ich versuche hinterzukommen, brauche zwar mehr, fühle mich dennoch allmählich animiert), herrscht bei den beiden Holländern dürres Schweigen. Die junge Frau schenkt den Kindern liebestrunkene Blicke und versucht die herumwuselnde Daidalina wie einen Hund mit leckeren Bissen zu locken, wird aber eiskalt ignoriert, schließlich ist sie kein älterer Herr. Später, beim Gang ins barrio medio, treffen wir die beiden wieder. Sie haben in der großen Schinkenfakturei des Orts (Trevelez ist berühmt für seinen serrano) eine ganze Keule gekauft. Die Frau sitzt bereits auf dem Beifahrersitz; ihre Züge sind durch die dunkel getönten Scheiben des Wagens kaum zu erkennen, sie lächelt uns verschattet zu. Ich weiß nicht, ob ich mir ein traurigeres Bild ausdenken könnte als eine Frau, die sich nach einem Kind verzehrt, während ihr Gefährte bloß einen vakuumierten Hinterschinken in den Kofferraum schiebt. Sie aber will kein luftgetrocknetes, sie will lebendiges Fleisch.

Gegen fünf verlassen wir Familie und Dorf. Der achselzuckende Hippie von gestern abend hatte übrigens recht: es ist ein Fest, bei dem Fremde nichts zu suchen haben, und die anderthalb Dutzend Mädchen und jungen Frauen, die in ihren Flamencokleidern mit den wallenden Rüschensäumen um die Waden nachmittags ins Oberdorf pilgern, sind keine Schönheiten, noch nicht einmal dörfliche. Es ist eigentlich erschütternd: ich habe den Eindruck, dass alles an Erbgut, was Charme oder Esprit bewirkt, schon seit Jahrhunderten stets abwandert, bevor das fortpflanzungsfähige Alter erreicht ist; wer sich kraft seiner Anziehungskraft oder Klugheit ein besseres Los erhofft, zieht davon; zurück bleibt nur, was anderswo zum Gespött würde. 

Wir fahren südwärts der Küste zu. Auf den braungrauen Hügelketten, die sich langsam zum Meer hin absenken, liegen rechteckige Schneefelder, weiß schimmernde Streifen und Bänder. Erst beim Näherkommen begreife ich, dass der weiße Glanz von der Folie der Treibhäuser herrührt, die auf den Bergen leuchten. Als wir tiefer kommen, ändert sich das Bild. Tiefe Scharten sind in die Bergflanken eingeschnitten; die Treibhäuser, oft terrassiert übereinandergestaffelt, sind mit schwarzen Gewebeplanen bespannt; manchmal erinnern sie nicht an Landwirtschaft, sondern vielmehr an Verschanzungen: in den Stein getriebene Festungswerke und Kasematten. Es ist eine Physiognomie der Wehrhaftigkeit: Visiere, Kurtinen, gebleckte Zahnreihen. Doch erst am Fuß der letzten Hügel zeigt sich die ganze Brutalität dieser Zurüstungen: die Landschaft ist nicht weniger verheert als die Tagebauflächen am Rio Tinto: Aufschüttungen von Kies, der von Straßenbändern und Treibhausgestellen wie von Monierstahl durchzogen ist, abrutschende Hügelsenken, die in ihrer krähenfüßigen Faltigkeit und in dieser Umgebung abgearbeitet und geschunden aussehen. Als hätte der Berg Stickstoff und Nitrate geweint, durchfurchen weiße Narbenstriemen die Lehnen. 

Die Straßen an der Küste sind vollkommen überdimensioniert. Das Missverhältnis zwischen Asphaltaufwand und Verkehrsdichte war uns schon im spanischen Norden aufgefallen; die Autobahnauffahrten haben ein Größenmaß, das für ein eng besiedeltes und verkehrsreiches Land angemessen wäre; da oben im Norden waren sie uns nur unnötig pompös erschienen, wie zeremoniöse und angeberische Asphalthalskrausen, die ein spanischer Grande eben auch dann anlegt, wenn er keine Gäste erwartet; hier aber hat der Asphalt nichts Zeremoniöses und Pomphaftes mehr, die Halskrause ist zur Garotte geworden, zu einer Schlinge, die sich brutal in den Knochen schneidet. 

Die Orte an der Küste sind nicht sonderlich einladend, jetzt in der Vorsaison nicht, und später wohl noch weniger. Wir müssen wieder auf einem Campingplatz übernachten. Das Meer wogt und schwellt hinter einem Maschendrahtzaun, wallet, brauset, siedet, zischt, ein Werkeln und Pressen, Würgen und Quetschen, das ich in den Muskeln spüre; es ist, als wollte der Ozean das feste Land auswringen.

Wir sitzen beim Abendessen, bei Schinken, Oliven und Brot, als eine maunzende Katze heranschleicht, scheu zwar, aber bestimmender noch als ihre Scheu ist ihr Hunger. Sie ist noch klein, aber schon schwanger, und sie bettelt um Fettschwarten. Die bekommt sie, und Zärtlichkeiten zum Nachtisch. Eine Weile lässt sie sich das gefallen, dann verkriecht sie sich unter dem Bus, wahrscheinlich nur, um unter Beweis zu stellen, dass sie sich ihre Souveränität nicht abschmeicheln lässt.

15. Juni. Castillo de Baños - Gaitanejo.

Zum Frühstück ist sie allerdings wieder da und genießt (da lassen wir uns nicht lumpen) den Pata negra. Als wir abfahren, sehen wir das holländische Pärchen wieder. Offenbar haben sie gestern nur einen Ausflug nach Trevelez unternommen und haben hier an der Küste ihre feste Station. Die Frau schaut elegisch durch den Maschendrahtzaun aufs Meer; er wienert mit einer weißen Politur die Kofferraumklappe. Am liebsten würde ich ihm von Mann zu Mann ein paar Worte sagen und ihn zwingen, seine Paste nicht an seinen blöden A6 zu verschwenden. 

Bevor wir aufbrechen, lasse ich Abwasser ab; obwohl neben mir die Gärtner lärmend die Hecke schneiden, wagt sich das schwangere Kätzchen heran; es schnurrt, als ich ihm die Kehle kraule. Die Hand im Pelz nenne ich das Tier Marlenchen: unversehens öffnen sich die Lider und geben strahlend blaue Augen frei. 

Westwärts an der Costa de Almeria entlang. Die planenbespannten Flächen an den Hügeln sind faszinierend, grade in ihrer Brutalität und groben Häßlichkeit. Ich denke an die Glashäuser an der ligurischen Küste bei Savona; auch dort sind die Hügel flächendeckend zum Gemüseanbau bestimmt, aber das glitzernde Glas der Dächer verströmt eine gewisse wintergartenhafte, wenn auch verblichene Grandezza. Hier ist von dieser luxuriösen Glaspalastanmutung keine Spur. Es sind Baracken und Zeltstädte, heruntergekommene Lager, die die Straßen flankieren und, noch sinistrer, in die Berghänge hineingetrieben sind wie Bunkeranlagen, schuppige Panzerungen mit Schießscharten, Wehrkachelungen. Ich kann nicht leugnen, dass mich diese agrarindustrielle Zurichtung ästhetisch durchaus in ihren Bann schlägt. Die scheinbare Aufschlitzung der Hänge, der Wechsel zwischen weißen, grauen und schwarzen Foliendächern, die großflächige Versiegelung und Überformung der Landschaft ist von großer Ausdruckskraft. Die rücksichtslose Entschlossenheit, mit der der Mensch dieser Küste sein Zeichen aufgeprägt hat, beeindruckt mich stark. Das geht zweifellos, wie am Rio Tinto, ins Große, ja, Titanische. Ähnlich imposant stelle ich mir die großen Salzseen in Amerika, die Schwefelwüsten Chiles oder die Teersümpfe Afrikas vor; auch in der Malebolge von Dantes Inferno würden sich solche Zeltbaracken gut machen. Das muss man Spanien lassen: es hat Charakter, einen schroffen, unsentimentalen Realitätssinn. Hier muss man dem kargen Boden abtrotzen, was geht. Für Zärtlichkeit und bukolisches Hätscheln des Ökosystems ist wenig Gelegenheit. Landwirtschaft ist Kampf und Krieg. Krallen, nicht Kraulen. 

Die Härte ist durchaus einleuchtend. Was mir freilich weniger einleuchtet, ist der Umstand, dass Menschen hier Urlaub machen und sich im Sommer ähnlich dicht an dicht am Strand drängen wollen wie das Gemüse nebenan auf seinen Lagen von Zellstoffsubstrat. Die Küste hier ist auf eine Weise durchfunktionalisiert und auf Effizienz getrimmt, dass sich in puncto Rücksichtslosigkeit und ästhetischer Dickfelligkeit selbst die nicht gerade für Zupflasterungsscheu bekannten Italiener noch eine Scheibe Beton abschneiden können. Vielleicht gibt es schöne Buchten, weitläufige Strände, entzückende Nischen dort am Meer. Doch von der Autobahn aus - eine Perspektive, die allerdings nur selten eine zuverlässige Grundlage für ein Urteil bietet - sehen wir nichts, was uns anzöge. Zum einen, weil die Straße an vielen Stellen so in den Hügel hineingesprengt und der Fels oft zu massiven Blöcken gehauen ist, dass sich auch hier wieder das Bild einer Festungsanlage aufdrängt, die das Land gegen das beständige Andrängen des Meeres schützen soll; vielleicht darum erscheint mir das Meer als feindliches Element, jedenfalls als etwas, das mir jetzt Unbehagen bereitet, fast ein körperliches Unwohlsein, als versuchten meine Eingeweide, etwas auszustoßen, das mir nicht bekommen ist, und bei dem es sich vermutlich nur um das pappige Hörnchen handelt, das wir zum Milchkaffee verzehrt haben. Mir ist nicht gut, und der Anblick der Küste eignet sich hervorragend, den Grund dafür abzugeben oder zumindest diese Übelkeit zu illustrieren: die flechtengleich wuchernde Bebauung - all diese Feriensiedlungen, Hotelanlagen, Korallenriffe aus Beton an der Costa del Sol - wirkt von der Straße aus wie weißer Schorf, ein Saum aus Schuppen und Grind, von einem leprösen Riesen dort hingewürgt. 

Es geht mir erst besser, als wir uns hinter Malaga wieder nordwärts wenden und Kurs auf Alora nehmen. 
Das Städtchen nicht der Rede wert: Schulkinder, die mit baumelnden Ranzen heimwärts trotten, alte Herren auf dem Weg vom Frühschoppen zum Aperitiv und dann zum Mittagswein. Im Restaurant sind wir die einzigen Gäste, als Vorspeise gibt es in Essig eingelegten Spargel, einen Fächer aus einer halben Tomate, eine Nocke fluffigen Ajolis. Es sieht aus wie in der dürftigsten DDR-Mangelwirtschaft, aber die Tomate wird doch sicher unter südlicher Sonne zu einem Wunderwerk aromatischer Tiefe gediehen sein, der Spargel in seiner Lake zu geschmacklicher Harmonie gereift? Leider trifft nichts davon zu. Der Spargel schmeckt wie aus Formosa, und selbst die holländischen Züchter bringen mittlerweile bessere Tomaten auf den Markt als diese hier. Die Provinz bewahrt nicht die ursprünglichen Genüsse der vorindustriellen Zeit, sie verwertet nur modernen Ramsch. Immerhin kann man den Spargel und die Tomatenhalbscheiben mit ihren saftglänzenden Fruchtkammern zu einem vegetabilen Koitusbild arrangieren. Dass der Koitus erfolgreich war, bezeugen die Ajolikleckse auf der Tomate. Da freut sich der Pennäler in mir. 

Vor ein paar Tagen waren wir bereits in der Gegend. El Torcal liegt nur wenige Kilometer entfernt. Jetzt kehren wir auf einem Campingplatz an der Embalse de Gaitonejo ein; der Stausee liegt in strahlendem Türkis zwischen bewaldeten Hügeln, lauschiger als die meisten anderen Seen, die kargere Täler geflutet haben. Der Campingplatz ist riesig und so gut wie leer. Was uns anderswo ganz willkommen wäre, wirkt hier öde, ja gespenstisch: die kahlen Stämme der Kiefern ragen stelengleich auf, dazwischen sind viele gemauerte Grillöfen mit Kaminaufsatz errichtet, die dem Ganzen etwas ebenso Nekropolenhaftes verleihen wie die Betontische und -bänke, die auf jeder dieser Hunderte von Parzellen stehen wie Sarkophage. Ohne das bunte Zeltgewirr, flatternde Wäsche, Menschen, Töpfeklappern und Gelächter, die diesen braunen Wald in der Saison beleben werden, ähnelt das Ganze nur einem großen Friedhof aus knochenweiß gebleichten Katafalken und Grabplatten. 

Zu allem Überfluss gibt unsere Wasserpumpe den Geist auf und keinen Mucks mehr von sich; man gestatte die Katachrese; es ist ein katachretischer Tag. Zudem wird es abends kühl und windig. Böen treiben Sandschleier über den Boden. Von den dürren Kiefern regnen die Nadeln. Ab zehn Uhr abends dröhnen im Fünfminutentakt Flugzeuge über uns hinweg; offenbar leitet man in dieser Zeit den Luftverkehr nicht mehr über Wohngebiete, sondern lässt sie den Umweg über diese schwach besiedelte Gegend nehmen, in der sich Fuchs und Mensch gute Nacht sagen; jedenfalls hört ein junger Fuchs, der unsere Abfälle inspiziert, höflich meiner Ansprache zu und antwortet mit einem heiseren Pusten und kleinen Winsellauten, die nicht unfreundlich klingen, sondern eher, als suche er Anschluss. Der Campingwart war weniger liebenswürdig. 

16. Juni. Gaitanejo - Priego de Cordoba.

Wir hatten mit dem verpfuschten Abend gehadert; heute werden wir dafür entschädigt. Der Abend war eine Art Defibrillator, der eine aus dem Takt geratene Schwingung wieder in die rechte Spur bringt. Wir mussten den Abend über dort ausharren, um am Morgen gut einzusetzen. 
In der Nähe liegt der caminito de reyes, der zur Schlucht von El Churro führt. Eine gemütliche Wanderung. Der Weg ist von Oleanderwäldern und Feigendschungeln gesäumt, von Stechpalmen und Eukalyptus, von dessen Stämmen sich die Rindenstreifen schälen. Im Tal glänzt opalgrünes Wasser, am Himmel sind leuchtende Wölkchen angetupft. Vor der gewaltigen Schlucht der Garganta allerdings ist eine Sperre errichtet. Eine Gruppe von Wanderern hat sich dort gesammelt, sie sind bereits mit Helmen ausgerüstet und warten auf den Führer, der sie in Empfang nimmt. Ich frage den jungen Mann, der die Helme austeilt, nach den Bedingungen. Er sieht nicht aus wie ein Bauer, macht einen gebildeten Eindruck. Aber nein, Englisch spricht er nicht. Auch Französisch nicht, Italienisch, Deutsch. Warum auch, schließlich sei man in Spanien. Er sagt das durchaus freundlich, ohne jede Patzigkeit; er konstatiert nur ein Faktum, bevor er, immerhin langsam und um Verständlichkeit bemüht, in der Nationalsprache erklärt, dass man sich für den Zugang zur Schlucht im Internet anmelden müsse, das sei ganz einfach, fácil y gratis. Er lächelt sonnig. Ob es für wirklich jedermann einfach sei? Necesita un smartphone, SIM-card para extranjero, internet. Es una barrera. Immerhin versteht er smartphone und internet, SIM-card wahrscheinlich auch, obwohl es korrekt tarjeta SIM heißt. Es ist merkwürdig: die Welt ist internetional geworden, das Englische hat sich als lingua franca global durchgesetzt, nur in jenen Ländern, die selbst einmal die Weltsprache bestimmt haben, Frankreich und Spanien, verweigert man sich besonders bockig dem Geist der Zeiten und verteidigt sein Heimatidiom, als könne selbst durch winzige Spuren von Fremdsprachenkenntnis eine gefährliche Infektion hervorgerufen werden. Wahrscheinlich haben sie recht; gegen das Gefühl, von Marokkanern, Algeriern, Kamerunern und Ghanaern überrannt zu werden, hilft es allemal, kein Englisch zu sprechen... Dass Frankreich und Spanien zugleich die beliebtesten Urlaubsländer Europas sind, wird wohl ein weiterer Grund sein. Reisen heißt schließlich, das Fremde zu erfahren. Niemand geht auf Safari, um zu sehen, dass Löwen sich nicht anders als die Katzen benehmen, die man von zuhause kennt. Auf Reisen wollen wir nicht Verständigung, sondern ihr Scheitern; erst im Misslingen des Geläufigen tritt das Fremde als Besonderheit hervor, zeigt sich als exotisch und inkommensurabel anders. Je schwieriger die Kommunikation, desto stärker das Gefühl des Abenteuers... James Cook, den man mitsamt seinen Männern am Strand von Hawai meuchelte, weil er ein Tabu nicht begriffen hat, sei mein Zeuge.

Mittags in Antequeras. Es ist offenbar eine wohlhabende Stadt, gepflegt, voll ansehnlicher Bürgerhäuser, Palästen und Kirchen. Wir nehmen den Mittagstisch in einer Bar. Aus unerfindlichen Gründen läuft mit voller Lautstärke Musik, die ausnahmslos allen Anwesenden zuwider ist, aber weder die Gäste noch das Personal ändern etwas daran. Lady Gaga und Konsorten gehen über die Tische nieder wie ein Verhängnis. Wenn es zuhause im protestantischen Norden nicht genauso wäre, würde ich sagen, dass die Spanier es ja seit je gewohnt seien, sich in Bußfertigkeit zu geißeln. Ich würde das Erdulden dieser Musik auf ein katholisches Bedürfnis nach dieser Flagellation schieben, aber da dieses Phänomen dauernder Beschallung weltweit verbreitet ist, wird es einen anderen Grund geben, über den ich lieber gar nicht erst nicht nachdenke, um mir nicht die Laune zu verderben.

Wahrscheinlich hat eine alte Dame, die am Nebentisch ihr Mittagsmenü verzehrt, diese Vorsichtsmaßnahme nicht beachtet. Unentwegt vor sich hinschimpfend und mit der Welt im Ganzen hadernd sitzt sie allein vor ihrem Teller, schnauzt den Kellner an, aber da der sich auf keine Auseinandersetzung einlässt, begnügt sie sich damit, ihre Suppe anzumaulen, statt sie einfach auszulöffeln, wie wir es tun. Über der köstlichen Salmorejo - Brot, Tomaten, Knoblauch, dickflüssig, mit Essig abgeschmeckt und mit Eischnitzen und bonito-Häufchen garniert - vergessen wir die Musik, oder bemerken vielmehr, dass sie immerhin die mürrische Suada am Nachbartisch zudeckt, und dann nehmen wir noch ein Glas Wein und tauschen die Teller, sodass ich Dagmars wunderbaren Linseneintopf mit Blutwurst und Chorizo und grüner Paprika bekomme, und beim Hauptgang ist akustisch alles nur noch ein Brausen, in dem alle Einzelheiten aufgelöst sind und man niemand Bestimmten mehr lauschen muss; die Musik wird zum entropischen Fond, der alle individuellen Konturen tilgt und nur einen Geschmack von allgemeiner Süffigkeit hinterlässt. Sobald ich auf die Musik höre, vergällt sie mir die Stimmung, und ich verstehe plötzlich, dass die Musik gar nicht dazu da ist, auf sie zu hören; ihr Zweck besteht eben darin, den akustischen Raum zu eliminieren, indem sie ihn besetzt. Sie ist eine Maßnahme der Diskretion; sie ist nicht Etwas als Etwas, sie ist das Nichts für Alles. Sie ist ein Abgrund an Negativität, der tief genug ist, alles in sich aufzunehmen und kleinzumahlen: ein Schlund, in dem die privaten Abfälle der Rede zermalmt werden. Sie verbirgt und löscht das Individuelle. Hatte Averroes nicht so von der Seele gesprochen und gesagt, ihr Wesen läge nicht in ihrer individuellen, raumzeitlich und leiblich bestimmten Einzigartigkeit, sondern in ihrem Vermögen des Allgemeinen und der Abstraktion, im Absehen vom konkreten Einzelding? 

Auch der Weg nach Priego de Cordoba scheint eine allegorische Illustration von Ibn-Rushds Gedanken, die Christen und Muslime so beunruhigt haben. Dass wir nur insoweit Seele sind, als wir an den ewigen Gesetzen des Allgemeinen teilhaben, alles Individuelle an uns aber flüchtig und vergänglich ist, musste Paradieshoffnungen und Höllenfurcht zunichte machen. Kein Gott kümmert sich um unseren persönlichen Lebenswandel. Was an uns unsterblich ist, ist nicht unsere Einzigartigkeit, sondern die Uniformität und Identität des Geistes. 

Uniformität und Identität sehen wir von nun an genug, und fast nichts anderes: über Hunderte und Aberhunderte von Quadratkilometern ist hier wieder nichts anderes gepflanzt als Olivenbäume. Sie bedecken in vollkommener Regelmäßigkeit die Hügel, und wenn man über einen Hügelkamm gekommen ist und jenseits etwas Anderes erwartet hat, tut sich doch nur immer wieder das Selbe auf: endlose Flächen ebenmäßiger Pflanzungen, arithmetische Reihen, eine Kopulation von Mathematik und Bauernleben...

Priego ist eine kleine Stadt, die sich sehr eifrig um Reisende bemüht. Der junge Mann im Touristenbüro ist beflissen und liebenswürdig; andererseits ist er kaum zu bremsen in der Aufzählung und Erklärung all der Schönheiten Priegos; er scheint davon auszugehen, dass wir eigentlich nur darum ein paar Tausend Kilometer gefahren sind, um exklusiv seine Stadt zu besichtigen und uns für zwei Wochen hier einzuquartieren. Er ist so zappelig hinter seinem Tresen, als würde er uns am liebsten gleich an die Hand nehmen und die Kirchen und Stadtmauern und Tapasbars zeigen. Dieses Entgegenkommen ist uns ein wenig unangenehm; es will einen Sahib aus uns machen, der wir nicht sind und nicht sein wollen. Ähnlich geht es an unserem Parkplatz. Dessen Wächterin - eine junge Frau - hat mittlerweile ihre ganze Familie um sich versammelt, die Kinder, den schwachsinnigen Onkel, Oma und Opa. Als wir sie nach einem Übernachtungsplatz in der Nähe fragen, bietet sie sogleich an, uns dahinzulotsen. Sie würde vorausfahren, es sei kein großer Umstand, im Gegenteil, es sei ihr ein Vergnügen. Wir lehnen natürlich ab, weil wir ihr eine solche Mühe nicht aufbürden wollen. Nachdem wir abgefahren sind, bin ich noch eine Weile gerührt; soviel Hilfsbereitschaft und Fürsorge kennen wir von zuhause nicht. Wie herzlich man sich hier um Fremde kümmert, ist bewegend. Es dauert eine ganze Weile, bis ich kapiere, dass ich der Wächterin durch meine Absage nicht keine Mühe gemacht, sondern ihr ein kleines Zubrot versagt habe. Denn ich hätte ihr nach vollbrachter Hilfe natürlich etwas zustecken müssen, sobald sie uns in den Hafen gebracht hätte; doch wahrscheinlich hätte ich nicht begriffen, dass es bei dem Ganzen um ein Geschäft gegangen wäre. Aber für diese Zwischenform von Hilfsbereitschaft und Handel fehlt mir das Sensorium und die Erfahrung mit solchen Gepflogenheiten; ich hätte einfach für Liebenswürdigkeit gehalten, was in Wahrheit eine Dienstleistung hätte sein sollen. Ich hätte ihr nichts gegeben, um ihre Höflichkeit nicht durch ein Trinkgeld zu beschämen, und danach hätte ich mich geärgert, ihr nichts gegeben zu haben; sie wiederum hätte vermutlich meine Zurückhaltung einfach für knausrige Undankbarkeit gehalten. Aber sei's drum: James Cook hatte schlimmere interkulturelle Missverständnisse auszustehen. 

Priegos Altstadt ist jedenfalls ein Schmuckstück. Die Häuser weißgetüncht; hier und da bedecken kunstvolle Kacheln die Fassaden; da sind schmiedeeiserne Balkone und verglaste Erker, über denen schattenspendende Rollos oder Drillich-Markisen hängen. In den Parkanlagen steigen feine Fächer von Brunnenfeuchte auf; ein Hauch von spanischer belle époque weht über die gekiesten Pfade; man würde sich nicht wundern, wenn hier kleine Jungen im Matrosenanzug ihre Kreisel peitschten oder Barlauf spielten. Aber es ist kaum etwas los hier; ein paar alte Damen führen ihre Pudel aus, an den Terrassen der alten Stadtmauer stehen bemützte Rentner und palavern. Die Altstadt ist offenbar etwas für Senioren. Betriebsamkeit und Leben finden sich im modernen Teil Priegos; da ist Gewimmel, Lärm, Verkehr, Schwung. Uns genügt heute das beschauliche Reservat der Alten und der Reisenden. Ich erinnere mich an einen Balkonerker, dessen Glaskasten mit durchbrochen gemusterten Blechen ausgeschlagen war, und stelle mir das Licht vor, das den Raum dahinter durchflimmern muss - ein behutsames, träumerisch gedämpftes Höhlenlicht, gesprenkelt von schimmernden Staubflusen. Dort würde ich jetzt am liebsten sitzen, im kühlen Schatten, außerhalb der Zeit, fernab von allem. Aber auch unter der Pergola des Restaurants ist gut sein. Katzen schleichen träge über das Pflaster, heischen ab und zu einen Bissen von den Gästen, aber eher in höflicher Herablassung als mit Nachdruck. Wir naschen ein Glas Schnecken; nichts könnte in dieser Stunde der Erschöpfung besser passen als diese Gastropoden. Man hat noch nicht einmal das Gefühl, wirklich etwas zu essen; es ist eher die Geste des Essens, die zählt. Die Caracoles sind so klein, dass sie den zubeißenden Zähnen leicht entgehen. Einfacher ist es, die Würmchen mit der Zunge an den Gaumen zu drücken, ihnen den Geschmack auszupressen und sie dann zu schlucken. Es ist mehr eine osmotische Anverwandlung, ein Aufsaugen und Einsickern, als ein aktives Verzehren. Die Zähne werden nur gebraucht, um die Schnecken aus ihren Gehäusen zu zupfen, nicht, sie zu zertrennen. Das verleiht dem Essen auch einen zärtlichen und beinah erotischen Aspekt. Beim Austernschlürfen kommt diese Art der erotischen Einverleibung zu ihrem Höhepunkt und direktestem Ausdruck, wenn die Lippen auf dem salzfeuchten Polster der Muschel liegen wie auf der Möse des Meeres selbst, und das Fleisch wie ein Schleimball agglutinierten Spermas über die Zunge hinweg die Kehle hinabschlüpft. In der Auster ist der ursprüngliche Hermaphroditismus schmeckend zu ahnen, den Proust als Repräsentation einer reinen, noch nicht kategorial geordneten und fixierten Poesie gerühmt hat, die Quellgrund aller unvoreingenommenen Wahrnehmung ist. Die Auster ist ein Zwischenwesen; aufgewachsen im Wechsel von Ebbe und Flut, gehört sie weder ganz dem Meer an noch dem Land. Sie hat mit ihrem schweren Panzer Teil an der Welt des Mineralischen und ist doch schon Lebewesen. Doch welcher Art? Der Zoologe reiht sie der Tierwelt ein, aber dass man sie umgangssprachlich eine Meeresfrucht nennt, scheint mir ebenso plausibel; dass sie sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen kann, ist für mich eher ein pflanzliches Merkmal. Sie steht zwischen dem Flüssigen und dem Festen, zwischen Meer und Land, Tier und Pflanze, Stein und Fleisch, sie ist ein leibhaftiges Nicht-Fisch-Noch-Fleisch. Dieser Zwischenstatus macht sie zum Symbol nicht des Sexus als Lust, sondern der Neues zeugenden und Unerwartetes gebärenden Kräfte des Lebens. Die Auster hätte im Wappen Casanovas, der sie in Mengen verzehrte, um in Form zu kommen, nichts verloren. Bei Leibniz wäre sie besser plaziert. 
Doch zurück zu Priego. Wir übernachten auf einem großen Parkplatz in den Ausläufern der Stadt. Dass es eine öde Asphaltfläche ist, spielt keine Rolle. Über uns wölbt sich ein klarer Sternenhimmel, und trotz des Streulichts schimmert die Milchstraße wie ein Band stellaren Rogens im All. 

Am Rand des Geländes steht eine große Halle, in der die örtliche Blasmusik probt. In Deutschland sind die Blaskapellen meist bieder und betulich; in den romanischen Ländern pflegt man das Grelle. Die rhythmische Wucht und Düsternis der bandas sind ebenso ergreifend wie ihr schrilles und oft misstönendes Gequäke. Es kommt bei dieser Musik nur am Rande auf Voluminöses oder Volltönendes an; vor allem geht es darum, eine stachlige, drängende Energie zu entfalten. In solche Musik wickelt man sich nicht warm und behaglich ein, sie ist nichts für Theaterlogen, in denen man Wollplaids über die Knie breitet und am Konfekt nascht. Diesem Klang ist noch seine Herkunft aus Kriegs- und Brunft- und Rauschritualen anzuhören, ein entfesselter Angriff und Ausgriff gegen das Andere als solches: gegen das Nachbarvolk im Krieg, gegen das andere Geschlecht in der Brunft, gegen das Jenseits im Rausch. Selbst wenn, wie hier zum Abschluss der Probe, die Ode an die Freude gespielt wird: es klingt wie eine Hymne an den Wahnsinn.

17. Juni. Priego - Cordoba.

Der Weg nach Cordoba ist weiterhin von Olivenplantagen gesäumt, soweit das Auge reicht. Der Himmel ist wolkenlos und strahlend blau; aber über der Landschaft liegt ein schimmernder Flor von Staub und Dürre, ein feinkörniger Schleier, der den Blick trübt. Der silbrige Flimmer, der so oft über die Olivenbäume spielt, ist gedämmt und verblasst. Wie lange hat es hier nicht mehr geregnet? 
Wir finden im Umland Cordobas eine Werkstatt, wo uns eine neue Wasserpumpe eingebaut wird. Der junge Mann, der mit Schraubenschlüsseln und Spannungsmesser daran herumhantiert, sieht aus wie einem Caravaggio entsprungen; vor allem, als er uns die kaputte Pumpe zeigt und sie dabei an ihren Kabeln und Schläuchen hält, ähnelt er verblüffelnd dem David, der das abgeschlagene Haupt Goliaths an den Haaren gepackt hat und austropfen lässt. Wir tauschen jedenfalls eine tote Goliathpumpe gegen eine neue ein, die spritzt wie der junge Priapus: das ist kein schlechtes Omen für Cordoba.

Der hiesige Platz für die Wohnmobile ist günstig gelegen. Es sind nur zwei Minuten in die juderia, dem alten Judenviertel am Rand der Altstadt. Das Viertel ist hübsch wie ein Museumsdorf; Blumentöpfe hängen an den getünchten Mauern; die Gassen werden nicht durch irgendwelche profanen Läden entstellt, und die Wege sind vom modernen Geschäftsbetrieb gesäubert - es gibt hier keine Schaufenster, Werbeschilder, das vulgäre Gewese des Kommerzes. Leben freilich auch nicht so recht: wir wandeln durch eine Geisterstadt. 
An die Juden erinnert hier vor allem ihre Abwesenheit. Man spürt die Bereinigung, deren Opfer sie seit den katholischen Königen waren: heute sind die Juden willkommen; freilich eher als Denkmal und in Bronze denn in Wahrheit. Man hat die Juden gegen ihre Repräsentationen in stummer Bronze eingetauscht. 

Gleich hinter der Juderia liegen die Königlichen Stallungen. Wir kaufen Karten für die abendliche Vorführung. Seit uns in der Arena von Cáceres Diego Ventura eine Probe der spanischen Reitkunst gegeben und uns gezeigt hat, zu welch sagenhafter Finesse geschmeidigster Bewegung ein Pferd im Kampf mit dem Stier imstande ist, habe ich eine Ahnung bekommen, dass die bislang von mir geringgeschätzten Übungen der Hohen Schule keine bloß höfische Ziererei und Abrichtung des Pferdes zu sinnlosem Zeremoniell sind, sondern seine Ausbildung zur denkbar feinnervigst reagierenden Leiberweiterung des Reiters. Tierschützer mögen anders darüber denken; ich sehe in dieser Dressurleistung weniger die Unterwerfung des Tiers als eine Symbiose, eine gelungene Paarung und Einswerdung von Mensch und Tier: die zentaurenhafte Verschmelzung von Menschenwillen und dessen Vollzug im Medium eines anderen Lebewesens: ein Menschenkopf, der einem Pferdeleib aufsitzt. Die in den besten Momenten aufscheinende Zwanglosigkeit, mit der das Tier dem Willen des Reiters gehorcht, transzendiert jede Idee von Unterwerfung und suggeriert eine Einheit und Verbundenheit, zumindest eine Übersetzbarkeit alles Lebendigen ineinander, die mich an manche Seite aus Giordano Brunos einheitstrunkener Kabbala-Schrift erinnert. Ich bin neugierig, ob diese Verschmelzung von Pferd und Mensch, die in der Arena so mitreißt, auch auf diesem Sandgeviert der Königlichen Stallungen spürbar sein wird, oder ob wir hier nur einen Blick in den Maschinenraum der Abrichtung tun werden. 

Die Mezquita. Ich habe schon viel von der Iterativität der spanischen Landschaft gesprochen, von der Regelmäßigkeit der Bepflanzung und ihrer repetitiven Kargheit. In der Mezquita Cordobas verdichten sich diese Charakterzüge in Stein. Im Innenhof, der der Moschee vorgelagert ist, stehen heute nur noch wenige Palmen. Doch was für ein Anblick muss es gewesen sein, bevor man hier Orangenbäume und Zypressen pflanzte! Die breiten Fächerbögen der Palmwedel, in deren Schatten die Gläubigen sich an den Brunnen wuschen, waren ein Vorspiel der Bögen im Innern der Moschee, die Palmstämme Vorschein der Säulen. Der Betende erfuhr einen zarten Übergang aus dem flimmernden Reich der Natur in das geläuterte und geklärte Reich des Geistes. Das Rieseln der Brunnen und Wasserrinnen, das Rascheln der Blätter, das Spiel der Schatten wurde gestillt, sobald er die Mezquita betrat. Die Stämme wandelten sich zu Säulen, die Palmwedel zu gemauerten Bögen, gebildet nach den Formeln des Euklid und des Polyklet; das unstete Leben draußen - fahrige Verworrenheiten von Sonne und Schatten, schwankende Gestalten - fanden hier ihren Aufhalter; den ewigen Wald, den steinernen Wald, die Schonung der Arithmetik. Als wir die Mezquita betreten, bin ich vollkommen bezaubert. Dies scheint ein Ort am Ende der Geschichte, ein Raum, der nicht Furcht noch Hoffnung zum Ausdruck bringt, nicht das Drama menschlicher Geschicke, sondern allein eine beruhigte, kosmische Geometrie. Die vielen hundert, in regelmäßigem Raster errichteten und durch zumeist doppelte Hufeisenbögen verbundenen Säulen sind zuallerletzt das, was ich einen österreichischen Touristen sagen höre: von einem Irrgarten ist dies weit entfernt. Nichts will hier eine menschliche Seele in eine labyrinthische Irre führen, ihr obskure Prüfungen auferlegen oder den Weg zu einem verborgenen Mysterium erschweren. Alles liegt offen da, es ist einsichtig und transparent. Die Säulenhalle spricht von der Rationalität des Seins und von seiner Unendlichkeit: das ist alles. 

Die vertikale Doppelung der Bögen, die den Eindruck einer Ausweitung und Öffnung nach oben hin erzeugt, ist ebenso wie die vielen sich kreuzenden Säulenfluchten in der Horizontale die Darstellung einer kontrakten Unendlichkeit, wenn ich mir eine cusanische Formulierung borgen darf. Diese Unendlichkeit aber ist gesetzmäßig, ohne Abweichung und versteckte Besonderheiten, sie ist die starke Behauptung einer homogenen Welt, deren Vielfältigkeit nicht durch Abweichung von der Regel geschaffen wird, sondern allein durch die schiere Menge möglicher Perspektiven. Die mezquita ist eins jener Gebilde, in denen Quantität emergent wird und in eine neue Qualität umspringt. Zehn Bögen sind nur zehn Bögen. Hundert Bögen können zum Wunder werden; hier geschieht es. 

Doch allmählich nähern wir uns der Mitte der mezquita. Die lichte Regelmäßigkeit des Säulenwalds hat einen dunklen Kern. Dieser dunkle Kern ist die christliche Kathedrale, die man nach dem Fall Cordobas in die alte Moschee gerammt hat wie einen groben Pflock. Diese Missetat werden wir morgen, wenn wir den Glockenturm besteigen, der das muslimische Minarett überbaut hat, noch deutlicher erkennen. Heute sind wir nur schockiert, dass sich im Herzen dieses Wunderwalds von Säulen und Bögen als eine Art von Tumor die christliche Kirche eingenistet hat. Karl dem Fünften, der den Bau billigte, ohne zu wissen, was er damit anrichtete, wird, als er das vollendete Werk sah, der Ausspruch zugeschrieben, dass man hier etwas zerstört habe, was einmalig war, nur um etwas zu errichten, was man überall hätte bauen können. 

Karl war der erste wahrhaft globale Herrscher, in dessen Reich die Sonne nie unterging; in Cordoba hat er zugelassen, dass das Licht sich in Gold und Prunk verdunkelte. Die Säulen der alten Moschee liegen in mildem Dämmer; die hineingebaute Kathredrale suhlt sich in einem Licht, das mich in seinem prahlerischen Stolz eher unangenehm berührt. Neben der rationalen Klarheit der Moschee wirken die Serpentinatas und Schraffuren, überhaupt die ganze Vielfalt der Fächerungen und Gliederungen wie verunsichert. Das enorme Aufgebot von Formen ist nicht einfach ästhetisch überladen; das Weltgefühl, das sich hier Ausdruck verschafft hat, ist in Vielheit zersprungen und scheint wahllos nach allen Möglichkeiten zugleich zu greifen, nicht viel anders als in Granadas entgrenztem San Juan de Dios. Der Chor ist wie ein Expeditionsschiff, das in seinen Laderäumen allen Tand und Plunder beherbergt, der auf Erden zu finden ist. Nichts hat man auf seinen Beutezügen zurückgelassen, alles musste mitgenommen und untergebracht werden. Der Chor ist vollgestopft und eng; das mehrstöckige Altarretabel passt mit knapper Not in den verfügbaren Raum. Man hat ihn geradezu zwischen Seitenwände und Dachkuppel hineingerammt; sein Simsabschluss sieht aus, als müsse er den Nacken beugen, um nicht gegen die Kuppel zu stoßen. 

Das alles sticht befremdlich ab gegen die gelassene Weite der Moschee. Wird dort die Wüste und der Palmenhain beschworen, hat der christliche Chor in einem vollgeramschten Trödelladen - oder, weniger despektierlich, in einer königlichen Schatzkammer - sein Vorbild. Es ist merkwürdig: obwohl die Kuppel das Moscheedach um das Doppelte überragt und sehr viel mehr Licht ins Innere strömt, empfindet man den Raum als enger, geschlossener. Die Ruhe und Selbstsicherheit, mit der die islamischen Säulen ihre Bögen und Kronen austreiben, ist das Bild einer immerfort weiter ihre Fruchtbarkeit und Lebendigkeit austreibenden Schöpfung. Was man zum Leben braucht, ist symbolisch gegenwärtig: Palmen und Wasser. Dagegen ist die Kathedrale Zeugnis einer luxurierenden und in Zwängen erstickenden Welt. Sie ist ganz Stadtkirche, voller Waren und Prunk, gegliedert von Gittern und Sperren, ausgeschmückt und redselig und enzyklopädisch. 
Von einer Stelle aus sind hintereinander zwei Doppelbögen zu sehen; der hintere, muslimische, ist eine Art abstrakten Mandalas, eine geometrische oder vielmehr fraktale Konstruktion aus parabolischen Kreissehnen. Der Bogen davor gehört noch zum christlichen Teil. Das Feld über dem unteren Rund ist ausgefacht und mit Hochreliefs von Heiligen und Evangelisten erfüllt; der Halbkreis darunter zeigt zwei Dutzend menschliche Gestalten. 

Es ist eine scharfe Kontrastierung zweier religiöser Konzepte: hier die kristalline und abstrakte Zeitlosigkeit der göttlichen Schöpfung, dort das menschliche Gewimmel der Geschichte; hier vegetabilische Strukturen, dort die Heiligen, die aus ihren gemeißelten Reliefrahmen schauen wie Stadtbürger aus ihren Fenstern; hier die Bahnen der Sterne und die geschwungenen Kurven von Palmwedeln; dort die Alben der Heiligen Familie. Hier die Ordnung des Universums; dort ein Gottessohn, der Mensch geworden ist. 

Als man 1593 begann, das Minarett mit dem heutigen Glockenturm zu ummauern, wurde im fernen Italien der verhaftete Giordano Bruno nach Rom überstellt und in die Engelsburg geworfen. Man machte ihm weniger die Parteinahme für das heliozentrische Weltbild des Kopernikus zum Vorwurf als seine Leugnung der Inkarnation Christi; aber letztlich fließen beide Thesen aus der selben Quelle. Bruno stritt die Privilegierung des Menschen und der Erde ab; er löste sich von der Obsession des Christentums, der Mensch sei das Ebenbild Gottes. Gott war für ihn nicht der Spender einer besonderen Huld und Gnade dem Menschen gegenüber, sondern der Ingenieur eines unendlichen und universellen Metabolismus, in dem in unendlicher Dauer alles sich in alles verwandelt. Die Zeit nagt und bildet, sie zerstört und erschafft, zermalmt und formt, vernichtet und gebiert. Sie wirkt unablässig an der Überführung aller Elemente in neue Konstellationen und Vermischungen. Sie lässt summende Bienen aus Rinderkadavern steigen, macht Wüsten aus Wäldern, Kohle aus Licht und aus Licht wieder Kohle, sie macht Menschen aus Marmor und Marmor aus Menschen: die Welt ist ein Kontinuum der Wandlungen. 

Als wir uns nach einem langen Spaziergang durch die Stadt wieder in den königlichen Stallungen zu den Reitervorführungen einfinden, erleben wir eine Art dieses Übergangs. Die zentaurenhafte Verschmelzung von Ross und Reiter, die mich in der Arena von Cáceres so fasziniert hat, ist hier freilich noch fern. Noch fehlt die Virtuosität, mit der Diego Venturas Pferde auf jeden kleinen Schenkeldruck und jedes Zügelzupfen reagieren. Was bei Ventura Leben ist, übt hier noch Mechanik ein. Die Reiter führen Figuren vor, die schlicht aussehen, wahrscheinlich aber viele Stunden der Dressur erfordert haben: taktgenaues Gehen, exaktes Abschreiten von Kreisen und Bögen, Paralelle und Symmetrie, Passagen und Traversen. Mir scheint, dass die Pferde eben die Figuren in den Sand treten, die in der Mezquita die Bögen verziert haben. Es ist, Die Pferdehufe zeichnen eine Geometrie der Kegelschnitte in die Arena ein. Oft führen mehrere Reiter zugleich ihre Figuren vor: die Pferde schließen sich zum Verbund zusammen und lösen ihn, zu parabolischen Bahnen ausscherend, auf, vollführen sich verengende und wieder sich weitende Spiralen und Schleifen, bei denen sich die Wege manchmal kreuzen, dann von neuem auseinandergleiten, um sich in allen vier Ecken des Geviertes in epizyklischem Kreisen zu spiegeln und bei all dem eine orbitale Choreographie aus Kontraktion und Expulsion entfalten, wie ich ihr, Wochen danach, im Planetarium von Toulouse wiederbegegnen werde, wo nicht mehr ein paar gut dressierte Pferde, sondern Sternbilder und Galaxien sich in solchen Sarabanden und Menuetten ergehen. Die Arena ist auch hier - wie an den Stätten des Stierkampfs - eine Projektionsfläche für symbolische Metaphysik: am Stierkampf haftet immer noch das klebrige Blut des stellaren Mithrasopfers, manichäisch und dumpf, beschränkt auf den Widerstreit von Licht und Dunkel. In den Hofreitschulen aber hat sich die krude Astrologie der Mithräen bereits zu einem Abglanz kopernikanischer Himmelsmechanik gewandelt. Die Weltordnung ist mathematisch geworden. In der antiken Legende wird die Bitte des Archimedes, seine Kreise nicht zu stören, nicht erhört: der Soldat lässt ungerührt das Blut des Mathematikers in den Sand fließen. Das 16. Jahrhundert, als die Hohe Schule formalisiert wird, ist die Epoche Tycho Brahes, Keplers, Galileis, und die Vergnügungen der Eliten sind wie die Erforschung der Gestirne schon nicht mehr auf blutige Opfer, sondern auf Regelmäßigkeit und abgezirkelte Zeremonien gerichtet. Man will das Widersachertum urwüchsiger Natur nicht mehr vernichten, sondern beherrschen; über das bloße Duell ist man hinaus; jetzt erweist man seine Macht nicht im Töten, sondern im klugen Dirigieren. Man zerstört den Widersacher nicht: man macht sich seine Kraft zunutze und bindet ihn in ein Zeremoniell ein: das ist die höfische Kultur im Absolutismus. Der Sonnenkönig sichert seine Macht nicht in erster Linie, indem er seine Rivalen bedrängt und verbrennt: er lässt sie lieber um sich kreisen wie berechenbare Planeten. Am Hof des roi soleil wird wenig geköpft; es reicht aus, den Köpfen aufwendig coiffierte Perücken aufzusetzen; das hält sie ebenso gefügig. 

In der Tat ist der Hohen Schule ihre Herkunft aus dem rationalistischen Jahrhundert anzusehen. Das heraufkommende Zeitalter der Analyse hat die Methoden geprägt. All das, was ein Pferd können muss, wird hier resolutiv in seine Elementarstücke zerlegt und kompositiv wie auf der Rechentafel angeordnet. Descartes und Galilei hätten ihre helle Freude daran, wie die Pferde ihre Funktionsgraphen in das Koordinatensystem des Platzes malen. Und ist nicht die lange Lanze, deren Schaft einem Reiter locker auf der Schulter ruht und deren Spitze über den Sand schleift, wie ein Zirkel, der eine Formel in Kurven überführt? 
Die Schau ist freilich nicht nur equestre Mathematik. Die Vorführung aller Bewegungsarten des Pferdes erhält seinen Reiz zu einem großen Teil daraus, dass diese Fertigkeiten erst im Treffen mit dem Stier zu ihrer wahren Nutzbarkeit erwachen. Das Exerzieren ist kein selbstzweckhaftes l'art pour l'art, sondern das Einfleischen motorischer Muster, die beim Stiertreiben oder im Kampf abrufbar sein müssen. Der Krieg ist, wie meist, auch hier der Vater aller Dinge: die Hohe Schule ist eine Übung, um dem Feind standzuhalten. Umso interessanter, dass es in der ganzen Schau nur ein Element gibt, das diese oppositive Stelle markiert: die Frau. Vermutlich ist ihre Anwesenheit nur dem folkloristischen Kalkül geschuldet, das die beiden wichtigsten Andalusienklischees zusammenbringen will: Pferde und Flamenco. Aber der Zusammenhang scheint mir doch tiefer. 

Die Frau im Sand ist eine bunte Blüte, flammrot oder azul, während der Reiter einen sehr kontrollierten und sorgfältig zugeknöpften grauen Anzug trägt. Die Mähne seines Pferds ist zu engen Zöpfen geflochten, sein Schweif ist abgebunden, die Fesseln bandagiert. Pferd und Reiter sind geschlossene und geglättete Körper, der Reiter sitzt mit durchgestrecktem Rücken lotrecht auf dem Tier, alles in allem ein Muster der Selbstbeherrschung. Die Frau ist ganz als Gegenbild entworfen: sie ist bunt, um ihre Waden spielt der ausladende und einladende Faltenwurf ihres Kleids; Hintern und Brüste wölben sich rund, sie ist konvex und konkav zugleich. Diese Kurven zu berechnen dürfte auch Descartes schwerfallen, weil sie a) mathematisch ohne Infinitesimalkül kaum zu bewältigen sind, und weil b) eine gewisse erotische Ablenkung ein paar Flüchtigkeitsfehler einstreuen dürfte. Hinzu kommt c) die völlige Unberechenbarkeit ihrer Wendungen, Tanzschritte, Gesten; das Schwingen des Rocksaums, das plötzliche Aufblenden des Fächers, brüske Änderungen des Tempos und der Richtung, die das Sprunghafte als solches in Szene setzen. Es ist auf den ersten Blick nicht mehr als eine Carmen-Attitüde, Leidenschaft, die sich durch ihre Launenhaftigkeit beweist. Aber was ist das Launische? Es ist grundlos, nicht kausal, und springt aus der festen Verkettung von Ursache und Wirkung heraus. Die Laune stürzt das bislang Geltende von einem Moment zum anderen um, sie ist die Demonstration oder zumindest die Behauptung von Freiheit. Was soeben noch von zuverlässiger Berechenbarkeit war, wird durch das Launische ins Chaos des Inkommensurablen gekippt. Das Launische ist der Widerpart der Kontrolle und der formvollendeten Dressur, der die Pferde unterzogen werden. 

Der Auftritt der Frau ist eine transponierte Form der Corrida; nur die Elemente sind anders verteilt, die Funktionsstellen verschoben. Einerseits entspricht die Tänzerin dem Torero; ihr aufblitzender Fächer ersetzt die muleta, ihre überraschenden Schwünge und Drehungen sind den Finten der paseos und veronicas nachempfunden. Andererseits steht sie vor Ross und Reiter wie der Stier vor dem picador oder dem rejoneador. In manchen Passagen ist sie Jäger, in anderen das Opfer; die Positionen wechseln, doch die Struktur des Spiels bleibt gleich; zwischen Verführung und Kampf, Duell und Liebesakt changierend, schwingt es immer zwischen den Polen von Anlocken und Ausweichen, bis zur suprema suerte. Die Corrida endet freilich mit dem Tod des Stiers, diese Vorführung damit, dass die Tänzerin die Kruppe des Pferds besteigt und an den Reiter geschmiegt aus der Arena trabt. Dort Tod, hier Liebe und Eintracht. Aber wer weiß? Vielleicht sticht nach der Eroberung und Bändigung der Frau und seiner selbst der Reiter hinter den Kulissen sein Schwert in den Leib der Frau; vielleicht wird auch ihr Blut den Boden beflecken; vielleicht ist die Liebe nur ein Vorschein und Zeichen des Todes. Die Metaphysik der Leidenschaft, von der die spanische Folklore zehrt und deren Ingredienzen Blut und Stahl sind, hat etwas Heraklitisches: sie feiert die Gegensätze, die ineinander umspringen, sie verherrlicht den Zusammenfall der Extreme. 

Allerdings geht es auch hier nicht anders zu als bei Heraklit. Selbst die größten Gegensätze stehen unter dem Schirm des logos, der alle Differenzen überwölbt und sie seinem Gesetz unterordnet. Und so finden zwar in dieser iberisch romantischen Metaphysik Liebe und Tod ihren Koinzidenzpunkt; andere Gegensätze aber, wie der von Freiheit und Notwendigkeit, enden zuverlässig auf Seiten des ehernen Schicksals. Die Gewichte sind nie ausbalanciert; das Launische, der Zufall, die Unwägbarkeit ist alles nur Zutat, um das unerbittliche Walten des Fatums aufzuschieben und den Schein von Offenheit darüber zu breiten. Denn letztlich ist es wie in jedem Kitschroman: die Frage, ob sie sich kriegen (der Torero den Stier oder der Reiter die Frau) ist immer schon entschieden.

18. Juni. Cordoba.

Vormittags sind wir die ersten Besucher des Glockenturms an der mezquita. Eine Viertelstunde müssen wir noch warten; Zeit genug für einen schnellen Kaffee an der Bar eine Ecke weiter. Ein dicker Spanier nimmt gerade sein Frühstück ein: er bekommt eine Scheibe gerösteten Weißbrots, dazu zwei kleine Päckchen, die den Portionspackungen Honig und Marmelade bei uns zuhause ähneln, nur doppelt so groß sind. Der Mann vertikutiert mit der Messerspitze die Toastkruste, dann gießt er den goldenen Inhalt des ersten Napfs in die zereggte Scheibe. Das ist das Olivenöl. Das Rote, das darübergeplantscht wird, ist Tomatenfrito. Es ist das erste Mal, dass wir das bewusst als Frühstück wahrnehmen, aber es ist in Andalusien gebräuchlich. Nicht immer begnügt man sich mit einem solchen Näpfchen Öl. Tags drauf sehen wir vier Damen, die morgens um zehn ihr Brot mit einer Halbliterflasche aceite tränken. In Deutschland würden Frauen vor dieser Ölmenge schaudernd zusammenzucken und sofort ihre Diätberater konsultieren. Hier gilt Öl offenbar nicht als Fett, sondern als bekömmlicher und förderlicher Fruchtsaft; der Gedanke hat etwas für sich. 

Zurück am Glockenturm. Der Kerl am Einlass hat drei Schlüsselbunde am Gürtel hängen, die er in einer vollkommen sinnlosen Choreographie aneinanderschließt und wieder voneinander löst, mal diesen an jenen hakt, dann wieder jenen an diesen, und wir dürfen über Minuten dieser wenig zielführenden, hypnotischen Verrichtung zusehen, bis er endlich seine Kasse aufgeschlossen hat. Obwohl ich den Eindruck habe, dass er eigentlich nur ein paar lästige Touristen triezen und seine Macht auskosten will, beschließe ich, dass ihm Besseres vorschwebt. Vielleicht will er mit dem Austausch der Schlüssel nur irgendein tiefsinniges Zen-Ritual vorführen, das uns das Absurde irdischer Geschäftigkeit zeigen und zu Geduld mahnen soll? 

Beim Turmaufstieg folgen wir zu viert dem Büttel. Die Mauern des Turms umschließen das einfache Minarett, das erhalten geblieben ist. Seine kupferfarbene Kuppel schillert. Warum man es wohl nicht niedergerissen hat? Respekt vor den Monumenten des besiegten Islam wird es kaum gewesen sein, sonst hätte man davon Abstand genommen, der Kuppel auch noch ein Kreuz als Siegeszeichen aufzupflanzen. Offenbar genügte es nicht, die Herrschaft des Islam einfach zu beenden. Der Sieg musste sichtbar bleiben - und wie könnte dies besser gelingen, als die Zeugnisse der muslimischen Kultur als unterlegene zu erhalten? Sie werden nicht zerstört, sondern als Siegestrophäen ausgestellt. Sie dürfen bleiben: aber nur als Gefangene - wie das Minarett, das in der ewigen Kerkerhaft des Glockenturms liegt - oder als erlegte Beute, der die Waffe des Siegers im Nacken steckt. Das ist, je weiter wir nach oben steigen, immer deutlicher zu sehen: das Kreuz, das man in die Minarettkuppel getrieben hat,  ist noch harmlos gegen den massiven Eingriff des Kathedralbaus, den wir erst jetzt vom Turm aus richtig erkennen können. Auf die alte Mezquita, deren Satteldachreihen so bäuerlich wirken wie große Stallungen, hat sich ein übermächtiger und grausamer Gegner als steinerne Krake geworfen. Strebebögen umklammern das Herz der Moschee, Pfeiler stechen durch die Dachrippen wie schwere Schwerter in die islamischen Eingeweide: die Kathedrale als Ganzes ist ein grober Pflock, der der Kaserne des Propheten eingerammt worden ist: der geweihte Pfahl, mit dem man Vampire vernichtet.

Als der Büttel uns die Tür zum höchsten Umgang aufschloss, sitzt ein kleiner Vogel auf der Stufe davor, aufgeplustert und zu Tode erschöpft. Wir gehen vorsichtig an ihm vorbei. Auf dem Weg zurück ist er nicht mehr da, aber es tschilpen ein paar Vögelchen von einem Sims herunter, flattern umher. Es ist natürlich völlig unklar, ob der Elende sich wieder erholt und seinem Schwarm beigesellt hat oder ob er verreckt ist; sicher aber, dass einem der zwei Schwulen, die mit uns hier hochgewandert waren, ein Vogel auf die Glatze kackte. Sollte das ein Akt der Homophobie gewesen sein, vollzogen von einem fernen Verwandten des geflügelten Heiligen Geistes, dann entspräche er nicht dem genius loci: nirgendwo sonst in Europa (ich habe es bereits erwähnt) habe ich so viel Schwule gesehen, die sich ohne jegliche Verdruckstheit bewegten. Das ist durchaus auffällig und für mich verwunderlich. Ich hätte dieses immer noch erzkatholische Land für weniger tolerant gehalten, und soviel ich weiß, war es das lange auch nicht. Franco ließ Tausende von Schwulen in Arbeitslagern inhaftieren. Gleichwohl scheint mir die heutige Toleranz weder mit dem Katholizismus noch mit der franquistischen Vergangenheit zu tun zu haben; sie ist weder Fortsetzung noch Antithese dieser Prägung; es genügt, an das ebenfalls erzkatholische und ebenfalls lange diktatorische Polen zu denken, wo man weiterhin seine wütende Schwulenfeindlichkeit pflegt, um zu verstehen, dass diese Bereitschaft, die Liebe unter Männern gelassen hinzunehmen, anderen Quellen entspringen muss. 

Wir nehmen nach der Turmbesteigung einen café con leche in einem gekachelten Patio. Eins der Nebengelasse ist mit gerahmten Bildern von Manolete ausgekleidet, dem bewunderten, verehrten, vergötterten Matador, dem ein gutes Dutzend Jahre in der Arena beschieden war, bis ein Stier ihm die Pulsader aufriss und er starb, dreißig Jahre alt. Ich vertiefe mich in die Bilder; Manolete mit den hervortretenden Augen und etwas abstehenden Ohren, langnasig und schmalgesichtig. Manolete neben seiner fülligen Mutter; im Gebet vor der Madonna; halb für den Kampf geschnürt, in eng anliegender Hose; die muleta geschwungen vor dem Stier; Manolete mit breit ausgestellten Beinen, die Naht seines Hosenbodens eine Schattenkimme, und die Hörner des Stiers, die auf das Gemächt des Toreros zielen; die muleta, die zwischen dem Stierleib und dem von Manolete eine sepiabraune Verbindung stiftet: die gekurvte Silhouette des Mannes und die Krümmung des Tiers entsprechen sich, versprechen schmiegsame Erfüllung, Öffnung und Ziel. Ich habe selten ein erotischeres Bild gesehen, ein so rückhaltloses Offenstehen und eine solch willige Bereitschaft, sich penetrieren zu lassen. Die Hörner des Stiers sind gewaltige Erektionen, der Schritt Manoletes klafft, sie aufzunehmen.

Dort im Café begreife ich es noch nicht, aber im Stierkampfmuseum, in das wir danach wie durch Zufall geraten, ahne ich - zwischen all den trajes de luz, den eng anliegenden und glitzerbestickten Anzügen, die dort in den Vitrinen ausgestellt sind - dass diesem sexuellen Spektakel, das die corrida ohne Zweifel zu einem guten Teil ist, auch ein durchaus tuntiges Moment innewohnt. Zwischen all den markig-männlichen Gesten des Toreros blitzt immer wieder einmal die eine oder andere Ziererei auf, wie sie Schwulen zu eigen ist, die Frauen nachahmen. Solche Haltungen sind in den formalisierten Bestand der Torero-Posturen eingegangen, und sie haben nicht immer etwas konkret, vielmehr etwas abstrakt Feminines: Koketterie, ins Männliche gewendet; eine Betonung und Durchgestaltung der Figur, die man sonst eher von Frauen kennt; eine Art der Bewegung, die nicht einfach funktional ist, sondern zeremoniös. Ich weiß wohl, dass zu der Zeit, als der moderne Stierkampf entstand, auch Männer ihr Geschlecht zu präsentieren wussten und sie mit Hosenlätzen, Schulterpolstern, Schnürleibchen ihre maskuline Silhouette formten. Die bürgerliche Epoche danach allerdings tilgte dieses Ausstellen männlicher Erotik. Männermode ist seither sexuell neutral. Männer machen sich nicht mehr zum Objekt des Begehrens, der Anzug ist ein Mittel, den Körper, der darin steckt, visuell zu eliminieren und ihn seiner hervortretenden Merkmale zu berauben. Die Silhouette wird grade und kubischer. Damit einher geht eine Entfärbung. Schwarz, Weiß, Grau bilden den Fond, allenfalls die Krawatte setzt einen Farbklecks. Doch die klassischen biologischen Signalreize erotischer Lockung, die in Renaissance und Barock auch von Männern  ausgiebig genutzt wurden, verschwinden; Farbe, Aufplusterung, das pfauenhafte Beeindrucken: all das erlischt in der bürgerlichen Nüchternheit. 

Erhalten bleibt es jedoch in der Corrida; hier wird der männliche Körper als begehrenswerter weiterhin ausgestellt. Die knapp sitzende Hose, die den Hintern in knackiger Form hält, und auch vorn so hoch geschnitten ist, dass sich unter dem gespannten Stoff das Suspensorium deutlich wölbt, erzeugen von den Hüften abwärts eine durch den Stoff gleichsam eher idealisierte als real verhüllte Nacktheit. Der Rest des Kostüms mit all den Stickereien, aufgenähten Spiegelscherben und funkelndem Strass, den Quasten, die an den Schulterstücken zappeln, und den kräftigen Farbkontrasten, stammen eher aus dem Repertoire der Damenschneiderei als aus der Herrenkonfektion. Es ist nicht Travestie; aber es gibt dem Mann eine bunte Paradiesvogelhaftigkeit wieder, die ihm der bürgerliche Kleiderkodex verwehrt. 

So kommt es zu dem merkwürdigen Umstand, dass der Torero - der ein Ideal von Männlichkeit darstellt, ein Inbegriff von Tapferkeit und Kraft - zugleich männlich wie weiblich ist. Androgynie wäre der falsche Ausdruck dafür; das Androgyne ist ein Abschmelzen und Einebnen des Geschlechtsgegensatzes. Der Torero aber bleibt ganz maskulin, nur mit einer Zier ausgestattet, die, seit es die moderne corrida gibt, sonst der weiblichen Putzlust vorbehalten ist. Das Androgyne ist ein Mittelwert von Mann und Frau; der Torero ist deren Multiplikation. Er ist substantiell männlich und akzidentiell weiblich; und als solcher verkörpert er, wenn nicht ein Ideal des Schwulen, so doch zumindest eine gesellschaftlich akzeptable - und faszinierende - Figur geschlechtlicher Transgression. 

Der erstaunliche Umstand, dass eine Gesellschaft, in der man unter dem erzkatholischen und reaktionären Regime Francos Homosexualität sogar noch mit Lobotomie zu therapieren versuchte, heute so tolerant damit verfährt, könnte auch mit dieser uneindeutigen Gestalt des Torero zu tun haben. Die corrida, als fiesta nacional von Franco geadelt, hätte dann gewissermaßen eine Repräsentation des Schwulen als Konterbande durch die dunklen Zeiten gerettet, und mehr als das: sie hätte es nobilitiert. Die corrida hätte den Mann als erotisches Objekt durch eine Zeit hindurch bewahrt, in der Objekte einzig die Frauen waren; sie hätte dem Mann die Möglichkeit nicht-effeminierter Flamboyanz bewahrt; sie hätte dem machismo Spaniens eine gangbare Alternative zur Eindeutigkeit der Geschlechterrollen offengehalten. Das ist nicht wenig. Um noch einmal das Gegenbeispiel Polens zu bemühen: dort gibt es keine gesellschaftlich geschätzten Spielflächen der Transgression; vielleicht rührt die grimmige Homophobie dort daher, dass sie keine Stiere töten. Sie müssen sich andere Opfer suchen.

Nahe der alten Synagoge ein Standbild des Maimonides, dessen "Führer der Unschlüssigen" - dux neutrorum - Meister Eckhart und den Cusaner so beeindruckt hat. Ein paar Schritte weiter gibt es ein bescheidenes Museum, das der Kultur der Sephardim gewidmet ist. Schon vor dem Abschluss der Reconquista 1492 begann die religiöse Homogenisierung Spaniens. Mauren und Juden wurden zwangsgetauft; aber man vertraute den conversos nicht und erließ scharfe Gesetze zur limpieza de sangre
Es wäre müßig, die Praktiken der Spanischen Inquisition anzuklagen oder die Linien bis zu den Nürnberger Rassegesetzen auszuziehen. Mir scheint vielmehr interessant, dass man sich grade in einer Zeit, in der Columbus die ungeheure Vielfalt der Welt aufgeschlossen hat, besessen der Homogenisierung der eigenen Sphäre geweiht hat. Man mag die Inquisition aggressiv finden: ich sehe darin nichts als panische Defensivität.

Wir essen zu Mittag an der Plaza del potro, einem hübschen, langgestreckten Platz nicht weit vom Guadalquivir. Die eine Hälfte des Platzes ist von Restaurants gesäumt. Unsere Wahl fällt auf bequeme Rattansessel und Personal, das ziemlich hip aussieht. Die Kochmannschaft ist jung, gepierced, tätowiert, zu etwa je einem Drittel schwul, lesbisch oder omnivor. Allein der Kellner, der sich unserer annimmt, hat die fünfzig längst überschritten und ist von gelassener bonhomie, auf eine etwas onkelhafte Weise sympathisch, fürsorglich und, ach ja, schwul. Schon seine Wortwahl zeigt seine (in Andalusien allerdings weitverbreitete) Neigung zur diminutiven Behutsamkeit: er bringt keine caña, sondern eine cañita - ein Bierchen. Die Rechnung am Ende ist allerdings nicht, wie er behauptet, eine cuentita, sondern eine ausgewachsene cuenta. 
Er bewegt sich langsam zwischen den Tischen, nimmt sich die Zeit, mit den Gästen zu plaudern - auch das so lentamente, dass sogar ich sein Spanisch verstehe - aber was ihm an Tempo fehlen mag, ersetzt er durch Erfahrung und Übersicht. Im Restaurant gegenüber wieselt ein Junge die Tische ab, doch er bedient trotzdem schlecht, vergisst dies und das, muss falsch servierte Teller wieder in die Küche zurückbringen, die vergessenen Eiswürfel eigens anliefern, übersieht das Winken von Gästen etc., während unserem Kellner nichts entgeht. Beim Fußball würde man von einem perfekten Stellungsspiel sprechen. Er antizipiert; das erspart ihm die Lauferei. Er rennt nicht, er schaut, und er steht schon da, bevor man auf die Idee kommt, ihn herbeizubitten. 

Es gibt ein Thunfisch-Tataki mit Tupfern von Paprikacreme, Wasabi und sepiaschwarzer Mahonesa. Der fast rohe Thunfisch liegt auf einem Bett von kandierten Algen und Sesamöl, und die Anrichtung sieht abstrakt aus wie eine Palette, bevor der Maler den ersten Pinselstrich getan hat (oder wie bei Miró die fertige Leinwand). Jetzt ist es an uns, die Farben und Aromen auf unseren Papillen zu mischen: ein Spielfeld der Kombinationen, Proportionen, prägnanten Kontraste und verblüffenden Synthesen tut sich auf. Dergleichen ist generell ein Trend moderner und etwas ambitionierter Küche - wir haben auch in Deutschland und Frankreich schon so gespeist - aber es kommt mir so vor, als sei diese Art zu essen, hier eigentlich zuhause. Es gibt hier auf den Tellern oft einen inneren Kontrastreichtum, beim Thunfisch mit seinen Dips ebenso wie bei der Pulpoceviche, einem mit Zitrone marinierten Tintenfisch auf einem Zwiebel-Paprika-Koriander-Salat. Das Ceviche vereinheitlicht nichts: die Gegensätze von Säure und Süße, der Knackigkeit der Gemüsezwiebel und der elastischen Nachgiebigkeit des Pulpo, das etwas muffige Aroma des Korianders und die Frische der Zitrone sind immer als Gegensätze wahrnehmbar, jeder Gabelbissen ist lebendig und in sich vielfältig. Auch die Gemüseparillada - stark gegrilltes Gemüse mit Balsamicocreme übergittert, lebt von der Unterschiedlichkeit der Gemüsesorten (darunter so Merkwürdiges wie Luffakürbis), die von der (oft sonst kulinarisch so sinnlos verwendeten) Balsamicocreme nicht überdeckt, sondern allenfalls aufgeweckt werden. Diese innere Vielfalt kommt mir erst bei unserem letzten Gang zu Bewusstsein, einer carillada parmentier. Das sind geschmorte Schweinebäckchen in einem sehr cremigen, beinah suppigen Kartoffelpüree, von einem süffigen und einheitlichen Wohlgeschmack, tief, kontrakt, aromatisch verschmolzen. Das hat etwas von dem Geschmacksideal, dem man in vielen Gerichten Frankreichs begegnet, harmonisch, ausgeglichen, arm an aromatischer Spitzen, aber reich und voll im Ganzen. Dagegen sind die Tapas hier - zumindest dort, wo es eine lebendige und konkurrierende gastronomische Szene gibt - hybrid und kontrastiv, es versucht weder das Einzelne als Einzelnes zu präsentieren (so wie das bei italienischen Antipasti oft gehandhabt wird) noch alle Zutaten zu harmonischer Einheit zu führen. Hier wird Differenz im Zusammenprall forciert, weder geschmackliche Versöhnung à la française noch Alleinstellung des guten Produkts nach italienischer Art. 

Solche Thesen dürfen freilich nicht überstrapaziert werden, es gibt zuviel Ausnahmen, regionale Besonderheiten, individuelle Abweichungen, in armen Gegenden wird anders gekocht als in wohlhabenderen, bäuerliche und städtische Regionen unterscheiden sich, dazu kommen natürlich noch all exotischere Einflüsse, Globalisierung, Migration etc., die solche Versuche, nationale Charakterzüge zu verallgemeinern, schnell hinfällig werden lassen. 
Wie auch immer - wir sind glücklich in dieser fusion-Küche. Técnicas de alli con productos de aqui, wie es auf der Karte heißt: Techniken von dort mit Produkten von hier. Hier wird kulinarisches Mestizentum gepflegt: von limpieza de sangre keine Rede. 

Am späten Nachmittag siedeln wir auf den Campingplatz der Stadt über; der Rezeptionist ist schön wie ein junger Gott und spricht fließend französisch. Er gibt uns ein paar Empfehlungen für die nächsten Tage; wir lassen den Abend verplätschern. Tagsüber hatte es um die 35 Grad, nachts um eins sind es immer noch 24. Es geht auf Sonnwend zu.

19. Juni. Cordoba.

Bislang haben wir nur das historische Cordoba kennengelernt. Jetzt sehen wir die modernen Seiten der Stadt: die großen Avenidas, die Grünanlagen und gründerzeitlichen Straßenzüge. Auch Cordoba muss seinen Haussmann gehabt haben. Ein Großteil der Bebauung stammt aus der Nachkriegszeit, ist im Detail nur selten schön, das Ganze aber verströmt doch eine entspannte Modernität, die mir sehr behagt. Wir sind jetzt anderthalb Tage so mit historischer Patina eingelassen worden, dass diese Geschäftsstraßen wie ein Frischebad wirken. Zudem merke ich, dass ich durch die Altstadt mit derselben angespannten Aufmerksamkeit wandere wie durch ein Museum. Jetzt lässt dieser kulturgeschichtliche und ethnologische Reflexionszwang etwas nach; auch das ist angenehm. 

Wenigstens einmal wollen wir spanisch frühstücken und das essen, was alle um diese Stunde essen: die tostada mit Öl und Tomatenfrito. Aus der Kirche am Platz kommen sorgfältig ondulierte alte Damen, alle Frisuren wie in Stein gemeißelt. Hier, außerhalb der touristischen Zone, wird Öl und Tomate nicht in knappen Portionspäckchen serviert, sondern steht zu freier Verfügung. Die Ölflasche kommt voll auf den Tisch. Nachdem die vier Damen sich bedient haben, ist sie zur Hälfte leer. 

Wir flanieren aufs Geratewohl Richtung Osten, werfen Blicke in lauschige Patios, in denen üppiges Grün und prangende Blüten aus blau bemalten Blumentöpfen quellen, die an den Mauern angebracht sind. Besonders schön ist die eigene Art der Zierpflasterung, der man hier oft begegnet. Dafür werden kleine Kieselsteine unterschiedlicher Färbung verwendet; ich erinnere mich vor allem an den Eingang zur Kirche San Andres, wo die Kiesel zu Blüten, Sternen, Garben, heraldischen Figuren arrangiert  sind; anderswo sind sie etwas großräumiger zu ornamentalen Gebilden aus länglichen Kieseln angeordnet, die an den Graten zwar längst abgetreten und blankpoliert sind und so hell wie die Steine, die ihnen als Kontrast dienen sollen, die aber an den Flanken ihren dunkleren Glanz bewahrt haben. In einem Patio winden sich dunkle, schlangenartige Bänder mit so feinen Kieseln durch den hell gepflasterten Grund, dass sie wie Schlangenschuppen wirken, Kettenglieder von steinernem Flechtwerk.

Mittags kommen wir am Palacio Viana an, den uns der schöne junge Mann empfohlen hat. Ein Kranz von Patios umgibt den Palast, jeder davon die Kulisse für eine besondere Stimmung, eine bestimmte Tageszeit, für gewisse Anlässe: da gibt es grüne, die Idee des Irrgartens aufrufende Wandelwege, von Orangenbäumen beschattete Höfe, wo aus dem schimmernden Laub leuchtende Früchte herabhängen wie Hesperidenäpfel; im grellen Mittagslicht zu blassem Grünspan gebleichte Sukkulenten, deren Blattreihen von nahem an knorpelige Wirbelsäulen oder die Stachelgrate prähistorischer Tiere erinnern, in größerer Entfernung an struppige Ungeheuer. Patios mit kugelrund geschnittenen Formbäumen und akkurat begradigten Taxushecken ebenso wie Patios, in denen es entfesselt wuchert - es wäre wohl ein idealer Ort für ein Stelldichein junger Liebender, wenn nicht zwei große Fenster darüber freie Sicht auf den Hof hätten. Zur Stunde sind die Binsenmatten davor herabgelassen, die die Sonne abhalten, aber abends könnten sich diese schweren Lider heben und den Hof mit entrüsteten Blicken bestreichen. 

Eins ist merkwürdig an diesem Palacio; von außen hebt er sich kaum von der Bauweise dieses stillen Viertels ab; auch der Vorhof wirkt nur wie einer der stadtüblichen Plätze, nicht wie ein Zeugnis von Reichtum und Macht. Derlei würde man in Italien nicht erleben. Dort wäre ein Palast immer als solcher nach außen hin sichtbar, in Fassadenschmuck und Gestus würde demonstriert, dass hier ein großer Herr zuhause ist. Hier fügt sich der Palast in eine fast dörfliche Atmosphäre ein. Die Bescheidenheit ist sein Schmuck; wahrscheinlich trug der Fürst ein härenes Hemd unter dem Leibrock. Die spanische Hofmode unter Karl V. war schlichtes Schwarz: die Distinguiertheit des Einfachen.

Wir müssen zurück zum Auto; die Parkuhr ist längst abgelaufen. Wieder in der Avenida del Gran Capitan füttern wir sie von neuem und gehen dort gleich zu Tisch. Die Restaurants, die auf dem breiten Trottoir eingedeckt haben, haben ihr Hauptgeschäft drinnen. An den Hausrändern tropfen die Klimaanlagen ihr Kondenswasser aus. An den Außentischen ist nicht viel Betrieb. Wer hier sitzt, ist entweder schaulustiger Tourist oder ein Einheimischer, der nach Bekannten Ausschau hält, die hier vorbeischlendern könnten. Alle anderen essen lieber im Kühlen. 

Freitags serviert man zum Getränk ein Gratistellerchen mit irgendwas: heute ist es ein kleiner Napf Paella, danach nehmen wir frittierte Fische (darunter eine äußerst schmackhafte Sardine), dazu rejos im Backteig (winzige Kalmare), guten Bacalao, gegrillte Pilze. Es ist sehr vergnüglich, hier zu sitzen und den Betrieb zu beobachten - den jovialen Platzhirschen, der alle Daumenlang einen neuen Bekannten zu sich an einen Stehtisch lädt und eine caña nach der anderen ordert; das Pärchen, das sich unentwegt angiftet; ein anderes Pärchen, das sich mit Genuß durch die Tapas frißt und dabei immer heiterer wird und immer betrunkener, ungefähr unser Spiegelbild. Dann Schweizer Eheleute wie von Gottfried Keller ersonnen, er dick, stumm, gemütlich, sie eine zimperliche Bohnenstange von schrillem Tonfall, die mit ihrem spitzen Finger durch ihr Wörterbuch kreilt, um nur ja nichts zu bestellen, was ihr mißbehagen könnte. 

Dann ist da auch jemand mit irgendeiner sehr seltenen Krankheit, die unter anderem seinen Schädel in etwas annähernd zweidimensionales verwandelt hat, als sei der Kopf zwischen Buchdeckeln plattgepresst worden wie eine Blüte. Im Profil sieht er fast normal aus, von vorn aber bizarr schmal. Der Eindruck ist nicht einfach der einer körperlichen Besonderheit oder Anomalität des armen Mannes. Den Passanten ist anzumerken, dass sie zuerst an sich selbst und an ihrem Blick zweifeln, als würden sie Opfer einer optischen Täuschung. Der Mann ist nicht einfach objektiv ein Freak, sondern subjektiv eine tiefgreifende Irritation der gewohnten Wahrnehmung, als sei etwas nicht in Ordnung mit den Augen. Zumindest einen Moment lang verunsichert er das Selbstvertrauen des Betrachters; erst danach wird er zum Kuriosum. Er kennt eine Frau am Tisch und gesellt sich dazu; hilfsbereit räumt man Stühle beiseite, damit sein Elektroroller freie Bahn hat. Während wir unsere Pilze picken, bietet er offenbar dem Jungen der Frau ein Eis von der heladeria hundert Meter weiter an. Der Junge besteigt misstrauisch den Roller, stellt sich zwischen die Schenkel des Seltsamen und erduldet gefügig dessen zärtliche Berührung. Als sie zurückkommen, hat sich Normalität hergestellt; der Junge schleckt sein Eis, der Kranke ist glücklich, dass es ihm gelungen ist, als Mensch wahrgenommen zu werden. 

Wir wandern wieder in die Altstadt zurück. Auf der Höhe der Mezquita führt die alte römische Brücke über den Guadalquivir. Am gegenüberliegenden Ufer erhebt sich die torre de la calahorra, die heute ein Museum der drei Kulturen beherbergt, die Spanien geprägt haben, Christentum, Juden, Muslime.

Die Ausstellung fühlt sich von Anfang an verlogen an. Das liegt zum einen an den frömmelnden Schaufensterpuppen, die per Audioguide ihre Biographien und Anliegen aufsagen: Alfons der Weise salbadert, Averroes und Maimonides tun's ihm nach. Dass Averroes vom Kalifen aus Cordoba verbannt, Maimonides von den Almohaden nach Ägypten verjagt wurde, spielt keine Rolle. Der Islam wird als vollkommen tolerante und alles gutheißende Religion dargestellt. Ein weihevoller und beschönigender Ton liegt über dem Ganzen, man lullt den Besucher mit schönen Teppichen, schöner Musik, schönen Dioramen ein. Ein großes Modell der Mezquita vor ihrem Umbau zur christlichen Kathedrale bezirzt den Betrachter, der durch die Portalluken auf das erhabene Ebenmaß der vielhundert Säulen blickt. Es scheint eine harmonische Welt gewesen zu sein; aber ich bin misstrauisch; es ist zuviel nostalgische Verklärung zu spüren, als dass ich dieses Idyll glaubhaft finden könnte.

Zuhause mache ich mich kundig, wer jener Roger Garaudy war, der diese Stiftung aus der Taufe gehoben hat. In den sechziger Jahren einer der Mandarine der Kommunistischen Partei Frankreichs, wurde er 1970 wegen mangelnder Linientreue ausgeschlossen. Schon zuvor hatte er sich dem Christentum zugewandt, schließlich konvertierte er zum Islam. Ein salafistischer Scheich aus Saudi-Arabien berief ihn auf ein hohes Amt im Weltmoscheenrat. Garaudy hing dennoch weiterhin seinen marxistischen Überzeugungen an, und ich frage mich, wie eine historisch-materialistische Erklärung der Welt mit dem Glauben an eine religiöse Offenbarung zusammengehen kann. Trotz aller dialektischen Akrobatik müssen da unvermittelbare Bestände aufeinanderprallen, und es ist kein Wunder, dass der Scheich Gardaudy schließlich als Ungläubigen schmähte. Aber in jeder Offenbarungsreligion liegt auch immer genug Sehnsucht nach Gerechtigkeit, um daraus ein marxistisches Moment zu destillieren. Die Idee eines gerechten Gottesvolks, der Befreiung vom Joch des Bösen, der Aufhebung der Unterschiede (da vor Gott alle Menschen gleich sind), eines Lebens in Fülle ohne Knappheit und übermäßige Begierde, der Glaube an ein Land, in dem Milch und Honig fließen, findet sich in allen abrahimitischen Bekenntnissen. Der Marxismus knüpft dort an; die klassenlose Gesellschaft, in der es keine Konkurrenz mehr gibt, keinen Kampf und und keine Zwietracht, könnte die Verwirklichung des Paradieses auf Erden sein. 

Doch wie merkwürdig: ausgerechnet Garaudy, der diese religiöse Dimension des Marxismus und die marxistische Dimension der Religionen wohl erkannte, kann nicht auf die gleichfalls religiöse Figur des Satans verzichten, der durch seine listigen Umtriebe verhindert, dass das irdische Paradies Wirklichkeit wird. Und er verfällt in seiner Suche nach den Schuldigen ausgerechnet auf jenes Volk, in dessen Schriftrollen das Reich der Fülle zuerst verheißen worden ist. Garaudy wird zum Antizionisten. Er schreibt ein Buch, in dem er die Shoa als abgefeimte Erfindung der Juden zu entlarven behauptet, die sich als angebliche Opfer moralische Ansprüche auf die Besetzung Palästinas erwerben wollten. 

Diesem Leugner zufolge hat der Holocaust nie stattgefunden; er ist nur die Wiederholung und Instrumentalisierung der ursprünglichen Lüge, dass die Menschheitskultur mit Mord und Totschlag begonnen habe. Kain hat Abel nie erschlagen. Abel stellt sich nur tot, um bei Gott, der ihn eigentlich verabscheut, Mitleid und Wohlwollen zu erschleichen. 

So rührt im Herzen dieses ökumenischen Projekts doch wieder ein Opferdolch. Die Einheit der Religionen soll über den Ausschluss einer anderen hergestellt werden. Die Juden bleiben das gejagte Volk, der Sündenbock, der aus Jerusalem wieder in die Wüste hinausgetrieben werden soll, nachdem man ihn mit aller Schuld an Wucher und Ausbeutung und Entzweiung beladen hat. 

Auf der Plattform des Turmes: der Zinnenkranz besteht aus Steinblöcken, die von pyramidalen Hauben gekrönt werden wie von der Kapuze einer Djellaba. Das sieht nicht einfach nur wehrhaft aus; indem die einzelnen Zinnenelemente jeweils frei (wenn auch eng nebeneinander) stehen, wirken sie menschlich: eine Korporation behelmter Wächter, ein entschlossener almohadischer Verteidigungstrupp, bereit zu Kampf und Gebet.

Als wir abends auf unserem Parkplatz anlanden, haben wir Nachbarn. Zur Linken ein junges französisches Pärchen, dreadlocks und Kind, die mit einem schrottigen Peugeot-Bus aus Pau gekommen sind, um die weiße Nacht des Flamenco zu erleben, die jeden Samstag vor Sonnwend hier stattfindet. Sie sind nicht sonderlich gesprächig, vielleicht sind wir ihnen zu bourgeois oder zu deutsch (und selbst freakige Aufmachung schützt nicht vor Borniertheit, manchmal denke ich sogar, ganz im Gegenteil), vielleicht kommen wir auch nur im Moment ungelegen. 

Ganz anders jedenfalls unsere Nachbarn zur Rechten. Dort hat sich eine italienische Familie installiert, bestehend aus Großeltern in einem, und Vater, Mutter, zwei Kindern in einem zweiten Wohnmobil. Die sind sofort sehr gesprächig. Selbst ihr Wagen ist gesprächig: sie müssen nämlich den Motor tuckern lassen, weil die Bordbatterie kaputtgegangen ist, und ohne laufenden Motor weder Kühlschrank noch Innenbeleuchtung funktionieren würde. Die zwei Männer schildern mir das Problem sehr einlässlich und geraten bald in eine technische Diskussion, ob eine große Bordbatterie oder zwei kleine besser seien, und beide wenden sich immer wieder an mich, um Bestätigung für ihre jeweilige These zu erlangen, aber ich, nun ja, ich habe natürlich keine Ahnung von der Materie und zucke nur mit den Schultern. Die Frau sitzt derweil matronenhaft am aufgeklappten Fenster in ihrem Wohnmobil, patscht von Zeit zu Zeit ihrem Sohn auf die Pfoten, und wirft spöttische Bemerkungen ein. Als die beiden Männer schließlich in sinnloser Geschäftigkeit zum Batteriekasten aufgebrochen sind, um an Kabeln zu zupfen oder was auch immer zu tun, wird die Frau deutlicher: ihr Mann sei ein Hanswurst, ihr Schwiegervater ein cacasenno (Klugscheißer), die ganze Reise ein Fiasko.Die Männer seien noch nicht einmal imstande, den Anweisung des Navis zu folgen, es sei ein Wunder, dass sie es überhaupt nach Cordoba geschafft hätten. Das Schöne an ihrem Lamento ist, dass sie es genießt: sie freut sich, dass alles schiefgeht, sie freut sich, dass sie schimpfen kann, sie freut sich über jedes kleine Debakel, weil es ihrer Spottlust Nahrung gibt, und wenn es keine Debakel mehr gäbe, dann wäre ihr entsetzlich langweilig und sie würde verkümmern. Gegen Mitternacht kommt ihr Gemahl nach Hause, den sie so ausgiebig mit Spott übergossen hat. Aber um eins, als ich noch draußen sitze und Notizen mache, lieben sie sich. Jetzt brummt und rüttelt der Motor nicht mehr. Das Rütteln hat der fleißige Gatte übernommen. Die Bordbatterie mag schlappgemacht haben; er nicht.

20. Juni. Cordoba.

Die Aussicht auf die weiße Nacht des Flamenco hält uns noch einen Tag länger in der Stadt.  In der Juderia rüstet man sich schon für das abendliche Fest; Bierbänke werden aufgestellt, an den provisorischen Theken werden Fässer verflanscht. Wir lustwandeln lange durch die Gärten des Alcazar. Vor allem die Thujen gefallen mir. Sie sind hier nicht als Hecken, sondern als grüne Säulen von oft drei, vier Metern im Durchmesser in regelmäßigen Abständen gepflanzt. Da es aber nicht gelungen ist, die Bäume zu präzisen Zylindern zu schneiden und ein jeder davon unterschiedlich gekrümmt, geschwellt, gebaucht und gebuckelt ist, lassen sie an eine Truppe von beschwipsten Schachfiguren denken, die, wie Alice in ihr Wunderland, in einen verzauberten Alcazar gelangt sind. Oder sind es doch eher grün vermummte Höflinge, denen bei einem fürstlichen Vergnügen die undankbare Rolle zufällt, mit krummem Rücken und abgewetztem Kragen Objekt königlicher Belustigung zu sein? 

Zu Mittag kehren wir wieder in dem Restaurant an der Avenida del Gran Capitan ein. Im Nachbarrestaurant wird ein Familienfest gefeiert; die Kinder sind draußen in die Obhut zweier südamerikanischer Kindermädchen gegeben und werden von diesen erst gefüttert, dann mit Malaufgaben, Seifenblasenpusten und Verfolgungsspielen unterhalten. Die Kinder sind blond, geschniegelt und - wie zumeist in Spanien - aufs sorgfältigste gekleidet; die ältesten Knaben sind um die zehn Jahre alt, und man merkt ihnen an, dass sie bereits verstanden haben, wie tief die Kindermädchen mit ihrer indiobraunen Haut und ihren flachen Indiogesichtern unter ihnen stehen. Sie sind stolz und widerspenstig: Herrensöhnchen. Doch als ihr Vater einmal zum Rauchen nach draußen kommt und die beiden Jungs sich an ihn drängen, scheucht er sie mit Zigarettenqualm und der klaren Anweisung davon, er wolle jetzt seine Ruhe haben, bei den niñeras sei ihr Platz. Die beiden fügen sich. Ein Herr wird, wer gehorchen lernt. 

Wir wandern in einem großen Bogen zurück zu unserem Stellplatz. Die Stadt hält Siesta; das haben wir auch vor. Wir schaffen unsere Liegestühle in den Baumschatten des Parks und schlafen ein Stündchen. Es gilt, Kraft zu schöpfen für die lange Nacht. Das Flamenco-Programm beginnt erst um halbelf, das letzte Konzert um fünf Uhr morgens. 

Es ist halb acht, als wir aufbrechen. An der Plaza del poltro kehren wir wieder im Fusion ein, wo wir neulich so wunderbar gegessen haben. Der joviale Kellner ist auch da und schüttelt mir (ich bin der Mann) erfreut die Hand: wie schön, dass wir wieder hier sind. Das ist keine leere Schmeichelei, sondern offenbar die Freude über die Anerkennung, die wir durch den erneuten Besuch zum Ausdruck bringen. Dass er so überschäumend reagiert, mag allerdings etwas mit der allgemeinen Stimmung zu tun haben. Die Atmosphäre ist überhaupt klingelig, hell, sirrend. Es liegt gespannte Euphoriebereitschaft in der Luft, die Vorahnung rauschhaften Betriebs. 

Das Personal macht sich grade für den Abend bereit. Der Service, neulich noch ganz in Schwarz, trägt heute noche blanco-Weiß. Nur unser bonhomme darf seine schwarzen Hosen anbehalten; die Jüngeren aber gehen alle sehr aufreizend, Frauen wie Männer. Die Frauen sind äußerst scharf zurechtgemacht; in Deutschland wäre das schon knapp am Nuttigen. Hier aber trägt es den Mädels nicht den Ruch des Vulgären ein, sondern wird, ganz technisch, als gelungenes Artefakt honoriert. Selbst unser jovialer Kellner (der seinerseits keinerlei heterosexuellen Ambitionen hegt), bricht spontan in eine anerkennende Flamenco-Koloratur aus, als eine Kollegin frisch aus der Umkleide an ihm vorbeistöckelt wie ein eng verpacktes Geschenk, bei dem man kaum abwarten kann, die Schleifen zu lösen und es auszuwickeln. Die weiße Nacht des Flamenco ist das sommerliche Pendant zu Weihnachten. Sommersonnwend, Wintersonnwend, Schwarz und Weiß, sol y sombra: heute wird der Körper gefeiert, der schwitzende und promiskuitive Leb, nicht die keusche heilige Familie. 

Wir wandern Richtung Plaza de las Tendilas, wo das erste Konzert stattfinden soll, und machen Pause an einer Kneipe an der Calle San Francisco. Hier fühlt es sich an wie schläfrige Vorstadt. Wir gnutscheln ein Gläschen Schnecken in einer kreuzkümmelwürzigen Brühe, ziehen dann weiter. Vor der Tendilas parkt eine ganze Riege von Sanitätswagen, daneben ein klein bisschen Polizei. Das medizinische Problem scheint größer als das der öffentlichen Ordnung; offenbar wird eher mit Alkoholleichen gerechnet als mit Verbrechensopfern. Wenn die Atmosphäre nicht vollkommen friedlich wäre und es trotz des in Strömen fließenden Alkohols nicht geradezu gesittet zuginge, müsste mich Dagmar vermutlich gleich zu den Sanitätern zurückgeleiten, damit sie mir irgendein Wundermittel gegen Ochlophobie spritzen. Aber trotz des Gedränges flackert nirgendwo Aggression auf; die Enge, das erzwungene Aneinandergedrücktsein von Leibern, das mich zuhause zugleich in Flucht- und Angriffsstimmung, in eine gespannte Abwehr- und Kampfbereitschaft versetzt, beunruhigt hier niemanden, und noch nicht einmal mich. Mein deutsches Distanzbedürfnis, das jeden direkten Körperkontakt mit Fremden gleich als Übergriff einordnet, ist hier unangebracht. Niemand fühlt sich in seiner körperlichen Integrität bedroht, nur weil ihm der Nachbar zu dicht auf die Pelle rückt. Vielleicht sogar im Gegenteil: man nimmt hier ein wohltuendes Bad in der Menge. Möglicherweise ist das auch der Hauptzweck dieses Festes, einmal abgesehen vom Trinken. Für die Musik interessiert sich jedenfalls kaum jemand, was kein Wunder ist, da nach zwei Stücken eines Flamenco-Grandseigneurs und einer Grandseñora die Instrumentalisten banalen Siebzigerjahre-Jazz herunterdudeln, der noch nicht einmal in Stockholm oder Lausanne für Hinhorchen sorgen würde. Wir ziehen aufs Geratewohl irgendwoandershin und lassen uns für ein Glas von einem Platz bezaubern, auf dem Kinder spielen, Leute plaudern, trinken, essen - die Bühne allerdings ist noch leer. Hier beginnt das Konzert erst um drei. Wir konsultieren das Programm und entscheiden uns für den Compas de San Francisco. Es dauert ein wenig, bis ich begreife, dass San Francisco keine paar Meter von der Kneipe entfernt liegt, in der wir vorhin Caracoles gezuzelt haben. Die Straßenzüge dort sind jetzt vollkommen verwandelt: was wir vor einer Stunde noch für eine verwaiste und verschlafene Vorstadtstraße gehalten hatten, ist nun zur brodelnden Partymeile geworden. Auf den letzten Metern kommen wir kaum noch voran. Da sind große Freundescliquen, die beisammenstehen, um die Flasche kreisen zu lassen, Familien, die mit Kinderwagen dahinschieben, Greise mit Gehhilfen und Krücken, Liebespärchen, die sich unbedingt und jetzt ganz dringend mitten auf der Straße küssen, und andere Liebespärchen, die ebenso dringend mitten auf der Straße einen Streit austragen müssen. Da sind Polizisten, die mit Grasrauchern herumflachsen, alte Herren, die ihren Enkelinnen zeigen, wie man Foxtrott tanzt, aufgetakelte Transen, die sich an kichernde Mädchen heranmachen, Jungs, die eine Handvoll Glasmurmeln über den Straßenbelag schussern, in der Hoffnung auf eine Slapsticknummer aus rudernden Armen und spektakulärem Hinsegeln der großen Schwester, aber dann landen die Murmeln doch nur im Rinnstein und das Malheur bleibt aus. 

Der Hof von San Francisco ist rappelvoll; den Leuten am Ausschank tropft der Schweiß in die gezapften Biere.

Als die Musiker anfangen, ist das Lässige und Nachlässige des Flamencos von der Plaza de las Tendrilas vergessen. Hier wird nicht gedaddelt, hier wird Ernst gemacht. Eine heisere Stimme schreit, schraubt sich in maurischen Melismen und rauhem Jaulen in die Dunkelheit. Man kann diesen Gesang nicht mit den Lauten eines bestimmten Tieres verbinden, er ist weder Eselsgeschrei noch Hundegeheul, nicht das Brüllen von Kühen oder das Blöken eines Bocks, aber er enthält das Charakteristische von all diesem, Rauhigkeit und Lautstärke, Einsamkeit und Wut, auch Wut über die eigene Begrenztheit. Eine klassische Koloratur führt die vollkommene Beherrschung der Stimme vor, ihre Leichtigkeit und geschmeidige Finesse. Hier aber schreit der Zorn über das eigene grobe und schwielige Stimmwerkzeug mit, das ich bei den Lautäußerungen von Tieren immer als den Jammer darüber spüre, dass ihnen keine Sprache gegeben ist oder nur diese dürftige. Die Melismen, arabisches Erbe, haben für meine Ohren immer etwas Suchendes, Unerfülltes. Sie tasten gleichsam den Klangraum ab, forschen ihn aus wie ein Blinder, der mit seinem Stock über die Oberfläche einer Skulptur hinfährt. Es ist eine vokale Ornamentik, ein Umspielen, Ausweichen, beinahe ein Fliehen: so wie das visuelle Ornament die Abbildung einer vorgegebenen Realität verweigert, so entzieht sich der Flamencogesang harmonischer Erfüllung. Die Tonschleifen führen zumeist ins Leere und Offene, sie lösen keine harmonische Spannung auf, sondern lassen sie bestehen. Auch das gehört zu der Einsamkeit, die in dieser Musik fühlbar ist. Obwohl ein sehr filigraner Dialog zwischen Stimme und Gitarre besteht, ist er doch meistenteils gestischer und rhythmischer, nicht harmonischer Natur. Gesang und Instrument bewohnen verschiedene Welten. Die starke rhythmische Verschränkung geht mit melodischer Entkoppelung einher. Die Spannung von Nebeneinander und Zusammen ist in dieser Musik größer als in klassisch europäischer Symphonik und in der populären weißen Musik des 20. Jahrhunderts, die beide an einem integrativen und synthetischen Klangbild festgehalten haben, das selbst Dissonanz und Eigensinn der Einzelstimme noch einzubinden wusste. Dieser Flamenco verzichtet auf solche Unterordnung, er glättet nichts zur Einheit, sondern lässt die Dinge hart im Raum sich stoßen. Er lebt in Kontrast und Vereinzelung. 
Wenn ich im Jazz nach Vergleichbarem suche, fällt mir zuerst Miles Davis in seiner Bitches Brew-Phase ein, in der die Melodieinstrumente - vor allem die gespenstische Bassklarinette Bennie Maupins, aber auch Wayne Shorters Saxophon - oft beinahe autistisch auf ihren ganz eigenen Bahnen zu wandeln scheinen. Sollte Miles, der in den Sketches of Spain dem höfischen Aranjuez gehuldigt hatte, neben der auskomponierten Musik Joaquin Rodrigos auch ein wenig Flamenco gehört haben?

Diese Vereinzelung ist nicht immer spürbar; es gibt Passagen und auch ganze Stücke, die sich dem Kompakten in die Arme werfen; bewegend wird es allerdings vor allem dann, wenn auf das schmissige Refrainwesen verzichtet wird, das ein Zugeständnis an die Gepflogenheiten globaler Popmusik scheint. Manchmal artet diese eigentlich so intensive Musik in die Belanglosigkeit eines spanischen Strandhits aus, der vorwiegend vom chorus repeat und einer stupiden Wiederholung und Einhämmerung des Immergleichen zehrt. Glücklicherweise sind diese Momente rar, oder ich höre sie nur nicht mehr, weil mittlerweile die Tänzer auf die Bühne gekommen sind und meine ganze Aufmerksamkeit okkupieren. 

Ich sage: die Tänzer, aber in Wahrheit ist es nur einer. Er trägt den sprechenden Namen Eduardo Guerrero, Eduardo der Krieger. So tritt er auf. Auch eine Frau im Flamencokleid kommt mit ihm, aber sie ist nur Schmuck, Objekt, das angetanzt wird, kaum selbst Handelnde. Sie dreht sich, schwingt ihre blütenblättergleich gerüschten Kleidersäume, streckt und windet sich, sie ist die Blume, die gebrochen werden will. Sie wartet auf den Stachel, der ihren Blütenstand aufreißt und erschließt. 

Guerrero, der Tänzer, beherrscht die Bühne vollkommen, sein Auftritt ist von bezwingender Präsenz. Er ist schlank und muskulös; wenn jemand wissen will, was Muskeltonus bedeutet, genügt es, auf diesen Körper zu blicken, der ganz und gar mit Bewusstsein und Spannung erfüllt ist. Da ist keine Stelle, die sich nicht sieht und die nicht weiß, was sie tut. Selbst für Männer, die leugnen, von männlichen Körpern erotisch angezogen zu werden, muss Guerrero eine Prüfung darstellen. Er ist so sehr Körper, dass er selbst den Unterschied von männlichen und weiblichen Körpern transzendiert und ein Begehren entfacht, das nicht auf das gegensätzliche Geschlecht geht, sondern eine Abstraktionsstufe höher auf den humanen Körper als solchen. Aber warum sich auf Menschen beschränken? Guerrero ist nicht nur Mensch: er ist Stier, Skorpion, Löwe, Greif - ein etwas modifiziertes Evangelisten-Set, zugegeben - aber sein Tanz hat von all diesem etwas. Es ist Mimesis des Tiers. Er betritt die Bühne wie ein Stier. Man spürt sofort die Gefahr in dem harten Tänzeln der Hufe, die Spannung seines Tritts. Er liebt den schnellen, unerwarteten Ausfall, das plötzliche Zuschnappen und die unerwartete Wendung. Er liebt es auch, seine Arme in einer Weise zu heben, die an die Fänge der Mantis erinnert, an das Schnappen der Skorpionzangen, an die geschwungenen Hörner des toro. Der Tänzer hat die aggressive, bedrohliche Potenz der Tierwelt in sich aufgespeichert; was ihn auf der Bühne bewegt, ist diese Kraft.  Sie ist aus Eros und Thanatos zusammengesetzt. Er balzt und droht zugleich, jagt und umwirbt. Töten und Lieben bedienen sich der selben Syntax, Zeugung und Mord nutzen die selben Formen. Begehren ist ihr Oberbegriff; die Idee des Sich-Bemächtigens ist in beiden Akten gleich gegenwärtig. Selbst die Biene, die Blütenpollen plündert, ist Räuber so gut wie Liebhaber, im Licht wie im Schatten. 

Vermutlich hat jeder Tanz seinen Ursprung in animalischen Gebärden und Posturen. Das klassische Ballett freilich hat diesen Ursprung in einer Weise transformiert, dass bei pliés und passés, piqués und Pirouetten das menschliche, zeremonielle, konstruierte Element vorherrscht. Der klassische Tanz ist nicht Ausdruck des Körpers, sondern seine Übersetzung ins Abstrakte. Der klassische Tanz ist Körperschrift, Sublimierung, Überwindung des Körpers durch den Körper, durch seine völlige Überstellung in den bewussten Willen. Der Flamencotanz, so wie wir ihn hier sehen, ist nicht Überwindung des Körpers, sondern seine Potenzierung. 

Natürlich überwindet auch der Flamencotänzer seinen Körper, bändigt und diszipliniert ihn, macht ihn zum Instrument. Aber Ziel dieser Überwindung ist eben nicht, den Leib zu vergeistigen und dessen Gesten als abstrakte Chiffren in den Raum zu zeichnen. Das Ballett ist ornamental, gezähmt, zeichenhaft. Es erscheint reflektiert, und es will reflektiert erscheinen.

Der Flamencotanz will diese Reflexion negieren. Der Tänzer scheint nicht eine Choreographie zu repräsentieren, sondern in der Choreographie seine schiere Präsenz  zu verdoppeln. Er legt es nicht darauf an, die einstudierten Schrittfolgen mit größtmöglicher Leichtigkeit vorzuführen, sondern betreibt die Verdichtung von Kraft und Intensität, indem er seine spontane Unmittelbarkeit beizubehalten versucht. Es ist ein atomistischer, oder besser: molekularer Tanz: die einzelnen Elemente sind vorbereitet, ihre Verknüpfung und ihre Abfolge obliegt dem Moment; Tapas als baile. 

Das klassische Ballett entspricht in gewisser Weise der französischen Kochkunst, der Verwandlung des Naturmaterials in eine genau geregelte Menüabfolge; sie überführt Tierisches in ritualisierte Formen, und zwar bis zu einem Punkt, an dem die Herkunft aus dem Animalischen vollkommen überschrieben und vergessengemacht worden ist. Ein Ausscheiden, Wegschneiden, Läutern des Animalischen: die Destillation viehischen Geruchs und seine Abfüllung in einen schlanken und kostbar geschliffenen Flacon. Hier lässt man noch genug rohe Elemente darin, Unverwandeltes, Grobheit und Spreißel. Im harten Klappern der Absätze ist noch Horn und Stein zu hören, die  Schuhe klackern hart und klar wie Hufe auf felsigem Boden. Man muss nur die Ballettschühchen der französischen Tänzer dagegenhalten, diese schlurfige Schuhwerk, das schonend mit dem Parkett von Versailles verfährt. Schwule Schluffischuhe, die unhörbar und als weiße Wischer über das Holz huschen. Das ist eine Kunst der Sichtbaren, eine aufs Visuelle reduzierte Präsenz. Dem Flamenco genügt das nicht. Er muss seine Anwesenheit auch akustisch bekunden, stampfend und trampelnd; in harten Tritten hackt Guerrero gegen die Arbeitsteiligkeit der Moderne an. Er will ganz da sein, als Mensch und als Vieh, sichtbar und hörbar, er will brutal wie zart sein, anziehend und einschüchternd, voller Süße und Salz, Furcht und Frucht gleichermaßen einflößend. - Dagmar ist längst verschwunden, hat sich in der dicht stehenden Menge durchgewurstelt, bis sie perfekte Sicht hat. Ich halte mich eher nahe des Bierausschanks und sehe dennoch genug, ou même plus.

21. - 24. Juni. Cordoba - Santa Elena.

Wir verlassen Cordoba, nach fünf Tagen - länger, als wir es sonst in einer Stadt aushalten. Cordoba war es wert. 
Die Autobahn Richtung Madrid langweilt uns; bei Andujar fahren wir ab und nehmen ein Sträßchen durch die Ausläufer der Sierra Morena Richtung Norden. Schon am Anfang ist die Straße schmal, nach einer verwaist wirkenden Hacienda wird sie ganz zur Schotterpiste. Wir stecken schon zu tief im Schlamassel, um jetzt noch umzukehren. Weder Straßenatlas noch Navi bieten Auswege an. Da müssen wir jetzt durch - wenn es hier überhaupt ein Durchkommen gibt. Es könnte aber auch genausogut sein, dass wir irgendwann vor einer Absperrung stehen oder dass die Piste immer mehr ausdünnt, bis sie sich ganz und gar in den trockenen, harten Boden der Steppe verläuft. Eine Stunde fahren wir so dahin; die Schlaglöcher sind mir mittlerweile egal, man muss nur zügig genug darüber wegbrettern, um die Wellenlängen von Straßenkuhlen und Stoßdämpferschwingung aufeinander abzustimmen. Was uns mehr beunruhigt, ist die Ungewissheit, ob der Weg nicht nur eine Stichstraße in die Ödnis ist. Vor Jahren  waren wir in Portugal auf genau so einer Straße gewesen, als uns plötzlich ein Fluß den Weg abschnitt. Ich war damals durch das Wasser die etwa dreißig Meter bis zum anderen Ufer gewatet und fand, man könne die Fahrt durch die Furt wagen. Aber da hatten wir ein kleines, leichtes Auto ohne Gepäck. Mit einem Gefährt von drei Tonnen Gewicht und sehr ungünstigem Schwerpunkt, wie wir es jetzt haben, hätten wir uns nur in das lose Kiesgeschiebe des Flußbetts eingepflügt. Aber hier oben gibt es keine Flüsse, und zudem kommt uns nach einer weiteren halben Stunde ein Motorrad entgegen, eine fürstlich aufwölkende Staubschleppe hinter sich. Der Fahrer grüßt mit einer lässig erhobenen Hand; von da an bin ich zuversichtlich. Wenn die Straße gesperrt wäre, hätte er uns sicher gewarnt. 

Ab und zu weidet eine Rinderherde in den Dehesas; was auch immer sie mit ihren Zungen aus dem Erdboden reißen: es ist frugal, dürr, strohig; karge Kost. 

Plötzlich sind da Mauern in der Einöde, davor eine Einbuchtung aus gestampfter Erde. Wir halten, steigen über Treppen auf den Mauerkranz. Vor uns tut sich ein weitläufiger Komplex von steingefassten Zellen, Gevierten, Arenen auf, die alle durch Korridore oder Vorzimmer miteinander verbunden sind. Für einige berückende Momente lange wähne ich mich in einer dieser Erzählungen von Borges, in denen höchste Rationalität mit abgründiger Sinnlosigkeit zusammenfallen. Doch dann verstehe ich: in diese Anlage werden Rinder getrieben, hier werden sie voneinander getrennt, separiert, sortiert. Die Folge von Kammern, die sich, durch Schleusenklappen verbunden, um die Arena legen, erinnert an das riesige Steinschema eines Körperorgans, das mit der Filterung und Umwandlung von Verdauungsstoffen betraut ist. Aber es ist eine Scheideanstalt für Kampfstiere. In den Arenen werden sie auf ihre Angriffslust und Tapferkeit geprüft, auf ihre Tauglichkeit für die Zucht. Leer, wie die Anlage jetzt ist, wirkt sie gespenstisch und albtraumhaft. Sie mutet wie ein Labyrinth an, selbst wenn sie nur aus ein paar grob gemauerten Waben und Gängen besteht. Doch gerade dies ist vielleicht das Albtraumhafte daran: der Erbauer des Ganzen war sich seiner Sache so sicher, dass er es nicht für nötig hielt, seinem Gebilde eine raffinierte Struktur zu verleihen. Die Stiere müssen nicht von einem verwickelten System von Irrgängen gefangengehalten werden wie der Minotaurus, einfacher Zwang genügt: aufeinandergeschichtete Feldsteine, Mörtel, rostige Tore. Die Geländer auf den Mauersimsen sind die Streben einer eisernen Krone; der Züchter ist der König über sein Stiervolk. 

Bald danach bekommt die Straße wieder einen Asphaltbelag. Wir haben die Grenze zum Naturschutzgebiet überschritten; die Landschaft wird zu einer milden Hügelwelt wie in Sussex, nur weniger grün. 

Wir passieren Bergbausiedlungen, deren Stollen seit Jahrzehnten stillgelegt sind. Die Abraumhalden sind längst schon in die natürliche Hügligkeit des Reliefs eingegangen, nur ein paar Fördergerüste stehen noch so heroisch im Mittagslicht wie Saurierskelette, die selbst im Tod dem Zusammenbruch trotzen. Das Dorf ist bewohnt, auch wenn wir niemanden sehen, bis auf einen stämmigen alten Mann, der mit langem Bart und einer Filzkappe auf dem Haupt das Unkraut in seinen Gemüsebeeten harkt. Oder ist es doch nur ein Zwerg, der einen neuen Anfang macht und nach Schätzen schürft? 

Wir nehmen einen späten Mittagsimbiss in La Carolina, auch das (jedenfalls sonntags) ein zu ewiger Langeweile verwunschener Ort, der aber einmal bessere Zeiten gesehen haben muss. Die rasterförmig angelegten Straßen, großzügige Ramblas und Plätze künden vom einstigen Wohlstand und von einer Gründungsepoche, die vom rechtwinkligen Geist aufklärerischer Vernunft beseelt war. Jetzt ist nicht mehr viel davon da, weder von Wohlstand noch von Vernunft. In der Bar erschießen ein paar Jugendliche per Wii Horden von Orks, verfettete Burschen in den späten Zwanzigern fressen Chips, qualmen, trinken und führen Reden, die man nicht Wort für Wort zu verstehen braucht, um die Gehässigkeit und das Ressentiment in ihnen zu spüren. Wahrscheinlich verabreden sie sich zu einer Pilgerfahrt zur Arena in den Bergen, und dann treiben sie imaginäre Untermenschen dort durch die Kammern und ergötzen sich daran, sie zu selektieren, hier die Neger, dort die Araber, hier lang die Juden, und hier die Brauchbaren und dort jene, die getrost schon an der Rampe in den Untergang geschickt werden können... Aber dann kommt eine schwarze junge Frau und gesellt sich lachend zu den vermeintlichen Rassisten, und einer davon wendet sich fürsorglich einem schwerbehinderten Knaben zu, der von seinen Eltern im Rollstuhl hereingeschoben wird. Als wir aufbrechen, schiebt er immer noch geduldig Bissen um Bissen zwischen die spastischen Lippen des Jungen. Es ist eine Lektion: eine Mahnung, nicht gar so schnell zu urteilen.

Einige Kilometer weiter, in Santa Elena, gibt es einen Campingplatz. Cordoba hat uns ausgelaugt, wir brauchen eine Erholungspause, bevor wir nach Madrid fahren. 

Der Platz ist ideal; wahrscheinlich passt ein halbes Tausend von Gästen hierhin, aber jetzt in der Vorsaison sind grade mal zwei Dutzend da. Drei Tage lang lagern wir unter den Pinien, lesen, schreiben, füttern die Vögel. In den Bäumen haust eine Art mit schwarzer Kappe, graubraunem, hellkehligem Körper und saphirblauen Flügelspitzen und einem ebenso blauem, langem Stert. Die Vögel erwachen vor Sonnenaufgang und halten eine schrille Stunde, bevor sie erneut ruhen. Die Jungen sind recht zutraulich; mit ein paar Brotkrumen lassen sie sich leicht locken. Aber wenn sie den Menschen allzu nahe kommen, brechen die Erwachsenen in kollektives Gekreische aus, und die vorwitzigen Kinder flüchten sich eilends auf die Bäume. 
Wir sammeln Kraft. Der Patron hat uns ein paar Wanderungen empfohlen, und nicht versäumt, die historische Bedeutung des Ortes hervorzuheben: irgendein christlicher Alfons hat hier anno 1200 über die Almohaden gesiegt und damit den Weg für die Reconquista Andalusiens bereitet; aber statt diese Gedenkstätten zu besuchen, lese ich lieber bei Konrad Lorenz etwas über die Revierkämpfe von Korallenfischen, was vielleicht sogar erhellender ist.

24. Juni. Santa Elena - Madrid.

Jenseits des Desfiladero-Passes beginnt die Mancha. Nach einer Weile begreife ich, warum Don Quijote auszog, Abenteuer zu suchen. Die Mancha quält den Reisenden durch eine solch unerbittliche Fadheit, dass ein Junker, der auch nur einigermaßen bei Verstand ist, es vorziehen muss, diesen weitgehend zu verlieren, um wenigstens einen Rest davon zu retten. Wer hier nicht Einbildungen und all sein Spinnertum aktiviert, um der Langeweile zu entgehen, ist verloren. Wir erweisen dem Hidalgo unsere Reverenz, indem wir in Puerto Lapice Station machen, wo Quijote sich von einem Schenkenwirt zum Ritter schlagen ließ. Er hielt die Taverne für eine Burg, den Wirt für den Burgherrn, und die Huren für Burgfräulein. 

In der Tat ist heute all das Wirklichkeit geworden, was Don Quijote sich noch einbilden musste, und sogar noch schöner als vom fahrenden Ritter erwartet. Der Burghof ist von überdachten Balustraden umgeben und mit feinen Mosaiken gepflastert, leuchtend rote Sessel stehen wie Kardinalsthrone um gedeckte Tische, ausladende Schirme schenken Schatten. In der Burghalle stehen üppige Leckereien unter Kristallscheiben bereit für den Gast, derweil unsichtbare Musiker den Raum mit süßen Klängen erfüllen. Ein silberner Drachenhals, an dessen Kehle der Tau glitzert, spendet ein köstlich kühles Getränk, und der Raum, in dem man sein Wasser abschlagen kann, ist so zauberhaft, dass man nur seine Hände einem schimmernden Silberrohr zu nähern braucht, damit sogleich ein erfrischender Strahl reinsten Wassers herausströmt. Das Wunderbarste allerdings ist eine große kristallene Platte an einer Wand der Halle, auf der wie in einem magischen Spiegel allerlei bewegliche Gestalten ihre Possen treiben, plötzlich erscheinen und ebenso plötzlich wieder verschwinden, um anderen Gestalten Platz zu machen, von denen die eine etwa einen regenbogenfarbenen Kreis dreht, der mit Buchstaben beschriftet ist, eine andere in einem Kleid, das von goldenen Schuppen glitzert, einherschreitet und wie eine Fee, die huldvoll ihre Gaben beut, prachtvolle Blumengebinde verschenkt. Dies alles ist schlechthin wundersam, und es fällt uns nicht leicht, diesen zauberischen Ort zu verlassen. Doch schließlich sind wir fahrende Ritter, deren Bestimmung eben dies ist: zu fahren. 

Wir fahren nach Consuegra, um zu Mittag zu essen. Auf dem Hügelkamm, der das Städtchen flankiert, ragt ein gutes Dutzend altertümlicher Windmühlen auf; um diese Bagage werden wir uns später kümmern. Erst müssen wir zu essen kriegen. Das Städtchen ist nicht unansehnlich. Ich erinnere mich vage an einen Palast, der aussah, als sei er im Barock erbaut worden, der aber dann, wie ein Schinken, der ein Jahrhundert lang in der Luft getrocknet wird, alles barocke Fett abgeschmolzen und die Anmutung renaissancehafter Schlichtheit angenommen hat. An der Plaza Mayor einige schöne Holzgalerien, deren Sprossen jetzt wie die Saiten von Äolsharfen nicht von Menschen, sondern nur vom Wind bespielt werden. Es ist kaum eine Menschenseele auf den Gassen; auch das Restaurant, das wir letztlich wählen, ist leer. Am Tresen im Hof hocken ein paar Männer und trinken. Zu essen gibt es dort nichts. Wir werden nach drinnen gebeten und sitzen dort ganz allein in einem grob verputzten Gewölbe. Ein Zettel hängt an der Wand: tocar los cojones al camerere, sereis mandados directamente a tomar por culo, was ungefähr bedeutet, dass jeder, der dem Kellner auf die Eier geht, ihn bitteschön am Arsch lecken möge. Die derbe Sprache lässt auf derbe Genüsse hoffen, aber nur die Muscheln zur Vorspeise sind passabel. Die carrilada danach ist nicht weichgeschmort, wie es sich gehört, sondern kurzgebraten, was sie vollkommen zäh lässt und ungenießbar macht. Vermutlich ist mangels Gästen der Koch nicht im Haus, und die Kellnerin hat in ihrer Not das Einzige getan, wozu sie imstande ist, und hat alle Zutaten einfach auf die Plancha geworfen.¡Tomad por culo! ¡Esto no es comestible!

Wir rauschen an Aranjuez vorbei (beim nächsten Mal, versprochen!) und wurschteln uns durch dichten Verkehr bis zum Madrider Campingplatz Osuna. Von dort aus marschiert man eine Viertelstunde zur U-Bahn; bis ins Zentrum ist es dann noch eine halbe Stunde. 

Wir steigen an der Oper aus und finden uns in einem anderen Land. Madrid liegt nicht in Spanien; es ist in Europa zuhause. Sofort spürt man das Weltstädtische, das Wetteifern mit den europäischen Kapitalen London und Paris. Sevilla und Cordoba sind im ersten Moment als spanische Städte zu erkennen, der nationale Charakter der Architektur springt trotz aller mondänen Anmutung unmittelbar ins Auge. Dies hier jedoch ist internationaler Stil des 19. Jahrhunderts, pompöse belle epoque, Neo-Renaissance und Klassizismus, oft auch mit allem Prunk historistischer Dekorationswut aufgedonnert, doch das ist in keiner Weise abwertend gemeint. Es ist grandios, überwältigend, wunderbar. Ich liebe diesen Überschwang und das Luxurieren eines Temperaments, in dem hochfahrende Majestät und naive Zuckerbäckerlust sich mischen. Hinter der Puerta del Sol, dem offiziellen Null- und Mittelpunkt Spaniens, von dem aus alle Straßenkilometer gemessen werden, verdichtet sich diese hypertrophe Bebauung besonders: die Proportionen geraten aus den Fugen, und beim Umherwandern wird man den Eindruck einer beinah beklemmenden Disharmonie nicht los, weil die Straßen für manche der hohen Häuser nicht breit genug sind und deren expansiver Ausdrucksqualität - ihrem Geltungsdrang und ihrem Gestus der Überbietung, kurz: dem Stolzgeschwellten ihrer Fassade - gar nicht genug Raum zur Entfaltung bieten können. Manchmal sind die Häuser wie geiltriebige Sonnenblumen: sie recken sich zum Licht und rauben es sich damit gegenseitig. Sie stellen ihre prächtige Erscheinung in zu enge Vitrinen; in der Breite beschränkt, wuchern sie nach oben, und schon wird die gewünschte Erhabenheit zur Fuchtelei eines prahlerischen Hanswursts, der seine Wichtigkeit anerkannt wissen will. Marktschreiertum plärrt neben Distinguiertheit, neureiche Geschmacklosigkeit neben nobler Zurückhaltung; doch selbst diese Zurückhaltung scheint noch im Zeichen sozialer Rivalität zu stehen: so wie die Neureichen das bourbonische Establishment durch Prunkentfaltung überbieten wollten, so wollte vermutlich umgekehrt der alte Adel die Parvenus durch ostentative Schlichtheit beschämen. 

Doch das sind historische Angelegenheiten, die erst vom zweiten Stock der Häuser aufwärts verhandelt werden, von Fassadenmaske zu Fassadenmaske. Au rez-de-chaussée hat hier längst das Volk das Regiment übernommen. In anderen europäischen Hauptstädten wäre ein solch erlesene Lage längst von den internationalen Ketten erobert worden, von Boutiquen und flagship stores, luxuriösen traiteurs und confiseries, Herrenschneidern und Juwelieren. Hier gibt es das auch, aber die edlen Läden müssen sich die direkte Nachbarschaft von neonbeleuchteten Schinkenbars, derben Pinten, in denen Schafsinnereien und Nierchen gebraten werden, staubigen Briefmarkenhandlungen und Huren, die sich an der Calle Preciados feilbieten, gefallen lassen. Wir sehen Damen nach der shopping-tour, die ihre Fendi- und Gucci-Taschen mit den Füssen unter den Tisch schieben, um ein Bier zu trinken, und eine Hure, die uns erst wegen ihres schlangenschuppig-grünen Kleids an der Plaza de Callao aufgefallen war, eine Stunde später in der Casa del libro in einem Band Bourdieu blättern (La distinctión). Ich war zulange nicht mehr in Paris, als dass meine Erinnerung zuverlässig wäre, aber mir scheint, dass dort Luxusrestaurants und Grillbuden, Läden für Billigmode und Boutiquen mit behandschuhten  Portiers nicht in solch schroffen Kontrasten aufeinanderfolgten. Hier jedenfalls ist die soziale Segregation topologisch schwächer markiert: um die Puerta del Sol findet sich alles zusammen, Proletariat und haute-volée, Gediegenheit und Plastikhocker, Bettler und Notare, Gattinnen und Nutten. 

Der Platz selbst hat etwas Explosives oder besser Zentrifugales. Die sternförmig von ihm ausgehenden Straßen sind dynamische Fluchten, für Einströmen und Ausströmen von Menschenmassen gedacht, ein Ort für Begegnung und Abschiede; ein Ort, der von Hast und Geschäftigkeit spricht und ganz vom merkantilen Geist der Bourgeoisie erfüllt ist, Carlismus hin oder her. Die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den Carlisten und den Liberalen des 19. Jahrhunderts wirken von heute aus gesehen wie müßiges Geplänkel. Während man noch um Gottesgnadentum und Pressefreiheit stritt und sich um solcher Fragen willen Kriege lieferte, bauten selbst die Konservativen bereits aus einer Mentalität heraus, die längst vom Virus des Liberalismus befallen war. Die Puerta del Sol ist seine urbane Verkörperung; hier haben die Prinzipien von Beweglichkeit, sozialer Dynamik, Flüchtigkeit und Konkurrenz - Austausch und Wandel im weitesten Sinn - ihre bauliche Form gefunden. Der Platz stellt mit den Straßenröhren, die von ihm ausgehen, das Modell eines chemischen Labors dar, eines Destillations- und Metabolisierungsapparats, in dem Elemente ineinander überführt werden, neue Mischungen entstehen, Katalysatoren Prozesse und Reaktionen bewirken und Umformungen, Synthesen, Emergenzen allerwärts aufbrodeln. Die Puerta ist ein Ort der Erhitzung und des köchelnden Stoffaustauschs: wohl kaum ein Zufall, dass sie vor allem durch den Bau der Casa de correos (dem Postamt) zum zentralen Platz Madrids wurde. Information ist für Makler und Mäkler, Händler und Handler ein Grundnahrungsmittel. Politische Aufrührer bedürfen ihrer nicht weniger als Geschäftsleute, die Information und ihr Austausch ist das Ferment, durch das der Teig der Moderne in Gärung gerät. 

Ein Blick auf das ältere Modell eines städtischen Platzes ist aufschlussreich. Die Plaza Mayor ist nur ein paar Schritte entfernt; von durchaus königlicher Weitläufigkeit bildet sie ein großes Rechteck, das von Arkaden und darüber umlaufenden Fensterfronten gesäumt wird. Einheitlichkeit und Ebenmaß kennzeichnen die Anlage; hier herrscht kastilische Zucht. Im späten 16. Jahrhundert entstanden, ist er Ausdruck einer konzentrierten Abschließung. Es gibt neun Portale, wie sie an einem belebten Platz, an dem auch Massenveranstaltungen stattfinden, vonnöten sind; aber sie verbergen sich im Baukörper: sie öffnen nicht die Kompaktheit der Fassaden, sondern sind nicht mehr als unerlässliche funktionale Notwendigkeiten. Sie reißen keine visuellen Fluchten auf, und sie führen auch, wenn man den Platz verlassen will, nicht sofort ins Freie, sondern erst in den Baukörper hinein und nur durch diesen hindurch auch heraus. Das mag eine spitzfindige Betrachtung sein, aber atmosphärisch macht das einen erheblichen Unterschied. Es ist eine Architektur der Einkesselung und der Bändigung. Zugangskontrolle und Uniformierung sind ihre funktionalen und ästhetischen Maximen; hält man die Puerta del Sol dagegen, ist diese eine deutliche Antithese zu diesem Traum von ständischer Immobilität. Das Ständische und Stehende, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, ist in der Hitze der gewinnbürgerlichen Welt der Sol verdampft. Hier, an der Plaza Mayor, sollte es einst geruhsam im Schatten der Arkaden bewahrt werden. 

Wir flanieren weiter und schauen schließlich hinter der Sol durchs Schaufenster einem Koch zu, wie er mit einer großen Schere gesottenen Tintenfisch in Stücke schneidet und auf dem typischen Holzbrett anrichtet. Dem können wir nicht widerstehen. Es gibt galizisches Brot, das so gut ist, dass wir fürs Frühstück noch einen guten Kanten zum Mitnehmen erbitten, Weißwein aus Porzellantassen, Gemüse vom Grill. Das Schöne an der Großstadt ist, dass man in ihr das beste ländliche Essen bekommt.

25. Juni. Madrid.

Mein fünfzigster Geburtstag. Beim Frühstück kommt eine junge Katze, um zu gratulieren, aber natürlich will sie dafür entlohnt werden. Wir füttern sie mit pata negra-Schwarten, was nicht ausreicht, sie meinen zärtlichen Anwandlungen gewogen zu machen. Sie bleibt scheu und kratzbürstig und hält sich immer in sicherer Entfernung von meinen Grapschversuchen. Mein Gott, sie hat ja recht. Wenn ich in ihrem Alter wäre, würde ich mich auch nicht auf die Zudringlichkeiten eines mürbwerdenden Herrn einlassen.

Las Ventas, Madrids Stierkampfarena, liegt auf dem Weg in die Stadt. Ich habe mir zum Geburtstag noch eine Corrida gewünscht, denn diesem tragischen Datum sollte man mit einer Zeremonie des Todes begegnen. Aber damit genug von mir!

Die Arena ist in den zwanziger Jahren errichtet worden, in einem prunkvollen und ornamentalen, maurischen Stil, der dem Gebilde überhaupt nicht guttut. Das Berückende an den Arena-Bauten, die wir bislang gesehen haben, war immer ihre erhabene Schlichtheit: die reduzierte und purifizierte Form einer weiß getünchten Mauertrommel. Die Portale verteilten sich zumeist wie die Stundenstriche an einer weißen Uhr: die Arena ist eine Uhr, in der die Schatten der Nacht entgegenwandern und am nächsten Morgen nach und nach von der aufsteigenden Sonne vertilgt werden. Die Symbolik der Arena ist im Kern zyklisch und archaisch: Tod und Leben bedingen sich gegenseitig, Triumph und Schmach sind einander komplementär. Heraklits Logos wacht über das Geschehen im Sand. 

Las Ventas aber ist ohne jedes Gespür für diese symbolischen Valenzen der Corrida entworfen worden. Allein die Fassade um das Hauptportal, hoch aufgerichtet und das Rund der Arena weit überragend, ist eine beinah obszöne Demonstration menschlicher Übermacht. Wenigstens in der architektonischen Geste der alten Arenen war die Idee eines Kampfes auf Augenhöhe noch gewahrt. Torero und Stier waren idealiter ebenbürtige Kontrahenten; diese Fassade aber ist nicht mehr die der alten Arena; es ist der Eingang zu einem Schlachthof. Das kosmische Equilibrium ist aus der Balance geraten. Kreislauf und Übergang sind zur bloßen Konsumption geworden.

Die Arena ist mir schon jetzt zuwider; wir kaufen trotzdem Karten, am Sonntag werden wir weitersehen.

Punkt zwölf Uhr kommen wir im Prado an und bleiben dort bis Toresschluss. Es wäre müßig, etwas über diese wunderbare Sammlung zu sagen. Nur dies: aus dem Kunstmuseum Basel hat man eine Handvoll Picassos ausgeliehen, die jetzt in der ersten Galerie präsentiert werden. Picasso, dessen Genie nicht zu leugnen ist, schneidet in dieser Gegenüberstellung mit den alten Meistern nicht gut ab. Gegen den konzeptuellen Hintersinn eines Tintoretto gehalten, gegen die lässige Chuzpe seiner Pinselführung und die Raffinesse seines Kolorits, erscheint Picasso manchmal wie ein pubertärer Trotzkopf, dessen Grobheiten wie Unvermögen wirken. Aber das liegt nur daran, dass Picassos Genie zumeist gar nicht im einzelnen Werk festzumachen ist, sondern im Übergang, im Abschilfern und Weiterknospen, in Verwandlung und steter Veränderung. Hier aber konfrontiert man seine Skizzen und Zwischenstufen mit vollendeten Meisterwerken, und das lässt sie manchmal fast plump und als bloß tastende Versuche erscheinen. Doch es verhält sich bei manchen Gegenüberstellungen - vor allem bei Tizian und Rubens - wie mit dem Gegensatz von Plaza Mayor und Puerta del Sol: die eine klassisch gestillt und formberuhigt, ganz ins straffe Korsett höfischer Zeremonialmentalität gefasst; die andere modern, zentrifugal, multiperspektivisch und polyfokal, flüchtig in Aufriss und Abriss, in Möglichkeiten und Auswegen auseinanderstrebend: das Labor der Moderne. Ich finde diese Modernität allerdings auch anderswo, bei weit älteren Werken, Tintoretto zumal, dessen kühne Winkel und sich hier und da in gespenstischen Andeutungsschraffuren genügende Malerei mich immer wieder frappiert, oder bei El Greco, den ich erst hier im Prado als gewaltig entdecke und dessen giftschillernde Farbigkeit und verzerrte Figurengestaltung von unheimlicher Wirkung sind. Da ist natürlich Bosch, mancher Goya, da ist die abgründige Reflexivität der Hoffräulein und die Lanzen des Velazques, Breugels monströser Triumph des Todes, Tiepolo, der nur auf den ersten Blick sinnlich und pittoresk wirkt, auf den zweiten aber voll rätselhafter Schrullen steckt, da sind einige Neuentdeckungen wie Patinir oder Paret y Alcazar, die auf je eigene Art eine schmerzliche Empfindlichkeit für unerreichbare Entfernungen teilen. Aber ich will hier nicht in eine Aufzählung von Namen verfallen, die nutzlos bleibt, solange man sich nicht geduldig den einzelnen Bildern zuwendet. Zeit aber ist ein knappes Gut; und wer spürte das stärker als einer, der ein halbes Jahrhundert verlebt hat, und nichts hinterlassen hat, nec liberi nec libri

Museen sind auch Mausoleen; Erinnerungsorte, die Spuren vergangenen Lebens bewahren: die Pinselstriche, die einmal jemand geführt, und die Ideen, die einmal jemand gehabt hat, die spontanen Eingebungen und die zäh herausgepressten Früchte grüblerischen Nachdenkens, nicht anders als Tagebücher und Reiseberichte, Romane und Bilder, Skizzen und Briefe, all das Treiben, mit dem man meint, sich zu verewigen. Aber dann bleibt, wenn es gut war, doch nur das Verewigen dieser Bilder und Texte, Partituren und Bauwerke, und die Urheber derselben sind dennoch tot und nichts weniger als ewig und unsterblich, sondern einfach fort wie all die anderen auch, die nichts hinterlassen haben als Kinder oder auch nicht, Schulden oder auch keine, Besitz oder nicht, einen Namen, dessen die Nachwelt sich entsinnt, oder auch keinen. Die Auslöschung der Person selbst aber ist gewiss, unausweichlich, und die Dinge und Werke, die sie vielleicht hinterlassen hat, sind nicht mehr als Indizien und eingetrampelte Spuren eines Ich, das nicht mehr ist. Es ist zweifellos eine heroische Geste, sich kraft seiner schöpferischen Gaben gegen die Sterblichkeit aufzubäumen und im Sterben mit einem zittrigen Zeigefinger auf das zu weisen, was man im Leben vollbracht hat; aber diese Geste ist zugleich lächerlich: sie zerfällt, sobald das Herz nicht mehr schlägt und das kortikale Feuer erlischt, zu nichts. 

Diese Aussicht ist für mich, wie ich zu lernen beginne, keineswegs niederdrückend; im Gegenteil; sie entlastet.

Wir kehren in der Casa Toni nahe der Sol ein. Da gibt es Schweineohren vom Grillblech, Nierchen, scharf gebratene pimientos, ledrige und aromatische Schafsinnereien, die um ein Holzstäbchen gewickelt sind, cañas per Handzeichen, eine Uhr, die auf ewig halbvier steht. Ich könnte mir keine bessere Umgebung vorstellen, meinen Fünfzigsten zu begehen.

26. Juni. Madrid.

Kaum, dass wir aufgestanden sind, kommt die Katze. Sie lässt sich nicht durch die üblichen Spielchen locken. Die Schnur, die ich lockend durch das dürre Gras ziehe, ignoriert sie souverän. Für solche Kinderfaxen hat sie keine Zeit. Die Not hat sie früh erwachsen gemacht; sie weiß, dass sie ihre Kräfte nicht an derlei Possen verschwenden sollte. Erst als wir ihr eine halbe Dose Thunfisch auf ein Tellerchen tun, wagt sie sich nahe heran; aber trotz ihrer Gier bleibt sie wachsam. Ihre Ohren sondieren unablässig die Umgebung, ihre Augen verfolgen misstrauisch jede unserer Bewegungen. Ich halte ihr die Schinkenränder, die von unserem Frühstück geblieben sind, als Köder hin: vielleicht beißt sie an? Eine zahmere Katze würde sich die Stücke mit dem Maul schnappen; diese hier versucht, sie mit den Krallen zu packen; das ist der Habitus einer Jägerin, die erst zubeißt, wenn sie die Beute unter den Pfoten hat. 

Wie jedesmal, wenn wir die Treppe an der Metrostation Canillejas hinuntersteigen, steht der junge Schwarze auf dem ersten Absatz und bietet Feuerzeuge feil. Morgens um zehn, um Mitternacht, auch am Sonntagabend gegen neun begegnen wir ihm. Wahrscheinlich ist er auch in den Stoßzeiten morgens schon auf dem Posten. Es ist ein hübscher Bursche, der einen aufgeweckten Eindruck macht und seine freundliche Maske beibehält, obwohl die Spuren der Müdigkeit darin nicht zu übersehen sind. Für die Katze wollen wir heute Futter kaufen; diesem hier geben wir nichts, kein einziges Mal, und behelfen uns mit der faden Ausrede, dass wir schließlich kein Feuerzeug brauchen. 
Die ganze Fahrt über bis zur Plaza España denke ich darüber nach. Indem er etwas zum Verkauf anbietet, ist er kein Bettler, und warum sollte ich ihm etwas abnehmen, das ich nicht brauche, wo ich doch genauso wenig Stützstrümpfe, Schokoladenkonfekt oder Heiligenbildchen brauche und es mir im Traum nicht einfiele, nur aus Mitgefühl bei einem Stützstrumpfverkäufer, dessen Geschäfte schlecht gehen, etwas aus seinem Sortiment auszusuchen? Der Schwarze macht ein Angebot, für das ich keine Nachfrage habe. Er tritt als Marktteilnehmer auf und wird gemäß den Gesetzen des Marktes behandelt, also ignoriert. Da er nicht an Barmherzigkeit appelliert, sondern ein Geschäft vorschlägt, hat er sich an die Rationalität des Marktes ausgeliefert. Was da tun? Nietzsche schreibt einmal, man ärgere sich immer über Bettler, sowohl, wenn man gibt, als auch, wenn man nicht gibt. 

Plaza España: der Name verpflichtet. Ist die Puerta del Sol die geodätische Mitte des Landes, muss dieser Platz hier, um sich seinen Namen zu verdienen, wenigstens seine symbolische sein, und in gewisser Weise ist er das auch. Hinterfangen von zwei sehr eleganten Hochhäusern der Fünfzigerjahre (eigentlich ist nur eines elegant, aber von ihm fällt ein wenig Glanz auf das zweite, ein pompöses und plumpes Gebilde franquistischen Barockmodernismus), erhebt sich in einer kleinen Parkanlage das Monument des Miguel de Cervantes. Der Dichter thront auf einer erhöhten Stufe des Obeliskensockels. An der Spitze des Obelisken beugen sich mythologische Figuren unter der Last einer großen Kugel, und es sieht ganz so aus, als hielten sie es nicht mehr lange aus, bevor sie diese Globe auf das Haupt des Cervantes herunterplumpsen lassen müssten. Vor Cervantes, auf einem eigenen Podest, reiten Don Quijote und Sancho Pansa auf ihren Tieren; Rosinante ist unverkennbar ein müder Klepper, Sancho ist mürrisch, verdrossen, gequält, Don Qujote reckt seinen rechten Arm, wie um (sein strenger Gesichtsausdruck lässt es vermuten) irgendeinem Unrecht Einhalt zu gebieten. Die Geste ist von wahrhaft herrscherlicher Würde. Wenn ich mich nicht täusche, ist sie gradewegs auf das Palacio Real gerichtet, als sei's der König, dem die Ermahnung des Hidalgo gelte. 

Wieder muss ich an den schwarzen Feuerzeugverkäufer denken. Er hat, wie der spinnerte Landjunker, dessen Stand nach Abschluss der Reconquista überflüssig geworden war, keine reale gesellschaftliche Funktion; zur Müßigkeit verdammt, steht er außerhalb aller Möglichkeiten, sein Los zu verändern. Er hat noch nicht einmal den Ausweg der Narrheit; der steht, soweit ich sehe, nur der Literatur offen. 

Aber was ist es, das Don Quijote zum spanischen Nationalheroen gemacht hat? Wie kommt man um 1925 darauf, ihm an so prominenter Stelle ein Denkmal zu errichten? Gewiss, da ist sein Stolz, an Idealen festzuhalten, auch wenn sie de facto längst hinfällig sind. Da ist sein Kampf gegen die Welt des Gewerbefleisses, seine Wut gegen die Windmühlen und sein Erschauern vor den hämmernden Walkwerken, die die Heraufkunft der Manufakturen ankündigten und dem beschaulichen Handwerk seiner Zeit ein Ende machten. Da ist der Wille, eine Welt zu bewahren, die von bukolischer Unmittelbarkeit scheint (auch wenn die Orangen, die dort geernet wurden, kaum mehr als Lesefrüchte waren). Da ist die Unbeugsamkeit der Würde und des Stolzes angesichts des Verfalls des einst so mächtigen Reiches.
1921 hatte Spanien bis auf Ceuta und Melilla seine Besitzungen in Nordafrika verloren. Als das Cervantes-Denkmal erbaut wurde, eroberte man die Gebiete mit französischer Hilfe zurück, indem man die Rif-Kabylen mit Hunderten von Tonnen Phosgen und Chlor-Arsen-Gas beschoss. Da tut es offenbar gut, einen weisen Narren als Nationalhelden zu feiern, der zeitlebens von Gerechtigkeit und Edelmut geträumt hat. 

Wir gehen weiter in Richtung des Palacio Real und steigen die Treppen zu den Sabatini-Gärten hinab, wo uns ein Geiger mit Weisen empfängt, die schmachtend gemeint sind, aber so greulich kratzen wie Schafswolle auf bloßer Haut. Es ist unmöglich, in diesem französischen Garten zu flanieren. Die Sonne gleißt allzu grell auf den gekiesten Pfaden; aber auch, wenn die Schatten länger geworden sind, wird der Garten nicht zum Lustwandeln einladen. In den Gärten der Loire, in Chenonceaux, Chambord, Chaumont, Villandry, sind die bepflanzten Gevierte, aller geometrischen Formung en gros ungeachtet, immer auch Vielfalt en detail, sie bilden eine reiche Palette von Blütenfarben und -formen aus, zelebrieren Differenz und koloristische Abstufung. In den Sabatini-Gärten fehlt dieser Sinn für Übergänge und feine Unterscheide. Man begnügt sich mit grünen Heckenlabyrinthen und Taxuszylindern, weißen Wegen: sol y sombra. Von den Fenstern des königlichen Palastes aus gesehen mag das seine Reize haben - grün verwinkelte Mäander und Formbäume, dazwischen weiße Skulpturen, die wie die Figuren eines unbekannten Brettspiels aus dem Grün aufragen - aber man merkt doch, dass der Garten eher pflichtschuldigerweise da ist (er gehört sich für ein Königsschloss des Spätabsolutismus) als aus einer Passion für den Reichtum der Göttin Flora. 

Dem Palast selbst schenken wir nur einen Seitenblick. Heute ist kein Tag für Besichtigungen, und selbst, wenn es einer wäre, würde mich dieses Schloss nicht anziehen. Bei allem Prunk, der im Innern wahrscheinlich aufgeboten wird, und bei aller Grandiosität seiner Fassaden ist es doch nur eine der zahllosen, multinationalen Filialen absolutistischer Prachtentfaltung. Man sollte auf all diese Schlösser - Herrenchiemsee und Windsor, Versailles, Escorial und Schönbrunn, Sanssouci und Nymphenburg (die Liste ließe sich fortsetzen) - einfach die golden arches von McDonalds setzen und hätte ein modernes Signet für einen Baustil, der vor Jahrhunderten schon genauso internationalisiert und standardisiert war, wie es den Burgerketten von heute kulturkritisch vorgeworfen wird.

Zudem bin ich heute aus irgendeinem Grund besonders empfindlich gegen den Applomb der Macht und gegen den Anschein von Rationalität in ihren architektonischen Gebärden. Selbst die Grünanlage vor dem Palast mit ihrem regelmäßigen Wegenetz und dem Halbrund, das sie umfasst, ist mir heute zuwider. Der Grundriss behauptet eine mathematische Vernünftigkeit aus Rechtwinkligkeit und konstruktiven Zirkelschlägen; aus dem Schloss, dem Vorplatz, der Palastkuppel, dem Straßenraster: von überall her ertönt ein rationalistisches Calculemos!, das vollständig davon überzeugt ist, dass das Wesen des Seins im Kalkulablem aufginge. Ich meinerseits bin jetzt vollständig überzeugt, dass der bronzene Don Quijote auf seinem Klepper eben deshalb die Hand ausstreckt, um gegen diesen Universalitätsanspruch rechnender Vernunft Einspruch zu erheben, und ich sehe auch den Schwarzen im Schatten des Treppenaufgangs Canillejas, der eins seiner Feuerzeuge hochhält, am Zündrad dreht und eine kleine Flamme emporschnicken lässt. 

Neben dem Königlichen Palast liegt Madrids Kathedrale. Sie ist von der Straße her gesehen nicht spektakuär, beherrschend schon gar nicht; eigentlich wirkt sie ein bloßer Annex des Palasts, bescheiden zurückgesetzt: kein Vergleich zu den Kirchen, wie sie in Köln oder Amiens, Mailand oder Straßburg den öffentlichen Raum dominieren. Allein das ist bemerkenswert; noch bemerkenswerter allerdings ist das Innere. Selten habe ich eine katholische Kirche betreten, deren Allerheiligstes nicht schnell auszumachen war. Eigentlich gibt es immer eine klare architektonische Ausrichtung zum Hauptaltar hin: selbst in der von Separées untergliederten Kathedrale von Burgos oder in den von Retrochören verschachtelten Domen Sevillas oder Salamancas war immer eine gewisse Lenkung des Blicks und der Schritte wirksam. Hier spüre ich das erste Mal eine Irritation, eine Desorientierung, und weiß nicht, wohin mich wenden. Der Raum wirkt auf den ersten Blick unhierarchisch, oder jedenfalls vermeidet er es, seine klandestine Hierarchie jedem Besucher sofort aufzunötigen. Lass die Leute ruhig herumirren, scheint er zu sagen, sie werden ihren Ort schon finden. Es ist seltsam, dass sich mir dieser Eindruck so stark eingeprägt hat. Wenn ich mir jetzt zuhause die Bilder von der Kirche und ihren Grundriss ansehe, scheint es mir fast, als hätte ich mich getäuscht. Doch vielleicht ist es nur so, dass Fotografen mit Vorliebe Perspektiven wählen, die den Anschein von Homogenität und Ungerichtetheit, der mein spontanes Raumerlebnis bestimmt hat, durch eine sorgfältige Auswahl der Sichtachsen begradigen und ordnen, und - das ist nicht zu leugnen - auch die dem Grundriss durchaus innewohnende hierarchische Struktur klarer zur Geltung bringen als ich sie erst erfassen konnte. Ja, wahrscheinlich bin ich einfach einer Illusion erlegen, die vielleicht durch die Ausmalung der Gewölbe mit poppig-psychedelischen Farben oder die knallig bunten, modernen Ikonenmalereien in der Kuppel ausgelöst wurde, oder aber einfach durch eine Bezauberung, die von dem Denkmal des Don Quijote auf mich übergegangen ist und mich nun selbst in der katholischen Kathedrale der spanischen Hauptstadt eine Verkörperung von Offenheit und Modernität sehen lässt. Wahrscheinlich werde ich später eine primitive Schänke für ein ausgezeichnetes Restaurant halten, Huren für noble Damen oder ich lasse mich von verkleideten Mädchen ebenso über deren wahres Geschlecht täuschen wie von Männern, die in high heels und Netzstrümpfen herumstolzieren und dabei noch nicht einmal eine schlechte Figur machen. 

Wir flanieren ohne Plan durch die Stadt, folgen bei jeder Abzweigung dem Weg, der uns reizvoller erscheint, verlieren uns in stillen Winkeln und finden uns unversehens wieder an brausenden Hauptstraßen, durchstreifen barrios, die man in Deutschland Kieze nennen würde, und die im Paris des 19. Jahrhunderts ein blühendes Biotop von Grisetten und Bohèmiens gewesen wären, voller Putzmacherinnen und grimmiger Anarchisten; hier und heute in Madrid gibt es Bioläden, Auslagen mit heilenden Steinen und Metallspinnen zur spirituellen Kopfmassage, Pakistanis, die alles verkaufen, was billig ist, von Sonnenbrillen über Kochtöpfe und grelle Shiva-Plakate bis zu muslimischen Gebetsteppichen; Beratungsstellen für Schwule und Lesben und alles andere, Gürtel und Schmuck aus Marokko, Kostümverleih und Pompoms aus Krepp. Transen stöckeln an Frauen im Hijab vorbei, unrasierte und verwegen aussehende Typen, die wahrscheinlich einen Lehrauftrag an der Uni haben, lesen beim Bier Deleuze und winken unwillig die Frau weiter, die mit ihren Einkäufen und einem Kind an der Hüfte an ihnen herumnörgelt. Männer wühlen in Mülltonnen, und unweit davon wird ein Model in einem Kleid fotografiert, das aus Silberpailletten, gerüschter blauer Plastikfolie und Pelzapplikationen besteht, hoffentlich ist es nur fake fur. Man spricht Spanisch, aber überall schnappt man auch arabische, englische, französische Fetzen auf, der Paki in seinem Laden skypet mit zuhause, die Chinesen hört man durch das Fenster ihres Imbisses auf Mandarin zetern, während sie Gemüse hacken und ihren Wok schwenken. 

Wir bekommen Appetit. Vor uns ein Platz, der dem vollem Sonnenlicht preisgegeben daliegt. Es gibt ein paar gedeckte Tische, an denen niemand sitzt. Offenbar ein verlorener Winkel Madrids, eine trostlose Abseite; aber wir sind gerade derart erschöpft und ausruhbedürftig, dass wir in der Cerveceria Cruz einkehren, die zwar von außen wenig einladend aussieht - ein billiger Imbiss, abends wahrscheinlich von eisigen Neonröhren erleuchtet, man meint schon beim Reinschauen das scharfe Chlorputzmittel zu riechen, mit dem bei Feierabend Theke und Tische abgewischt werden - aber wir sind zu erledigt, um noch weiterzuwandern. 

Die Bar ist fast leer. An einem Tisch in der Ecke hocken ein paar muskulöse Burschen zusammen und schmausen. Einer davon zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich; er ist jemand, der gar nicht unbemerkt bleiben kann; er hat einen Hof von Präsenz um sich, der nicht zu bändigen ist. Wenn er etwas sagt, übertönt er alle, nicht unbedingt an Lautstärke, doch an Ausstrahlung. Einige seiner Tischgenossen übertreffen ihn an Größe und an Muskelmasse (von den Tätowierungen ganz zu schweigen), aber das hilft genausowenig wie ihre ab und zu lautstarken Stimmen: er braucht nur leicht den Mund zu öffnen, um den Raum zu dominieren; für solche Leute ist das Wort sonor da. Da ist ein Säugling am Tisch; wenn der Kleine zu quengeln beginnt, nimmt ihn dieser starkknochige Mann in die Arme, trägt ihn durch das Lokal und spricht auf ihn ein, aber was heißt schon einsprechen - er beschallt den Wurm mit der sachten Fülle seiner Stimme, und das Baby wird sofort ruhig, wahrscheinlich weniger aufgrund der Worte als wegen des tief mitbrummenden Vibratos, das wie das Schnarren von Bordunsaiten aus der Brust des Mannes dringt.  Wenn ihm eine Krücke ein fehlendes Bein ersetzen würde, wäre er Long John Silver aus der Schatzinsel: aber auch mit  zwei unversehrten Beinen ist er ein Wunder an Charisma und Unwiderstehlichkeit. 

Der Kellner serviert uns einen Teller Navajas, Schwertmuscheln, die sagenhaft gut sind, danach Almejas (Venusmuscheln, also vongole, nur größer), ebenfalls einfach auf der Plancha gegrillt, mit Weißwein abgelöscht und mit feinpürierter persillade bestrichen. Wir sind vollkommen hingerissen, und mein Bierdurst (denn dieses eiskalte spanische Bier passt perfekt dazu) erregt einiges Wohlgefallen im Lokal, zumal ich gar nicht erst abwarte, dass der Kellner mich bedient, sondern gleich dem Mann am Zapfhahn das Glas hinhalte. Die Männer haben volles Verständnis für meine Gier; uns verbindet die internationale Sprache maskulinen Dursts. Als wir zahlen, ist das Lokal von einer Woge des Wohlwollens erfüllt. Ein paar neu angekommener Gäste wollen wissen, woher wir kommen. Ah!, ruft einer: Alemaña! Werkel! Ich wehre ab: wir nicht. Nosotros no werkel. Somos parecosos. (Ich hoffe, das Wort, das ich nur aus dem französischen paresseux für faul geholt habe, stimmt so einigermaßen.) - Erst als wir uns verabschiedet haben, verstehe ich, dass er nicht Werkel, sondern Merkel gesagt hat. Aber sei's drum - denn letztlich war für den Herrn auch dieser Name, der in Europa als Emblem von Austerität und Zuchtmeisterei verschrieen sein soll, nicht mehr als eine folkoristisches Attribut. Er hätte genauso Volkswagen oder Oktoberfest ausrufen können oder Bayern Muntschen. Es ist Neckerei, nicht Wut; temperiertes Gefrotzel ohne böses Blut. 

Wir flanieren weiter herum, ohne dass ich mich noch an Details erinnern könnte (die Biere fordern ihren Tribut ein), grade noch an die Plaza Santa Ana, an der wir einen Aperitiv nehmen, irgendwas Sprudeliges und Süffiges mit viel Minze und Limette, die gut den Alkohol im Glas kaschieren. Wir sitzen unter einem quadratischen Raster von Sonnenschirmen, deren Ränder von Schläuchen gesäumt sind, aus denen in regelmäßigen Abständen kühle Dunstpuffer wölken und die Luft befeuchten. Die Temperaturanzeige an einer Apotheke meldet 51 Grad. Ein Hutzelweibchen bettelt an den Tischen und wird von den Kellnern erst versuchsweise höflich, schließlich grob entfernt. Ein Jazzquartett (g, b, dr, sax) spielt Standards, brav bis aus den Schlagzeuger, der teuflische Synkopen, halbierte Triolen und allerlei Siebzehnteinhalbtel in den ansonsten harmlosen Sums schmuggelt, dass jedem schwindlig werden kann, der zuhört, aber es hört ja auch niemand zu. Die Leute haben Wichtigeres zu tun: Naschen, Trinken, Quasseln. Sonnenlicht flimmert auf den Firsten. Die Schatten erobern den Platz. Wir nehmen noch einen Teller Pulpo im Victoria und steigen dann in die Metro nach Hause. Wenigstens haben wir an das Katzenfutter für morgen früh gedacht. 

Es ist vielleicht halbelf, als wir auf dem Camping sind. Unweit sammelt sich eine Truppe von dreißig, vierzig Leuten, die nach und nach ankommen und ihre Zelte aufschlagen. Bald gibt es Musik aus leistungsstarken Boxen, immerhin laut genug, um nicht nur undifferenziertes Geräusch und Gewummer zu sein, sondern klare Wiedergabe. Ich versuche, Notizen zu den letzten Tagen zu machen und schlafe darüber auf meinem Stuhl ein. Um drei Uhr morgens ist es still bis auf das insektoide Sirren der Autobahn. Dagmar schläft da schon unter einem Baumwolllaken. Es hat immer noch 48 Grad.

27. Juni. Madrid.

Die Nachbarn sind Fahrradbastler. In ihrem Fuhrpark kommt nichts von der Stange. Sie haben sich hier zusammengefunden, um ihre Kreationen vorzuführen und auszufahren - Chopper mit chromglänzenden Gabeln, rosa lackierte Bonanzas, bollerige Freilaufdinger mit Motorradreifen, wahnwitzige Gefährte mit Nussbaumrahmen und von einer zerstörerische Ergonomie, bei der jeder Pedaltritt unweigerlich die Kniee gegen die vornübergebeugte Brust bolzen lässt. Aber Unbequemlichkeit ist diesen Burschen gleichgültig; es geht um Stil, nicht um Strecke oder Tempo. Ein paar Frauen sind auch dabei, die in geblümten Kleid und Rockabilly-hairdo auf Tour gehen; die Männer tragen Hipsterbärte, großflächige Tatoos, Bermudas und schwarze Westen, die wie ironische Repliken auf die klassische Rockerkutte wirken. Sie nehmen nicht den highway, sondern bloß den bikepath to hell. Wichtig sind vor allem zwei Radler: der eine fährt ein selbst zusammengeschweißtes und lackiertes Dreirad, dessen Hinterachse ein jamaikafarbenes Mordstrumm von Lautsprecher mit Hoch- und Tief- und Mitteltönermembranen trägt, der andere hat einen styroporummantelten Anhänger und transportiert darin Tonic und Bier in einer rasselnden Schütte von Eis. In freundlicher Bereitwilligkeit zeigen sie uns ihre Ausrüstung, mitsamt dem Sechserkarton Bombay Sapphire, der im Vormittagslicht ungemein isotonisch wirkt. 

Wenn ich zwischen den Radlern, denen wir eine Woche später in den Pyrenäen begegnen werden und die sich den Tourmalet und den Col d'Aspin hochquälen, und dieser spaßigen Truppe zu wählen hätte, die es grade mal um den Juan Carlos-Park schafft, würde ich immer diese Helden der Entschleunigung vorziehen, die im lässigen Reggae-Shuffle von Bob Marleys Buffalo Soldier losgondeln  und nicht mehr wollen als sich einen schönen Tag zu machen, ohne nachher geleistete Kilometer und Laktatwerte zu bestimmen. 

Wir hingegen gehen ins Museum. Gestern hatten wir am späten Nachmittag im Thyssen-Bornemisza gefragt, ob die Sammlung in den zwei Stunden bis zur Schließung noch zu besichtigen sei, und der junge Mann an der Information hatte bedenklich sein Haupt geschwenkt und gesagt, zwei Stunden brauche man mindestens, was, wie die Erfahrung uns gelehrt hat, für uns bedeutet: vier Stunden, denn wir sind langsame Betrachter. Heute sind wir rechtzeitig um halb zwölf da; sieben Stunden später verlassen wir das Museum. 

Das Thyssen ist der interessante Fall einer Sammlung von Rang, die wie ein großes Nationalmuseum alle Epochen und Regionen abdeckt, aber kaum über die großen Meisterstücke und repräsentativen Werke verfügt. Zwar sind die bekannten Namen alle vertreten, doch in den meisten Fällen nicht mit ihren Hauptwerken; das steigert das Vergnügen allerdings eher noch: man macht Entdeckungen. Ebenfalls reizvoll ist der große Bestand von Bildern, die von Malern aus der zweiten, dritten, vierten Reihe stammen. Besonders bei den Impressionisten wird mir klar, wie sehr man diese Epoche verkennt, wenn man nur Monets Schimmer, die flirrenden Lichter bei Sisley oder Pissarro, Degas' pastellene Sanftheit etc. damit verbindet. Luft und Duft und Flüchtigkeit sind zweifellos ein großes Faszinosum des Impressionismus; umso überraschter ist man, wenn man hier Bilder sieht, die mit schwerem Farbteig verspachtelt sind und so gar nichts von der Leichtfüßigkeit und Anmut haben, die man gewohnheitsmäßig mit dieser Malerei assoziiert. Mein erster Impuls vor diesen Bildern ist der eines Pedanten, der einfach nur eine Pinselei sieht, die der Idee des Impressionismus nicht gerecht geworden ist. Aber nach und nach begreife ich, dass Impressionismus nicht immer nur ein Spiel von Lichtreflexen und flüchtiger Entsubstantialisierung sein muss; es gibt Sujets, die sich nicht in Duftigkeit und Leben auflösen lassen, sondern Schwere und Dichte erfordern: Regentage in Paris, an denen der Regen nicht als glänzendes Geflimmer in der Luft blitzt, sondern eher wie tränenverschmierte Schminke bleigrau von den Lidrändern läuft; öde Vorstadtstraßen, mit dem Lot der Hoffnungslosigkeit versiegelt; zäher Farbtubenschlamm, der an den Gamaschen der Ladenmädchen haftet; Fensterscheiben, die so schmutzig sind, dass jeder Sonnenstrahl grau in ihnen absäuft; Gesichter, die nicht von schimmernder Unschärfe erleuchtet, sondern schwarz ausgelöscht werden: anonymer und pechschwarz zugeschmierter Pöbel. Auch solche Bilder sind letztlich feinfühlige Meisterstücke der Epoche: in ihrer Ungefügheit, ihrer groben Malweise, ihrer Hässlichkeit speichern sie manchmal mehr Gedankenreichtum und Kunstverstand als die flagship-paintings ihrer Zeit, auch wenn sie es nie auf eine Postkarte geschafft haben und ein Großteil des Publikums gelangweilt an ihnen vorbeiläuft. 

Doch so wie es unter den Impressionisten einige gibt, die dem momentanistischen Geist der Schule entsprechen und doch ihrem schillernden Duktus widersagen, gibt es, zumal in der klassischen Moderne, zahlreiche Beispiele, die sich ohne jede Reflexion nur dem Fetisch des äußeren Anscheins in die Arme geworfen haben. Da sind vortizistische Pinseleien, billige Nachäffer des Kubismus, fauvistische und surrealistische Machwerke, deren Epigonalität kaum erträglich ist - am abscheulichsten sind einige deutsche Expressionisten, bei denen ich den Eindruck nicht loswerde, dass sie schon ihre eigenen Epigonen waren, bevor sie ihren Stil geschaffen haben. 

In der Metro nach Hause treffen wir auf eine Gruppe von einigermaßen enthemmten bachelorettes aus Bordeaux. Sie haben schon ziemlich getankt. Alle tragen Stirnreife mit wippenden Bienenantennen, Netzstrümpfe, eine von ihnen wichst mit suggestiver Expertise einen gummibärchenroten Plastikpimmel. Sie kichern und gnickern vergnügt; der Gummischwanz wechselt zwischen ihnen hin und her, damit auch jede ihr hand- und mundwerkliches Geschick unter Beweis stellen kann. Vier Tage wollen sie sich hier in Madrid amüsieren, baiser des espagnoles, wie die eine besonders kecke behauptet, aber eigentlich machen sie nicht den Eindruck, dass sich ihr fröhlicher Freundinnenbund wegen irgendeines aufgegabelten Stechers auflösen ließe. Ich mag mich täuschen, aber glaube, dass sie Freizügigkeit eher spielen als vollziehen. Initiationen sind seit je symbolische Akte; diese hier macht keine Ausnahme. 

Der Katze freilich genügen Symbole nicht. Als wir unsere Stühle vor dem Bus aufstellen, ist sie bald da und maunzt nach Futter. Zum ersten Mal frisst sie aus der Hand, statt sich den Bissen erst mit der Pfote zu krallen.

28. Juni. Madrid.

Sonntag. Wir wollen zum Flohmarkt El Rastro. In dem Viertel müssen wir neulich bereits herumgewandert sein, aber ich erkenne nichts wieder. Diese hunderte und aberhunderte von Ständen (in Wahrheit sind es dreieinhalbtausend) verwandeln alles. Es ist bunt, laut, eng, ein Festmahl für Taschendiebe und Frotteure, und eine Welt des Genusses für Leute, die es lieben, an stockfleckiger Wäsche und gegerbtem Leder zu riechen, die mit Behagen den Duft stark parfümierter Seifen oder Plastikausdünstungen von Badelatschen einsaugen, das Aroma von gefälschten Markenhandtaschen, kellergelagerten Büchern und Minztee, Schweiß und Marihuana, von Bierrülpsern und gebratenem Paprika. Ich mag nicht alles davon, aber die Mischung macht's. Hier und da baut eine kleine Band ihre Instrumente auf, spielt ein kurzes Set und räumt wieder zusammen; in einer anderen Ecke tritt eine junge Frau, die sich schüchtern wie eine Konfirmandin hinter einem Kontrabassisten versteckt hat, plötzlich nach vorn und singt zu einer rhythmisch und harmonisch ziemlich verschrobenen Begleitung von Bass, Gitarre und Schlagzeug Like a rolling stone. Es dauert freilich eine Weile, bis ich das Stück hinter der harmonischen Verkleidung erkenne. Bass und Gitarre bauen ein derartiges Gerüst um die bekannten Akkorde, dass das Original nur als präzis umspielte Vermeidung gegenwärtig ist, als Negativ und blinder Fleck - und die Stimme der Sängerin springt dazu in drei Oktaven herum, wechselt bruchlos zwischen glockenhellem Sopran und finsterem Geknurre, zwischen gegurgeltem Knödeln und goldenem Aufstrahlen. Alle Schüchternheit ist weggeblasen, sie ist volkommen sicher und präsent. Das alles ist ein Wunder. Leider setzt sich das Mirakel nicht fort; zwei Stücke hören wir noch an, aber weder Roxanne noch Straighten up and fly right wird diese sorgfältige Entstellung zuteil wie sie Dylans Klassiker erfahren hat. Offenbar ist die Band noch nicht lange zusammen: den Rest des Sets daddeln sie uninspiriert wie eine Partycombo herunter, die zehn Minuten vor dem Auftritt die Noten zugesteckt bekommen hat. 

Wir bewundern die Auslagen eines Mineralien- und Muschelhändlers, kaufen günstig geschmeidige Arbeitshandschuhe und noch günstiger eine Rolle stabiler Leine (kann man immer brauchen), Dagmar ersteht ein Schwangerschaftskleid für zwei Euro (man kann Dylans Songs entstellen, aber nicht Dagmar, noch nicht einmal mit Umstandsmode), ich finde eine Kachel mit der Aufschrift Calle de los libreros, die zuhause an den Bücherregalen ihren Platz finden soll, sowie ein Paket Rasierklingen, aber wenn ich's recht bedenke, kaufen wir nur aus Leutseligkeit ein, um ein paar Worte zu wechseln, uns im Spanischen zu versuchen, einen Moment des Anschlusses zu finden. 

Wir wandern den ganzen Flohmarkt ab, gründlich und deutsch, wie wir sind, und kehren wieder an den Ausgangspunkt zurück. Und erst jetzt verstehe ich, wo wir hier sind: wir stehen vor der Cerveceria Cruz. Die Kneipe ist rappelvoll. Long John Silver steht hinter der Theke und ist jetzt der Feldherr, den er schon beim letzten Besuch kaum unter seinem Inkognito verbergen konnte. Jetzt ist er das unangefochtene Zentrum. Sein Schopf hat sich aus dem Haargummi gelöst und hängt ihm als dicke Strähne über das linke Auge: er mag nicht wie Long John ein Bein verloren haben, aber die Augenklappe aus Haar weist ihn deutlich genug als Piraten aus. Die Theke ist seine Schiffsbrücke. Von dort aus erteilt er sonore Kommandos an seine Mannschaft: seine Rufe - una caña, dos tintos, tres dobles - erschallen, als befehle er, das Vorsegel zu reffen oder die Kanonen klarzumachen. Er steht an einer der beiden Zapfanlagen und zieht die Hebel wie nur je ein Steuermann. Er hat den Überblick; natürlich erkennt er uns wieder. Long John Silver vergisst nie etwas. Bienvenidos los alemános! Jovial schüttelt er meine Hand. Gottlob bin ich gewappnet und kann kräftig dagegenhalten. Was wäre nur, wenn ich ihm bloß eine schlaffe Flosse gereicht hätte? Wahrscheinlich hätte er mich einfach über Bord geschmissen wie einen faulen Fisch. Aber so ordnet er uns nach Backbord an einen Platz vor dem verglasten Küchenverschlag an, wo der Smutje, der uns neulich noch bedient hat, an der Plancha schuftet. Navajas!, dröhnt Silver, und unsere Schwertmuscheln kommen auf die heiße Platte. In grader Reihe, wie die Hauben von Soldatensärgen, liegen die klingenförmigen Schalen nebeneinander, bis der Koch mit einem Spatel unter die Staffel fährt und sie in einem Zug umwendet, ohne die Ordnung durcheinanderzubringen. Wie er das anstellt, bleibt mir unerfindlich, weil er das Manöver mit seinem Körper verdeckt, und ihn zu bitten, das noch einmal zu tun, wage ich nicht. Er hat keine Sekunde Ruhe, sondern arbeitet unablässig: seine Handgriffe sind ruhig, sicher, zügig; ein Vergnügen, ihm zuzusehen. 

In einem fort schallt Long Johns Stimme über das Stimmengewirr hinweg: un doble y un otro vaso di blanco para nostros amigos alemános. Cinco cañas para los locos ingleses!

Über die Navajas kommen ein paar Spritzer dünnflüssiger Persillade, Zitrone dazu, Brot. Von den patatas lassen wir diesmal die Finger und bleiben bei dem, was man hier wirklich beherrscht: Muscheln von der Plancha, abgesehen von einem Tellerchen Kalbsbries, was zuhause kaum zu bekommen ist, weil man dort auch die edleren Innereien lieber verwurstet und sie der Kundschaft, die sie pur nicht essen würden, nur als unkenntlich gemachte untermogelt, sodass die Leute, die es bei der Erwähnung von Nieren oder Kutteln, von Milz und Hirn und Schweinskopf vor Abscheu schüttelt, diese doch verzehren, bloß eben ohne es zu wissen, was dem zimperlichen Banausentum noch das Narrenkäppchen naiver Ahnungslosigkeit aufsetzt. 

Schließlich bestellen wir noch einen Teller Zamburiñas (Jakobsmuscheln), und Long Johns Stimme schallt lauthin Richtung Küche wie die eines Marktschreiers, der seine besten Früchte anpreist: zambos! (Es ist eine naheliegende Kurzform; dass zambo auch klumpfüßig bedeutet, sowie einen Mischling mit einem indianischen und einem schwarzen Elternteil, habe ich erst jetzt gelernt, und frage mich, ob es da einen Zusammenhang gibt - vielleicht entdeckt man in den dunklen Röstspuren auf dem Muschelfleisch die Schwarze, und das hellrote Corailhörnchen, das sich darumschmiegt, den sich anschleichenden Indianer?) Die Zambos sind jedenfalls köstlich, voll, nussig-süßlich; das Braten verleiht ihnen eine dunkle Tiefe, Persillade und ein Spritzer Zitrone setzen einen hellen Kontrast: ein vollkommener Molldreiklang. 

Ich habe mittlerweile ein paar cañas und mehrere dobles intus und bin, gelinde gesagt, angeheitert. Es war ein großes Mittagsfest, aber nun werden wir müde. Um sechs beginnt die Corrida in Las Ventas. Zuvor müssen wir  uns unbedingt ausruhen. Zurück am Bus halten wir, die Beine hochgelegt, Siesta, während die Fahrradbastler ihre Gefährte auf die Träger binden. Die Räder mit ihren langen Gabeln, den ausladenden Lenkerhörnern und den gestreckten Rahmen sehen wie seltsame Insekten aus, die zu abruptem Voranschnellen und großer Hebelkraft imstande sind; aber ihre Besitzer bewegen sich wie Schildkröten: langsam und steif, jeden Schritt bedächtig setzend. Der Muskelkater ist ihnen auf fünfzig Meter anzusehen; der nicht muskuläre auch. - Kurzer Bettelbesuch unserer Katze; ich bin zu matt, um aufzustehen und ihr etwas zu essen zu geben. Sie schaut mich erst vorwurfsvoll, schließlich verächtlich an, dann schreitet sie davon, den Schweif langsam horizontal schwenkend, was vermutlich heißen soll, dass ich schon sehen werde, was ich davon habe. 

Die Geste fällt mir in der Arena wieder ein: da stolziert der Matador ähnlich herablassend von dem düpierten Stier fort.

Las Ventas. Ich mochte den Bau schon am Freitag nicht leiden; das reiche Dekor der Fassade kommt mir geschmacklos vor: Schmuck und Prunk haben doch innen ihren Ort, auf dem Sand der Arena. Das Gemäuer drumrum sollte die diskrete Fassung sein, die den tödlichen Glanz der Corrida umfängt, nicht schon selber Prunk. Es ist bling-bling, eine aufgedonnerte Doppelung, die mich ebenso unangenehm berührt wie es ein kostbares und goldstrotzendes Reliquiar täte, in dem ein Fingerknöchelchen des poverello Franz von Assisi bewahrt wäre. 

Man sitzt hier weniger eng aneinander als in Caceres; zudem sind die Ränge auf der sol-Seite fast leer. Nur die teuren Plätze sind gut bestückt. Da sitzen die Touristen, die sich dieses Spektakel einmal gönnen wollen, da sitzen wir, und da sitzen einige Aficionados. die vor allem die asiatischen Zuschauer mit mürrischen Blicken bedenken, weil sie gegen alle Schicklichkeit und Pietät verstoßen. Aber wie sollen die Chinesen auch wissen, wie man sich hier zu betragen hat? Vermutlich hat niemand ihnen gesagt, dass hier heilige Opfer vollzogen werden und dass dies kein Fußballmatch ist, sondern eine Messe, und dass dies kein Stadion ist, sondern nichts weniger als ein Tempel. Wie sollten sie die Sakralität des Geschehens ermessen, und wie es von profaner Schaustellerei unterscheiden? Wahrscheinlich würde ich in chinesischen Tempeln einen Fauxpas nach dem anderen begehen, Dinge anfassen, die man auf keinen Fall anfassen darf, aufrecht gehen, wo nur Demutshaltungen angebracht sind, Gaben versäumen, die das Mindestmaß an Höflichkeit erfordert. Aber bei aller Nachsicht für das Benehmen der Asiaten: sie zerstören die Aura der Corrida. Sie machen genau das daraus, was oberflächliche Kritik der Tauromachie vorwirft, nämlich eine banale Schlächterei, der das tremendum et fascinosum abhanden gekommen ist, einfach, indem sie sich zur Unzeit eine Cola holen gehen, telefonieren, Einkäufe aus der Plastiktüte ziehen und sich vorführen, indem sie schwatzen und, kurz, ohne Respekt für die Tragödie sind, die im Sand zwischen Mensch und Tier ihren Gang nimmt. 

Als wir in Frankreich, im katalonischen Ceret, unsere letzte Corrida der Saison sehen und aufgrund eines Platzanweiserirrtums erst zu unseren Plätzen kommen, als der paseo schon begonnen hat, zischt uns ein erboster Mann den Tadel zu: Quelle impertinence! C'est sacré là! Recht hat er. In Ceret geriet der Kampf freilich bald zur Posse, allerdings nicht, weil es dem Publikum an Ehrerbietung gemangelt hätte, ich komme noch darauf zu sprechen. Doch auch die Posse verlässt nicht den Bezirk des Heiligen, im Gegenteil unterhält sie zu ihm eine tiefgründige innere Beziehung als dessen notwendige Ergänzung. Zur Tragödie gehört das Satyrspiel, zu Karfreitag der Karneval, zu Allerheiligen die Kinderumzüge von Helloween bis Sankt Martin, so wie zum Nikolaus Knecht Rupprecht gehört oder zu Weihnachten die Perchten der Rauhnächte; Passah und Purim, Trauerspiel und Farce, die Liste ließe sich fortsetzen. Wahrscheinlich gibt es keine Kultur, in der nicht der Ernst des Heiligen sein Gegenstück in Ausschweifungen von Narrheit und Lächerlichkeit hätte. Ich habe großen Respekt vor den Augusten, den erhabenen mit dem Lorbeerkranz und den dummen mit der roten Nase. 

Hier in Las Ventas aber widerfährt der Corridas Schlimmeres als die Lächerlichkeit der Posse. Sie droht profan und banal zu werden; sie droht in Berieselung abzugleiten.

Doch die Dinge regeln sich von selbst. Eine so altehrwürdige Tradition wie die Corrida hat ihre eigenen Abwehrkräfte gegen Störungen. Die Touristen, die sich nur einmal das Spektakel ansehen wollten und unempfänglich bleiben für den Schauer dieses Dramas, verschwinden ohnehin nach und nach, gelangweilt oder angewidert. Der Schreihals, der eine Weile gegen die Barbarei des Stierkampfs ankrakeelt hat, ist bald heiser gebrüllt und sitzt mit hochrotem Kopf allein in der letzten sol-Reihe, bis die Sichel des Schattens auch ihn erreicht und zum Schweigen gebracht hat. Als der dritte Stier in die Arena trabt, ist das Publikum all solcher trübenden Schwebstoffe entledigt. Der Schaum ist abgeschöpft, die Brühe geklärt. Von dritten Stier an sitzen hier nur noch Glaubensbrüder, die sich dem immer neuen Ritual vom Kampf des Lichts gegen die animalische Dunkelheit hingeben, Mithrasjünger, Epopten des Mysteriums. 

Aber trotz der Konzentration des Publikums, trotz der Könnerschaft der Matadore, trotz ihres Mutes und des Ungestüms der Stiere, bleibt ein Unbehagen. Schließlich verstehe ich, woher es rührt. In Caceres war das Volk in der Arena versammelt; Las Ventas ist eine Kirche, die nur zu einem Fünftel gefüllt ist. In Caceres beging man die Feria, hier absolviert man eine Routine. Nichts Festliches ist daran. Die Liturgie ist dieselbe, aber es wird doch kein Hochamt daraus: die Lücken in den Rängen machen einen Eindruck von Anbrüchigkeit; das Zwingende fehlt. Ich meine auch zu verstehen, warum das so ist. Der Stier, der in die Arena gehetzt wird, ist ein ferner Nachfahr des Sündenbocks aus archaischer Zeit, jenes Phänomens, dem René Girard seine so triftige Theorie gewidmet hat. Über den Sündenbock stellt sich die Einmütigkeit des Volks her; durch den Ausschluss und die Verwerfung des Außenseiters findet das Volk zusammen. Erst der gemeinsame Feind erzeugt überhaupt Gemeinsamkeit, wo sonst vor allem Dissens und Rivalität herrscht. Diese internen und allgegenwärtigen Konflikte werden auf einen bestimmten Teil der Gesellschaft projiziert, der Grund allen Übels sein soll. In der Wut auf den einhellig auserkorenen Sündenbock wird eine (wenn auch vergiftete) Eintracht wieder hergestellt. Die Tauromachie ist die vollkommene Darstellung dieses Mechanismus. Der Stier kommt dunkel und zerstörerisch, als bedrohlicher Feind des Friedens in die Arena. Die Symmetrie der Kämpfenden ist niemals gewahrt, denn natürlich schlagen die Herzen der Zuschauer für den Matador. Wer würde sich auch schon mit einem Stier identifizieren, diesem gehörnten Satan? 

Die Symbolik der Corrida ist komplex; Fragen von Macht und Geschlecht, Natur und Kultur, heraklitische Themen vom Tod als der Bedingung des Lebens spielen da hinein, solare Mythologeme. Aber das alles ist weniger bedeutsam als die Frage nach der Sündenbockfunktion des Stiers. Die unanimité, die Einmütigkeit, die herzustellen Sinn und Zweck seiner Opferung ist - setzt sie nicht eine umfassende Anteilnahme des Volks voraus, und verliert das Opfer nicht seinen Sinn, wenn das Volk nicht mehr gegenwärtig ist? 

Ich halte die tierschützerischen Argumente gegen die Corrida für oberflächlich und bigott und bewundere den Stierkampf nach wie vor aus ästhetischen wie philosophischen Gründen: aber ein unabdingbarer Teil seiner Wirkung gründet darin, dass sich die Masse hier versammelt. Wenn sie das nicht mehr tut, hat die fiesta nacional ihre Daseinsberechtigung verspielt. Als Sport mag man die Corrida erhalten, aber als metaphysisches Faszinosum ist es mir ihr vorbei, jedenfalls in den Arenen der großen Städte, wo sie nur noch ein folkloristisches und nostalgisches Bedürfnis bedienen kann, das nicht tiefer ist als ein Flachbildschirm.

29. Juni. Madrid - Zuera.

Es ist Zeit, Madrid zu verlassen. Wir haben genug von der Stadt und brauchen Abwechslung. Zudem locken uns die Pyrenäen; ein wenig Kühle wird uns gut tun. 
Die Autobahnringe um die Hauptstadt werden bald geisterhaft. Lärmschutzwälle, deren Oberflächen von einem Netz aus Fältchen und Narbungen durchzogen sind wie grob gegerbtes Leder, beschützen Gewerbegebiete, die noch nicht bezogen oder schon wieder aufgegeben sind; riesige Brachflächen, an deren Rand ein paar Wellblechbaracken rosten; breite Zufahrtsstraßen, die in einem Nirgendwo aus Schotter enden. Die Immobilienblase des neuen Jahrtausends ist hier geplatzt, bevor man die Objekte fertigbauen konnte. Ab und zu große Neubausiedlungen unweit der Autobahn (gute Verkehrsanbindung), denen anzusehen ist, dass hier allenfalls noch ein einsamer Wachmann Zeuge des langsamen Verfalls wird. Das tote Gerippe misslungener Spekulationen dörrt hier vor sich hin.

Dann Felsformationen, die in öder Landschaft wie riesige graue Säcke aufeinandergestapelt und gegeneinander gelehnt sind, Berge aus grauen Rupfenbeuteln. An der Embalse de la Tranquera fahren wir ab. Der Stausee windet sich zwischen kargen Hügelkuppen dahin, türkis leuchtend wie fast überall an solchen Orten. Jetzt verstehe ich, warum diese Stauseen so unwirklich aussehen: es sind die scharfen Kanten, mit denen die Hügel die Wasseroberfläche schneiden, dieses fast gradlinige Eintauchen des Bergs in den See. Zwar gibt es eine steile und unbewachsene Kante von vielleicht zwei oder drei Metern, die sich dem wechselnden Wasserstand verdanken dürfte; aber sonst bilden Hügel und See einen schroffen Kontrast, der oft an Kegelschnitte und technische Diagramme erinnert und dem Anblick etwas höchst Abstraktes verleiht. Es ist Landschaft, die von der Zeit abstrahiert ist. Die Bergseen der Voralpen oder die Maare der Vulkangegenden in der Auvergne oder der Eifel sind von der Zeit abgeschliffen und in ihre Umgebung eingewachsen. Sie haben sich eingerichtet wie Tiere, die sich ihre Kuhle rundgescharrt haben. Diese Phase erosiver Vermittlung und Abmilderung, in der die Ufer ausgewaschen werden und schroffe Kontraste sich zu langsamen Übergängen wandeln, steht hier noch aus. Das macht auch die Ufer dieser Embalsen so unwirtlich; selbst wenn es Zugänge gäbe, würde man zögern, sie zu nutzen; die Kanten sehen empfindlich und wund aus und erinnern an aufgeschürftes Fleisch; der eisenhaltige Fels ist rauh und rot wie Schorf. Das hat etwas frisch Geschundenes; in einem Jahrhundert werden vielleicht die gröbsten Schmarren verheilt sein. 

Wir essen zu Mittag in Nuevoles am letzten Ausläufer der Embalse. Durch die Ebene am Dorfrand ziehen sich ein paar rötliche Felsstränge, die aussehen, als hätte sie ein Riese dort einfach auf den flachen Grund geklebt, so unvermittelt liegen sie der Ebene auf. Als wir näherkommen, erkennen wir die Struktur darin; der Fels besteht aus blätterig aufeinandergelegten Schichten, die an den Rändern schon fast zur Unmerklichkeit geglättet sind. Nur im Kern des kleinen Massivs zeigen sich deutlich die lamellierten Stapel der Steinkolummnen. In unwillkürlichem Anthropomorphismus denke ich, dass diese Felsschichten Stück für Stück aufeinandergelegt wurden wie Pfannkuchen oder Münzen; die Regelmäßigkeit suggeriert eine planvolle Rationalität und die sorgfältige Arbeit, Lage um Lage aufzutragen. Aber natürlich ist es genau andersherum. Erst hat die Erde einen plumpen Klumpen Fels ausgewürgt, aus dem dann in der Folge das geduldige Wirken von Regen und Sonne diese Struktur läuterten, gemäß der Löslichkeit der Gesteinsbestandteile, denn die Natur macht keinen Unterschied zwischen Gestalten und Entstalten; das eine ist ihr so gut wie das andere. Man hat sich über die antike Vorstellung lustig gemacht, dass eine Bärenmutter ihr Junges aus einem ungeformten Block Materie herauslecke; aber genau so verfährt die Natur zuweilen; sie formt auch durch Abtrag. 

Das Essen am Platz ist für ein so provinzielles Örtchen erstaunlich gut. Bis auf ein anderes Paar sind wir die einzigen Gäste auf der Terrasse, und ich wundere mich solange über die immer neuen Kellner, die an unserem Tisch zugange sind, bis ich auf dem Weg zur Toilette sehe, dass der klimatisierte Speisesaal drinnen bis auf den letzen Platz gefüllt ist. Claro, jetzt fällt es mir wieder ein: der Spanier sitzt lieber im Kühlen. 
Es gibt gegrilltes Gemüse vorweg, dann zu Spinat und grünem Spargel vorzügliche gesäuerte Forellen. Offenbar genießt das Restaurant einen guten Ruf: ein paar Kilometer weiter befindet sich ein Monasterio, dessen Gärten wegen ihrer Grotten und Kaskaden Touristen anziehen. Das Restaurant in Nuevalos verköstigt die gehobene Klientel, die sich nicht mit den drögen bocadillos vom dortigen Kiosk zufriedengibt.

Wir unternehmen auch einen Abstecher dahin; doch der Eintrittspreis ist für die anderthalb Stunden, die uns bis zur Räumung des Parks noch blieben, unverschämt hoch, die Übernachtung auf dem Parkplatz ist untersagt, also fahren wir weiter Richtung Zaragoza.

Die Landschaft bekommt jetzt eine monumentale Wucht. Die Amplituden der langen Hügelwellen vergrößern sich, die Senken werden tiefer. Dann wieder dehnt sich das Land zu einer Abfolge von staubigen Hügelketten, die apokalyptisch wirken, eine verheerte und unbewohnbar gemachte Erde. Wahrscheinlich ist die Kargheit und Ödnis des Landes einfach den klimatischen Bedingungen, der Trockenheit, dem Wind, dem Boden geschuldet, aber es genügen selbst die im Vergleich zur Fläche geringfügigen Eingriffe des Menschen, um aus der Steppe, die in ihrer Kargheit eine imposante Würde verströmt hätte, eine geschundene Weltbrache zu machen. Der Mensch ist wie mit der Harke darüber hingegangen, hat den Boden aufgerissen und ihm Schnitte und Scharten beigebracht, wie er das überall tut und immer schon getan hat; aber die Erde ist hier nicht fruchtbar genug, um diese Wunden wieder zu schließen oder gnädig zu verhüllen. Hier wächst kein Gras über die Sache. Die Ruinen verlassener Gehöfte bleichen in der Sonne wie Knochen; die Gerüstrahmen längst nicht mehr beschickter Reklametafeln machen wahrscheinlich seit zwanzig Jahren Werbung für einen staubigen Himmel und sonst nichts mehr. Das ist nicht hässlicher als anderswo; Europas prosperierende Gegenden sind mit ihren Gewerbegebieten, Monokulturen und Werkshallen zumeist noch unschöner. Doch in all ihrer Hässlichkeit strahlen sie fast immer eine vulgäre Lebenskraft und einen rücksichtslosen Selbstbehauptungswillen aus, der zwar oft grell und geschmacklos ist, aber eben auch von einer vitalen Umtriebigkeit, die dann auch dafür sorgt, dass neben dem Geschäft das Schöne nicht zu kurz kommt, meist in Form von Rabatten und künstlerisch gestalteten Verkehrskreiseln. 

In Frankreich, Deutschland, Italien, gibt es jedenfalls kaum Flecken, die nicht auf irgendeine Art erschlossen, durchgearbeitet, genutzt würden; hier lerne ich Gegenden kennen, die von menschlichen Kratzspuren gezeichnet sind, sich aber nicht haben unterwerfen und aneignen lassen und störrisch jeglicher Akkulturierung verweigern. Dagmar hat dafür die stehende Redewendung Mondlandschaft parat, und wie anders als mit einer unveränderlichen Formel könnte man auf die im Kern unveränderliche und starrsinnige Landschaftsformation reagieren, die sich hier ausbreitet? Es ist etwas Jenseitiges, nicht zu Erreichendes, tief Intransingentes an solchen Regionen. Sie lassen sich nicht zu einem Handel mit den Menschen herab, sie bleiben in sich, fern und fremd, und bewahren hartnäckig ihr mineralisches Schweigen. Das hindert die Menschen zwar nicht, sie zu traktieren und ihnen ihren Willen aufzuzwingen, aber von einer Anverwandlung ist das weit entfernt; es wird kein Wingert draus und  keine Streuobstwiese, noch nicht einmal ein Acker oder Weideland für genügsame Ziegenherden. Die Umformung von Land in eine Kulturlandschaft, von blanker Einöde in Felder und Fluren, um eine Art des symbiotischen Einvernehmens von Mensch und Welt herzustellen, in der der Mensch die Natur hegt und pflegt und nutzt und sich ihm gemäß macht, kann hier kaum gelingen. Eine Gegend wie diese taugt nicht dafür, dem Menschen gradewegs zu Diensten zu sein und seine Bedürfnisse zu stillen. 

In den gemäßigten Klimazonen wird das Land gezähmt, erzogen, und zu einem Mischwesen abgemildert und umgebildet, das Natur und Kultur zugleich ist. Das Land fügt sich der menschlichen Ordnung: der Wilde lernt lesen und gehorchen und gedeiht doch unter dem Pflug, der ihn kämmt, und der Sense, die ihm die Krallen und die Haare kappt. Ein Bauer ist immer auch ein Erzieher: il cultive les champs. Dass das Französische das Wort éléver für das Züchten von Vieh und für das Erziehen eines Zöglings verwendet, bezeugt die innere Nähe dieser Veredlungsanstrengung; alle romanischen Sprachen halten diesen ursprünglichen Zusammenhang von Landwirtschaft und Kultivierung fest, im Deutschen ist es nicht anders. 
Aber hier, zwischen Calatayud und Zaragoza, sind wir nicht in der Elementarschule des Bodens, sondern in seiner Zuchtanstalt. Wo das Land nicht zu veredeln ist, kann man es nur zu Sklavenarbeit zwingen. Zu spröd und zu unfruchtbar, als dass ihm Anreize zu organischer Entwicklung zu setzen wären, bleibt nichts, außer ihm dem Zwang zu mechanischer Arbeit aufzuerlegen. Auf eine Länge von vielleicht zwanzig Kilometern ist das Land gespickt mit Windrädern. Auf den ersten Blick ist die Fläche brutal wie ein Schindanger. 

Breugel oder Grünewald, sicher auch Max Ernst, wären die richtigen gewesen, diese Kreuzigungsstätte im Bild festzuhalten, Jodorowsky wäre entzückt gewesen, sie in Montana sacra als Kulisse zu nutzen. Man spricht oft zu leichtfertig von Surrealität; aber hier trifft das Wort. In dieser Menge werden Windräder zu einem Kalvarienberg, wie man ihn aus in Albträumen kennt: die Rotorblätter drehen sich zugleich hochmütig und elegant wie sie in ihrer Uniformität ein Bild jammervoller Geschäftigkeit abgeben. Man kann es sehr gut verstehen, dass Don Quijote beim Anblick einer Horde von Windmühlen der Kampfgeist überkam. Und wenn er schon durch die behäbigen und plumpen Geräte seiner Zeit gereizt wurde, um wieviel heftiger würde ihn heute die Wut packen angesichts dieser provozierend aufgerichteten Gestänge, auf denen sich prahlerisch die Blätter drehen wie Schneidwerke. Ihre schiere Menge wirkt hier aggressiv; anders als etwa in den großen Windparks auf dem Weg nach Berlin strahlen diese Türme hier keine träumerisch gelassene Versunkenheit aus, kein ruhiges und gleichsam grasendes Bewirtschaften der Lüfte. Anders als vor Tarifa sieht hier nichts nach einem frohen Spiel der Lüfte aus. Diese Windräder bewohnen nicht die Steppe: sie haben sie erobert und um sich nichts als kahlgefressenes Land hinterlassen. Aber auch, wenn sie physiognomisch Kriegertum und Feindseligkeit zum Ausdruck bringen: hinter ihrem offensiven Äußeren tun sie etwas, das sie zum heimlichen Ebenbild Don Quijotes macht. Sie verwandeln die Kargheit und Trostlosigkeit des Landes in Energie; sie schaffen aus dem Nichts, aus Mangel und Entbehrung, eine immaterielle Kraft, und schöpfen aus den leblosen Brachen den Nährstoff der modernen Welt. 

Nach den Windparks folgt bald Zaragozas Flughafen, die Gewerbegebiete und Außenbezirke der Stadt. Wir parken unweit der Kathedrale und machen uns auf den Weg ins Touristenbüro, um nach einem Stellplatz zu fragen. 

Die Stadt ist überraschend anziehend, sie wirkt jung und lebendig, voll reizender Blickachsen und hübscher Winkel. Aber wir kommen ein wenig zur Unzeit. Es ist zu spät, die Basilika zu besichtigen; soeben werden die Pforten geschlossen, was allerdings nicht übel zu der Fassade passt, deren Mauern nahezu schmucklos und in ihrer Strenge fast abweisend sind. Erst auf Höhe des Obergadens bestimmt verspielter Zierat mit seinen Skulpturen, Fialen und Pilastern das Bild, überragt schließlich von einem Dutzend von Kuppeln, die mit ihren farbig gemusterten Schindeln und Laternenaufsätzen hinter dem Gadenkranz aufsteigen wie dicke Bischöfe, die ihre breiten Schultern und kantigen Köpfe durch die allzu niedrige Decke geschoben haben, um freie Sicht auf das Volk zu bekommen, das sich auf dem Vorplatz seinen profanen Vergnügungen hingibt. Zu dieser Stunde tummelt sich hier allerdings nicht viel Volk. Die Sonne wirft lange Schatten auf den Platz; das Licht ist schon mit warmen, rotgoldenen Tönen gesättigt, aber das macht den langgestreckten Platz nicht anheimelnder. Er ist eine von keiner Rücksicht auf Agoraphobe angekränkelte Aufmarschfläche, die weniger dazu gedacht hat, dass man sich hier aufhält, als vielmehr Paraden und Prozessionen veranstaltet. Wir verziehen uns bald wieder ins Gewirr der schmaleren Gassen, in denen nach und nach die Lädengitter heruntergelassen werden, und kehren schließlich in einer Bar mit guten Tapas sowie einem schattigen Garten, in dem die Barhocker bei jeder unbedachten Gewichtsverlagerung des darauf Sitzenden tiefer und schiefer in den Kies einstechen und wegsacken; wohl dem, der seinen Unterarm ruhig auf dem Eichenfasstisch liegen hat, und das Glas fest im Griff: nur so ist das rührige Geschiebe des Kiesgrunds oder besser Kiesungrunds zu bewältigen. Wir nehmen ein paar Happen und ein paar Gläser und beschließen dann, bevor es ganz dunkel wird, den Übernachtungsplatz anzusteuern, den uns das Touristenbüro empfohlen hat. 
Der Platz gehört zum Gelände der Expo, die vor sieben Jahren in Zaragoza stattgefunden hat, und wie immer bei solchen Arealen haben sich ein paar ambitionierte Architekturmodernitäten erhalten, die zu teuer waren, als dass man sie nachher hätte ganz verwaisen lassen und wo heute schlecht ausgelastete Hotels liegen, Bürohäuser mit verschwenderischen Auffahrten, Firmensitze aus Glas und Stahl, vielleicht ein schickes Restaurant, auf jeden Fall aber Imbissbuden und Bars für die Mittagspause der Angestellten, aber nach Feierabend flieht jeder vernünftige Mensch diese gigantomanen und unwirtlichen Zonen, um den Abend in einem Viertel von menschlicherem Zuschnitt zu verbringen, wo Leute nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen, leben, lieben, noch mal auf ein Glas nach unten gehen oder um den Müll runterzuschaffen und dabei Bekannten begegnen, sodass man auf einen Plausch und ein, zwei, drei Bier bleibt, weil auch noch ein anderer dazugekommen und das Gespräch lebhaft geworden ist, und warum dann nicht noch eine Bar weiterziehen und einen Gin Tonic bestellen und ein paar Albondigas oder einen Teller patatas bravas? Tausend Dinge können dort geschehen, während auf dem Expo-Gelände das Feld der Möglichkeiten ziemlich überschaubar ist. Die asphaltierten Zonen sind menschenleer; ab und zu fährt ein Wagen vor und entlässt eine beanzugte Delegation, die sogleich von dem metallarmierten Hotel eingesogen wird. Ein später Firmenchauffeur bringt die Geschäftsfreunde irgendeiner Softwarefirma fort, wahrscheinlich in die Altstadt. Belebt ist es nur am Rand der bebauten Fläche, wo Jogger über Wiesen traben, die vielleicht einmal die Auen des Ebro waren. Hunde führen ihre Herrchen aus, Crossbiker in Montur suchen nach einer Herausforderung...

Der Parkplatz, der uns angewiesen wurde, macht einen reichlich dubiosen Eindruck. Bis auf ein paar Wagen, in denen Jugendliche Hiphop hören und kiffen, ist der Platz fast leer, und je tiefer die Dämmerung sinkt, desto leerer wird er. Man hat unweigerlich das Gefühl, in einer Falle zu sitzen, allem Unheil exponiert und von aller möglichen Hilfe abgeschnitten. Schon nach ein paar Minuten ist klar, dass wir hier nicht bleiben wollen. Ich bin, was Übernachtungsplätze angeht, nicht ängstlich; aber auf diesem hier liegt kein Segen. Dass wir indes nicht in der Stadt an irgendeinem kleinen Park oder am Ebro etwas Besseres suchen, sondern aus der Stadt herausfahren, ist eine Angewohnheit, die in Frankreich meist zu irgendeinem angenehmen Picknickplatz oder einer kleinen Kapelle führt, hier aber nur in Industriezonen, allzu offenes Gelände, Brachland. Zudem ist es schon dunkel, sodass wir keine Gelegenheit mehr haben, uns an einem Platz heimisch zu machen und uns dort einzugewöhnen. Wenn man bei Tageslicht irgendwo ankommt, kann man selbst mit Plätzen, die einem nicht ganz geheuer sind, noch warm werden. Man akklimatisiert sich. Trifft man erst in der Dunkelheit ein, ist es zu spät für eine solche atmosphärische Aneignung und Imprägnierung des Ortes mit der eigenen Anwesenheit. Das ist sicher nur ein Atavismus, ein stammesgeschichtliches Rudiment, aber es hilft nichts, wenn die Vernunft das weiß: das Stammhirn ist anderer Meinung und funkt unentwegt sein Unbehagen ans Gemüt. 

Dagmar studiert eifrig die Karte, sucht Uferstraßen am Rio Gallego, Klosterruinen, Aussichtspunkte, und dabei verschlägt es uns immer weiter gen Norden, bis wir schließlich in dem Städtchen Zuera landen und uns auf dem Parkplatz eines complejo deportivo einrichten. Wir sind nicht die einzigen. Ein paar gitano-Wohnwagen haben sich dort installiert, offenbar nicht nur für bloß eine Übernachtung: ein von Plastikplanen überdecktes Gestell spendet tagsüber Schatten, eine Kochstelle mit großer Gasflasche steht voller Geschirr. Strom kommt von einer Betonbaracke mit Toiletten und Duschen. Dann ist da ein anderer Wohnwagen, vor dem ein Hundezwinger aufgestellt ist. Die Hunde dazu treiben sich allerdings auf dem Platz herum und liefern sich heftige Duelle mit den Zigeunerhunden, den Dorfkläffern, dem Köter eines holländischen Pärchens, der weniger gehorsam ist als seine Besitzer sich das dachten, als sie ihn ohne Leine Gassi führen wollten. Der Lärm wird zeitweise infernalisch. Für die Hunde scheint das ein Riesenspaß: sie veranstalten das akustische Pendant einer Wirtshausrauferei, die nicht bös, sondern bloß zünftig gemeint ist: ein Ritual von Aggression, nicht Aggression. Immerhin sind wir am Rand einer Sportanlage, und von Sportsgeist sind offenbar auch die Hunde beseelt. Sie halten sich streng an die Regeln; keine Fouls, keine Bisse. Es herrscht fairplay: Rempeln nur mit angelegter Schulter, kein gestrecktes Bein. Während vom lichtgefluteten Tennisplatz nebenan das rhythmisch federnde Pock-Pock eines späten Matches schallt, beruhigen sich die Köter. Ihr Match ist zu Ende. - Wir schlafen wieder mit offener Heckklappe, offener Seitentür. Das Thermometer zeigt nachts um halbzwei 37 Grad an. Am Mückenvorhang tummelt sich ornamentales Gestick von Insekten.

30. Juni. Zuera - Torla.

Beim Frühstück überlegen wir, ob wir nach Zaragoza zurück wollen. Aber wir sind der Städte müde, ein wenig auch Spaniens. Wir heben uns die Stadt für ein andermal auf. In Huesca kaufen wir noch ein paar Dinge ein, die es zuhause nicht gibt oder nicht in vergleichbarer Qualität oder zu vergleichbarem Preis: vor allem eingedoste Muscheln  (die, wie wir zu unserer Überraschung feststellen mussten, in ihren Blechbüchsen manchmal noch an aromatischer Tiefe hinzugewinnen; Frische ist bisweilen auch nur ein ideologisches und unbedachtes Konzept, vor allem bei Fisch, der frisch nur anders ist, doch nicht zwangsläufig besser als konservierter. Sardinen können wie Parmesan oder Wein in der Dose zu großer geschmacklicher Fülle heranreifen, die Lake gut gealterter Herz-, Schwert- Venusmuscheln (berberechos, navajas, almejas) ist von famoser geschmacklicher Dichte.)  Ich decke mich mit Floïd-Rasierwasser für die nächsten fünf Jahre ein; die Fläschchen klunkern im Rucksack, als wir durch die Stadt flanieren. Es liegt eine provinzielle Beschaulichkeit in der Luft; die Leute scheinen sich langsamer zu bewegen als in Madrid oder Zaragoza, nicht viel, aber genug, dass es einem auffällt. Wir sitzen bei einem Milchkaffee im Schatten der Arkaden und beobachten wohlgefällig, wie der Kioskbesitzer gegenüber seine Zeitschriftenauslagen zu füllen versucht, aber unentwegt dabei unterbrochen wird, weil ein gemach dahinschlendernder Bekannter auf einen kleinen Plausch bei ihm stehenbleibt, während dem der Händler geruhsam seinen Fuß auf einen Papierstapel stellt, und er nach der Verabschiedung des einen Bekannten kaum dazu kommt, den Fuß wieder herunterzunehmen, weil schon der nächste Bekannte sich nähert, und immer so fort. Wir sitzen vielleicht eine halbe Stunde dort; die Papierblöcke werden nicht weggeräumt, sie schmelzen allenfalls ab oder erodieren wie die Bergkämme der Pyrenäen, die in der Ferne schon zu sehen sind. 

Zur Mittagszeit fahren wir nach Sabiñánigo - rein, einmal durch, und gleich wieder raus; Huesca liegt noch am Rand der Ebene; die Lage verleiht der Stadt eine gemütliche Offenheit. Sabiñánigo, 50 Kilometer weiter nördlich, ist schon in die Berge gebaut. Bei seiner Gründung muss es ein Felsennest gewesen sein, das den strategischen Punkt besetzt hielt, von dem aus das Zusammentreffen von Flüssen und Tälern zu übersehen war. Dieser wehrhafte Ursprung ist über die Jahrhunderte erhalten geblieben; etwas Misstrauisches und verschlossen Defensives ist hier Stein geworden. Nichts lädt zum Bleiben ein. Die Straßen sind wie Ablaufrinnen: sie verbinden nicht, sie leiten ab: Gossen, die Unerwünschtes aussondern. Es ist eine merkwürdige Erfahrung. Ich bin mir sicher, dass man hier in jedem Restaurant zuvorkommend aufgenommen würde, wahrscheinlich sind die Leute freundlich und bewillkommnen froh jeden Reisenden; aber die Physiognomie der Stadt, Stein und Struktur, ist in ihrer Ausdruckskraft stärker als menschliches Betragen es je wettmachen könnte. In der Form dieser Stadt ist ein Jahrtausend von Wachsamkeit und Abwehr fossilliert. Die Vergangenheit ist nicht tot; sie ist, wie Faulkner schrieb, noch nicht einmal vergangen; hier kommt mir dieser Satz wieder in den Sinn. Gebauter Stein beharrt; er hält den Willen dessen, der ihn setzte, zäh fest und strahlt ihn noch nach Hunderten von Jahren ab. Er schafft eine Atmosphäre, die mächtiger ist als alle Gegenwart. Es liegt ein Fluch über der Stadt, der dafür sorgt, dass selbst die Plätze, die groß und eben genug wären, dem Ort eine Mitte zu geben, nur als Parkfläche, nicht als Treffpunt benutzt werden. Darin bewahrt sich der Charakter einer Bastion, die Platz für die Reiterei vorhalten musste. Wie gesagt: ein historischer Fluch. 
Wahrscheinlich tue ich, wie so vielen anderen, dieser Stadt unrecht, und es gibt irgendwo in ihr charmante Winkel und Ausblicke auf die Gipfel der Pyrenäen. Aber wir werden sie hier nicht kennenlernen. 

Wir essen zu Mittag am Rande der Straße, die durch das Tena-Tal führt. Das Restaurant gehört zu einem Campingplatz, die jetzt in Bergnähe häufiger werden. Wir versprechen uns nicht viel davon; umso schöner die Überraschung, dass hier gekonnte Hausmannskost serviert wird, kräftig mit Rosmarinzweigen gebratene Hühnerkeulen, fast püreeweiche Knoblauchzehen, Paprikaschoten, die wahrscheinlich schon heute morgen als Ganze an einen mild temperierten Platz am Ofen gelegt wurden, und dort eine seimige Lake ausgeschmolzen haben, die süß und scharf und wunderbar intensiv ist. Auch die Hühnerbeine sind sicher nicht mit brüllenden Flammen attackiert worden, sondern so geruhsam gegart, dass sie ihren Saft nicht ausgeschwitzt und an die Glut vergeudet, sondern ihn brav für unsere Mundhöhlen aufbewahrt haben. 

An den Tischen sitzen Lastwagenfahrer, Vertreter, Handwerker, an einer langen Tafel auch eine zwanzigköpfige Familie, die mit einem pompösen Menü Omas Geburtstag begeht, samt wunderkerzenflackerndem Nachtisch und gegröltem Ständchen für die Jubilarin. 

Der Kellner hat schnell mitbekommen, dass wir aus Deutschland sind; er hat ein paar Jahre dort gearbeitet, in Nürnberg Blumen geschnitten, in Duisburg Rohre verlegt und in Stuttgart Nieten eingehämmert. Seit fünf Jahren ist er zurück; er hat auch hier Blumen gebrochen und Rohre verlegt (soviel Herrenwitz sei gestattet); Beweis ist sein Töchterchen, das an Mamas Rockzipfel ins Lokal kommt. Sie ist vielleicht vier, das Kleine auf der Hüfte anderthalb. Des Kellners Mittagsschicht ist zu Ende, und er hat am Haus zu tun, bis der Abendbetrieb wieder losgeht. 

Bei Biescas biegen wir ins Ordesa-Tal ab. Nach so viel Dürre und Ödnis wird die Landschaft jetzt süffig; überall rieselt Wasser, sprudeln Flüsschen, gurgeln Bäche. Das Massiv des Monte Perdido riegelt grob und breitschultrig das Tal ab, ein Brocken von Berg. Der Anblick ist atemberaubend: der Fels ragt ohne Anlauf fast senkrecht empor, sehr steil, sehr gerade. Schwarz verschattete Mulden im Stein starren als leere Augenhöhlen herab; sehnig und ausgemergelt, in asketischem Kriegertum, steht die Front des Bergs. Eine schroffe weiße Narbe geht quer über seine Stirn wie der tief eingekerbte Abdruck eines Kronreifs. An solchen Orten versteht man, warum das Königstum so viele Jahrtausende lang mythologischen Kredit genossen hat. Es hat sich der Imposanz der Natur als seines Urbilds bedient. Moses stieg den Sinai hinauf; Zeus schleuderte seine Blitze vom Olymp. Götter und Könige wohnen auf den Bergen, und leihen sich von diesen die Majestät des Unnahbaren. Herrschaft ist ein Abglanz montaner Erhabenheit - das leuchtet mir bei diesem Anblick so unmittelbar ein, dass ich mich frage, wie es in Völkern der Ebenen und Steppen oder bei Seefahrervölkern überhaupt dauerhafte Reiche und hierarchische Ordnung geben kann. Überwältigende Macht, Unverrückbarkeit und Größe sind hier so sinnenfällig und von solcher visuellen Evidenz, dass mir der Zusammenhang selbstverständlich und zwingend erscheint. Aber wie es so geht bei selbstverständlichen Zusammenhängen: sie halten der Prüfung selten stand. Heiligkeit und Macht sind wahrscheinlich nicht an bestimmte Gestaltungen gebunden; die Ehrfurcht ist erst als Bereitschaft da und sucht sich ihren Fetisch, als die Form, an die sie ihr Herz hängen kann, unter den Dingen, die ihr vor Augen sind: Feigenbäume taugen dazu ebenso wie Quellen, Flüsse genauso wie Wüsten, Höhlen nicht anders als Chinas Heilige Berge, das Kapitol und die Akropolis. Aber vermutlich überall da, wo sich Sakrales mit politischer Macht verbindet, geht es in die Höhe. Sind keine Berge da, werden welche errichtet: selbst die läppischen Steinmale, die Abraham in der Wüste hinterlässt, zehren von der Idee des Berges. Zum Transzendenten schaut man auf, blickt demütig von unten nach oben. Als Gott von Abraham das Opfer seines Sohnes forderte, bestieg der Erzvater eine Anhöhe.

Isaak ist allerdings nicht geopfert worden, und an seiner Statt wurde ein Widder geschlachtet. Die biblische Episode ist das Geschichtszeichen für die Ablösung des Menschenopfers durch ein stellvertretendes Tier, insofern ein entscheidender Schritt menschlicher Rationalität und Zivilisierung. Doch was bedeutet es, dass der letzte rituelle Vollzug eines solchen Tieropfers im Abendland nicht mehr auf der Tischplatte eines Altars, sondern im Arenasand zu Füßen der Zuschauer vonstatten geht? Die Leute schauen nach unten, in die große Opferschale der Manege. Damit kehrt sich eine sakrale Topologie um. Das Opfertier wird nicht erhöht, sondern erniedrigt. Der Pomp des Spektakels ändert nichts daran: man wird nur Zeuge einer bunt verbrämten Profanierung. Bislang habe ich den Stierkampf immer als ein Ritual angesehen, in dessen Mitte ebenso tragisch düster wie farbenfroh das Opfer steht. Aber es sind zuviel Züge in die Liturgie der Corrida eingegangen, die von ganz anderem sprechen. Heute, als wir das langsame Verlöschen der Abendröte an der Westwand des Monte Perdido und den Anstieg der Schattenlinie auf dem Fels betrachten, drängen sich in meinen Überlegungen andere Blickwinkel vor. Der Opfernde ist ein Bittsteller; er fleht aus einer Position der Furcht und Schwäche heraus um die Huld der Götter. In der Arena aber ist der Mann, der den Stier töten soll, von vornherein der Herr des Verfahrens. Er fleht nicht, er regiert. 

Wir quartieren uns auf einem Campingplatz ein. Die beiden Häuser, die den Eingang flankieren, sind mit schweren Ampeln und Blumenkästen behängt, aus denen Geranien strotzen. Wenn wir nicht in den Pyrenäen wären, würde ich sagen: das sieht alpin aus; eine typische Gebirglerarchitektur mit typischem Gebirgler-Blumenschmuck. Viel Regen und kalte Winter, Schnee, erzwingen tiefer gezogene Dächer und dicke Wände. Die Wiese, von einem Mäuerchen eingefasst, hinter dem der Fluss rauscht, ist eigentlich recht weitläufig, aber die Madame, eine gestrenge und schmallippige Person, hat ein genaues Platzreglement im Sinn. Unsere Nachbarn sind im Moment nicht da, haben aber ihren Wagen so geparkt, dass die patronne unzufrieden ist. Uns stört das nicht, wir haben genug Platz. Aber die patronne ruht trotz unserer Beschwichtigungsversuche nicht, bis sie die Schuldigen - ein französisches Ehepaar Ende fünfzig, so höflich wie sympathisch - in den Duschräumen aufgespürt hat und an den Ort ihrer Verfehlung getrieben hat, damit sie ihr Auto einen Meter versetzen. Für den Stromanschluss ist die Dame nicht zuständig, und wir auch nicht, erklärt sie. Sie wird jemanden schicken, der sich darum kümmert. Nach einer Weile trottet ein gemütlicher, dicker Mann heran, lässt sich meine Kabelrolle geben und zieht sie zum Stromkasten. Aber das hätte ich doch selber machen können, gebe ich ihm zu verstehen; er breitet resigniert die Arme aus: la patrona es rigorista.

Dieser Rigorismus beseelt auch ihren Mann, wie wir in den nächsten Tagen sehen werden. Allein die Art, wie er seine Rabatten bewässert, ist schreckenerregend: den Schlauch hat er haargenau und schnurgerade auf der Grenze von Weg und Rasen entlanggezogen, und zum seitlichen Besprengen von Sträuchern und Büschen stemmt er einen Fuß so am Knick ein, dass die grade Schlauchlinie entlang des Wegs auf jeden Fall erhalten bleibt. Selbst zum Sanitärblock geht er nicht wie alle Welt schräg über die Wiese, sondern bleibt unter ostentativer Verachtung dieser universalen Ziegenpfadregel bis auf Höhe des Gebäudes auf dem Hauptweg, um erst dann rechtwinklig abzubiegen. Dass ihm das Schicksal ausgerechnet die Verwaltung eines Campingplatzes auferlegt hat, kann sich nur einer boshaften Laune Fortunas verdanken, sind Campingplätze doch nur selten Orte, an denen Zwangscharaktere dieses Zuschnitts ihr Glück finden: hier herrschen notorischerweise Schlamperei und Nachlässigkeit, an allen Ecken und Enden flackert ein bisschen Leckmich heraus. Ein gewisser zigeunerhafter Schlendrian ist schließlich unausweichlich, wenn man nur für zwei, drei Tage da sein wird. Ordnung halten nur die Dauergäste, die es hier jedoch kaum gibt. Und so geht der Chef unentwegt seine Patrouillengänge, um ins Gras geschmissene Fahrräder nebeneinanderzurichten, hier von der Leine gewehte Handtücher wieder aufzusammeln, dort die verstreuten Spielsachen der Kinder auf einen Haufen zu räumen, und er tut all das so grimmig und gegen sein Fatum murrend, das ihn mit diesen Pflichten beladen hat, dass man wirklich das Gefühl hat, aus Versehen in einem Danteschen Höllenkessel gelandet zu sein, in dem nicht mehr Teufel, sondern Hausmeister ihren Dienst verrichten, und man sich bitte die Teufel zurückwünscht, die ihrem Treiben wenigstens ein bisschen Vergnügen abgewinnen können.

1. Juli. Torla.

Ein paar Wanderwege beginnen gleich vor dem Campingplatz. Wir nehmen aufs Geratewohl einen; die Wegweiser verschweigen diskret die Dauer der Wanderung. Egal; wenn wir genug haben, steigen wir wieder ab. 
Wo der Wald sich öffnet und der Boden felsiger wird, sind die Hänge mit kleinen Tuffs von ginstergelben Sträuchern bewachsen; jenseits des Tals sieht das flaumig oder fast pudrig aus, und wie mit einer Schminkquaste den Wangen der Berge aufgetragen; von nahem bleibt von dieser naiv-heiteren Anmutung nichts mehr übrig: die Sträucher sind hart und stachlig. Eine junge Frau überholt uns forschen Schrittes, in der Linken hat sie eine kleine Wasserflasche, in der rechten das Handy. Als wir nach steilen Anstieg an einer flachen Hochalm ankommen, sitzt sie im Schatten einer Kapelle, ihre Flasche ist leer. Wasser sprudelt nahebei in einer Wanne, bevor es in eine Steinröhre mündet und talabwärts läuft. Sie würde wohl gerne ihre Flasche auffüllen, aber in der Wanne wimmelt es von gräulichen Quappen. Sicher könnte man sie ausfiltern, sage ich ihr. Aber wie könnte man sicher sein, dass nicht winziges Getier hineingeriete? Ich biete ihr ein Taschentuch an, frisch, unbenutzt, blütenweiß, eine feine Membran, um das Wasser zu seihen, aber kaum habe ich's gesagt, wird ihr Blick misstrauisch, als hätte ich ihr einen unsittlichen Antrag gemacht. Sie verabschiedet sich brüsk und stiefelt davon, anderthalb Stunden Abstieg ohne einen Tropfen Wasser vor sich. Es bleibt mir rätselhaft; mir ist, als hätte dieses Taschentuch für sie irgendeine gräßliche Bedeutung, und während ich mit Dagmar zurückwandere, gehen mir Bilder von chloroformgetränkten Lappen, spermabesudelten Laken, Taschentuchknebeln durch den Kopf, Räuberpistolen die mit russischer Mafia und/oder russischem Geheimdienst, Menschenhandel und Zwangsprostitution zu tun haben, aber je weiter wir absteigen, desto harmloser wird in meiner Vorstellung das befremdliche Betragen dieser Frau; wahrscheinlich ist sie doch bloß eine ganz normale Neurotikerin mit handelsüblichen Idiosynkrasien. 
Wir spüren immer stärker die Anziehungskraft, die Frankreich auf uns ausübt. Es ist eine Art von Heimweh, eine Sehnsucht nach unproblematischem Behagen. Es wird Zeit zum Aufbruch.

2. Juli. Torla - Beaucens.

Vor dem Pass von Portalet kommen die Almwiesen. Sie liegen über den Hängen wie von einem sorgfältigen Modellbauer hindrapiert. Samtiger Filz mit Knicken und Falten und glattgestrichenen Flächen. Die Farben in vielfältigen Tönungen von Grün und Gelb, heller als die Pässe in den Alpen. Das ist der Einfluss des mediterranen Klimas, als bleiche die Hitze und die stärkere Sonne auch die Vegetation aus. 
Direkt vor dem Pass eine Zusammenrottung von Läden, die nochmal alle spanischen Spezialitäten feilbieten, den Schinken, den steuerbegünstigten Alkohol, die Konservendosen mit Fisch und Meeresfrüchten, die rotbraun glasierten Cazuelas, die Körbe, etc. Nous en regalons
Gleich nach der Grenze verändert sich spürbar die Atmosphäre. Woran liegt das? Vor allem wohl an dem Bach, der hier offen und zugänglich ins Tal strömt; alle paar Straßenwindungen gibt es eine Gelegenheit, ans Ufer zu fahren und sich dort zu Rast und Picknick niederzulassen. Die spanischen Straßen sind - wie häufig die italienischen - schmale Korridore, die durch abgezäunten Privatbesitz führen. In Frankreich wird das Grundeigentum entweder weniger schroff abgegrenzt oder es sind der Allgemeinheit weiter reichende Nutzungsrechte eingeräumt als anderswo. Der Effekt für den Reisenden bleibt der selbe: er atmet auf, fühlt sich freier, ungezwungener, überall öffnen sich Nischen, die zu seiner Verfügung stehen. 

Dieser strukturellen Öffnung steht allerdings erst einmal eine mentalitätsmäßige Schließung entgegen. Die Tür des Restaurants, in dem wir zu Mittag einkehren, wird von zwei großen Hirtenhunden bewacht, Patous, die groß sind wie ausgewachsene Schafe und genauso wollig. Na gut, Wachen ist zuviel gesagt; sie liegen nur im Schatten der Türschwelle herum und sind in mittäglicher Döslaune; doch so friedlich sie sind - bleiben sie es, wenn man mit einem großen Schritt über sie hinwegsteigt? Ich würde es jedenfalls als ziemliche Unhöflichkeit ansehen, wenn auf einer Wiese, wo ich mich zur Siesta ausgestreckt habe, jemand den Luftraum über mir verletzte, indem er über mich weghüpft. Wir studieren ausgiebig die Speisekarte vor der Tür, in der Hoffnung, dass die Patous den Weg freimachen, aber dann steuern wir doch das zweite Restaurant des Dorfs an. Da ist allerdings alles reserviert, das dritte Lokal hat Ruhetag, also müssen wir doch zurück. Die Hunde haben sich inzwischen nach drinnen verzogen und rempeln, mit ihren buschigen Schwänzen wedelnd, das Gestühl im Gastraum zurecht. Die Wirtin ist von auserlesener Ungnädigkeit; wahrscheinlich betrachtet sie grobes Benehmen als notwendiges Korrelat der Landschaft, die ja auch nicht mild und anmutig ist, sondern schroff, streng, stolz. Ich hätte vorweg gern ein kleines Bier, aber sie kennt weder den Ausdruck bock noch galopin und hört meinen Erklärungen wenig geneigt zu, um mir dann doch ein demi zu bringen. Möglicherweise hält sie es für würdelos, Bier in so geringer Menge auszuschenken, und als gebürtiger Bayer sollte ich sogar ein wenig Verständnis dafür erübrigen.

Eigentlich sind wir genau richtig in dieser Kneipe. Es ist ein geradezu emblematischer Einstieg ins ländliche Frankreich. Es gibt die stampige Gemüsesuppe garbure bzw. einen Vorspeisenteller aus Tomatenscheiben, Rote Bete in robust saurer Vinaigrette und ein paar Scheiben Wurst, danach eine truite meunière und eine bavette. Die Forelle schmeckt, als sei sie grade erst hinter dem Haus aus dem Becken gekeschert worden, und die bavette ist vollends großartig, saignant, wie es sich gehört, ohne viel Federlesens allez-retour in der Pfanne gewendet und fertig. Wenn Fleisch so gut abgehangen ist wie dies, muss nichts anderes daran gemacht werden (was allerdings den Mann am Nachbartisch nicht daran hindert, das schöne Steak mit Senf zu schänden. Dennoch: alles in allem ist das sehr schlichte Küche. Einfacher Karaffenwein, ein demi vorweg und Kaffee hinterher, und schon hat man zu zweit soviel Geld ausgegeben, wie man in Spanien hinlegen muss, um eine Karawanenzug von Thunfisch-Tataki, gegrillten Austern im Dutzend und Jakobsmuscheln satt auffahren zu lassen, und eine gute Flasche Rueda dazu. Aber wir sind zufrieden an unserem winzigen Tisch mit den knirschenden Holzstühlen, mit den angerosteten Tafeln aus Emailblech, die an den Wänden für Dubonnet und Banaña werben, neben verblichenen Fotografien von Pferdekarren, die geschlagenes Holz über die Schotterwege ziehen, und von Hirten, die ihre Ziegenherden zum Melken treiben. Verstaubte Trockenblumensträuße stehen auf den Simsen, Kupferkannen und schäbiger Nippes; eigentlich müsste man für solche Lokale eine besondere Brille haben, die alles in das körnige Schwarz/Weiß eines alten Pathé-Films übersetzt. 

Weiter Richtung Col d'Aubisque. Der Himmel trübt sich merklich ein. Die ersten Nebelschwaden wabern ab 1000 Höhenmetern über die Hänge; als wir bei 1400 sind, sehen wir keine zehn Meter weit. Dass wir die Kneipe am Pass überhaupt entdeckt haben, ist nur der Gewissheit geschuldet, dass es in Frankreich an solchen Orten immer Kneipen gibt; mindestens ein refuge, aber in der Regel sogar eine Station, wo der Reisende etwas zu essen bekommt, etwas zu trinken, zur Not ein Zimmer, und auf jeden Fall Postkarten, handgestrickte Pullover von modischer Verwegenheit ebenso wie Fleecejacken, auf deren Brust gold auf rotem Grund das Tolosanerkreuz oder die roten Wappenlöwen der Hautes-Pyrenées prangen. Auch fehlen nie ein paar Regale mit Produkten aus der Region. Hier ist es vor allem der Ossau-Iraty, dessen Laibe in einer Vitrine aufgebahrt liegen, daneben garbure in Gläsern und eingemachte Hammelragouts, und schließlich Kirschkonfitüre, die so gut zum Ossau passt, weil sie ihn, à vrai dire, mit ihrer kecken Frucht aus seiner etwas papierenen Fadheit erlöst und er der Konfitürensüße grade so viel Salz und Herbe unterhebt, dass ein klingender Akkord draus wird. Wir nehmen zwei Gläser Bruyère-Honig mit; die Wirtin erzählt uns, dass Imker bis von Toulouse mit ihren Stöcken kommen, um die Völker hier schwärmen zu lassen. Als ich frage, ob es auch einen miel de brume gäbe, Nebelhonig, lacht sie nur. Es wäre ein rentables Geschäft, Nebel hätten sie wahrlich im Überfluss. 

Wir schleichen weiter durch den Dunst. Plötzlich taucht die Silhouette eines Pferds schwarz darin auf wie ein Traumgespinst. Ich fahre darauf zu, das Pferd bleibt vollkommen ungerührt auf dem Weg stehen. Als ich das Fenster herablasse, regt es sich nicht. Kühle Feuchte strömt in den Wagen, das Pferdehaupt dreht sich ganz leicht in meine Richtung, grade genug, um sich als Wiedergänger aus Füsslis Albtraumbild zu zeigen. Seine Lippen sind straff, knochig der Kiefer. Ich befühle das feucht beschlagene Fell, die klaffenden Nüstern; das Pferd scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Das Unbehagen, das mich noch eine geraume Weile durch die wogenden Nebel begleiten wird, liegt genau an dieser vollkommenen Indifferenz. Er gründet nicht in Angriff oder Abwehr, sondern grade in deren Fehlen. Ich spüre die absolute Gleichgültigkeit dieser Kreatur. Ich bin nicht Teil ihrer Welt. Das Schweigen der Schöpfung ist mir selten so nah gekommen wie hier. 

Kurz darauf begegnen wir einer Schafherde, die es sich auf dem Asphalt gemütlich gemacht hat. Das ist die profane Variante der majestätischen und metaphysischen Ignoranz dieses apokalyptischen Rosses. Die Schafe lassen sich wenigstens verscheuchen, wenn auch nicht durch das Auto, das sie in keiner Weise beeindruckt. Dagmar muss aussteigen, um das Vieh mit Gefuchtel und Zuruf zu verjagen; die Schafe erheben sich unwillig, aber immerhin erheben sie sich. Die Hirtenhunde werfen einen gelangweilten, aber pflichtbewussten Blick auf das Geschehen, lungern aber weiter am Straßenrand herum. Sie kennen das Spiel. Die Schafe öffnen eine Gasse; doch sobald das Auto vorüber ist, fließt die Wolle wieder zusammen, als sei nichts gewesen. So geht es oft in meinen morgendlichen Träumen zu. Ich strenge mich an, ein Hindernis aus dem Weg zu räumen oder irgendeine Aufgabe zu erledigen, doch bevor ich es geschafft habe, wache ich für einige Momente auf und dann tauche ich wieder zurück in dieses zerklüftete Labyrinth der Träume, um mich erneut vor dem selben Hindernis und der selben, unerledigten Aufgabe zu finden. Dieses beklemmende Gefühl von Vergeblichkeit, von etwas Unbeendbarem und Widerständigem, das ohne Feindseligkeit, aber auch ohne Anteilnahme, jede Mühe gleich wieder mit einer trägen und gleichmütigen Regung zunichte macht und den ursprünglichen Zustand wieder herstellt, schlägt sich düster auf meine Stimmung. Nebelschwaden streichen über die Hänge, verschlingen Baumgruppen und Felsen. Ein Gehöft ist an eine Lehne hingebaut, mit einem stabilen Steinfundament, und sieht doch so aus, als müsse es über kurz oder lang in die Tiefe stürzen. Eine Kuh liegt melodramatisch am Straßenrand wie ein sterbender Krieger; ihr Kopf ist weiß bis auf eine Folge von schwarzen tropfenförmigen Flecken unterhalb ihrer Augen, dass es aussieht, als kullerten ihr dicke Tränen über die Wangen - der Ausdruck ist auf derart pierrothafte Weise weinerlich, dass ich unwillkürlich in Gelächter ausbreche. Wann hätte ich je eine Kuh gesehen, die sich als Tragödin gibt, als eine Sarah Bernhardt boviner Trauer? Und wann hätte ich mich selbst je so von einer Kuh verspottet empfunden? Der Himmel hat sie mir geschickt, dass ich mich in ihrem Bild erkenne: als einen larmoyanten Burschen, der sich genießerisch in einer abgeschmackten Melancholie einzurichten im Begriff ist. Meine Verdüsterung ist wie weggewischt; noch eine halbe Stunde nach der Begegnung kann ich mein Kichern kaum im Zaum halten, was, zugegeben, nicht ganz ohne hysterische Exaltiertheiten abgeht. 

Als wir in Argelès-Gazost ankommen, hat der Himmel aufgeklart. Was haben wir uns nach gutem Käse gesehnt! Wir decken uns mit Crottin de Chavignol ein, mit Selles-sur-Cher und schmelzenden Picodon, und hoffen, dass der Sancerre bis zum Abendessen ausreichend durchkühlt. Aber die Zeit reicht allemal; wir sind eine gute Stunde unterwegs, bis der Platz zur Nacht gefunden ist; der ist dann allerdings nobel. Vor uns erhebt sich der kantige Donjon des Aigles. Greifvögel ziehen ihre Kreise im sinkenden Taglicht, später, als die Dämmerung in Nacht übergeht, beginnen die Fledermäuse zu schwirren. Es ist ein klein bisschen kühl, was eine besondere Form der Behaglichkeit stiftet. Man hat es nicht einfach nur warm: Wolljacke, Schal und Mütze spenden über den bloßen Tatbestand zukömmlicher Hauttemperatur hinaus noch das Wissen, dass diese Wärme der Kühle abgetrotzt ist, was die Annehmlichkeit erst komplett macht, weil der gegenteilige Zustand, als abwesender und überwundener, zugleich gegenwärtig ist. Das ist keine bloße Temperierungsdialektik, sondern Anthropologie de profundis: Menschwerdung beginnt, wo es im Paradies so ungemütlich wird, dass Adam und Eva sich Schürzen umtun. Menschsein heißt die Kälte spüren und sich dagegen wappnen können. Menschsein heißt eine gute Strickjacke haben.

3. Juli. Beaucens - Payolle

Der Donjon des Aigles, vor dem wir übernachtet haben, trägt seinen Namen nicht bloß aus heraldischer Prätention; es gibt hier wirklich aigles (Adler), Habichte und Falken, Eulen und Weihen, deren Flugkünste jeden Nachmittag vorgeführt werden.

Am Morgen steigen wir den Burgweg empor. Die Greife halten ihr Frühmahl. Ein Habicht - ein Bein in der Fessel - hackt auf eine Hühnerkarkasse ein und rupft Fleischfetzen von den Knochen. Die Eulen sitzen hinter Gittern auf abgeschälten Astgabeln; ihre Brut reißt so gierig die Eingeweide aus toten Mäusen, dass wir richtig etwas Appetit bekommen. Zeit für unser Frühstück.
Ein Milchkaffee in Luz-St-Sauveur. Der Barterrasse gegenüber teilen sich die Wege: links geht es zum Col de Tourmalet, rechts zum Cirque de Gavarnie. Wir wollen eigentlich zum Tourmalet, aber der Name Gavarnie ruft eine dunkle Erinnerung an die Jahre zurückliegende Lektüre eines Reiseführers auf. Hat nicht der Rasende Roland dort eine Schlacht geschlagen? 

Zu Beginn unserer Reise war Roncesvalles die erste Station auf spanischem Territorium; Roland, Paladin Karls des Großen, soll dort dem Heer der Mauren oder der Basken erlegen sein. Eine Version der Legende spricht von dem sterbenden Roland, der mit seinem mächtigen Hifthorn Olifant noch versucht habe, Entsatz herbeizurufen; eine andere Variante lässt Roland entkommen und 200 Kilometer nach Osten fliehen, wo er dann bei Gavarnie sein Schwert Durandal, dessen Kraft ihn bei Roncesvalles im Stich gelassen hat, zerstören möchte, indem er es am Felsen zerschlägt. Durandal jedoch ist stärker als der Felsen. Das Schwert haut eine gewaltige, scharfkantige Bresche in den Berg: die Scharte ist vierzig Meter breit und heute als Rolandsbresche bekannt. Warum den langen Kreis, der mit Roland in Roncesvalles begann, nicht mit Roland in Gavarnie schließen?

Es ist nur eine halbe Stunde Wegs dorthin. Wir sind dennoch unschlüssig. Erst in den Toilettenräumen entscheide ich mich: man hat dort an den Waschbecken ein ingeniöses System installiert, das aus dem Hahn erst eine abgemessene Menge Wasser fließen lässt und dann aus dem selben Rohr Heißluft zum Trocknen der Hände bläst. Das bezaubert mich vollkommen - vor allem, weil es ab und zu in den mittelalterlichen Epen Momente gibt, in denen der Traum von solch selbsttätigen Verrichtungen geträumt wird, die keine menschliche Mühe kosten und ganz einer wunderkräftigen Mechanik überlassen sind. In den höfischen Romanen, den chansons des gestes, dem Amadis, der Don Quijote so in Bann schlug, sind solche Dinge freilich magisches Machwerk. Dass die moderne Technik heute manche dieser Visionen verspielterweise einlöst, gibt mir eine Ahnung von der visionären Sehnsucht nach Automatisierung, die es genau besehen, schon bei Homer gab (man denke nur an die emsigen Bronze-Helferlein des Hephaistos in der Ilias). Dass ich mit mit meinen schlauen Telefon auf die Schnelle erfahren kann, was uns am Cirque de Gavarnie erwartet, dass Rolands Durandal seine Stärke einem im Heft verbauten Zahn des Heiligen Petrus verdankte, und dass ich schon von hier aus zwei Pferde reservieren könnte, die uns bis zur Gaststätte am Fuß der Wasserfälle brächten, ist eine Tatsache, die selbst den vielgewandten Merlin berauscht hätte. Der alte Traum von der Magie, verstanden als Verfügungsgewalt über Wissen, Macht und Wunscheinlösung, ist Wirklichkeit geworden; aber ist die Welt damit, um Max Webers Wort zu gebrauchen, entzaubert werden? Für ein paar Momente, während mir der heiße Luftstrom die Hände trocknet, habe ich eher das gegenteilige Gefühl; die Technik überführt die Träume der zaubergläubigen Zeitalter in die Realität; was nur bedeutet, dass sie sich der Magie und dem Traum noch tiefer ergeben hat als alle Jahrhunderte zuvor. Vielleicht leben wir in einer Epoche, die bis ins Kapillar unseres Bewusstseins hinein dem Wunderbaren anheimgefallen ist. Warum dann nicht einen Gebirgskessel kennenlernen, in dem man früher Zaubertränke aus Mannesmut und Heldentod ausgekocht hat? 

Vom Dorf aus wandert man etwa eine Stunde dem Wasserfall entgegen. Die Pferde und Esel, auf denen Kinder und Fußmüde dahingetragen werden, lassen fleißig Fladen fallen. Fliegen fleddern die Flatschen. In dichten, schillernden Schwärmen machen sie sich über den Schmaus her und stieben in schwarzem Geschwirre auf, wenn man ihnen zu nahe kommt. Ich muss zugeben, dass sich mir die Bilder dieser schwarzgrün schillernden, wimmelnden Pailettendecke, die an den Fäkalien schmaust, tiefer eingeprägt haben als die der steilen Felswand, über die der Frankreichs tiefster Wasserfall herabschießt, oder das gewaltige Schanzwerk des Gesteins, das diese fossile Manege verpanzert. Ein klassischer Gegensatz: hier die vielen, die Scheiße fressen, dort die Arena für die Gigantomachie der Helden; proletarisches Gewusel im Schatten, heroische Alleinstellung in vollem Schein der Sonne. Elend hier, Glanz dort. Ich will den sich anbahnenden Gedanken nicht folgen und belasse es bei diesem Keim eines Denkbilds.

Am Hôtel de Cirque, der Terrasse mit Blick auf den Wasserfall, nehmen wir einen kleinen Happen und ein Bier. Drei große japanische Reisegruppen sind gleichfalls hier eingekehrt, zumeist aus älteren Herrschaften bestehend; anders als europäische Rentner es täten hat sich hier keiner dem Imperativ des Bequemen gebeugt. Eine starke ästhetische Selbstachtung sorgt dafür, dass sie zwar nicht modisch, aber selbst bei einer Wanderung schick gekleidet sind, anders als Mitteleuropäer, die sich schon, wenn sie bloß zum Einkaufen gehen, in Funktionskleidung werfen, als stünden ihnen Wetterunbilden von Hochgebirgsformat bevor. Japaner machen offenbar keinen Unterschied zwischen einem Stadtbummel, der urbane Kleidung angeraten sein lässt, und einem Gang ins Gelände. Sie wahren die Form unter allen Umständen und werten das Ritual allemal höher als Pragmatik, wofür sie meine volle Hochschätzung genießen. 

In katholischen Kirchen, italienischen zumal, wird sorgfältig darauf geachtet, dass Besucher geziemend gekleidet sind und ihre bloßen Schultern bedecken. Die Behauptung, die Japaner befolgten ein solches Schicklichkeitsgebot auch in freier Natur, ist auf Oberflächenebene gewiss falsch; mir ist schon klar, dass sie sich durch ihre textile Armierung nur vor der Sonne schützen wollen. Sie tragen breitrandige Hüte, Handschuhe, hauchdünne Capes, die wahrscheinlich allesamt lichtschutzzertifziert sind; und doch verleiht ihnen diese Kleidung über die offenbare Funktionalität hinaus etwas Zeremonielles und Pilgerhaftes, als hätten sie sich nicht einfach gegen UV-A oder UV-B gewappnet, sondern gegen den zerstörerischen Sonnengott selbst. Es ist, als hätten sie sehr wohl verstanden, dass dieser Ort, den die Europäer nur für ein Naturschauspiel halten, das Mal des Sakralen trägt. Der Cirque ist über das Schauspiel hinaus eine ehrfurchtgebietende Demonstration tellurischer Macht. Die Felswände ragen auf wie ein Retabel, mehr aber noch wie die Sitzreihen einer Göttermanege. 

Die Sonne steht im Zenit, als wir den Rückweg antreten. Die Japaner brechen in entgegengesetzter Richtung auf, dem Wasserfall zu. Wie ich sie so im Gänsemarsch hintereinander auf dem schmalen Pfad aufwärts hinwandern sehe, kommen mir die Verse aus dem Bhagavad Gita in den Sinn, die Oppenheimer nach dem ersten Bombentest von Los Alamos zitierte: "Wenn das Licht von tausend Sonnen plötzlich bräch hervor, das wäre gleich dem Glanz dieses Herrlichen, und ich bin der Tod geworden, Zertrümmerer der Welten." The gadget war explodiert. Drei Wochen später fiel little boy auf Hiroshima, dann fat man auf Nagasaki.

Wir fahren zum Col des Tentes hinauf, von wo aus die Rolandsbresche zu sehen ist. Böiger Wind fuchtelt unwirsch über die Bergkämme. Wir wollen zu Mittag essen; ich richte eben die üblichen crudités aus Sellerie, Möhren, Roten Bete an, den Ziegenkäse, als zwei Frauen einen Wanderweg herunterkommen und unseretwegen drei Schritte zur Seite tun müssen. Dagmar hört ihr Gemaule: Ce sont toujours les allemands qui se mettent partout et mangent. (Immer diese Deutschen, die sich überall hinstellen und essen.) Auch das kann ich als Denkbild (oder auch Bild von Nicht-Denken) stehenlassen.

Wir besteigen den Pic de Tentes, wo wir das ganze Rund der Dreitausender sehen, Schneeflecken, die Rinnsale, die sich niederschlängeln und zu kleinen Wasserfällen vereinigen, die Rolandsscharte und die Wege, die sicher einmal Schmugglerpfade und Flüchtlingswege waren. Auch heute patrouilliert hier Polizei. Ich würde sie gerne fragen, zu welchem Zweck. Sichern sie die Grenze gegen Dschihadisten aus Navarra, die vielleicht einen Zug Maultiere über die Berge führen könnten, vollbeladen mit Waffen und Sprengstoff? Gegen Schnapsschmuggler oder Drogentrafikanten oder illegale Einwanderer? Doch bevor wir in Rufnähe sind, klappen sie den Kofferraum auf, lassen ihren Hund hinein und fahren davon. Wahrscheinlich waren sie doch nur zum Gassigehen hier. 

Es ist fünf Uhr nachmittags, als wir Richtung Tourmalet aufbrechen. Auf dem Weg dorthin hat sich ein unschöner und etwas rödeliger Chalet-Tourismus ausgebreitet; aber der Eindruck ist vermutlich nur dem Umstand geschuldet, dass die Ausbesserungen nach der Wintersaison noch nicht beendet sind, während die Sommersaison noch nicht begonnen hat. Auch oben am Col wird an den Restaurants noch kräftig gewerkelt - an den Restaurants und am Berg selbst. In den höheren Lagen bröckelt der kariöse Fels. Überall liegen Gerätschaften bereit, um Stein und Straße zu stützen, Röhren und Asphaltkocher, Zementmischer, Moniereisen, Raupenbagger und Kräne ragen im Gegenlicht auf.

So ungefällig der Weg hinauf ist, so reizend wird der Blick zurück: die Bergfächer sind fein gezackt hintereinandergestaffelt, Taubenblau und Asche, das Tal wie eine weite Wiege, in der großzügig grüne Matten und Buschpolster verteilt liegen. Das Abendlicht mildert die gröberen Schrunden, die dem Tal durch eine nicht immer feinfühlige Bebauung geschlagen wurde, gnädig ab. Doch jenseits des Tourmalet hilft auch das Abendlicht nicht recht. Bald beginnt das Skigebiet von Super-Barèges. Pisten und Lifttrassen, Hüttensiedlungen und die in Frankreich zuverlässig schauderhaften Skidörfer, die man vielleicht ertragen kann, wenn der Schnee ein paar Meter hoch liegt oder wenn man - der Gnaden höchste - mit Schneeblindheit geschlagen ist; im Sommer erinnern Tal und Hänge manchmal eher an ein aufgelassenes Tagebaugelände. Die Strecke lädt (vielleicht nur an diesem Tag, zu dieser Stunde, vielleicht nur uns) so wenig zu beschaulichem Lustwandeln ein, dass selbst Dagmar nichts dagegen hat, dass ich den kurvenreichen Parcours als sportliche Herausforderung nehme und versuche, einen Zeitfahrrekord für einen schwer beladenen Campingbus mit ungünstigem Schwerpunkt herauszuschinden. 

Wir übernachten an einem kleinen Waldparkplatz am Adour de Payolle. Wir sitzen beim Essen, als ein sehr dicker Mann mit Angelzeug aus dem Dickicht steigt. Ob er kein Glück gehabt habe, frage ich. Fünf Fische in anderthalb Stunden!, antwortet er; das Ausrufezeichen ist deutlich zu hören. Aber seine Tasche sei doch leer, beharre ich. Wo der Fang denn sei? Er schüttelt den Kopf angesichts meiner Ignoranz der Anglerseele: den hat er natürlich zurückgeworfen. Schließlich fische er nicht, um zu essen, sondern nur zu seinem Vergnügen. Die pêche à la mouche sei eine Kunst, kein Broterwerb! Er wünscht uns eine gute Nacht und wankt, behäbig seine Robbenwampe schwenkend, zu seinem Wagen. Wenn man ihn so ansieht, traut man ihm kaum zu, dass er sich irgendeinen Bissen entgehen lässt. Wahrscheinlich erinnert er sich nur nicht daran, dass er die zappelnden Forellen, so wie sie waren, einfach vom Haken genommen und in einem Happs verputzt hat.

Ich habe keine Ahnung, was Fliegenfischen eigentlich bedeutet. Aber wenn es das ist, was ich denke, muss es eine Kunst sein, denn die Konkurrenz ist hart; die Wahrscheinlichkeit, dass man mit einem einzigen Fliegenköder eine Forelle narrt, über deren Wasser Hunderte von echten Insekten wimmeln, scheint gering. Wir jedenfalls schnaufen mit jedem Atemzug eine solche Menge von Viehzeug ein, dass wir uns einen Schleier vor Mund und Nase binden müssen, und schließlich verziehen wir uns in den Bus, um richtig Ruhe vor dem Gesumm zu haben.

4. Juli. Payolle - 

Die Strecke gestern abend vom Tourmalet bis hierher war unerfreulich. Vielleicht wäre ihre Fortsetzung zum Col d'Aspin das auch gewesen. Aber jetzt, in Frühlicht und aufsteigendem Nebel, ist sie bezaubernd. Gestern versiegelte Bleistaub die Hänge; jetzt glänzt Tau darauf.

Eine Rinderherde wandert auf der Nationalstraße dahin, von einzelnen Nebelfetzen umwallt, als käme sie aus einem geisterhaften Traumland und streife erst nach und die Gespensterschleier ab, um sich für den Tag in einfache Kühe zu verwandeln. Soweit ich sehe, ist kein Viehtreiber dabei, was ihren Zug noch somnambuler erscheinen lässt. Die Rinder scheinen ihren Weg zu kennen, und sie sorgen auch dafür, dass die Herde zusammenbleibt. Die Kälber, die sich gern am Straßenrand vertrödeln, werden von reifen Kühen wieder abgeholt und mit sanfter Gewalt in den Treck zurückbugsiert. Die Fürsorge ist anrührend: wir sehen zwei Kühe, die ein Kälbchen in ihrer Mitte halten wie ein besonders betreuungsbedürftiges Wesen; ein anderes Kalb, das beschlossen hat, am Straßenrain seiner Müdigkeit nachzugeben, wird mit energischen Schnauzenstubsern wieder aufgescheucht. 

Es ist Samstagmorgen, Zeit für die Rennradler. Das sind meist beruflich erfolgreiche Männer von den Vierzigern aufwärts, die genug Geld für die kostspielige Ausrüstung haben, was schon mal für eine gewisse Aussonderung des Pöbels sorgt, der sich Karbonrahmen nicht leisten kann und auch mit den Ratenzahlungen für Titanritzel nicht hinterherkäme. Hier strampelt die Elite: arrivierte Herren, denen auch ein gewisses Equilibrium von Agonalität und Teamgeist vertraut ist; sie wissen, dass sie beim Windschattenfahren aufeinander angewiesen sind. Als Routiniers der Kooperation wechseln sie im Belgischen Kreisel die Windbrecherpositionen durch, aber wer nicht mithalten kann, wird bald fallengelassen, oder, wie ein Bekannter das nennt, aus der Hose gefahren. Bei aller Kooperation gibt doch erst die Rivalität den echten sportlichen Ansporn. Teamgeist in Ehren; aber darum muss man sich doch nicht von schlappen Luschen den Schnitt kaputtmachen lassen! 

Langsam lichtet sich der Nebel. Der Col d'Aspin liegt in der Sonne. In den Talkesseln östlich und westlich steht stampendick der Dunst, aber während wir frühstücken, löst er sich auf. Dann geht es abwärts; es tut mir fast leid um die Radfahrer, denen ich hier und da die schöne Schussfahrt versaue; aber ich habe auch keine Lust, hier so hinunterzurasen, dass ich keinen Blick mehr für das schöne Panorama habe. Nach Osten hin wird der Weg jetzt sehr anmutig. Die Täler verändern fortwährend ihre Ausdehnung, sie ziehen sich zusammen und weiten sich wieder wie die Blutgefäße eines großen Organismus. Die Landschaft atmet: eng zwischen Steilhänge eingeklemmte Straßenabschnitte wechseln mit offenen Flachstücken ab, weit schwingende Talstraßen folgen auf verzwickte Haarnadelabstiege. Um elf kommen wir in Bagnères-de-Luchon an. Wie erhofft ist Markt. Er ist um eine kleine Halle herum aufgebaut, die außen belle-époque und innen trostlos ist. Doch Bagnères muss einmal ein beliebter Badeort gewesen sein; nicht nur die Markthalle, sondern auch ein, zwei Plätze und eine platanenbestandene Promenade zeugen davon, dass hier einmal die mondäne Gesellschaft Station gemacht hat. Heute ist der Ort in den Staub der Provinz zurückgesunken, dagegen hilft wohl auch ein Ereignis wie das Windhundrennen nichts, für das überall plakatiert ist. Damit kann man kaum die große Welt anlocken. Solche Veranstaltungen sind für Damen mit großen Hüten und Herren in Gamaschen und geknöpften Handschuhen ersonnen worden. Windhundrennen lassen an Kaleschen und Cattleyas denken, Kokotten und Dandys unter Napoleon III. Jetzt fühlt sich der Ort eher nach Second Hand als nach Second Empire an: ein bisschen muffig und stockfleckig, aber wir suchen hier schließlich auch keinen mondänen Glanz; das ländliche Markttreiben genügt uns vollauf. Wir sind schon glücklich, dass es einen Stand mit poulet fermier vom Grill gibt, und wir bestellen auch die wässrigen Kartoffeln aus dem 10-Kilo-Eimer, die im heruntertropfenden Bratensaft schmoren. Sie schmecken zwar nach nichts, aber aus Treue zu Tradition nehmen wir immer welche mit. 

An einem Käsestand bietet eine junge Frau Tomme und Ziegenkäse an, die ganze Reifepalette herunter vom frischen, cremig-säuerlichen und semmelgroßen Laib bis zum fossil bröckelnden und von scharfem Schimmel überzogenen Käsetaler. Die Frau hat mit ihrem schmalen Gesichtchen selbst etwas von einem Zicklein: ihr Profil geht von der Stirn ohne Knick in die Nase über, die Augen stehen breit. Das ist durchaus apart, aber ich frage mich trotzdem, ob sie die langen Röcke nur trägt, um ihre Hufe zu verbergen. 

Ein Händler hat ein bestimmtes Keramikgeschirr, das wir zu schätzen gelernt haben, und verkauft es nach Gewicht. Dagmar hat ein Auge auf eine Auflaufform geworfen und muss nur noch sicherstellen, dass sie auch in unseren Ofen passt, weshalb sie bei unseren Nachbarn anruft, damit die den Herd ausmessen. Ich lasse Dagmar allein und mir ein zeugmatisches Bier bringen. Wir waren vorhin schon auf einen Milchkaffee auf der Barterrasse gesessen; jetzt mache ich dort die Bekanntschaft einer Frau, die uns beim Kaffee aufmerksam belauscht hat; sie ist gebürtige Straßburgerin, hat in Tübingen studiert, lebt nun aber schon seit zwanzig Jahren in Toulouse, und giert danach, ihr Deutsch zu üben; mir ist allerdings eher nach Französisch. Da trifft es sich gut, dass sie in Begleitung hiesiger Freunde ist, und ich kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: meine eigenen Wünsche durchsetzen und dabei auch noch so tun, als nähme ich höflich Rücksicht.

Nachher plaudern wir noch eine Weile mit den Geschirrverkäufern über unsere neue Auflaufform; die Frau amüsiert sich über meine Verwechslung von anse, Henkel, mit hanche, Hüfte. Dabei ist das nicht falsch: meine Hüften zum Beispiel eignen sich mittlerweile sehr gut als Henkel. 

Wir holen unser Hühnchen ab und wickeln es im Bus zum Warmhalten in die Bettwäsche; aber wir lassen es nicht lange schlummern.

Am späten Nachmittag richten wir uns auf einer aire naturelle ein, die von einem in die Jahre gekommenen Hippiepärchen geführt wird. Es gibt einen Sanitärblock mit fast blindgewordenen Spiegeln und einer keuchenden Warmwassertherme, es gibt unsagbar viele Insekten und soviel Platz, wie der Mäher eben schaffen konnte. 


5. Juli. Aire naturelle - Montsegur

Am Morgen verfolge ich das Schauspiel des aufsteigenden Dunstes. In dem Talkessel unter mir ist die Feuchtigkeit zu einem festen Tupf Milchschaum geballt, doch langsam steigt sie aufwärts, wobei sie an Dichte verliert und zu lockeren Schwaden ausfranst, die den Hang emporschleichen. Um neun sind wir (Dagmar ist inzwischen auch wach) ganz vom Nebel umfangen; erst hat er mit einzelnen feuchten Tentakeln heraufgelangt, bis er sich die ganze Wiese einverleibt hat. Die Schwaden schweifen wie tastend umher und vereinigen sich nach und nach, schließen den Verbund. 

Es wirkt wie eine einfache Kondensationsmechanik: als verdunste die nachts im Tal gesammelte Feuchtigkeit nach und nach, stiege auf und verdampfe. Aber in Wahrheit haben die Nebel ihr eigenes, flüchtiges Leben. Das verfolgen wir auf der Fahrt den ganzen Vormittag über. Sie sammeln sich an einer Stelle, um sich zu stolzen und dramatischen Gebilden aufzubäumen, und hinter dem nächsten Berghang ist alles heiter Sonnenschein. Dann wieder fließen die Nebel zusammen, schieben sich in gleißend weißen und graueren Schichten übereinander, treiben Auswüchse und Hörner und Fühler aus magmatischer Materie vor wie nur irgendein Zellplasma, das hungrig seine Jagdgründe abweidet und aussaugt; sie sammeln sich in großen Herden und zerstreuen sich bald wieder zu einzelnen Dunststrähnen oder Flusenknäueln; es ist ein Spiel von Abscheidung und Anziehung, Vereinigung und Trennung. Die Vernunft sagt mir, dass dies alles schlichte Kausalität ist, der komplexe Effekt einiger einfacher zugrundeliegender Gesetzmäßigkeiten, aber die bloße Betrachtung zeigt mir etwas anderes: die Schwaden sind Organismen eigenen Rechts, intentionale Wesen, die mit ihren Nebelzungen Hänge und Talkehlen abschlecken, sich kleinen Kuhlen und Wölbungen entgegengestrecken, in Vertiefungen tauchen und über steile Gipfel streichen... Die großen Erotiker der Renaissance - Pico, Ficino, Bruno - hätten hier einiges Anschauungsmaterial für die Zärtlichkeiten gefunden, die Stein und Wolke tauschen. Vor allem um den Col de la Gore, von dem aus eine ganze Windrose von Tälern zu sehen ist, herrscht ein geradezu festlich belebtes Treiben von Wolken: duftige Tutus und schwere Seidenroben mit Ärmeln aus Tüll und Organza, üppige Krinolinen und schwellende, weißgepuderte Dekolletés, aus denen Spitzentaschentücher winken, Schleier wallen: alles ist in Tanz und Turbulenz, in einem Durcheinander von Quadrillenreihen und Walzerwirbeln, beim großen Ball von Wind und Wolken. 

Als wir in Oust am Garbet zu Mittag essen, ist der Himmel noch verhangen. Nach der Siesta hat es aufgeklart und fast unmerklich ändert sich auf unserem Weg nach Osten der Charakter der Landschaft. Die großen Bergketten treten etwas zurück; die Wälder sind weniger von Kiefern als nunmehr von Steineichen geprägt; die Erde wird trockener. Zumal nach dem Col de Port talabwärts spürt man ein anderes Klima, die warmen, trockenen Winde und den kargeren Boden des Roussillon. Als wir gegen sechs Uhr abends in Montségur Halt machen, ist von der grünen Feuchte der Pyrenäen nichts mehr übrig. Wir sind im Ariden; die Weiden sind bis auf die blonden Stoppeln geschoren; noch ist manches grün, aber das verdankt sich eher den Flüssen und dem Grundwasser, das von tiefen Wurzeln heraufgeholt wird, als den Niederschlägen von oben. Zudem fehlt das moosige Kolorit, das Tannige und Saftige. Hier ist das Grün oft schon mit einer Äderung von Silber und Staub durchwirkt, die Trockenheit anzeigt. 

Vor uns erhebt sich der steile Felskegel, den die Ruine der Katharerfeste krönt, die als letzte Ketzerburg von Bedeutung in der Mitte des 13. Jahrhunderts fiel. Neben uns weiden misstrauische Rinder, die sich nicht herbeilocken lassen; vielleicht ahnen sie, dass wir zu dem Gemüse, das jetzt schon in der Pfanne schmort, auch eine bavette braten wollen, die wir heute bei einem Brüderpaar von Metzgern in N'importe où gekauft haben, deren Handhabung des Messers vielleicht noch bewundernswerter war als die jedes Matadors in der Arena. Das Fleisch liegt schon zum Anwärmen auf dem Tisch; mag sein, dass sein Geruch die Rinder abschreckt, die um ihre noch lebenden Flanken fürchten

Nach dem Essen sitzen wir mit Blick auf den Burgstumpf in lauer Nachtluft und ich denke über die Katharer nach, die hier ein Jahr der Belagerung erduldet und schließlich zu Hunderten den Scheiterhaufen bestiegen haben. Ich habe dies und das über sie gelesen, konnte aber kein einheitliches Bild daraus gewinnen. Jeder Autor scheint aus der Sekte sein eigenes Süppchen zu rühren und hebt diesen oder jenen Zug an ihnen hervor. Einig sind sich die Historiker nur in der katharischen Ablehnung der Gottessohnschaft Christi. Jesus war für diese Gemeinde der Reinen nicht mehr als ein Mensch. Und ich frage mich, was diese Ketzerei von der des Meister Eckhart ein halbes Jahrhundert später unterscheidet, der für jeden Menschen, sofern er gut und gerecht und wahrhaftig sei, die Identität mit Gott postulierte. Eckhart dehnte die Gottessohnschaft potentialiter auf die gesamte Menschheit aus, die Katharer enthielten sie allen vor. Beider Impuls zielt auf eine Enthierarchisierung des Gottesverhältnisses und auf ein Tilgen der sakramentalen Vermittlerfunktion des Klerus; Eckhart tat dies jedoch als Städter, der in Köln, Straßburg, Paris wirkte und mundan und kosmopolitisch geprägt war. Dass die Katharer heute vor allem ihrer Burgen wegen bekannt sind, ist nur oberflächlich dem Umstand geschuldet, dass sie sich gegen die katholischen Zwingmächte schützen mussten; abseits von allen militärischen Erwägungen waren sie auch theologisch in hierarchischen Denkmustern befangen, in Kategorien von Oben und Unten, Reinheit und Schmutz, leuchtendem Geist und Materiegesudel. Wenn der Katharismus heute bisweilen als soziales Revoluzzertum verherrlicht wird, übersieht man diese anti-liberale, calvinistische und salafistische Seite. Ihre Burgen sind nicht nur Schutzeinrichtungen; es sind Kanzeln der Besserwisserei und der Erwähltheitsbehauptung, die von dem selben Fanatismus leben wie der Papismus ihrer Epoche. 

Die Rinder, die wohl zum abendlichen Melken waren, kehren im letzten Abendlicht wieder. Jetzt strecken sie zutraulich ihre Häupter über den Zaun. Willkommen!

6. Juli. Montsegur - Toulouse

Nach Mirepoix  zum Markt. Vor einem Jahr waren wir schon einmal hier, deshalb kein Wort zu diesem alten Renegatennest. Weiter nach Toulouse, doch die Stadt erweist sich weniger gastfreundlich als sie es früher war. Der Parkplatz an der Garonne, wo wir vor zehn Jahren fußläufig zur Altstadt übernachten konnten, ist mittlerweile von Baken abgeriegelt. Damals frühstückten wir mit royalem Blick auf die ville rose, und morgendliche Jogger wünschten uns dazu guten Appetit. Heute ist der Streifen am Fluß Sperrgebiet, nachvollziehbarerweise, da das Wohmobilwesen überhandzunehmen droht; doch wir müssen sehen, wo wir bleiben. 

Wir flanieren umher, sind aber, wie es manchmal so geht, irgendwie asynchron. Die Stadt ist diesmal wie versiegelt und hinter Glas; wir finden keinen Zugang. Einzig die Buchhandlung ist ein Trost: sie heißt Ombres blanches, und das Sortiment zur Tauromachie ist ergiebig, was angesichts dieses Namens auch zu erwarten ist. 

Zum Essen müssen wir dennoch in die Peripherie; die Kneipen in der Altstadt sind abscheulich und leer oder schön und überfüllt. Wir fahren zur cité de l'espace, einem Themenpark am Rand der Stadt, der dem Weltraum und der Weltraumfahrt gewidmet ist. Den wollen wir uns morgen ansehen. Es scheint mir eine gute Ergänzung zum Stierkampf, der mir nach wie vor als eine Projektion eines kosmischen Geschehens auf das Okular des Arenasands vorkommt. Immer noch glaube ich, dass der Matador ein ferner Nachfahr des Mithras ist, und der traje de luz so gut wie des Gottes sternbestickter Umhang. Mag schon sein, dass eine solche Deutung reine Spekulation ist: aber sie ist von faszinierender Poesie. 

Die cité ist schon von weitem zu erkennen. Das Modell der Ariane-Rakete überragt im Maßstab 1:1 das Gelände; ein Witz, dass dieses mehr als phallische Gerät mit seinen zwei seitlichen Tankhoden einen Frauennamen trägt - und doch auch wieder nicht: Ariadne war die Halbschwester des Minotaurus; sie war es, die Theseus ein geweihtes Schwert gab, und das Wollknäuel, dessen Faden den Heroen nach Tötung des Stiermenschen wieder aus dem Labyrinth geleitete. Wieder eine Stiertötung, wieder ein Sieg über das chthonische Dunkel... Ein anderer Mythos berichtet, dass Dionysos die an den Gestaden von Naxos schlafende Ariadne fand und sich in das Mädchen verliebte; ihr Diadem soll er ins All geschleudert haben, wo es zum Sternbild wurde. Das  beantwortet letztlich auch die Frage, welche Art von Treibstoff die Ariane-Raketen verwenden: es muss wohl Wein sein. Etwas anderes käme Dionysos, wenn er Diademe oder Satelliten ins All versetzen will, doch kaum in den Tank. 

Wir essen Pizza unter einer berankten Pergola. Der Parkplatz des Restaurants ist von Hecken gerahmt, in deren Unterfutter farbige Lichtfluter verborgen sind: das Laub leuchtet in einem stratifizierten Newton'schen Farbkreis, der (mit Zwischenstufen) von Gelb über Grün und Blau zu Rot und wieder zu Gelb überleitet; offenbar verpflichtet die Nähe der cité zu physikalischer Akkuratesse. Die Pizza allerdings ist erfreulich unwissenschaftlich: ein unregelmäßiges Ellipsoid, das beim Eintritt in die Atmosphäre deutliche Brandspuren davongetragen hat. Die Unordnung des Belags lässt vermuten, dass man vergessen hat, den Lachs gleich beim Einschieben der Pizza aufzulegen, doch dieses Versäumnis erweist sich als Glücksfall. Bei unseren Nachbarn sind die Fischstreifen verdörrte Striemen; bei uns nur leicht angewärmt und saftig. 

Auch in Toulouse liegt die Abendtemperatur bei über 40 Grad. Aus dem Wohnmobil neben uns kommt nach Mitternacht (wir sitzen noch draußen und lesen) ein schnaubender und fluchender Mann, der eine Matratze aus seinem Gehäuse schafft und auf den Asphalt wirft. Er ist von robbenhafter Konstitution und Akustik: man hat den Eindruck, dass nicht nur seine Lefzen schlabbern, sondern sein ganzer Leib sich in einem unablässig schmatzenden Aneinanderklatschen von Fettschichten in den Nachtschlaf mampft. Bald schnarcht er; wir haben alle Fenster auf, die Seitentür, die Heckklappe; der Robbenbulle wechselt die ganze Nacht zwischen beängstigenden Phasen der Apnoë und tumultuös aufraunzendem Wiedereinsetzen der Atmung.

7. Juli. Toulouse - Fanjeaux

Cité de l'espace: ein großes Freigelände, wo zwischen gepflegten Rabatten und gut gewässerten Rasenflächen die großen Monumente der Weltraumfahrt aufragen, von den pickligen Amphoren des frühen Satellitenwesens zu Ariane und den aneinandergekuppelten Modulen der ISS, dazwischen Raumstationen, die wie kantige Rieseninsekten über die Wiese zu staksen scheinen. Der Kontrast zwischen den Beeten, in denen blaue Liliengewächse und rote Dolden blühen, und den Raumgefährten ist merkwürdig: ein landschaftsgärtnerisches Idyll wie dieses ist auf den ersten Blick ja nicht gerade das natürliche Habitat von Raketen und Trabanten. Die Gerätschaften, die bis ins Kleinste auf ihre technische Fungibilität  getrimmt sind, und in denen kein Zentimeter nutzlos verschenkt ist, scheinen diesem Park erratisch aufgestülpt, unvermittelte Fremdkörper einer anderen Ordnung - bis wir draußen an einer veilchenblauen Blütenkrone vorüberkommen, in deren Fruchtknoten sich eine Hummel hineinzustrampeln versucht, und wir Zeuge eines kleinen Wunders werden. Plötzlich öffnet sich der zusammengekrampfte Blütensphinkter, als hätten die tretenden Hummelbeinchen eine Art von Falltürmechanismus ausgelöst, und die Hummel stürzt in den aufklaffenden Schlund. Wir sehen durch die geäderte Membran des Blütenkelchs die Silhouette des brummenden Tierchens darin wüten, dann tut sich der Sphinkter wieder auf und entlässt die über und über mit Pollenflocken bedeckte Hummel. Schwer beladen, taumelig unter schwerer Last, surrt sie davon.

Es war ein Irrtum zu glauben, dass Raketentechnik und Raumstationsbau unüberbietbare technische Meisterleistungen seien: in Wahrheit sind die Gebilde der Natur denen menschlichen Schaffens an mechanischer Raffinesse und Ingeniösität der Konstruktion weit überlegen; menschlicher Erfindergeist kann der Pfiffigkeit der Natur, all diesen wundersamen Tricks und Kniffen, welche die Evolution ersonnen hat, nur plump hinterherschmieden. Was Menschen erfinden, ist zumeist nur ein grobschlächtiger Abklatsch von Techniken und Verfahrensweisen, für die es im weiten Garten der Natur längst ein Vorbild gibt, das an Eleganz und Effizienz das humanoide Artefakt allemal übertrifft. Angesichts der technischen Lösungen, welche die Natur allerorten in Hülle und Fülle hervorzaubert, sind die Patentämter Nekropolen der Geistlosigkeit. 

Doch auch, wenn der Mensch das Ingenium der organischen Welt nur ungeschlacht nachäffen kann: als ich durch die Module der ISS wandere, beginne ich zu ahnen, dass der menschliche Wissendurst von dem selben Impuls getrieben wird wie der Appetit einer Hummel auf Nektar und der Appetit einer Pflanze auf den Besuch einer Hummel, der ihr das Eigene abnimmt und im Gegenzug das Fremde bringt. Dahinter steht der absolute Wille zum Austausch und zur Transmission, zu Wandel und Steigerung der Komplexität, gleich, ob es sich um Energie, Materie oder Wissen handelt. 

Vermutlich war es nicht das didaktische Kalkül der Planer, die Einheit des Kosmos zu demonstrieren, als sie die Rabatten bepflanzten; aber ich kann jetzt nicht mehr am summenden Gewimmel der Beete vorübergehen, ohne von Ehrfurcht ergriffen zu werden. Ich sehe die Raumstationen und Satelliten im Spiegel der Hummeln und die Hummeln im Spiegel der ausschwärmenden Technikwolke, deren Teile im stellaren Nektar stochern und Pollen des Wissens aus dem All nach Hause schaffen. Mich weht in der Tat ein Gefühl an, das ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks "spirituell" nennen muss: die Empfindung einer umfassenden Einheit und eines allem zugrundeliegenden Willens des Seins. Früher einmal hat man derlei Gott genannt. Doch obwohl mir dieser Name missfällt: in der Sache meint er genau dies. In der Jakobinerkirche von Toulouse liegen die Gebeine des Thomas von Aquin. Wenn man die Asche Giordano Brunos und die sterblichen Überreste Teilhard de Chardins an ihrer Seite beigesetzt hätte, wäre es mir weniger zuwider, dieses modrige Wort "Gott" in den Mund zu nehmen. 

Der Hauptbau der Cité ist ein Vergnügen für wissbegierige oder verspielte Kinder, die sich hier in mehreren Etagen an allerlei interaktiven Apparaten verlustieren können; wie es in Frankreich, wo die Schulen im Sommer zweieinhalb Monate geschlossen sind, häufig geschieht, übernehmen die Großeltern einen Teil der fälligen Kinderbetreuung. Für die Senioren ist die Cité ein dankbares Ziel; eine ältere Dame ist schon drei Tage in Folge mit ihren Enkeln hier. Die Jungen streunen durch die Ausstellung, während sie auf der Terrasse die Beine hochlegen kann und sich nur zu Mittag und zum Eisessen um die gosses kümmern muss. Un délice!, gesteht sie uns, bevor sie schnaufend im Café verschwindet. 

Wir beschränken uns auf einen Film im Imax-Kino, wo wir in 3D den Astronauten bei der Arbeit am Hubble-Teleskop zusehen können. Die Dokumentation versucht, Spannung und Spektakel aus dem Geschehen herauszupressen, soviel es irgend möglich ist, aber es hilft alles nichts: Astronauten eignen sich nicht für Heldengeschichten. Letztlich ist ein Astronaut nichts anderes als ein hochspezialisierter Monteur; er ist sicherlich begabt, intelligent, körperlich topfit, belastbar, reaktionsschnell, geistesgegenwärtig, mutig und entscheidungsfreudig: in Antike und Mittelalter wäre er perfektes Heldenmaterial, die Blüte der Männlichkeit. Doch um das Charisma des Helden zu entfalten bedarf es einer bestimmten Umgebung, die Hegel den epischen Weltzustand genannt hat - jenen Weltzustand, der noch nicht von objektiv gewordenen Gesetzen und Regularien durchzogen ist, sondern ganz der freien Verfügung des Helden offensteht. Der klassische Held verdankt seiner physischen und charakterlichen Statur fast alles. Zwar kommt der Heros nie ohne technisch-magische Hilfsmittel und begünstigende Zutaten aus (das gilt von Achill bis zu Bilbo Beutlin und Batman), aber das ideale Heldentum erweist sich grade darin, dass der Heros sich seinen Panzer und seine Waffen selbst verschafft, wenn nicht sogar selbst verfertigt oder zumindest erwirbt: darum ist (neben einigen Comic-Figuren wie dem Ironman) vielleicht Siegfried die vollkommenste Verkörperung des Helden; er hat sein Schwert selbst geschmiedet und damit den Drachen getötet, dessen Blut ihm Unverwundbarkeit verlieh; auch das magische Utensil der Tarnkappe hat er zwar nicht selbst gewebt, aber mit eigener Hand erbeutet. Der Held (jedenfalls will das Epos das so betonen) verdankt seine Überlegenheit eigener Kraft; er hat sein Sach auf sich gestellt. Der Astronaut aber ist derart in das stählerne Gehäuse eines technischen Exoskeletts eingespannt, dass er eher deren Objekt als deren Herrscher scheint. In einen Raumanzug zu steigen, ist eine Verpuppung; der Astronaut verschwindet darin im dicken Polster funktionalen Anonymats, und wenn man ihm dabei zusieht, wie er dann am Gestänge der Raumstation schraubt und klippst und kuppelt, ist kaum individuelle Findigkeit oder Virtuosität zu ahnen, oder jedenfalls nicht mehr, als sie auf Erden jeder einigermaßen routinierte Klempner beim Verflanschen eines Klosiphons an den Tag legt. Der Astronaut ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe einer durchtechnisierten Unternehmung, wobei erst der arbeitsteiligen Komplexität dieses ungeheuren Ganzen rechtens das Prädikat des Heroischen zukäme. Der Heros klassischer Prägung aber geht darin unter, und mit ihm die identifikatorische Kraft, die uns mitfiebern und mitbeben ließ. Zudem ist ein Raumanzug der denkbar lächerlichste Nachfahr der Rüstung des Achilles. Selbst dem plumpsten Blechpanzer des Rittertums ist noch eine kriegerische Anmutung eingeschrieben, etwas muskulös Geschwelltes hier und Tailliertes da, das oft auch noch mit besonderen Aufbiegungen, Nahtkämmen und Hörnern versehen ist, die das Schwert des Feindes abgleiten lassen sollen. Doch geht es bei diesem Design nur teilweise um Funktionalität im Defensiven; wichtiger ist seine expressive Potenz zur Einschüchterung des Gegners. Die Rüstungen nutzen die Ausdrucksmacht der stammesgeschichtlich tief verankerten Gesten von Oberflächenvergrößerung (Aufstellen des Nackenhaars bei Hunden und Katzen, Aufspreizung der Flossen bei Revierfischen) und Waffenzeigen (Zähneblecken, Krallenausfahren). Selbst die preußische Pickelhaube verdankt sich noch dieser atavistischen Gestik, die Epauletten, der hochgestellte Jackenkragen der bad boys im Kino, der Irokese der Punks.

Von all dieser heroischen Physiognomik bleibt beim Astronauten nichts übrig. Seine Rüstung ist ohne jede offensive Expressivität; der Raumanzug verwandelt selbst den durchtrainierten Kampfpiloten in einen tappsigen Teddybären, in ein Kuscheltier im Weltall. Die Hantierungen des Mannes im Raumanzug sind bedächtig und etwas unbeholfen; sie haben etwas Raupenhaftes, das vorsichtig Tastende einer verpuppten Larve. Das scheint mir durchaus angemessen für ein Wesen, das sich in einem bislang unbekömmlichen Habitat einrichten will. Nur passt die triumphalistische Musik des Films genauso wenig dazu wie die dazwischengeschnittenen Bilder von der Ankleidung des Astronauten, die in der ikonographischen Tradition der Investitur des Gladiators steht, von der ich neulich im Stierkampfmuseum von Cordoba noch eine Probe bekommen habe. Da war er: der Held, wie man ihn sich vorstellt, jung und schön und rassig. Konzentriert auf den Kampf, der ihm bevorstand, legte er die Montur des Matadors an, gürtete seine Lenden, schnürte die Schuhe, alles in so sorgfältig gebändigter Zeremoniosität wie ein Priester, der sein Messgewand umtut. Seine Gesten waren von gespannter Präzision, seine fertige Silhouette strahlte Geschmeidigkeit und Kraft aus. Wie anders doch der Raumfahrer, der unter der Last seines Anzugs alle Eleganz verloren hat und mit schweren Schritten der Rakete entgegenstapft, während die pompös dröhnenden Fanfaren der Schlusstakte von Nessun dorma anschwellen - Bombast, der bald in einem merkwürdigen Kontrast zu den nüchternen Handwerkergriffen der Astronauten auf der Raumstation abgelöst wird. 

Nachmittags ins Planetarium. Da ist der Aldebaran, das rot schimmernde Auge des Stiers, das den Orion betrachtet; Skorpion und Adler, Rabe und Hund: die Sternbilder der Mithras-Reliefs.  Da ist die Animation jener in Jahrbillionen zu erwartenden Begegnung unserer Galaxie mit jener der Andromeda: zwei Lichtspiralen, die einander durchdringen und in einer galaktischen Quadrille durcheinanderwirbeln, die mich an den Schwung der capote erinnert, die sich vor den Hörnern des Stiers in einer geschmeidigen Bewegung davondreht: eine kosmische Veronika. 

Die Bilderreise führt nach und nach aus unserem Sonnensystem heraus und in die Tiefen der Galaxie, doch für mich sieht es nicht anders aus als die Filme, die ins Innere des menschlichen Körpers hineinzoomen und eine tanzende Welt aus Radiolarien und molekularen Mikrouniversen enthüllen. Die Selbstähnlichkeit des Alls erfüllt mich mit Ehrfurcht; die unermessliche Vielfalt des Kosmos und die Einheit, die dieser Vielfalt zugrundeliegt und alle Ebenen des Seins durchwirkt, seine unendliche Produktivität und seine Bereitschaft zu unentwegter schöpferischer Zerstörung, faszinieren mich nicht weniger als den braven Hans Castorp, der bei seinen Forschungen auf dem Zauberberg vergleichbare mystisch-spekulative Erhebungen erlebt hatte. 

Der Höhepunkt der Vorführung ist ein Blick in die sogenannte pouponnière d'étoiles im Zeichen des Orion, der Sternenkrippe - es handelt sich um einen Sternennebel, der von der Erde aus als Teil des Orionschwertes sichtbar ist, und in dem sich im Verlauf von Jahrmillionen gasförmige Materiewolken um Kristallisationskerne zu Sternen verdichten. Der Begriff der pouponnière ist glücklich gewählt; der flusig-flaumige, rötliche Fleck erinnert an eine Zellkultur oder eine Plazenta, die ein Gespinst von Blutgefäßen ausgebildet hat, in dem der künftige Organismus noch nicht als abgrenzbares und fest bestimmtes Objekt zu identifizieren ist. Doch zugleich ähnelt dieser Nebel dem Gekröse von Schlachtvieh mit seinen Fettstriemen und den Schichten von Bindegewebe und Muskelsträngen, dem Talg und den Drüsenkratern und den schwartigen Ausstülpungen abhängenden Fleisches. Der Galaxiendunst ist Beginn und Ende zugleich, Leben und Tod. Die Holländer des Goldenen Zeitalters haben derlei gern gemalt; ich erinnere mich vor allem an Rembrandts Geschlachteten Ochsen, der wie gekreuzigt an ein Querholz gebunden ist: ein abgehäutetes Opfervieh als der tierische Wiedergänger Christi. 

Es ist vier Uhr, und es ist heiß. Selbst in der reich besprengten Parkanlage hat es vierzig Grad; in der Innenstadt, wo schon gestern Stein und Asphalt die gespeicherte Hitze in die Atmosphäre zurückpumpten, wird es unerträglich sein. Wir fliehen nach Fanjeaux unweit von Carcassonne, wo wir einen kleinen camping à la ferme kennen, der schon immer zu Sammlung und Konsolidierung unserer Kräfte getaugt hat, so auch diesmal. Der kreisrunde Teich, an dessen Ufer wir zwei Tage zubringen, ist voll mit Fröschen und dünn mit Fischen besetzt; genug für die zwei Fischreiher, die sich hier gemütlich die Einlage teilen.

8. Juli. Fanjeaux.

Wir waschen Wäsche. Wir lesen.

9. Juli. Fanjeaux.

Wir trocknen Wäsche. Wir lesen.

10. Juli. Fanjeaux - Queribus

Aufbruch in Richtung der Corbières. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich binnen weniger Kilometer der Charakter einer Landschaft ändern kann. Um Fanjeaux herum hat sie ganz das Gepräge des französischen Südwestens, es ist ländlich und bäuerlich, die weiten Felder tragen Weizen und Mais, die Sonnenblumen leuchten, es schimmert Luzerne, und dann fährt man ein paar Minuten und sieht immer mehr Wein an den Hängen, die Böden werden steiniger, die Hügel Fels, die ganze Landschaft magert ab, verliert an Fleisch: jetzt kommen überall die Erdknochen durch. Das Blond und das Gelb und das kräftige Maisgrün des Südwestens weichen dem sonnengebleichten Kalkstein und dem Schiefer der Gebirgszüge, der Garrigue, dem struppig-dürren Bewuchs an den Hügelflanken. Noch spürbarer scheint mir die Veränderung des Lichts; es kommt mir vor, als würden meine Augen an diesem Licht geschärft, wie eine Sense an einem Wetzstein oder wie Sand, der zum Schmirgeln über Holzdielen gestreut wird. Das ist nicht einfach nur Sommerlicht, sondern eine bestimmte südliche Lichtintensität, die ich selbst an wolkenlosen und stark besonnten Tagen im Norden nicht erlebe; das Licht hier hat irgendeine korpuskulare Qualität: es beschießt die Netzhaut, prasselt pulsierend auf sie ein. Es reinigt den Blick. 

Mittagessen in Limoux auf dem von schattigen Arkaden eingefassten Platz, vorweg ein Glas Blanquette, die nach Apfel und Honig duftet und überraschenderweise sogar zum Cassoulet passt, das wir als Reverenz an den Südwesten wenigstens einmal essen müssen, auch wenn die die Gänsekeule und die dicken Bohnen, die in einem irdenen Geschirr brodelnd an den Tisch gebracht werden, die Temperatur am Platz noch mehr ansteigen lassen. Sei's drum; es ist köstlich.

Die Passage durch die Gorges de Galamus ist so eng, dass der Zugang in den Ferienmonaten alternierend geregelt ist, um auf der gewundenen Piste Gegenverkehr auszuschließen. Inmitten dieses so schwer zugänglichen Felsmassivs, und auch von der Straße aus nur durch einen steilen Pfad zu erreichen, hat sich eine alte Eremitage erhalten, fest in die Steinenge eingekrallt und von knorrigen Felsmaserungen eingefasst. Der Anblick frappiert mich; das gekrümmte Aufstreben der Felsenstränge erinnert mich an etwas, ich weiß nur nicht, woran. Es dauert einige Minuten der Betrachtung, bis das Rätsel gelöst ist: die Felsen ähneln ganz einem steingewordenen Feuer, in dessen Mitte die Eremitage bewahrt wird. Der Stein, von Sinterlinien unruhig gegliedert, züngelt in der Form lodernder Flammen aufwärts, die hier ausbauchend, dort sich spitz verjüngend, in hungrigem Sprung gebogen sind wie eine Flamme, die sich nach Nahrung streckt und mit all ihren Zungen an ihre Beute tastet. Die Einsiedelei ist freilich eine Franziskanergründung - wenn hier in der Gegend jemand die Feuerzungen eines Scheiterhaufens fürchten musste, waren es die Katharer. 

Oberhalb von Maury (wo wie in Banyuls und Rivesaltes ein Likörwein gemacht wird; der Maury, den wir verkosten, ist allerdings ungleich subtiler als der bloß süße Banyuls, wie er im Supermarkt zu bekommen ist), ragt die Ruine von Queribus auf: ihre Wehrmauern stecken auf einem Felskamm wie die bizarre Überkronung einer Backenzahnreihe. Es ist später Nachmittag, und dort oben tobt ein muskulöser und fuchtiger Wind. Als wir die Pforte zur Burg betreten, schlägt es mir die umgehängte Tasche ins Gesicht, Dagmar steht bis zum Bauch entblößt da, den aufgeworfenen Saum ihres Kleids am Kinn; es weht ein Wind vom Paradiese her. Die einst so wehrhafte Burg scheint auch jetzt noch im Bund mit den Elementen zu stehen. Jenseits der Pforte legt sich die Gewalt des Windes ein wenig; mag sein, dass die Erbauer der Stätte den Eingang eigens mit einem Kamineffekt geschützt und so einen pneumatischen Wächter installiert haben; einmal hinter den Mauern, haben wir es nur noch mit harmlosen Böen und neckischem Gefächel zu tun. Die Blicke von hier sind berückend: im Süden ziehen sich die parallelen Höhenzüge der Corbières dahin, die nach und nach in die Pyrenäen übergehen und vom wolkenversammelnden Canigou beherrscht werden. Ein Streifen weißer Wolkengischt säumt die Grate dort. Im Westen, von der untergehenden Sonne überstrahlt, erhebt sich die Ruine von Peyrepertuse auf einem Gipfel. Im Osten verschwimmen die Hügelketten am Horizont in einem blassen Blau, das vielleicht der Himmel, vielleicht aber auch das Meer vor Perpignan sein könnte. 

Wir haben uns etwas abseits, der Silhouette Queribus' gegenüber, installiert; als die Sonne untergeht, sind wir vollkommen allein. Das letzte Abendlicht spielt über die Zinnen der Burg und erlischt. Keine Scheiterhaufen mehr.

11. Juli. Queribus - Perpignan.

Perpignan. Ich erinnere mich an zwei Besuche in der Stadt. Beim ersten war ich 18 Jahre alt; wir aßen in einem einfachen arabischen Restaurant zu Abend, Couscous mit Hühnchen. Wie gewohnt, zerpflückte ich die Hühnerstücke mit den Händen. Als ich mir die Hände waschen wollte, gab es keine Waschbecken auf der Toilette. Schließlich landete ich in der Küche und wusch mir die Hände in der Plastikwanne, in der das Geschirr gespült wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, mit einer Kultur in Berührung zu kommen, die man damals die Dritte Welt nannte. Mir schien, ich sei in einem Außenposten Marokkos gelandet, in einer armseligen und unkultivierten Exklave afrikanischer Zurückgebliebenheit, aber ich nahm dennoch die etwas mitleidigen Blicke wahr, mit der Koch und Tellerwäscher meine fettverschmierten Mundwinkel und meine besudelten Pfoten musterten. Wahrscheinlich fragten sie sich, woher ich wohl käme, und in welchem dunklen Winkel Europas man nicht lerne, manierlich mit Messer und Gabel umzugehen.

Das zweite Mal war ich mit Dagmar und unserem ersten gemeinsamen Campingbus in Perpignan. Wir hatten irgendwo in der Altstadt geparkt und suchten nach dem Abendessen den Weg hinaus, aber wir verstrickten uns nur immer tiefer in immer engere Gassen und immer anbrüchigere Viertel, bis wir unversehens auf einen Platz gerieten, der uns vollends beunruhigte. Da saßen dicke Zigeunermatronen auf Sperrmüllsofas, die man ins Freie geschafft hatte, Männer in Unterhemden lehnten an den Hauswänden oder gestikulierten herum wie Leute, die Streit suchen. In zwei Eisenkörben brannten Feuer; junge Leute brieten Spießfleisch in den Flammen, Hunde tollten kläffend über den Platz. Gleich würden die Messer gezückt. Dieses Volk hier würde uns mit einem Dosenöffner aus dem Bus schneiden und uns, in kleine Stücke gehauen, auf die Bratspieße stecken. Ich steuerte behutsam entlang, um nur ja niemanden in seiner gemütlichen Unterhaltung zu unterbrechen und möglicherweise zu verärgern, indem ich ihn zu einem Beiseitetreten zwänge, hielt geduldig vor zwei Hunden, die sich ausgiebig die Hinterpartie beschnupperten, lächelte zwei jungen Männern zu, die eben begonnen hatten, mit den grade leergefressenen Brochette-Spießen zu fechten, für einen Moment lang aber auch gesonnen schienen, in einem offenen Ausfall gegen unsere Motorhaube vorzugehen. Aber dann lachten sie nur, und wir verstanden, dass hier niemand Mord und Totschlag im Sinn hatte, und wir nur Opfer unserer Vorurteile geworden waren.

Diesmal gibt es keine kulturellen mésentendus, sei's, weil sich die Stadt verändert hat, sei's, weil wir uns geändert haben und souveräner geworden sind, wahrscheinlich ist es beides.

Wir essen gleich neben dem Touristenbüro und befürchten Nepp; aber der plat du jour (ein Rochenflügel in der klassischen Zubereitung mit brauner Butter und Kapern) ist ausgezeichnet. Eine besondere Erwähnung verdient das Klo, ein offenbar von japanischer Hygienetechnologie inspiriertes Gerät, das auf Knopfdruck im Becken einen Duschstab ausschwenkt und den Hintern mit temperiertem Wasser saubersprüht. Ich erinnere mich an eine Passage aus Rushdies Satanischen Versen, in der die Eltern des Protagonisten die kulturelle Rückständigkeit der Briten dadurch bewiesen sehen, dass diese sich nur mit Papier und nicht mit Wasser reinigen. Dieses Scheißhaus hält die Hoffnung aufrecht, dass es doch einen Einklang der Kulturen geben könnte, wenn auch erstmal nur auf der Ebene von Notdurft und Bidet. Wäre die Weltgeschichte friedlicher verlaufen, wenn die Stimme am Sinai nicht dekretiert hätte Du sollst keinen Gott neben mir sondern Du sollst keinen Kot am Hintern haben, und wenn das Buch Leviticus, statt Jahwes abstruse Speisevorschriften zu Paarhufern und Wiederkäuern aufzulisten, sich darauf beschränkt hätte, dem auserwählten Volk als einzige liturgische Regel die Sauberhaltung der Unterpartien anzuempfehlen? 

Die Stadt hält Siesta; wir vertrödeln die Zeit, bis die Rolladen wieder hochgezogen werden, in einem kleinen Museum für zeitgenössische Kunst, das ein erstaunliches Niveau hält. Ich hatte Provinz erwartet und finde kluge Internationalität.

Die, wenngleich auf kunsthandwerklicher Ebene, finden wir auch, als wir ins Zentrum zurückwandern und bei einem kleinen Atelier ins Schaufenster schauen. Gleich werden wir eingeladen, hereinzukommen. Wir schätzen die Frau auf Mitte, Ende fünfzig; sie stammt aus Brasilien, und obwohl sie seit zwanzig Jahren in Frankreich lebt, hat sie die portugiesische Eigentümlichkeit, das an als ao zu sprechen (etwa statt allemand allemao), nicht abgelegt: irgendein artikulatorischer Magnetismus verzieht ihr den französischen Nasalausklang zu einem katzenhaften Miauen, und auch die s-Laute schaffen es bei ihr nie bis zu einer steifen Brise an wisperscharfen Zahnkanten, sondern begnügen sich mit einem postalveolar feuchten und wie in Schaum und schlaffer Gischt eingeweichten sanften Nuscheln.

Sie ist von vibrierender Intensität, schwatzt unentwegt, kann die Hände kaum stillhalten, wir lieben sie sofort. Ich würde wohl gern wissen, was sie für Vorfahren hat - die Mischung ist undurchschaubar. Das Brasilianische an ihr setzt sich schon aus Afrikanischem, Europäischem und Indiohaften zusammen, doch es sind auch südostasiatische oder polynesische Züge darin; sie versammelt in ihrer Physiognomie eine jahrtausendalte und letztlich jahrmillionenlange Geschichte ethnischer Migration, und vielleicht noch mehr als bloß das. Ihre schmale Figur und ihr beinah spitzmäusiges Gesichtchen weist auf die genetische Versatilität des Nagetierstamms zurück, dem als später Zweig auch die Primaten entsprossen sind, und auf jeden Fall hat sie das Talent der Nager geerbt, selbst aus den Abfällen noch nutzbare Substanzen zu holen. 

Ihr Material sind Werbebeilagen, Zeitungsprospekte, Gratisillustrierte. Deren Blätter rollt sie um einen Stab zu langen Röhrchen, fixiert diese mit Klebstoff und baut dann aus diesen Fasern allerlei Gegenstände auf. Ein primitiver Töpfer montiert aus aufeinandergelegten Tonwülsten Gefäße; in ihrem Verfahren kommt eine topologische Reflexionsstufe hinzu. Sie klebt die Enden der Papierröhrchen zusammen und wickelt diesen langen Strang zu einer flachen Spirale auf, die sie mit ihren geschickten Händen schließlich nur noch aus der zweidimensionalen Platte zu einer dreidimensionalen Form hochzuziehen braucht, und schon steht eine Schale, ein Becher, ein Objekt vor uns. Mit einem Handgriff wird aus einer einfältig-schlichten Fläche eine gebauchte, kurvige und markante Figur, ausdrucksstark eingerollt und gewunden, es ist ein Zaubertrick der Schöpfung: einfache Elemente so angeordnet und variiert, dass komplexe Gegenstände daraus entspringen.

Wir sind wohl eine Stunde bei Luana; sie will uns alles zeigen, will uns vorführen, wie sie Sonnenhüte, Kleider, Taschen aus den Zeitungsprospekten herstellt. Sie hat eine Mission. In den Favelas habe man nichts als die Abfälle des Kapitalismus; sie wolle zeigen, dass selbst aus diesem Abhub noch etwas Brauchbares zu machen sei. 

Ich gebe zu, dass mir das gefällt: den Markt kritisieren und ihn doch als Lebensgesetz akzeptieren. Wir kaufen zwei hübsche Bonbonnieren, die man gut verschenken kann, und werden unsererseits beschenkt: ich bekomme einen bauchigen Stiftehalter (allerdings eine völlige Fehlkonstruktion), Dagmar ein winziges, kegelförmiges Püppchen als Schlüsselanhänger; zudem dürfen wir noch der Verfertigung einer ausgetüftelten Tragetasche aus Papierprospekten beiwohnen, die Luana auf dem Boden faltet und klebt und zum Schluss noch mit zwei ausladenden Papierkokarden verziert. 

Zwei Wochen lang räumen wir dieses empfindliche Artefakt jeden Abend im Bus, wenn wir das Bett ausziehen und der Raum knapp wird, mit großer Behutsamkeit und Pietät in irgendeine Abseite; morgens, mittags, abends geht es im Weg um; ich stelle es ungefähr hundert mal von hier nach da und von da nach dort und dann wieder woanders hin, aber wir bringen es nicht übers Herz, dieses liebenswürdige, aber eigentlich lästige Utensil zu beseitigen. Luana hat es geschafft, die Beziehung von Verkäufer und Käufer zu entsachlichen; sie hat den schlichten Handel in eine Schenkökonomie mit emotionaler Aufladung verwandelt; ins Geschäft hat sich Gemüt gemengt; ich glaube, ich bin nicht sentimental genug, diese Entdifferenzierung der Codes rückhaltlos gutzuheißen. Verdinglichung kann auch entlastend sein. Jedesmal, wenn ich diese Tasche nehme, fühle ich mich in eine Art von Potlatch verwickelt, in einen Tausch, der nie ganz abgeschlossen ist und nicht aufhört, mich emotional und moralisch zu verpflichten. Es wird einige Zeit brauchen, bis ich das begreife; doch es erscheint mir im Rückblick wie ein Zeichen, dass der nächste Laden, den wir betreten, ein Monoprix ist, in dem wir ein Paket Klopapier kaufen. Die Kassiererin hat ein freundliches Oberflächenlächeln für uns; unsere Beziehung endet exakt in dem Moment, in dem sie den Kassenbon abreißt und uns das Restgeld herausgibt. Ein guter, sauberer Schiss ohne Schmiererei: ein Abzwicker.

Das Syndicat d'Initiative hatte uns für die Übernachtung einen Parkplatz an der Allée Maillol empfohlen, einem kleinen Park unweit des Zentrums. Wir schaffen das  Auto dorthin und sehen eine Weile den Arbeitern zu, die sich am Brunnen zu schaffen machen. Es ist ein flaches Bassin von etwa 20 Metern Durchmesser, in dem zwei, drei Dutzend große Blüten aus Edelstahl verteilt sind: breite Schalen mit rundgebogenen Petalen, lilienartige Kelche und flache Platten, aus denen metallene Tentakeln ragen wie Staubblätter und Fruchtknoten. Dann suchen wir in der in der seltsam leeren Stadt nach einem Restaurant. Es ist Freitagabend, aber es fühlt sich an wie Sonntag zur Stunde der Siesta. Schließlich kehren wir in einer Pincho-Bar ein. Die Kellnerin hat vietnamesische Eltern; als sie versteht, woher wir kommen, holt sie die Wirtin, die aus Brüssel stammt. Deren Mutter ist gebürtige Aachenerin, wenngleich eigentlich holländisch, aber von ihr hat sie immerhin Deutsch gelernt, und so parlieren wir ein wenig Deutsch, bis wir doch wieder im Französischen landen, während die Vietnamesin erst mit einem Tisch von Schwulen auf Catalan herumfrotzelt und sich dann für zwei Minuten zum Schmusen mit einer jungen Schwedin zurückzieht, einer Vergnügung, für die Sprachkenntnisse weniger wichtig sind. 

Es geht auf elf, als wir zum Bus zurückkehren und noch ein Stündchen lesen wollen. Kaum haben wir uns eingerichtet, dröhnt Musik von dem nahegelegenen Brunnen. Die Wasserspiele beginnen: fein zerstäubende Dunstgebüsche, rot und blau und weiß beleuchtet, steigen pulsierend auf, werden dann von feinen Wasserbögen überspannt, während die einzelnen Schaumbündel breiter werden und zu einer einzigen Gischtglocke zusammenwachsen. Mit einem Schlag stürzt der Wasserbau zusammen bis auf flache Wasserhauben, die über den Blüten stehen und rhythmisch und vielfarbig zu flackern beginnen. Dann schießen plötzlich steile Fontänen empor, unter denen sich Trichter mit glatten Wasserwandungen öffnen, die Fontänen gewinnen an Umfang und verlieren an Höhe, bis einzelne Strahlen aus den schäumenden Zylindern hervorschießen und diese sich gleichfalls zu trichterförmigen Schalen aus Strahlen absenken, die nun an geriefte Kristallkelche erinnern... In der Choreographie wechseln sich machtvoll aufsteigende, dünne Wasserstelen mit rhythmisch aufeinander zuspringenden Bögen ab, die beim Zusammentreffen zerschellen oder elegante Serpentinen in die Luft malen; es gibt hohe Wasserkegel, die in vier Meter Höhe zu stiebenden Wassergloben zerplatzen, majestätische Feengespinste in blitzendem Licht, dann wieder eine Art von Kreuzrippengewölbe aus rot beleuchteten Wasserbögen deren Kuppel sich eine lange Minute wie reglos, obgleich ganz aus schießenden Wassern bestehend, aufrechterhält. Es gibt Strahlen, die sich überkreuzen, Fächer aufspannen, in Spiralen umeinanderwirbeln, Reifrockmenuette, torkelnde und sich schlängelnde Wasserlassos, Nebelglocken und präzis beschnittene Zypressenalleen aus grün leuchtenden Dunstzylindern  - es müssen Tausende von steuerbaren Düsen in diesem Brunnen versteckt sein, eine jede einzeln zu regeln, was Wassermenge, Druck und Strahlbreite angeht, und zwischen all diesen Fontänen und schäumenden Wassern flitzt eine ganze Horde von Kindern umher und plantscht die ganze Zeit, die das Spektakel währt, im Brunnen herum. Es ist die Generalprobe für das Fest am quatorze juillet; um Mitternacht klappen die Techniker zufrieden ihre Laptops zu; alles hat funktioniert.

12. Juli. Perpignan - Céret

Ich schlafe bestens; nur Dagmar wacht nachts um drei auf, weil die Jugend sich auf den Parkbänken nebenan versammelt hat. Musik aus offenen Autos, viel Geschrei und Krakeelen. Meine Ohrstöpsel sitzen offenbar besser als die Dagmars, zudem habe ich genug Wein getrunken, um mich nicht von ein bisschen Radau stören zu lassen. Erst morgens um sechs wird auch mein Schlaf unruhig. Wir haben die Heckklappe einen Spalt offen, um für ein wenig Durchzug zu sorgen. Jetzt klappert und scheppert es dort hinter dem Auto. Es sind Flohmarktbeschicker, die um diese Stunde ihre Stände aufbauen. Als wir dann um acht nach draußen treten, werden wir mit freundlichem Spott begrüßt. Der ältere Herr, der inmitten von Nippessachen und Boudoirmalereien, Waschgeschirren und Emailschildern schon einen frühen vin blanc süffelt, hofft doch sehr, dass wir eine ungestörte Nacht verbracht haben. Er habe beim Aufbau alles mit Samthandschuhen angefasst und laufe schon seit Stunden nur auf Zehenspitzen, um uns nicht zu belästigen. Trop aimable! 

Wir bummeln über den Flohmarkt, bewundern Rollstühle aus dem dix-neuvième, Trockenhauben oder Lockenwickelmaschinen oder was auch immer, das genauso gut eine Gedankenabsaugapparat oder ein Folterinstrument sein könnte, Uniformen von Kürassierregimentern, Autogrammkarten von Johnny Hallyday und Françoise Hardy, Anisette-Karaffen und sabots aus gesprungenem Holz, einen ausgestopften Schwan, gefangene Ameisen in braunem Glas, das nach Bernstein aussehen soll, kaputtgeliebte Teddybären und Charlestonkleider, Hirtenjoppen und Filmplakate: das ganze bric-à-brac confus der Nostalgie, die Frankreich oft so teuer ist.

In der Stadt, auf der Place de la République, ein recht übersichtlicher Lebensmittelmarkt, wo wir gute Tomaten und gutes Brot bekommen, ein bisschen Wurst und Käse; dann frühstücken wir Croissants und Milchkaffee. Dagmar entdeckt in der Zeitung einen Hinweis auf eine féria in Céret, einem Städtchen eine gute halbe Stunde südlich von Perpignan. Kurzentschlossen fahren wir dorthin; wir erwarten wenig; es wird ein Rausch. 

Céret ist klein genug, um als Ganzes von Festlaune erfasst und überschwemmt zu werden; es hat keine zehntausend Einwohner, und man hat den Eindruck, dass alle dabei sind. Samstags um die Mittagszeit lässt es sich noch gemütlich an; es gibt einen ausgedehnten Markt, auf dem wir für uns und einen Freund den Jahresvorrat lait d'anesse-Seife kaufen. Wir erstehen eine Hängematte - die Klappliegen, die wir seit Jahren auf Reisen mit uns herumschleppen und immer weniger nutzen, beanspruchen zuviel von unserem knappen Stauraum und sind obendrein nur mäßig bequem; es sind Feldbetten von eigentlich militärischem Notdurftzuschnitt, während ich doch immer mehr nach einer Art von Kokon suche, der mein wachsendes embryonales Einrollbedürfnis umschmiegt und unterstützt. Eine Hängematte wie diese bezirzt mich auf fast magische Weise; ich sehne mich sofort danach, darin zu liegen wie ein Insekt, das sich in den Maschen eines Spinnennetzes verfangen hat, indes nicht als passive Beute, sondern als Zentrum und Rezeptakulum der Akkorde, die die Welt aus den Saiten des Netzes zupft: körperlich träge und doch mit wachen Nervensträngen und empfindlichen, hellhörigen Synapsen, die Verknüpfungen träumen und Metaphern ausspinnen, Wege, Ähnlichkeiten, Übersetzungen, des Hermes Geschäft. Zudem ist die hamac eine Augenweide: die Kettfäden gelb, der Schuss in blau-gelb-grünen Streifen mit rotem Rand. Wir können nicht widerstehen.

Durch die Straßen Cérets ziehen an diesem Festwochenende ohne Unterlass ein gutes halbes Dutzend von Bandas: lärmende Blech- und Trommeltrupps, die irgendwo Aufstellung nehmen, wo der Platz grade günstig ist und sie von den anderen Gruppen nicht übertönt werden. Mit den gesitteten deutschen Spielmannszügen hat das nichts zu tun: das ist nicht Humtata, sondern Arriba. Hier wird nicht geschwooft, hier wird geschmettert. Selbst die kleinen Gruppen geben mächtig Druck auf die Röhren; eine spanische Combo (große und kleine Trommel, Tuba, Posaune, Trompete, zwei Saxophone) ist groß in Form und haut uns entfesselte, dabei messerscharf präzise Bläserriffs und Trommelwirbel um die Ohren, dass es eine Art hat: der Mann an der Umhängsnare kennt seinen Gene Krupa, Posaune und ein Sax sind ebenso virtuos, und unterhalten obendrein eine sehr spaßige Beziehung zu den Dingen, die in der Harmonielehre behauptet werden. Viele der Stücke kennt man von irgendwo, aber sie werden aufgebogen, ausgebeult, aufgeschlitzt und mit der Trompete nur traktiert, weil grade kein Schweißbrenner zur Hand ist, es kommt aber aufs Gleiche raus.

Eine Sambaschule von zwei Dutzend Trommeln stampft und donnert durch die Hauptgasse wie eine dumpf brausende Feuerwalze, garniert mit dem prickligen Funkenteppich der Rasseln und den Stichflammen der Pfeifen. Die schiere Wucht der Trommeln, dieser Widerhall im Brustkorb, bei dem man den Eindruck hat, das Herz pauke nicht mehr im eigenen Takt, sondern im Rhythmus der caixas, sollte eigentlich nach Luft schnappen lassen, aber ich schnappe mir lieber noch ein Bier, da sind immerhin auch sprudelnde Bläschen mit sowas Ähnlichem wie Luft drin. Nächste Ecke, nächste Band: diese hier ist etwas braver und weniger virtuos (es blasen auch vierzehnjährige Mädchen ins Saxophon), aber der Mangel an individueller Klasse wird durch Masse kompensiert: ein ganzes Schlagzeugset auf einem fahrbaren Karren, drei Paukerinnen und drei Frauen mit kleinerer Perkussion, gutgefüllte Reihen von Bläsern, das alles gibt einen Klangkörper ab, der groß genug ist, um an allen Ecken und Enden die Chance für harmonische Ausrutscher zu lassen. Was bei den Spaniern kalkulierte Anarchie war, ergibt sich hier von ganz allein: Schiefes und Schräges, und es macht überhaupt nichts, im Gegenteil. Würde hier alles so gespielt, wie es in den Noten steht, wäre jeder Reiz dahin. Diese Band lebt von den Patzern, dem Vergreifen, der Abweichung im Text, der Mutation der DNA. Man spürt, warum Joyce schrieb, dass ein Genie keine Fehler mache, da seine Irrtümer die Pforten seiner Entdeckungen seien. Hier sind Valeurs des Scheiterns und des Verfehlens zu entdecken, die berühren: Fehler, die wärmen. 

Wir wollen Karten für die Corrida kaufen und fragen an einem Markstand nach der Arena. Die Frau weist uns auf den Weg; als der Mann dazukommt, wettert er: la corrida n'est pas belle, elle est dégoutant. Er selber ist allerdings auch nicht schön, und sein Mundgeruch ist pestilenzialisch.

Wir nehmen den Mittagstisch des Festkomitées. Es gibt Entenherzen mit Fritten, und vielleicht ist es gut, dass wir spät dran sind: die Herzen schmoren wahrscheinlich seit morgens um zehn im Topf, und inzwischen sind sie so zart, dass man sie mit der Zunge am Gaumen zerdrücken kann. Zu mehr wäre ich auch gar nicht mehr in der Lage: kauen würde zu sehr anstrengen. Wir stellen den Bus in den Schatten und schlafen bei offener Tür für ein Stündchen, dann steigen wir wieder ins Städtchen hinauf, um einen guten Platz für das abrivado-bandido zu ergattern. 

Die Stimmung am Rand der Stierstrecke ist mittlerweile recht, nun, gelockert. An den Theken, die vor den Bars aufgebaut sind, wird Rosé in Plastikbuddeln, die anderthalb Liter fassen, verkauft, Pastis geht flaschenweise weg; die Eiswürfel gibt es gratis dazu. Aber auch Whiskey, Gin und Wodka läuft gut, vom Bier ganz zu schweigen. Unter dem manifesten Palaver liegt ein Summen von Aufregung und Energie wie Kriechstrom. Die Einheimischen sind zumeist in Blau-Weiß gekleidet; die T-Shirts und die Halstücher bekommt man an den Ständen des Komitées; das Emblem darauf zeigt einen schwarzen Stier a tergo, zwischen den breit eingestampften Beinen bammeln die Klöten im Beutel, Schultern und Kopf des Stiers sind wie zum Hornstoß gedreht. Noch wandern die Leute gemütlich mit ihren Bier-, Wein-, Pastis-, Gin-Tonic-, Cola-Rum-Bechern auf der Treibstrecke herum, manche auch, horribile dictu, mit Orangina-Flaschen, aber das sind nur ein paar Außenseiter. Der allgemeine Alkoholisierungspegel ist enorm; man süffelt hier nicht behaglich vor sich hin, sondern betreibt die Sache mit System und einem gewissen sportlichen Ehrgeiz. Allmählich werden die Stellgitter entlang der Strecke verteilt; es wird eng an den Cafétischen und eng an den Gittern. Bald beginnt das Defilée der Vereine und Bruderschaften; eine Stierpuppe wird auf einem Karren dahingefahren. Auf dem schwarzen Gewuschel seines Fell prangt weiß das C für Céret, daneben trottet ein zweibeiniger, blauer Plüschstier, der offenbar einem Freizeitpark entsprungen ist; vor ihm her marschiert ein Rudel von Schulkindern. Es folgen Reiter in andalusischen Kostümen, die Männer im Anzug und mit dem breitkrempigen, tonnenrunden Filzsombrero, die Frauen in einem Stoffgewoge von Falten und Rüschen, die in mehreren Lagen übereinanderwallen; dann Männer, die weißes Hemd, Hosenträger und rote Bauchbinden tragen und so eine Übergangsform zwischen den Taxa des spanischem vaquero und des provençalischem gardian bilden. 

Schließlich beginnt das abrivado-bandido, über das ich am liebsten den Mantel des Schweigens breiten würde; die Reiter können ihre Phalanx nicht halten, und die jungen Männer, die den Stier packen und niederringen sollen, haben sich soviel Mut angetrunken, dass sie zwar tapfer sind, aber auch so tappsig und tölpelig, dass sie über ihre eigenen Füße stolpern. Immerhin schürfen sie sich dabei die Kniee und Ellbogen auf und kugeln durch den Mist der Stiere und Pferde, sodass sie nachher aussehen, als hätten sie im Ringen mit der Bestie alles gegeben und weder Dreck noch Blut gescheut, nec faeces nec sanguinem. Letztes Jahr haben wir in Saint-Gilles bei Nîmes ein abrivado miterlebt, das bei aller Volksfestfreude doch einen Zug sakralen Ernstes hatte; hier ist das rituelle Element läppisch und reine Nebensache geworden; es kümmert sich auch kaum ein Zuschauer um das Geschehen auf der Bahn, und wir selbst quasseln ja ebenfalls lieber mit unseren Nachbarn statt dem abgehalfterten Spektakel zuzusehen. Wir sprechen mit Abiturientinnen über den Sprachunterricht an französischen Schulen, mit einer dänischen Familie über Ferienhäuser und Rentenversicherungen (der Schwiegersohn ist Rentenberater und gibt mir ein Bier aus, wahrscheinlich gehöre ich zu seiner Zielgruppe), schließlich erörtere ich mit einem Pärchen aus Rouen erst die politischen Aussichten des Front National und dann (man frage nicht, wie dieser Themenwechsel zustande kam) die Vor- und Nachteile von Sitz- bzw. Hocktoiletten sowie die dämlichsten Stellen, an denen man Klorollenhalter anschrauben kann, um dem Benutzer beim Griff nach dem Papier abstruse Verrenkungen aufzunötigen, wobei sich ein nicht mehr ganz nüchterner, aber sehr soigniert gekleideter Herr einmischt, der von einer Bartoilette erzählt, in der der für die Beleuchtung zuständige Bewegungsmelder nicht in der Kabine, sondern davor angebracht war, sodass er in vollständiger Finsternis und weitgehender Unkenntnis des bislang erreichten Säuberungsgrads sitzen musste, bis endlich ein Gast hereinkam und das Licht wieder ansprang, und so geht es weiter, in einem pêle-mêle von Geplauder und Gewitzel mit wechselnden Gesprächsgenossen und beständiger Themenaberration, doch es geht ja auch gar nicht um Themen, Thesen, Theorien, sondern nur um Begegnung, und irgendwann ertappe mich bei dem Gedanken, dass der abrivado vielleicht nur darum so stümperhaft vonstatten geht, damit die Leute nicht davon in Bann gezogen werden, sondern sich abwenden und aus schierem Überdruss am Spektakel miteinander zu reden beginnen. 
Doch schließlich müssen wir zur Corrida aufbrechen. Wir sind spät dran, und den Platzanweisern fehlt es an Routine; sie schicken uns in eine falsche Reihe. Als wir noch versuchen, zur richtigen durchzuklettern, beginnt der paseo. Ein Mann mault uns an, dass man sich so nicht benähme: c'est sacré, das ist heilig. Weil er recht hat, quetschen wir uns auf die Treppe und verfolgen von dort aus die Schlachtung des ersten Stiers. Erst danach gelingt es uns, unsere Plätze zu ergattern. 

Die nun folgende Corrida ist ein Witz: eine Demonstration der Feigheit von allen Seiten. Es ist das erste Mal, dass ich einen Stier vor der massiven Silhoutte des Picador und seines gepanzerten Pferdes zurückweichen sehe. Der Picador, der das Anrennen des Stiers am Rand des äußeren Kreidekreises der Arena zu erwarten pflegt, ruft ihn diesmal vergeblich. Der Stier dreht ab und trabt zur Bande, um sich wieder in seinen Stall zu retten, aber die Pforte ist geschlossen. Wie verwirrt läuft er hin und her: wo ist denn jetzt bloß dieser verflixte Durchgang geblieben? Schließlich gelingt es den Toreros, den Stier wieder in Richtung des Pferdes hinzulocken - mit diesen Menschlein nimmt er es vielleicht doch auf? Diese kleinen Störenfriede machen ihm keine Angst, die kann er jagen. Er folgt dem wedelnden Tuch, das ihm keine Angst, sondern nur Wut einflößt. Jetzt scheint er doch so etwas wie Kampflust zu spüren. Aber diese hinterlistigen Menschen haben ihn doch ausgerechnet wieder vor dieses monströs aufragende Pferd gebracht, das nichts Gutes verheißt. Der Stier schwenkt überfordert sein Haupt, er weiß nicht recht, wohin sich wenden: es sind einfach zuviele Reize um ihn herum, die Toreros mit ihren Muletas, das Pferd, er ist von Möglichkeiten umzingelt, zwischen denen er sich so wenig entscheiden kann wie Buridans Esel zwischen seinen Heuhaufen. Der Stier zaudert, diesmal aber nicht mehr aus Feigheit, sondern aus schierer Unschlüssigkeit. Da treibt der Picador im rechten Moment sein Pferd auf den Stier zu, und dieser stürzt, wie mit einem Schlag erlöst von der schwierigen Wahl, die ihm auferlegt worden ist, jetzt nach vorn und wühlt seine Hörner in die schwere Pferdeschabracke. Eben noch ein grüblerischer und von des Gedankens Blässe angekränkelter Hamlet, fährt nun mit einem Mal eine wütende Kraft in den Stierleib; der Entschluss zum Kampf ist gefällt; jetzt weiß er, was er zu tun hat und was seine Bestimmung ist. Wir erleben eine Art Initiation mit: das Erwachen eines verunsicherten Jünglings zur ganzen Kraft und Fülle seines eben noch in ihm schlummernden Wesens. Die Lanzenspitze, die in seinen Nacken dringt, lässt ihn jetzt nicht mehr scheuen, im Gegenteil: sie stachelt ihn an, seine Gaben zu entfalten. Von nun an ist er wütend, kraftvoll, ganz bei sich. Aufs Herrlichste lodert sein Zorn. Von nun an ist er so rachsüchtig und blutrünstig, dass nicht mehr er, sondern die Banderilleros sich zum Gespött machen. Sie haben solchen Respekt vor dem Tier, dass kaum eine ihrer Piken sitzt. Mehrfach kommt es vor, dass sie wieder abdrehen, bevor sie die Banderillas plazieren können. Wenn sie sie einstechen, dann so lasch, dass der Stier sie schnell wieder abgeschüttelt hat. 
Der Matador wird es nicht einfach haben: die Piken haben seinen Gegner nur aufgestachelt, ohne sein Blut zu lassen. Der Stier ist kaum geschwächt, als das letzte Drittel beginnt, und er hat in dem Engtanz der Veronikas eine besondere Art, unerwartet mit dem Horn schräg aufwärts zu stoßen. Es wird ein zähes Ringen zwischen Stier und Matador; als dieser einmal stolpert, bekommt er einen harten Huftritt in die Brust, die ihm mindestens eine Rippe gebrochen haben muss, aber an einen Abbruch des Duells und Weitergabe des Schwertes an einen Stellvertreter ist da schon nicht mehr zu denken: der Kampf ist längst zu persönlich geworden; die Miene des Matadors macht deutlich, dass es jetzt um ein Er-oder-Ich geht; er hat eine Rechnung zu begleichen.

Es ist ein Glück, dass die Estocade den Stier mit dem ersten Stich fällt; das Gemetzel, das ich befürchtet habe, bleibt aus. Es ist eine technisch saubere Liquidation - angesichts des hitzigen Kampfs zuvor war das nicht zu erwarten.

Bei den Kämpfen danach fehlt diese dramatische Verlaufskurve, da ist nur Handwerk, und zwar schlechtes. Feige Stiere treffen auf feige Toreros. Es ist, als müssten sie sich in Frankreich keine Mühe geben, weil man sich hier schon mit einem Simulakrum der Corrida begnügt. Da kann man sich ruhig schonen und die Gefahr vermeiden: die Nachricht von Schmach und Versagen in einer französischen Arena wird kaum die maßgeblichen Gazetten im Mutterland der Tauromachie erreichen. Hier kann man feige sein und ruiniert sich doch nicht den Ruf. 

Das Publikum ist längst nicht so streng wie das spanische; kennerhafte Mäkelei bleibt die Ausnahme. Man ist nicht anspruchsvoll, sondern bescheidet sich mit dem bunten Gepränge, den Gesten, kurz: der Folkore des Stierkampfs. Die Corrida bildet nicht die rituelle Mitte einer feria, sondern nur ein divertissement zwischen Siesta und Aperitiv. 

Mehr als ein Eindruck ist das nicht: ich habe natürlich zu wenig Kämpfe miterlebt, um etwas Fundiertes sagen zu können; ich kann nur vage atmosphärische Empfindungen zum Besten geben, Mutmaßungen und Gefühlsdestillationen, die nur den ganz und gar subjektiven Wert einer aufs Geratewohl vorgenommen Stichprobe haben, bei der ich noch nicht einmal sicher sein kann, ob der Messfühler die Veranstaltung selbst oder doch nur meine eigene Stimmung touchiert hat.

In der Stadt spielen immer noch die Bandas auf. Wir treffen wieder die Spanier, die immer noch voll federnder Energie stecken, obwohl Posaunist und Trompeter ihre Lippen mittlerweile mehr an der Roséflasche als an ihren Instrumenten haben. Als ihr Set vor der Theke des Festkomitées zu Ende ist, folgen wir ihnen in die Stadt. Von Zeit zu Zeit schmettert der Trompeter die klassische Corrida-Fanfare in die Dämmerung  - dieses Trompetensignal, bei dem man sofort die unrasierten Zapatisten aus den Spaghettiwestern vor sich sieht, mitsamt den über der Brust gekreuzten Patronengurten und den riesigen Sombreros, zerkaute Zigarillos zwischen den Zähnen -  und er erhält immer ein vielstimmiges Olé! zur Antwort. Das ist sehr spaßig und hebt zuverlässig die Stimmung; es ist allerdings auch ein Zeichen, dass hier in der Tat eher Folklore gespielt als in aller naiven Treuherzigkeit Tradtion gepflegt wird. Es ist ein popkulturelles Zitat, ein Versatzstückjux aus dem Geist der Postmoderne, getränkt mit Ironie und Vorbehalt, und ich will nicht leugnen, dass ich mich sofort sehr wohl darin fühle; das ist die Lebensluft, die mir vertraut ist: Histrionentum und Byzantinismus. Vor zwei Jahrhunderten schrieb Hegel über die christliche Kunst, dass wir vor ihr das Knie doch nicht mehr beugen. Wir mögen das Ergreifende darin spüren, aber wir leben nicht mehr darin. Wir beschauen es von außen, manchmal spöttisch, manchmal spielerisch, sicher auch fasziniert - aber heilig, wie der Mann beim paseo sagte, ist das nicht mehr.

Nichts hat meinen kindischen Köhlerglauben, bei der Corrida handle es sich um ein sakrales Opfergeschehen, mehr zerstört als die Trompetenfanfare, während die Straßenlaternen aufflammten und die eben am Himmel aufgehenden Sterne wieder erloschen und verblassten von der Übermacht der irdischen, städtischen Lichter. Mag sein, dass Mithras dort oben sein Messer in den Nacken des Himmelsstiers sticht; hier unten wird auch ohne Blick in die celeste Metzelei gefeiert. 

Und gefeiert wird. An der Place de la République sammelt sich das Jungvolk; die Bands und DJ's haben schon aufgebaut, aber die Jungen sind noch mit Essen und Trinken beschäftigt; nur die Erwachsenen tanzen den stilisierten französischen Rock'n'Roll, den man ihnen in der Tanzschule beigebracht hat, die Schwenk- und Schleuderfiguren, die mich nach der Corrida so sehr an die geschmeidige Akrobatik des Matadors in der Arena erinnern. Wir kommen mit einem Pärchen ins Gespräch, die an unsere Bank kommen und Atem schöpfen. Sie sind Anfang, Mitte vierzig, nette Leute. Wie lange das Fest noch ginge? Ihre Töchter würden kaum vor vier Uhr früh nach Hause kommen, aber sie selbst brächen bald auf. C'est une fête pour les jeunes. Im letzten Jahr seien sie länger geblieben, seither litte er, der Mann, an acouphènes, Brummen und Pfeifen im Ohr, offenbar Tinnitus. Hier würde man dur de l'oreille, harthörig. Es ist zu diesem Zeitpunkt allerdings schon schwierig, ihn zu verstehen: die Boxentürme haben aufgedreht. Wir brüllen uns noch ein paar Minuten an und kapitulieren dann. Vielleicht sieht man sich morgen vormittag bei den sardanes.

13. Juli. Céret - Campingplatz

Als Dagmar in Perpignan den Vermerk über die feria in Céret las, war für uns vor allem die sardana als danse catalan der Grund, hierherzukommen. In der Zeitungsmeldung schien's, als sei die sardana das Hauptspektakel des Ganzen, eine große, bunte Volkstanzvorführung. Wir erwarteten Dutzende von Tanzgruppen in prächtigen Kostümen und einen Tanzboden, auf den die Absätze harte Salven hintrommeln würden. Nichts davon hat sich erfüllt.

Wir nehmen bequem in der ersten Reihe des Cafés Platz, lassen uns Milchkaffee und Croissants bringen. Die ganze Stimmung ist sahnig und buttrig, von mild verschlafener Süße. Jeder bewegt sich wie eingetunkt in gelbes Milchfett; Kellner und Passanten sind in Mattigkeit konfiert, auch das Orchester probt keine Läufe, sondern nur träumerische Akkorde. Gestern ist es spät geworden.

Als die Vorführung beginnt, sind wir vollkommen berückt von der Sanftheit des Orchesters und der feingesponnenen Delikatesse seiner Rhythmik und Intonation. Der Flamenco Andalusiens ist ein struppiges Eselsfell; die sardana eine urbane Garderobe. Mit einem Schlag begreife ich, warum die Katalanen nicht mit Spanien in einen Topf geworden werden wollen. Ihre Musik verrät es: sie ist behutsam, feingliedrig, von städtischer Höflichkeit. Dagegen gehalten ist der Flamenco brutal und animalisch; seine Virtuosität ist die von flinken Messerhelden und Katzen mit scharfen Krallen; große Schnellkraft und die Brüskheit der musikalischen Gebärden lassen eine ganz andere, wildere Welt entstehen als sie die sachte Gemessenheit der Sardana evoziert. Der feinpolierte Klangkörper des Orchesters steht da wie die Palisanderanrichte in einem gutbürgerlichen Salon; vor allem der Kontrabass, Trompete, Posaune, Flügelhorn sorgen für diese behagliche Anmutung, während zwei doppelt besetzte Blasinstrumente zwar Klarinetten ähneln, aber mehr noch als diese den quäkenden, durchdringend kecken Ton von Schalmeien haben und die Fensterläden dieses bourgeoisen Wohnzimmer doch auf die ländliche Flur hinaus öffnen, wo Hirten mit ihren blökenden Ziegenherden über die kargen Weiden ziehen. Auch die kleine Flöte, die von einer Frau mit einer Hand gespielt wird, während sie mit einem Stock die an ihrem Arm gebundene Trommel schlägt, weist auf den ländlichen Ursprung dieser Musik. Doch es ist schon eine sehr gesittete, vermittelte Form: das Schäferspiel von Stadtbürgern und nicht die Lustbarkeit verlauster Hirten. Auch wenn die schalmeienartigen Klänge an keltische Musik erinnern - von der durchdringenden Wucht und Persistenz einer bretonischen Bagad unterscheiden sie sich durch höfliche Zurückhaltung und urbanen Takt ebenso wie vom Flamenco. 

Auch der Tanz könnte könnte in keinem größeren Gegensatz zum Flamenco stehen: dort herrscht tobende Expressivität, Füßestampfen, Wirbel und Aufruhr; bei der Sardana fasst man mit ausgebreiteten Armen die Nebenleute an den Händen und bewegt sich in einem sacht wiegenden Menschenreigen, während die Füße sehr kontrollierte und zierlich zeremoniöse Schrittfolgen ausführen: fester Bestandteil ist das zarte Auftippen der Zehenspitzen auf dem Boden. Wo der Flamencotänzer hart die Hacke aufknallt, tupft der sardaniste nur behutsam hin. Beim Flamenco fasziniert die Plötzlichkeit und Unberechenbarkeit der Tanzgesten; hier hingegen ist alles Berechenbarkeit. Die Schrittfolgen sind offenbar fest geregelt, wenn sich mir ihre Abfolge auch nicht ganz erschließt; einen der Tänzer höre ich vernehmlich die Takte ansagen; die Länge der Schritte und der Zeitpunkt der Sprünge bemisst sich nach ihrer Stelle im Taktgefüge. Diese (freilich recht lässig gehandhabte) Präzision des Tanzes verleiht ihm etwas Uhrwerkhaftes, bei dem es auf ein abgestimmtes Ineinandergreifen von Bewegungen und musikalischen Motiven ankommt. Hier dominiert nicht die Spontaneität von Ausdrucksgesten wie im Flamenco, sondern die Demonstration kooperativer Eintracht. Der Flamenco feiert den outcast in seiner Kraft; die Sardana den Bürger in seiner Arbeitsamkeit und Ordnungsliebe. Das mag ironisch klingen, ist aber ganz und gar nicht ironisch gemeint. Der Flamenco inszeniert das Heroentum des Einzelnen; da umweht die Glorie des Räuberhauptmanns den Virtuosen und bescheint auch seine Helfershelfer. Das hat einen starken ästhetischen Reiz, und die trivialeren Erzeugnisse von Film, Literatur und Comics hören auch nicht auf, der Aura des starken Einzelnen zu huldigen. Die Wahrheit der Moderne sieht freilich anders aus: nicht das Genie und nicht der Kraftprotz bestimmen die Geschicke der Welt, sondern der emsige Schwarm der Zuträger. Das Virtuosentum verliert an Gewicht gegenüber der schieren Masse an Daten und Taten, die zusammen ein Genie entfalten, das den Applomb des Helden weit übersteigt. Die Sardana ist Ausdruck genau dieser Kollektivität, in der nicht die triumphale Exponierung des Individuums, sondern seine harmonische Einpassung in eine Sozietät der Gleichen, Freien, Brüderlichen betrieben wird. 

Die Reigen erweitern sich ganz nach Belieben; kommt ein neuer Tänzer dazu, wird er umstandslos aufgenommen; es gibt auch keine Kleiderordnung; kaum jemand, der eigens die Volkstracht angelegt hat. Nur die katalonischen espardenyes sind häufiger vertreten - Espadrilles, die mit um die Knöchel geschnürten Leinenbändern sicherer am Fuß sitzen als die einfachen Bastschlappen - aber die sind hier ohnehin eher Alltagsschuh als folkloristisches Utensil, und es legt auch niemand Wert auf eine elitäre Reinhaltung der Tanzkreise. Wer seine Schritte sportlich und in präziser Muskelarbeit setzen will, bitteschön, aber neben trainierten Männern und jungen Frauen mit sehnigen Waden tanzen auch alte Damen, die den rechten Fuß nicht steil abgewinkelt ans linke Knie heben, sondern es bei einer lässigen Andeutung der Bewegung - eher Zeigen als Tun - belassen.

Das alles hat etwas so Sympathisches und Grundgemütliches, dass ich gar nicht anders kann als ein frühes demi zu nehmen.
Nach dem Mittagessen brechen wir auf. Wir haben dringend eine Dusche und nach all dem Feiern auch Ruhe nötig.


13. Juli. (Die Daten sind mir durcheinandergeraten; egal.) Camping bis Les-Cabanes-de-Fleury.

Zwischen Narbonne und Beziers liegt an der Mündung der Aude Les-cabanes-de-Fleury, ein kleines Fischerdorf, hinter dem sich Marschland, von einem Netz kleiner Kanäle durchzogen, erstreckt. Wir kennen die Gegend von früher her ein wenig. Freunde haben dort in einem Gutshof ihre Hochzeit gefeiert; der Mann kümmerte sich auf den Weiden um seine Manade aus Camargue-Stieren und Pferden, Madame sprach gern dem Muscat zu und bekochte die Gäste mit üppigen Aiolis aus Stockfisch und viel Gemüse, Meeresschnecken und Rindfleisch. Die Ehe, deren Beginn wir damals feierten, ist in die Brüche gegangen, das legt einen leichten Grauschleier über unsere Stimmung, als wir an der Domaine vorüberfahren. 

Wir stellen den Wagen ans Ufer der Aude. An Holzstegen sind Kähne und Segelboote vertäut, die sacht in der matten Strömung schaukeln. Die Taue knarren, ab und zu machen die gestrafften Drähte der Takelage schwirrende Geräusche; Wimpel flattern in den spärlichen Brisen, Wellen plätschern, und die befenderten Bootsbäuche tönen dumpf, wenn sie an die Stege bumpern. Von Zeit zu Zeit gleitet ein Schiff vorüber. Ich lese und merke erst, dass ich eindöse, als die Zeilen vor meinen Augen in Bewegung geraten, als ströme der Fluss durch das Schilf der Worte hindurch.

Abendessen im Lou Cabanière unter einem Schilfmattendach. Es gibt natürlich Fisch und Meeresfrüchte - Austern, Miesmuscheln und Palourdes, Schnecken, Crevetten. Als ich mit der Gabel eine rohe amande berühre, reckt sich plötzlich das Muschelfleisch aus der Schale wie eine Zungenspitze, ein sprachloses Aufbäumen und Flehen um Gnade. Doch die Meermandel ist ohnehin schon dem Tod geweiht, wie sollte ich mich da rühren lassen? Sie ist von zarter Festigkeit und leichter Süße; ich werde ihr Gedächtnis in Ehren halten. Der Wolfsbarsch vom Grill mit Fenchel ist impeccable, desgleichen die gegrillten Sardinen, der Rosé ist frisch und süffig, der Abend lau. Als wir wieder vor dem Bus sitzen, schillert der Himmel über den Ufern in rosigen Perlmuttstriemen, Bändern von Orange zu Kalk. Später ein feuchter Verlauf von Indigo und Violett. In der Ferne Feuerwerk.


14. Juli. Les Cabanes - Narbonne.

Quatorze Juillet. Der Morgen ist ruhig, bis auf die Rennradfahrer, die ihre Feiertagstouren absolvieren. Ich knüpfe die Hängematte zwischen zwei windschiefe Steineichen und lasse mich wiegen. Das Gewebe schmiegt sich dem Körper fein an und unterfängt ihn so passgenau, dass man zwar nicht gerade zu schweben meint, aber doch das Objekt, das einen trägt, nicht mehr als Ding von eigen- und widerständiger Härte und Struktur spürt. Auf den Liegen, die wir seit Jahren auf Reisen benutzen, muss sich immer der Körper dem Möbel akkomodieren; jetzt passt sich das Möbel als amniotisches Maschengespinst dem Körper an. Ich habe selten embryonaler gelegen. 

Mittags noch mal zu Lou Cabanière aus einem unbezwingbaren Gelüst auf einen einfachen Topf moules-frites heraus. Ob mir der Gedanke, in der Hängematte wie in einer fetalen Zottenhaut zu liegen, dieses Gelüst nach Muscheln eingegeben hat, die in ihren Schalen liegen wie kleine Plazentabewohner? 
Das feu d'artifice zum 14. Juli wollen wir in Narbonne sehen. Es lohnt sich immer, dafür in eine Stadt zu fahren; die Feuerwerke sind dort meist in sehr kunstvoller Dramaturgie arrangiert, mit der die Republik zeigt, dass sie sich vor den höfischen Festen des ancien régime nicht zu verstecken braucht. 

Der Stellplatz für die Wohnmobile liegt am Rand des Sportparks, in dem das Feuerwerk abgebrannt wird. Abends füllen sich die Rasenflächen langsam mit Zuschauern; man schleppt Picknickkörbe herbei und Kühltaschen, breitet Decken aus und stellt Klapphocker für die Oma auf. Die französische fête nationale trägt deutlich familiäre Züge. Kann man es wagen, sie mit der spanischen fiesta nacional zu vergleichen? Hier Picknick und Feuerwerk, dort das Hinschlachten von Stieren. In Spanien spritzt Blut auf den Arenasand und auf den Lichtanzug des Matadors. Hier spritzen stattdessen prunkvolle Lichtfiguren in den Himmel. Frankreichs Mithras metzelt nicht auf Erden, er vollführt seine veronicas und pasos zwischen den Sterne; aber hienieden wird fröhlich geschmaust.

Ich frage mich, ob man dies als einen Unterschied von Symbol von Allegorie betrachten könnte. Im Symbol ist die zeichenhafte Bedeutung im Ding unmittelbar gegenwärtig. Es ist die sinnlich anschauliche Vergegenständlichung einer Idee, so wie das Licht das sofort einleuchtende Symbol der Erkenntnis ist, das Lamm des Symbol des Friedens und der Löwe das Symbol herrscherlicher Gewalt. Licht bedeutet nicht nur im übertragenen Sinn Erkenntnis, es ermöglicht sie auch realiter; das Lamm ist nicht nur ein Zeichen des Friedens; es ist ein friedliches Wesen. Auch der Stierkampf ist ein Symbol: als Ringen des Menschen mit der tierischen Natur in sich und vor sich ist die Corrida die Realpräsenz und leibhafte Sichtbarkeit dieses ideellen Gegensatzes.
Die Allegorie hingegen, oft als kalt und gekünstelt geschmäht, löst dieses Ineins von Sein und Sinn, diesen Knoten eines naturhaften Zusammenhangs zugunsten arbiträrer und frei gestalteter Sinnkonstitution. Die Allegorie wird aus Begriffen erzeugt, die in Bilder übersetzt und zu synthetischen Aggregaten zusammengestückelt werden, und nicht von sich aus einleuchten, sondern nur über den Umweg begrifflicher Entzifferung. Eine blinde Frau, die in der einen Hand ein Schwert, in der anderen eine Waage hält, ist erst nach einigen semantischen Operationen als Personifikation der Gerechtigkeit erkennbar. Die Figur der Justitia ist ins Bild übersetztes Konzept der Gerechtigkeit, nicht ihre anschauliche Verkörperung. Sie ist aus Abstraktion und Bedeutungsübertragungen erstanden: eine Kopfgeburt. 

Sinn und äußere Gestalt, die im Symbol zwanglos und naturhaft zusammenzufallen scheinen, haben in der Allegorie keine natürliche und urwüchsige Verbindung, sondern nur eine vom Verstand gestiftete. Der allegorischen Figurine lauscht man nichts aus ihr selbst ab; um sie zu begreifen, muss man auf die Wissensbestände und Sinnkonventionen einer Gesellschaft zurückgreifen, nicht auf biologisch programmierte Ausdrucksgesten, die zwar geeignet sind, das Gefährliche an Löwen oder das Wehrlose an Lämmern zu erfassen, nicht aber komplexere und abstraktere Verhältnisse.
Solche Begriffsabgrenzungen mögen als müßige Spielerei von Literaturwissenschaftlern und Ästhetikern erscheinen; doch das hieße, das Gewicht einer Angelegenheit zu unterschätzen, die eminent politisch ist. Im römischen Imperium wurden Menschen hingerichtet, weil sie sich weigerten, vor dem Bild des Kaisers das Knie zu beugen. Gegen Berengar von Tours wurde ein Ketzerprozess geführt, weil er nicht glauben wollte, dass Jesus bei der Messe in Form einer Brotscheibe real gegenwärtig sei. Luther und Calvin begehrten gegen diese Idee der Realpräsenz in der Transsubstantation auf und waren bereit, auch dafür Kriege zu führen. Noch heute werden Leute ins Gefängnis geworfen, weil sie eine Fahne entehrt haben. In der Sphäre des Politischen gelten Symbole als harte Währung: die Verletzung von Zeichen sind Verletzung der Sache selbst.
Im Absolutismus führen diese Linien zusammen: Der Ausspruch Ludwigs des XIV "L'état, c'est moi" war keine persönliche Überheblichkeit, sondern folgerichtige Zusammenfassung einer Repräsentationstheorie, dergemäß König und Volk (Besonderes und Allgemeines) symbolisch - und das bedeutet: real - koinzidierten. Die Idee des Gottesgnadentums behauptete die Identität von politischer Macht und königlicher Blutlinie. Ein Einzelner, der die Idee des Ganzen verkörpert - das ist präzis die Definition des Symbols. Der König ist nicht die Repräsentation der Macht, er ist ihre Präsenz selbst, er ist nicht Stellvertretung, sondern Inkarnation.
Die Revolution hat diese dynastische und "natürliche" Identität der Royalität gestürzt und den als organisch behaupteten Zusammenhang für nichtig erklärt. Als man den einstigen Ludwig XVI. und nunmehrigen Bürger Louis Capet auf dem Schafott dekapitierte, trennte man die Idee des Staates von seiner Inkorporation in einem gottbegnadeten Menschenleib ab. Das Diktum des Sonnenkönigs, er sei der Staat, hatte mit dem in die Schüssel purzelnden Haupt Ludwigs die Gültigkeit verloren. Der königliche Körper war nur noch ein beliebiger Kadaver unter anderen, ein Element unter Elementen, ganz wie Descartes und Galilei es sich für die Untersuchung der materiellen Welt von allen Körpern erträumt hatten.

Hic incipit allegoria. Mit Kepler und Galilei, mit Descartes und Hobbes, beginnt die konstruktive Epoche des Denkens. Der metodo compositivo ergreift als sein Zepter den Rechenstab, und das Schwert wird ersetzt durch den Griffel, mit dem die Graphen der analytischen Geometrie gemalt werden. Die Bewegung der Körper im Raum, die der Stierkampf leibhaftig vorführt, der Pomp, in dem die Könige sich ihrem Volk zeigen, die Darbietung ihrer Macht und Herrlichkeit, diese ganze innige Verschmelzung von Körper und Bedeutungsfülle des vormodernen Symbolismus, wird nun abgelöst durch Reduktion und Konstruktion von Kräften und Funktionen. Die Moderne ist diese Abstraktion: die Übersetzung von Realität in eine Allegorie aus Gleichungen und Formeln. Die unmittelbare Anschaulichkeit des Geschehens verliert ihre aufschließende Kraft; die Gesetzmäßigkeiten des Wirklichen enthüllen sich durch den Transfer in das Medium der mathematischen Analysis, oder wie bei Hobbes in eine dialektische Kräftelehre der elementaren Individuen im Naturzustand. 

Ich will mich nicht zu der allzu kühnen Metapher versteigen, das Feuerwerk, das hier über Narbonne gemalt wird, sei ein cartesianisches Lehrstück an der schwarzen Himmelstafel. Doch hat die französische fête nationale ohne Zweifel die krude Leibhaftigkeit der spanischen fiesta nacional abgestreift. Das republikanische Fest zeigt nicht mehr den gekrönten Leviathan und nicht mehr die Einheit von res extensa und res cogitans, sondern ein Spiel aus Lichtvektoren, Raketenkurven und Spektralverläufen: eine abstrakte Kunst - abstrakt und zugleich eben immer wieder allegorisch, wenn das bloße Farbspektakel und die scheinbare Chaotik der Lichtschweife und durcheinanderwirbelnden Flitterspiralen sich unmerklich als eine wohlkomponierte Ordnung aus bleu-blanc-rouge enthüllt und die Trikolore der Republik als lebendiger Flimmer riesenhaft über unseren Häuptern erstrahlt. 

Ich schätze die Corrida nicht gering; aber als Feier nationaler Selbstvergegenwärtigung und republikanischer Selbstvergewisserung scheint mir das Feuerwerk ungleich zeitgemäßer. Und ich frage mich, ob die Spanier nicht gut dran getan hätten, einmal ein gekröntes Haupt abzuschlagen. Sie bräuchten dann nicht wieder und wieder einem brüllenden Vieh den Todesstoß zu versetzen und sinnlos auf einen Sündenbock einstechen. Denn der Stier scheint mir, ungeachtet aller anderen Deutungsmöglichkeiten, vor allem ein Instrument jenes gesellschaftlichen Mechanismus in dem präzisen Sinn zu sein, von dem oben bereits einmal die Rede war. In Zeiten der Krise (und wann wäre einmal keine?) und der gesellschaftlichen Entzweiung (und wann gäbe es die nicht?) sucht das Volk einen Sündenbock, auf den es alle Schuld an seinen Nöten, sei's die Pest, eine Missernte oder einfach Armut, häufen kann. Die Vertreibung oder das Opfer des Sündenbocks hilft den Nöten nicht ab - seine Funktion ist es jedoch, Einmütigkeit und Versöhnung des zerstrittenen Gemeinwesens zu ermöglichen. Man opfert einen Stellvertreter, um sich nicht gegenseitig zu zerfleischen.
Das Merkwürdige ist nun, dass die Corrida in ihrem heutigen Gepräge zur Zeit der Aufklärung entstanden ist. Bevor die Gründungsväter des modernen Stierkampfs, vor allem die Romero-Sippe, die rituelle Syntax des Kampfs ausbildeten, war die Corrida eine Angelegenheit des Adels, der bei den Schlächtereien auf den plazas mayors seine kriegerische Tüchtigkeit unter Beweis stellen konnte. Im Lauf des 18. Jahrhunderts aber, übernehmen Professionistas aus der Hefe des Volkes die Arena, und von Anfang an wohnt diesem Übergang eine gewisse Prätention inne, die Stelle der Aristokratie zu vertreten. Die Kostüme der Toreros sind deutlich von der höfischen Mode beeinflusst; der traje de luz spiegelt den Aufzug der Stutzer und Gecken, die mit Schnallenschuhen und bestrumpften Waden über die Kiespfade der Gärten und das Parkett der Ballsäle wandeln. Die Plebejer übertrumpfen angesichts des Stiers die adligen Kavaliere in Schwertgeschick und tänzerischer Eleganz. Es ist, als stünde jetzt der dritte Stand bereit, um die gesellschaftliche Vormacht des Adels zu brechen.
In Frankreich ist genau dies die Entwicklung. Als Costillares in der Arena debütiert, spricht Europa über Rousseaus jüngst publiziertem Contrat social. Diderots Jacques le fataliste erscheint postum 1796, im selben Jahr wie Pepe-Hillos Traktat von der Tauromachie. Drei Jahre zuvor ist die Klinge der Guillotine auf Ludwigs Nacken gefallen. Doch in Spanien, wo Pedro Romero, Costillares, Pepe-Hillo auf der Höhe ihres Ruhms stehen, richtet man nicht gekrönte, sondern nur wie besessen gehörnte Häupter hin. Hier wie dort eliminiert man die mythische Bestie; in Frankreich jedoch den König selbt, in Spanien bloß dessen Symbol.
 Die Hörner, welche die Vulgata dem Moses aufsetzte, sind vielleicht nicht einfach ein Übersetzungs- oder Übertragungsfehler, der aus dem coronatus einen cornutus gemacht hat; dass die Bizarrerie eines hörnertragenden Moses sich in der ikonographischen Tradition so lange halten konnte, liegt doch wohl auch an der nicht untriftigen Idee, dass das Haupt des Gesetzgebers mit todbringenden Waffen geschmückt ist. Der König trägt die Hörner des Leitbullen, das Geweih des Platzhirsches: in den Zacken der Krone haben sich die aufragenden Spitzen erhalten. Der Stier ist der Stellvertreter des Königs, sein Double und sein Dummy.
Es ist nicht überraschend, dass Franco den Stierkampf als Zeugnis des großartigen und einzigen Spaniens pries und ihn nach Kräften förderte: Diktatoren ist es lieber, wenn man nicht ihnen ans Leben will, sondern sich mit Tieren begnügt.

15. Juli. Narbonne - Barjac.

Zu Markt und Mittagstisch in Uzès, dann weiter nach Barjac. Von dort aus wollen wir morgen zur Grotte Chauvet - die erst ein Jahr zuvor eröffnete Replik einer Höhle mit Malerei aus dem Aurignacien - die eine gute halbe Stunde entfernt nahe des pont d'arc liegt. Im Touristenbüro von Barjac erfahren wir allerdings, dass die Grotte nur nach online-Voranmeldung und mit minutengenauer Terminfixierung zu betreten ist. Das macht Umstände, weil wir uns zwar online anmelden können, das Ticket aber ausgedruckt werden muss. Dass Touristen gemeinhein nicht mit einem Laserdrucker im Kofferraum verreisen, hat man bei diesem Verfahren offenbar nicht bedacht. Mit der Dame aus dem Syndicat d'initiative kommen wir überein, dass ich meine Bestätigungsmail an sie weiterleite, und sie mir dann das Ticket ausdruckt, wobei ich nicht bei ihr direkt online gehen kann, weil sie kein Wifi hat und mich aus rechtlichen Gründen auch nicht an ihren Computer lassen darf, weshalb ich die Buchung in einem Café mit Wifi vornehmen muss, und das alles (nebst einer langwierigen Suche nach meiner Mail in ihren bizarr organisierten Programmordnern) dauert länger als wir für die Fahrt zur Grotte selbst gebraucht hätten. Aber schließlich wollen wir ja auch eine Steinzeithöhle besuchen, da sollten einige Minuten mehr oder weniger keine Rolle spielen. Doch scheint es mir fast wie eine ironische Geste, dass man die Buchung zwar nur mit moderner Digitaltechnologie vornehmen kann, aber dann doch wieder ein so altertümlicher Textträger wie Papier als Besiegelung vonnöten ist. 

Nachdem alles erledigt ist, hole ich Dagmar aus dem Café ab, wo sich mittlerweile eine Gruppe von großmäuligen und vulgären Belgiern niedergelassen hat, die sich benehmen wie Landsknechte auf Fronturlaub. Die Kellnerin - offenbar die Tochter des Wirts, blühende 16 Lenze - nimmt nur die Bestellung auf und schickt dann ihren Vater, der die Biere servieren muss. Eine stehende französische Redewendung lautet Ils sont cons, les Belges. (Con meint Arschloch, Depp etc., aber auch Fotze.) Diese hier sind zudem auch noch bites - Schwänze. Einer krault sich beim Bestellen ungeniert die Eier, ein anderer feixt anzüglich: "Je veux bien lecher un con, ah, une cône... de glace." (Ich würde gern eine Möse lecken, äh, eine Waffel... Eis.) Die Burschen grölen, das Mädchen verzieht keine Miene; kommt aber eben auch nicht wieder. Ich verbuche diese unangenehme Truppe als Einstimmung auf die Frühstufe der Hominisation, die uns morgen erwartet. 

Bei einem Schlachter kaufen wir ein paar Bratwürste fürs Abendessen; zudem, ohne Übertreibung, die beste saucisse sèche, die ich je gegessen habe: die reine Idee einer Wurst mit grade so viel Gewürz und Räucherung, dass das Aroma von Fleisch und Fett sich breit entfalten kann, sonst nichts, aber das voll. Die Zutaten, die sonst oft zu dominant werden, dienen hier wirklich nur dazu, den Geschmack des Produkts selbst zu erwecken und ihm zu seinem wahren Selbst zu verhelfen, ganz wie eine Fee, die auch mit ihrem Zauberstab keine grundlegenden Verwandlungen bewirken kann und der es genügt, nur die dumpfen Schalen abzuschlagen, die den Helden daran hindern, seiner eigenen Kräfte gewahr zu werden. Wir probieren die Wurst erst, als wir schon weitergereist sind; sonst hätten wir unsere ohnehin schon überfrachteten Spezialitätenkisten auch noch mit zwei Pfund dieser saucisse ardèchois aufgestockt.

Der camping à la ferme, den wir vor fünfzehn oder mehr Jahren kennengelernt haben, ist unverändert: eine große, baumbestandene Wiese, ein Holzverschlag hinter dem Haus mit Duschen und Spülbecken, ein paar Katzen, die im Abendlicht Mäuse beschleichen, geduckt und langgestreckt über dem stachligen Gras. Und ein Hund. Ich sitze noch bei der Lektüre, als er sich vorsichtig heranwagt. Er hat mehr Angst als ich, das ist spürbar. Er ist nicht zutraulich aus einem Zärtlichkeitsbedürfnis heraus, sondern bloß aus Not und Hunger oder Halt-mal-schauen-ob-etwas-abfällt. Aber als ich aufstehe und einen Happen für ihn holen will, springt er davon: die Angst. 

Er kommt erst wieder, als wir mit Essen fast schon fertig sind. Scheu tastet er sich heran, jeder Meter eine Überwindung. Aber schließlich steht er vor uns, bettelt nicht und versucht nicht, sich durch Schwanzwedeln lieb Kind zu machen, hat jedoch ein Interesse. Ich schippe unsere Essenreste auf einen Teller zusammen und stelle sie ihm hin; sofort lässt er jede Zurückhaltung fahren und schlappt alles auf, so sorgfältig, dass wir den Teller als schon abgewaschen gleich wieder wegstellen können. 
Es ist die Wiederholung der Urszene von Domestizierung: wir verpflichten uns den Hund. Wir geben, er bleibt: nicht aus Dankbarkeit, sondern in Erwartung weiterer Gaben. Wir hätten ihn uns weiter gewogen machen können, wenn wir ihn aus der Hand gefüttert hätten. Er hätte die Hand als schenkende, kennengelernt, als Spenderin alles Guten; auch das ist wie eine Einstimmung auf unseren Besuch im Neolithikum.
Die Pfanne steht noch auf dem kleinen Gaskocher im Gras. Der Duft des scharfen Bratfetts von Chipolatas und Merguez zieht den Hund an; er zögert ein wenig, lugt aus den Augenwinkeln zu uns her wie ein kleiner Junge, der genau weiß, dass er nicht aus der Teigschüssel naschen darf und sich vergewissert, ob Mama auch nicht guckt, aber als wir keine Anstalten machen, ihn zu verjagen, feiert seine lange Zunge ein Fest in dem würzigen Fett. Doch als nur noch die angesetzten Bratkrusten in der Pfanne zu holen sind, muss er seine Zunge zu stark andrücken. Pfanne und Kocher stürzen mit Geschepper um und jagen den erschrockenen Hund davon. Schnaufend, mit gekränktem Blick, als hätten wir ihn mit Steinwürfen fortgescheucht, behält er uns aus sicherer Entfernung ein paar Minuten im Auge; schließlich trollt er sich. Erst am Morgen kommt er wieder, als wir noch bei offener Tür im Bett liegen. Er tappt am Fliegenvorhang herum, ohne den Eingang zu finden und verzieht sich wieder, beleidigt über die tückischen Vorrichtungen der Menschen.


16. Juli. Barjac - Saôu.

Die Replik der Chauvet-Grotte liegt auf dem  kargen, mit Steineichen und stachliger Garrigue bewachsenen Bergplateau über der Ardèche. Von Vallon Pont d'Arc sind es fünf Kilometer in die Berge, das nächste Dorf ostwärts ist noch einmal 8 Kilometer entfernt. Die Einöde ringsum verleiht dem Anwesen etwas Sakrales, auch wenn es sich von Anfang an um eine zwiespältige Erfahrung handelt, weil man sofort begreift, dass diese Anmutung von Sakralität ganz und gar gesucht und gewollt ist und mit großem Aufwand hergestellt wurde. Goethes Vers Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt kommt mir in den Sinn. Das Älteste wird im Modus raffiniertester zeitgenössischer Zurüstung präsentiert, das Archaische als hochmoderne Inszenierung; auf unklare Weise ist mir dabei unbehaglich. Es erscheint mir wie ein Verrat. Sollte das Ehrwürdige nicht ohne Effekte auskommen? Sollte es nicht stolz und schmucklos für sich selbst sprechen? 

Die Architekten der Halle, die das Höhlenfaksimile beherbergt, haben indes ein effektvolles Gebilde geschaffen: von einem Gesims aus kantigen und angewinkelten Betonplatten umkränzt, wirkt die Fassade wie eine Krone aus gebrochenen Schieferflächen. Ein massives Haupt, umgürtet von grau gemasertem Kristall, wie herausgeschlagen aus dem splitternden Gestein. Aus mancher Perspektive wirkt das Ganze schroff, wie ein gewaltiger Bohrkopf aus Zacken, Zähnen und Zinnen; der Weg zum Wartesaal verläuft in einer langen, von einer segmentierten Mauer eingefassten Kurve um die Halle herum; die Sonne wirft eine scharfkantige Zackenlinie wie einen Sägeblattschatten auf den Beton. Ich sehe überall die Signaturen von Werkzeugen: Zähne und Silex, Bohrer und Sägen, und plötzlich verstehe ich, dass es kaum einen triftigeren Weg zum Verständnis des Menschen gibt als den über seine Artefakte und seine Fähigkeit, sie zu schaffen. Wie könnte man den Menschen besser kennzeichnen als durch seinen Werkzeuggebrauch, und die Gabe, seine Umwelt aus eigener Kraft umzuformen? Und mit einem Schlag leuchtet mir das, was ich eben noch als Disneyland des Paläolithkums und als archaisierendes Machwerk geringschätzte, in seinem Tiefsinn ein. Der Mensch ist grade darum Mensch, weil er imstande ist, ein solches Disneyland zu schaffen - und, weil er imstande ist, überhaupt das Heilige zu schaffen. Es war närrisch und übereilt, dieser ganzen Anlage das Absichtsvolle und Gemachte vorzuwerfen; in Wahrheit ist es geradezu der Triumph menschlicher Gestaltungsmacht, diesem kargen Bergplateau ein Gebilde von faszinierender Monumentalität aufzupflanzen, das aus einer Einöde einen Ort mit dem Anhauch des Sakralen macht. Dachte ich zuerst, die Einöde verliehe der Anlage ihre sakrale Aura, so begreife ich jetzt, dass es sich genau umgekehrt verhält. Nicht die Wüste heiligt den Altar, sondern der Altar die Wüste. 

Pünktlich um 10 Uhr 12 werden wir in einer Gruppe von einem guten Dutzend Besuchern in die Halle geführt. Die Visiten sind eng getaktet. Alle vier Minuten bricht eine neue Gruppe auf, was bedeutet, dass man für jede Station vier Minuten Zeit hat. Sind diese vorüber, wird die Beleuchtung automatisch abgeregelt, während die nachfolgende Gruppe näherkommt und man selbst zur nächsten Station aufbricht.

Die Bilder, deren Repliken hier zu sehen sind, zählen zu den ältesten der Menschheitsgeschichte (die Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux sind zehntausend Jahre jünger), doch viele davon sind bereits von einer meisterlichen Lebendigkeit und Sicherheit des Strichs sowie von einer stupenden Fähigkeit, Wahrgenommenes suggestiv ins Bild zu übersetzen; ein voranstürmendes Nashorn etwa wird nicht auf den statischen Umriss seiner Gestalt reduziert, sondern wie im Comic durch eine wellenförmige Iteration der Linien dargestellt; eine stampfende Eroberung des Raums und eine gleichsam chronofotografische, einer Mehrfachbelichtung vergleichbare, Überlagerung der Momente. Ein rennendes Rhinozeros ist nicht eine kompakte und auf ihr Körpervolumen zu einem gegebenen Zeitpunkt beschränkte res extensa, sondern ein gefährliches Vieh, das sich über nichts anderes als die Reichweite seiner Bedrohlichkeit definiert: von Belang ist nicht der stillgestellte Umriss im Ruhezustand, sondern der vibrierende Radius seiner dynamischen Möglichkeiten, und genau diesen Überschuss von Kraft über die bloß ruhende Gestalt setzen diese Malereien treffend ins Bild. Sie leben nicht von der Schau, sie schauen aus der Lebendigkeit. Es ist zu früh für die städtische theoria des Aristoteles oder den logos des Heraklit, der aus der Dynamik des Weltgeschehens die beständige Stillstellung einer Gesetzlichkeit destilliert. Hier herrscht noch die Unmittelbarkeit des Reflexes, nicht die Reflexion. Dem entspricht die nahezu vollständige Abwesenheit des menschlichen Körpers in den Bildern. Hunderte von Tieren, vor allem der großen, imponierenden sind zu sehen: Bären (die in den Wintermonaten die Höhlen als ihr Reich besetzt hielten), Mammuts, Löwen, auch Pferde und Bisons sind in dichten, wimmelnden Herden abgebildet, Wollnashörner und Hirsche: vom Schöpfer der Bilder selbst gibt es kein Porträt, und wenn, dann als Mischwesen: eine männliche Figur mit Bisonkopf, eine weibliche Scham, die in einen Raubkatzenkörper übergeht - doch das ist nur der Mensch in seinem animalischen Teil, nicht als schaffendes Subjekt. Aber auch, wenn der Mensch sich hier nicht selbst zum Gegenstand geworden ist, so hat er doch Spuren seiner Gegenwart und seines Tuns hinterlassen, die über die Abbildung der Tierwelt hinausgehen: die zahlreichen Handnegative sind Signatur seiner Anwesenheit, mehr noch aber als diese Spur seiner Hände bezeugen die zahlreichen stilisierten Muster von der Wirkweise des menschlichen Geistes: Punktierungen, Schraffuren, Kreuze bekunden einen Willen zu Regularität und Ordnung, der eine der humanen Eigentümlichkeiten ist. 

Die Führerin weist darauf hin, dass nur die wenigsten der abgebildeten Tiere Jagdbeute des Aurignacien waren; es handelt sich vorwiegend um Tiere, die dem Menschen gefährlich werden konnten oder ihm Angst einflößten. Nicht Jagdzauber oder der Versuch magischer Bemächtigung stehen am Anfang der paläolithischen Kunst, sondern die Bändigung von Angst. Wenn es sich überhaupt um eine magische Praktik handeln sollte, dann nicht um die Beschwörung von Jagdglück oder eine Einflussnahme auf irgendwelche Götter, sondern allenfalls um Abwehrzauber; mehr noch aber als darum scheint es mir um ein Durcharbeiten des Schreckens zu gehen und um die Wiederbegegnung mit der Furcht im Modus der Repräsentation. 

Nach der Höhlenbesichtigung wandern wir in die Galerie hinüber, wo man den Tieren, die man an den Höhlenwänden so oft gesehen hat, in Lebensgröße begegnen kann: da ist das Wollnashorn mit seinen zwei gebogenen  Hörnern - eins auf der Nase, ein kleineres an der Stirn - und dem mächtig aufgewölbten Nackenbuckel. Das zottige Mammut, mit seiner Größe von 3 Metern kleiner als gedacht, verfügt über spiralförmig nach oben gedrehte Stoßzähne, die an den Spitzen aufeinander zuweisen; sie werden sich kaum zum Aufspießen von Feinden geeignet haben, sondern allenfalls zum Aufwühlen von Erde gedient haben oder dazu, einen Weg durch Dickicht und Gehölz zu bahnen. Da steht der Riesenhirsch, der bei einer Schulterhöhe von gut zwei Metern und einem längeren Hals als dem des Mammuts dieses noch überragt. Sein Schaufelgeweih, das in einen Saum von groben Hornspitzen ausläuft, dürfte an die vier Meter Breite erreichen. Der Steppenbison mit seinem imposanten Schulterbuckel und einem Pelz, der so dicht ist, dass man seine Hand hineinstecken möchte. 

Die Kinder, die hier zuhauf durch die Ausstellung wimmeln, interessieren sich nur oberflächlich für die Tiere. Die zahlreichen touchscreens ziehen sie viel stärker in den Bann. Sie tippen überall hin und freuen sich, wenn ein animierter frame aufspringt, den man drehen, verschieben, vergrößern kann. Aber es ist nur ein Spiel: kaum ein Kind liest die Texte oder betrachtet sorgfältig die Bilder; der ganze didaktische Aufwand ist von lachhafter Vergeblichkeit; die Kinder ergötzen sich nicht an der bunt aufbereiteten Information, sondern nur an der technischen Oberfläche. Das könnte man natürlich kulturpessimistisch als Verarmung des Wirklichkeitsbezugs beklagen - aber was heißt schon Wirklichkeitsbezug? Was ist an lebensgroßen Präparaten schon wirklich? Wirklicher ist allemal die Welt der Bildschirme: da finden die Kinder eine interaktive, reagierende, steuer- und beherrschbare Welt statt der zurechtgemachten künstlichen Tiere, die nicht in Bewegung zu setzen sind und bloß mit starren Glasaugen über die Besucher hinwegglotzen. Wirklichkeit ist für Kinder Wirken, Machen, Tun; sie wollen nichts vorgesetzt bekommen, sondern zugreifen: Aktion, nicht Kontemplation. Recht so, les enfants!

Wir fahren wieder nach Vallon Pont d'Arc zurück, wo heute Markttag ist, aber wir kommen zu spät für ein poulet rôti, und auch das porcelet ist schon alle. Adieu, Picknick mit Blick über die Ardèche-Schlucht! Wir bleiben in der Stadt, essen am Platz auch nicht schlecht und sehen den Kindern zu, die unter dem Geschepper des Orchestrions auf Schwänen und Einhörnern reiten. Die Pferde sind gezähmt, die Löwen und die Hirschen, die Elefanten und die Stiere: auf dem Karussell muss niemand mehr vor ihnen Angst haben.

Über die Panoramastraße oberhalb der gewaltigen Ardèche-Schlucht geht es nach Osten der Rhône zu, bei Pierrelatte über den Fluss nach Grignan, nordwärts nach Saoû. Es gibt da eine langgezogene Kurve, hinter der sich plötzlich die ganze Lieblichkeit dieses Weltwinkels entfaltet, als zöge man einen Theatervorhang auf. Vom Massiv des Rochecolombe hinterfangen, liegt Saoû in einer Mulde der provençalischen Alpenausläufer, und diese von Felsen eingehegte und beschützte Lage rührt mich immer wieder. Es ist ein prächtiges Etui, das sich da auftut; Saoû selbst ruht allerdings als ein etwas schlampiges und auf den ersten Blick wenig reizvolles Dorf darin. Unserer Liebe tut dies keinen Abbruch, vielleicht sogar im Gegenteil. Saoû wird nie zu den plus beaux villages de la France gehören, es ist keine Prinzessin und auch kein Aschenputtel, das sich eines Tages noch einmal wundersam in eine solche verwandelt. Das Dorf ist nicht hässlich, aber auch nicht schön; apart trifft es wohl am besten. 

Apart sind auch, seit wir den Oiseau sur sa branche, das Restaurant am Dorfplatz, kennen, die Kellnerinnen. Sie hübsch zu nennen, wäre Ironie oder eine Herabwürdigung, denn sie sind allemal mehr als das, nämlich eigentümlich, abweichend, besonders, und selbst, wenn eine einmal physiognomisch ganz dem gängigen Ideal entspricht, versteht sie es, durch eine bisweilen ins Schrullige reichende Zurechtmachung der Falle der Normalität zu entgehen. Der Chef beweist seit langem ein Händchen fürs Anheuern solcher Geschöpfe, und auf unerklärliche Weise wird diese Neigung für das eher Aparte als Gefällige von der Mehrheit der Bewohner geteilt, wobei hie und da das Faible für Apartes gern mit einer Lizenz für das schlicht Häßliche und ästhetisch Ruchlose verwechselt wird, wovon zum Beispiel der winzige Supermarkt am Platz reichlich Gebrauch macht. Aber auch solche Entgleisungen des Geschmacks bilden ein Ferment, das dafür sorgt, dass wir uns hier wohlfühlen und nie das Gefühl haben, in einen überpflegten Märchentraum aus Seifenschalen und lavendelimprägnierten Postkarten verhext worden zu sein, wie es einem in der Provençe oft genug widerfährt. 

Wir begrüßen Maurice, der wie meist versonnen durch die sonnengefleckten Steineichenschatten seines Campingplatzes schreitet. Seit drei Jahren baut er an einem zweiten Sanitärhäuschen; Fundament und Abwasserleitungen sind nun fertig, auch mit den Wänden hat er mittlerweile begonnen: kniehoch zeichnen sie den Grundriss des Künftigen auf die Betonplatte, und sehen dabei doch eher so aus, als würde hier ein antiker Tempel ausgegraben. Wenn er in diesem Tempo weitermache, könne er zugleich mit den Olympischen Spielen 2024 Eröffnung feiern. Maurice verzieht schmerzlich das Gesicht. Neben der Sorge um seine Tochter Violette - ein schwieriges Schulkind, jetzt ein schwieriges Fräulein von geringem Lerneifer an einer Modeschule in Grenoble - sind ihm seine eigenen mäßigen Arbeitsfortschritte ein steter Stachel im Fleische, den er indes lieber stoisch erträgt als sich den Banken oder hektischer Betriebsamkeit auszuliefern.

Heute trübt noch ein weiteres Unbehagen seine Stimmung, denn am Wochenende findet die alljährliche fête du Picodon im Dorf statt. Der erwartete Trubel malt schon jetzt ein unruhiges Seismogramm in Maurices Züge. Wir hingegen freuen uns: so oft wir in Saoû Station gemacht haben - zur fête, deren Plakate immer sehr charmant ausfallen, waren wir noch nie hier, und der Picodon, der dabei gefeiert wird, ist ein Ziegenkäse, der es wert ist, dass man ihm huldigt. Morgen dann; heute müssen wir Kraft für das Wochenende schöpfen. Die féria von Céret steckt uns immer noch in den Knochen. 
Wir gehen nur auf ein Glas Clairette zum Oiseau hinunter, wo schon zum Abendessen eingedeckt wird. Aber noch herrscht an einer Hälfte der Terrasse Barbetrieb, und ich weiß wieder, warum ich diesen Ort so schätze. Da sind die Essensgäste, die früh dran sind und schon einen Aperitiv nehmen, schickgemachte, bäuerliche Familien aus der Umgebung, die hier einen Geburtstag feiern (denn man isst ausgezeichnet im Oiseau), da sind ersichtlich gutsituierte Leute von städtischem Flair, deren Garderobe, ferienhaft und lässig, dennoch Eleganz ausstrahlt (die noch besser situierten Rotary-Mitglieder kommen später); da sind Pärchen mit durchgeschwitzten Hemden, die ihre Wanderschuhe ausgezogen haben und nach einem Halben lechzen, junge Freaks mit dreads und piercings, die am Brunnen, wo schon die Wasserkaraffen fürs Abendessen gefüllt werden, ihren Durst stillen und sich auf der Terrasse mit einem Kaffee begnügen; da sind alte Herren mit Schiebermützen, die ihre Anisette schlürfen, und Kinder, die mit den Händen im Brunnenbecken plantschen, während ihre Eltern bei einem Pfirsichkir verschnaufen. Und die Bedienung, die wahrscheinlich Sozioethnologie oder Hungaristik in Nanterre studiert, geht mit allen gleichermaßen nonchalant um, ohne dass auch nur ein Hauch von Servilität oder Herablassung in ihrem Gebaren spürbar wäre. Es ist ein Ort, der viel liberté zulässt, der die égalité gottlob auf die Gleichheit vor dem Gesetz beschränkt, dass jeder gleich gut bedient wird, und wo man die fraternité nicht als Verbrüderung, sondern als wohlwollendes Gewährenlassen von Unterschieden auffasst. All die Gäste verbindet das Behagen am mêlé der Platanenschatten, am Rieseln der Brunnenrohre und am einsickernden Abendlicht. 

In den großen Städten geht man zumeist in die Kneipen, in denen man Seinesgleichen trifft; hier begegnet man, weil es nur eine Kneipe gibt, allen. Das schafft eine Atmosphäre der Toleranz - jedenfalls wird das, was an den Anderen missfallen mag, von einer Höflichkeit in Zaum gehalten, die vielleicht nur ein anderes Wort für Toleranz ist. Die Bauern, bei denen wir seit vielen Jahren unsere Jahresvorrat an Knoblauch kaufen, mögen die jungen marginaux nicht, die zur fête Saôu heimsuchen: sie kiffen und saufen zuviel, auf den Wiesen, wo sie in ihren rostigen Lieferwagen übernachten und ihre Zelte aufstellen, hinterlassen sie zuviel Müll, und auch das hie und da vorkommende Geschnorre ist ihnen, die hart arbeiten, zuwider, ja, den ganzen anti-bourgeoisen Lebensstil empfinden sie als Affront (was er ja in der Tat ist: eine offene Zurückweisung ihrer eigenen Lebensart); aber dennoch behandeln sie die jungen Leute mit einer gelassenen Höflichkeit, die in meiner eigenen Kifferzeit mir und meinen Freunden nicht immer entgegengebracht geworden ist, wenn wir Ausflüge in die dunkleren Provinzen Bayerns unternahmen und mit Argwohn und bisweilen offener Feindseligkeit behandelt wurden. 

Aber unsere Knoblauchbauern sind mit ihren Vorbehalten ohnehin in der Minderheit; es leben zu viele Aussteiger in der Gegend, die selbst einem linksalternativen Milieu entstammen und die kapitalistische Disziplinargesellschaft für menschenfeindlichen Terror halten. Das sorgt bisweilen für witzige Hybridbildungen: so lässt sich hier eine gewisse bohèmehafte Extravaganz durchaus mit Honoratiorentum verbinden. Der Wirt des Oiseau etwa, ein korpulenter Mann, der manchmal die Bequemlichkeit eines Rocks der Hose vorzieht und einen langen, weißen Zopf trägt, den er nicht im Nacken, sondern oben auf dem Schädel zu einem fisseligen Docht zusammenfasst, ist ganz ohne Zweifel einer der maßgeblichen Männer im Dorf, was sich schon darin zeigt, dass er am Sonntag feierlich in die hochehrenwerte Bruderschaft des Picodon aufgenommen wird. Das etwas Paradiesvogelhafte seiner Erscheinung würde bei einem Anderen zwischen all den Bauern und Ziegenkäseproduzenten wohl deplaziert wirken. Bei ihm, der in Statur und Tüchtigkeit den geborenen Bürgermeister darstellt, überstrahlt diese naturgegebene Jovialität sogar seine modischen Schrullen. 

Aber ich greife voraus. Noch ist Freitag, und wir verbringen den fledermausdurchschwirrten Abend oberhalb des Dorfes und heben ab und zu unseren Blick aus dem Buch, um den schönen kegelförmigen Solitärfelsen zu betrachten, der über das Dorf zu wachen scheint wie ein ferner Bruder des Bergs Tabor.

17. Juni. Saôu.

Als ich beim Bäcker neben dem Oiseau das Frühstücksbaguette hole, treffe ich Mme Martine. Ihren Friseursalon hat sie schon verkauft, ist mittlerweile in Rente und hilft bei der Arbeit auf dem Hof mit. Früher hat sie Dauerwellen gemacht, jetzt flicht sie Knoblauchzöpfe. Wir verabreden uns für später. Keiner von uns beiden hat zu dieser frühen Stunde Lust auf Konversation (denn wir mögen uns nicht, tun aber höflicherweise so, als ob), und wir verabschieden uns so herzlich, weil wir froh sind, voneinander erlöst zu sein. Fast beginnen wir, uns sympathisch zu finden, nur weil unsere Antipathie auf Gegenseitigkeit beruht. Wie sollte das nicht ein Grund für herzliche Gesten sein? 

Fest heißt immer auch Markt, der Aufwand will schließlich finanziert werden. Nach dem Frühstück gehen wir bummeln und beschauen Lederzeug und Töpferwaren; lebensgroße Holzenten, deren Bauch aus stoppeligem Wurzelgestrüpp besteht, das an verwuscheltes Gefieder erinnert, und geschnitzte Hähne, denen mit verhältnismäßig wenig Mühe eine ausdrucksstarke Silhouette verliehen ist: vorne eine Abfolge von Sternzacken aus krähendem Schnabel und Hahnenkamm, hinten der Strauß von Sichelfedern: das ist schnell gesägt, geraspelt und gekerbt, und macht doch viel her. Solche Dinge tun ältere Herren, die nach der Verrentung Beschäftigung suchen und in der Werkstatt ihre Ruhe haben wollen; auch mein Vater hat solche Hähne hergestellt. Sie haben das Glück seiner späten Jahre herausgekräht. Als ich den alten Herrn hinter seiner Auslage sehe, zufrieden einen Weißwein schlürfend, muss ich mich zusammennehmen, um nicht loszuheulen. Fünf Monate ist mein Vater jetzt tot, und es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke. 

Die Bauern der Umgebung verkaufen ihr Gemüse, ihren Käse, ihre Feigenkonfitüren und ihre Würste. In einem Winkel verkostet die Jury hochkonzentriert die Picodons, die Bewertungsbögen vor sich. Kinder spielen in der Vèbre und schaukeln an Tauen, die man in die Bäume geknüpft hat. Für die altertümlichen Spiele, die anderswo aufgebaut sind - Tischkegel, ein Schwenklabyrinth, in dem man eine Kugel an Löchern vorbeimanövrieren muss, Wurfringe, eine Art Billard mit hölzernen Pucks - interessieren sich allenfalls die Eltern, die an den pädagogischen Wert solcher Dinge glauben, während ihre Sprößlinge an Fangen und Balgen viel mehr Gefallen finden. Die etwas älteren Kinder schälen mit überraschender Verve Kartoffeln und schneiden sie zu Frittenstäbchen; der Ernst, mit dem sie eine Portion davon im Tauchsieb zum Kessel tragen und in dem aufwallenden Öl versenken, ist ergreifend. Ich glaube nicht, dass ich als Ministrant Brot und Wein je mit vergleichbarer Andacht von der Kredenz zum Altar geschafft habe. Ich hatte auch nur mit Symbolen und leichtgewichtigen Zeichen zu hantieren, mit einer Puppenstubenkaraffe und Pappoblaten, während diese Essdiener es mit echter Nahrung zu tun haben: mit Dingen, nicht mit Worten. Das Mädchen, das unsere Tüte mit Fritten füllt, stibitzt noch eine davon weg und grinst uns breit an, als sie uns die Tüte reicht. Ich sage ihr, dass eine fehlt, und sie antwortet, nein, im Gegenteil, es seien immer noch zwei zuviel darin, und schon hat sie zwei herausgepickt und sich in den Mund gestopft; kecke Dreizehn, und das lebendige Beispiel für den Ausdruck sich etwas herausnehmen. Zwischen ihren Schneidezähnen klafft ein aparter Spalt; in Deutschland heißt derlei Affenlücke, in Frankreich dents de chance, Glückszähne. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich sie, wenn ich einmal groß bin, heiraten werde. Aber erstens bin ich schon verheiratet, und zweitens werde ich nicht groß. Versprochen!

Der Nachmittag verschwingt in der Hängematte. In Ermangelung von Peter Pan lese ich weiter in d'Arrigos Horcynus Orca, doch das Buch geleitet mich auch heute wieder in seltsame Träume, die von einem milden Todesbehagen gesättigt sind. Alle Träume führen in eine Art des Jenseits, aber dieses Buch scheint von vornherein dort zu spielen; und auch die Träume, die das Buch inzitiert, haben die Tür, die zurückführen könnte, so gut hinter Tapeten verborgen, dass man den Weg in die Wirklichkeit nicht wiederfindet. Ich wandere durch einen maroden Palast, dessen Friese und Flure wie Wachs unter meinen Schritten davonschmelzen; die Korridore schließen sich um mich, als wollten sie mich verdauen; sie schwitzen goldene Harzfäden aus, klebrige Gespinste, die aus diesen verwunschenen Seiten niedertropfen. Sogar als ich schon wieder eine Stunde wach bin, fühle ich mich noch von diesem Kokon aus Salz und Talg eingehüllt. 

Spätnachmittags wieder ins Dorf. Vor der Mairie das Konzert eines kleinen Orchesters von Frauen, die in langen Röcken und Kopftüchern eine Art von balkanischer Klezmer-Musik spielen. Wir sind sehr wohlwollend und fest entschlossen, das reizend zu finden; aber unser ganzes Wohlwollen reicht nicht hin, dieses fade Fiedeln und Flöten lange auszuhalten. Die braven Frauen mühen sich redlich und sie haben diese galizischen Weisen sicher lange einstudiert; aber niemand hat ihnen gesagt, dass man, um aus dieser Musik etwas Mitreißendes zu machen, auf keinen Fall eins sein darf: eine brave Frau. Diese Lieder müssen mit Selbstgebranntem übergossen und angezündet werden; auch Wut könnte helfen, Begierde, Raserei. Aber diese Damen haben statt einer Flasche Fusel allenfalls ein Schöppchen Kamillentee geleert; die Musik flammt nicht auf; sie ist spröd wie ein Trockenblumenstrauß von einem Wohltätigkeitsbazar und so frömmelig hingeleiert wie ein Friedensgebet. Es gibt sicher irgendwelche Formen der Musik - Polkas, Walzer, Mazurkas im Adagio, die Nettigkeiten von Yann Tiersen oder des Penguin Cafe Orchestra, in denen sie Anrührendes zustande bringen könnten; aber sie haben sich ein Genre ausgesucht, das ihnen so wenig steht und so unpassend ist wie eine Oleanderblüte im Haar einem Sparkassenangestellten. 

Nach einer schmalen Anstandsfrist flüchten wir; es wird eh Zeit für den Aperitiv. 
Auf der Terrasse des Oiseau wieder eine gemischte Gästeschaft. Auch mein Vater sitzt dort, etwas anders gekleidet als gewohnt, das Haar länger denn je; er ist unrasiert und das Hemd hängt ihm aus der Hose; ihm gegenüber im roten Kleid eine Frau, die vielleicht seine neue ist, vielleicht auch seine Tochter, oder seine Geliebte. Ich grüße ihn kurz mit den Augen, er grüßt zurück, dann kümmern wir uns nicht mehr umeinander; er scheint zufrieden mit seiner aktuellen Inkarnation; es gibt keinen Grund, ihn zu behelligen. Zudem sind wir ganz mit Essen und Trinken beschäftigt. Dagmar bekommt als ersten Gang eine mit Papier ausgeschlagene Gemüsekiste aus Holzlatten hingestellt; ein paar Pasten (grün, rot, gelb) sind in breiten Schmierern aufs Papier gewischt.  Drumrum rohes Gemüse - Mesclun-Salate von bitter über sauer zu scharf, dünne gelbe Tomatenscheiben mit Samengallert fast bis zum Rand, eine grüne Sorte mit dicken Kammerwänden, der rote Schnitz einer coeur de beuf. Dann Radicchio-Blätter, gehobeltes Rotkraut, blanchierte und glasierte Zuckerschoten, ein in Currysud geschwenktes Blumenkohlröschen, Wassermelonenspitzen. Das wirkt auf den ersten Blick sehr einfach, da die Bestandteile fast unbehandelt sind, aber man merkt schnell, dass hier versucht wird, jedes Gemüse gleichsam freizustellen und in seiner Besonderheit zu präsentieren, während der Esser zugleich (anders als bei den üblichen Salattellern, wo man kaum anders kann als hineinzuforken wie mit der Mistgabel in einen durcheinandergerührten und durch eine allgegenwärtige Vinaigrette homogenisierten Haufen) die Elemente in eigener Kombinatorik zusammenführen und durch die pesti ziehen darf, wie es ihm gefällt. 

Mein Teller lebt, weniger komplex, auch von der Idee des Kontrastes - und seiner Überwindung: auf einem Bett von Rucola liegen leicht gegrillte Scheiben von Artischockenböden, über denen schwarze Trüffel verhobelt sind, im Zentrum des Tellers wie eine verschleierte Sonne ein pochiertes Ei, das, einmal angestochen, seine samtige Mildheit über alles verströmt und die je sehr unterschiedlichen Einzelaromen in einer Art von familiärer Emulsion zu einer harmonischen Ganzheit bindet. Es folgen die Hauptgänge; einmal Taube in einem dunklen Rotweinschmorsud, einmal ein Lammragout mit weißen Bohnen, das unter einer Haube von Brotteig gegart wurde, beides in seiner ganzen Anmutung wie die Essenz eines bäuerlichen Herdes, der im Dämmer des Küchenwinkels steht und durch die Ritzen der Ofenluke ein pulsierendes Glimmen dringen lässt. Am Geschmack dieser Großmütterküche gibt es nichts auszusetzen; er ist von einer tiefen, dunklen Fülle und Süffigkeit, die an kühlen Herbsttagen, wenn draußen die Nebel aufsteigen und die ersten Wintergespenster durch die Nacht spuken, die Menschen mit Wärme und Kraft zu stärken hat. Aber genau das erscheint uns dann doch etwas unpassend: es ist Mitte Juli, und an diesem lauen Sommerabend ein solches Lamm aufzutischen, ist wie das Unterfangen, sich mit einer dicken Schafsfelljacke gegen die Hitze zu schützen; und auch der Nachtisch ist trotz seiner Cassis-Sorbet-Nocken und der Minzblättchen zu schokoladig, als dass ich mich noch leichten Leibes von der Tafel erheben könnte. Jeder Schritt fühlt sich an, als müsse ich durch klebrigen Kakaofondant waten. 

Das abendliche Konzert hat schon begonnen; leichtfüßiger Salsa ist zu vernehmen. Aber unsere eigenen Füße sind schwer und müde; wir schleppen uns den Anstieg zum Campingplatz hinauf und mühen uns bis weit nach Mitternacht schwitzend und schnaubend mit Verdauung ab.

18. Juli. Saôu.

Sonntag. Heute werden die Preise für den besten Picodon verliehen. Wir sind rechtzeitig an der Mairie, wo die Mitglieder der Bruderschaft in ihren schweren Prunkroben versammelt sind. In diesen weißen, goldgesäumten Prälatengewändern, schwere Amtsketten um den Hals, kommen sie aus dem Konklave, nehmen Aufstellung hinter der Standarte der Confrèrerie du Picodon und beginnen die Prozession durch das Dorf.

Ich habe in diesem Reisebericht oft vom Heiligen und von den Abwandlungen und profanen Wiedergängereien des Sakralen in der Corrida gesprochen; doch hier, fast am Ende der Reise angelangt, erlebe ich wohl die schönste und liebenswerteste Travestie religiöser Ergriffenheit, die ich mir überhaupt denken kann: sie gilt nicht einem Blutopfer, nicht dem hingeschlachteten Weltenherrscher, und nicht dem kosmischen Ringkampf zwischen Mithras und dem Sternenstier, sondern schlicht einem bescheidenen Ziegenkäse - was könnte es Wunderbareres geben? 

Der aufgebotene Pomp ist jedoch alles andere als bescheiden. Die Gewänder stehen den Kaseln eines katholischen Würdenträgers nicht nach; über den Schultern liegen bischöfliche mozettas. Die Tracht der Bruderschaft und der Dorfumgang wetteifert unverkennbar mit dem Ritus der katholischen Fronleichnamsprozession, wie wir sie in Sevilla miterlebt haben. Auch hier in Saoû werden dröhnend laut die Trommeln geschlagen; aber nicht von ernst dreinblickenden und gewichtig Schritt um Schritt setzenden Männern, sondern von einer Truppe von Clowntambouren, die es verdient hätten, sofort in Alices Wunderland aufgenommen zu werden; sie tragen rote Pluderhosenuniformen mit grünen Nahtstreifen und großen weißen Brustlätzen, die mit grünen Quertressen und riesigen goldenen Knöpfen geschmückt sind; dazu Bastarde von Hüten, die einer unzüchtigen Verbindung der militärischen Schirmmütze mit einem Kastorhut entsprungen scheinen. Weißgeschminkt, mit grünen Lippen (und derart mit den Insignien der Verwesung gezeichnet) travestieren sie die weltliche Macht, während die Priesterschaft des Picodon untergründig dasselbe mit der geistlichen Macht tut. Die trommelnden Wiedergänger der Toten sind jedoch quicklebendig: sie springen, quasseln, exerzieren zackiger als je ein normaler Soldat; ihre Trommelwirbel und Choreografien sind flink, präzis, von äußerster Akkuratesse. Aber zugleich gibt es auch immer einen oder zwei oder drei oder gleich alle zusammen, die aus der Ordnung ausscheren und ungehörige Faxen treiben. Der Tambourmajor hat es nicht immer leicht, diese wimmelnde Bagage im Zaum zu halten; an allen Ecken und Enden flackert ein anarchisches Schelmentum hervor, ein möglicher Ausbruch aus dem Drill. Und bald hat man verstanden, dass die Truppe sich zumeist dem Drill überhaupt nur darum so rigide unterwirft, um ihm zu Zeiten auch entgehen zu können. Denn ohne Drill wären es doch nur schluffige Kasperle, und Anarchisten bloß aus Faulheit und Unvermögen. Erst das Ordnungsgerüst, in das sie eingespannt sind, erzeugt das Vergnügen, dagegen zu verstoßen, und umgekehrt erzeugen die Faxen in ihrer Beliebigkeit und Ziellosigkeit das Bedürfnis nach einer Ordnung, damit die Faxen etwas haben, vor dem sie sich als widerspenstig profilieren können... Doch das sind müßige Hegelianismen. Wichtiger ist die donnernde Wucht, die diese sieben, acht Leute mit ihren Trommeln entfalten; die ist ganz physisch, kraftvoll, überwältigend, die Frucht langer Stunden auf dem Paukboden und einer Menge Training. 

Die Prozession führt durch das Dorf zum Festplatz und wieder zurück zur Mairie, wo schließlich die Preisverleihung für die besten Ziegenkäse stattfindet. Die Sache ist etwas langwierig: jeder Reifegrad - frais, demi-sec, sec - wird eigens prämiert, und in jeder Kategorie werden Bronze-, Silber- und Goldmedaillen verteilt, dazu noch die Sonderwertung durch eine Kinderjury, die Aufnahme des Oiseau-Wirtes in die Bruderschaft etc. pp. Das alles zieht sich durchaus, und das noch ein wenig mehr, weil die Tambours bei jeder namentlichen Nennung des Picodon in einen Trommelwirbel ausbrechen - doch nicht etwa nachträglich wie beim Karneval, wo der Tusch eine soeben gesetzte Büttenredenpointe feiert, sondern nach Möglichkeit noch während der Redner die Lippen zum Wortauftakt aufeinanderlegt. Die Tambours passen auf wie die Haftelmacher; die Köpfe vorgestreckt und die Augen weit aufgerissen, spitzen sie auf jedes Wort. Kaum ist das Pic heraus, donnern die Trommeln das odon kaputt, und die Tambours feixen wie kleine, hämische Kobolde, dass es ihnen wieder gelungen ist, das fatale Wort zu übertönen. 

Später am Tag spreche ich (nach den gebührenden Komplimenten) den Major darauf an, als wir Arm an Arm für ein Bier anstehen. Vom jüdischen Purimfest hat er noch nie gehört, und doch ist der Brauch fast derselbe. An Purim wird in der Synagoge aus dem Buch Ester gelesen, das von einem der vielen Versuche, das Volk Israel zu vernichten, erzählt. Und jedesmal, wenn in dieser Geschichte der Name des judenfeindlichem Großwesir Haman ausgesprochen wird, schütteln die Kinder Klappern und Rasseln, drehen die Ratschen oder blasen in Tröten, um diesen verfemten Namen auszulöschen. Aber was um Himmels willen ist am Picodon so verdammenswert, dass man seinen Namen nicht anhören will? 

Der Major grinst. Er hat dicke Schweißperlen auf der Stirn und auf den Wangen; er stinkt wie ein Iltis und hat gleich zwei Becher Bier geordert. Den ersten stürzt er auf Ex hinunter, den zweiten süffelt er etwas langsamer, während er meinen Auslassungen zuhört. Schließlich schaut er mich mit etwas stieren Augen an und gibt eine Antwort, die tiefsinniger ist als er meint: "Nous n'écrasons pas le nom du Picodon, nous lui rendons honneur." (Wir löschen den Namen des Picodon nicht aus, wir erweisen ihm Ehre.) Aber merkwürdig sei das schon, gibt er zu. Doch um ehrlich zu sein: er habe keine Ahnung, was sie da täten und warum. Er wisse nur, dass sie das schon immer so gemacht hätten. "C'est tout, à mon avis." (Das ist alles, meiner Meinung nach.) Und schon ist er weg, irgendwo die Beine hochlegen und Atem schöpfen, während ich weiter darüber rätsele, warum die selbe rituelle Geste des Überlärmens eines Wortes einmal als Rühmen und einmal als Auslöschung gelten kann. Schmähen und Preisen, Erhöhung und Verteufelung; die Gegensätze fallen in der selben Grammatik zusammen. (Beim Purimfest muss man Wein trinken, viel Wein, und dann noch mehr Wein. Man muss soviel Wein trinken, dass man nicht mehr unterscheiden kann zwischen Verflucht sei Haman und Gelobt sei Mordechai.) 

Beim Karneval sind die Hörner der Narrenkappe vielleicht nur auf den Kopf gestülpte Hosen, eine Umkehrung von Unten und Oben, wie Bachtin meinte, aber dennoch stellen sie eine Krone dar. Der Narr wird zum König gekürt, und am Ende des närrischen Regimes geht sein effigies in Flammen auf: der Erhebung folgt der Sturz.

Die antiken Opferbräuche folgen mehr oder weniger dem selben Muster: das Opfertier wird geschmückt, dem Altar zugeführt und dort geschlachtet. Der Opferung geht immer die Erhöhung des Opfertiers voran; auch bei der Corrida stürmt der Stier schon geschmückt aus dem Stall: obwohl er seine Hörnerkrone immer auf dem Haupt trägt, hat man ihm als besondere Auszeichnung noch eine Kokarde in den Nacken gepflanzt, die aus dem Tier einen Kombattanten macht und ihn nicht nur zur Ebenbürtigkeit erhebt, sondern für wenige Momente zum eigentlichen König der Arena weiht.  Aber in Wahrheit ist der gekrönte Stier nur der Narr, der den Flammen bestimmt ist. Sein Blut wird fließen; sein Kadaver wird durch den Sand geschleift werden; er ist Fürst des Festes und sein Opfer. 

Offenbar brauchen Menschen diese Spannung. Majestät ist nur erträglich, wenn sie sich in Entweihung löst. Der hohe Ton bedarf der Travestie; der Schrecken des Todes muss als Klamauk wiederkehren und die Tragödie kann nur durch die Farce aufgefangen werden. Das Globe, in dem Shakespeare seine ersten Triumphe feierte, lag in der Bankside Londons, wo man auch Bären hetzte und Bullen. Die brutale Lust an vernichtender Gewalt, der man dort frönte, tränkt auch noch die Tragödien Shakespeares mit Blut. Jago führt die Muleta gegen Othello, und das Pfund Fleisch, das Shylock fordert, wiegt ungefähr dem Ohr und dem Schwanz gleich, die der Matador dem toten Stier abschneidet. Das Theater (von manch heutigem idiotischen Pamphletismus abgesehen) war lange nah am Opfer und am Passionsspiel, und darum hat es auch Shakespeare selten versäumt, dem Helden einen ridikülen Schatten beizugesellen; bevorzugt Pförtner, Boten, Vermittler, Faxenmacher: die Apostel der Lächerlichkeit. Sie gehören zum Ritus und machen ihn genießbar wie das Satyrspiel, das bei den Griechen der Tragödie folgte. 

Ich ahne etwas, beginne zu begreifen: es gibt eine Kontinuität zwischen dem urtümlichen Opfer und dem Karneval, dem Theater und dem Concours de Picodon, und ich will nicht leugnen, dass mir bei aller Faszination für die Corrida letztlich Volksfeste lieber sind, bei denen das sakrale Objekt nicht ein geschundener Stier, sondern ein gut gereifter Ziegenkäse ist. Der Picodon - ist er nicht die wahre Oblate?

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Ich glaube an den Käse, den chèvre, den prächtigen, den Beglücker von Zunge und Gaumen, und an das Euter der Ziege, die schäumende Milch aus den Zitzen, gemolken durch die kundige Hand, gegossen in reinliche Kessel, gestockt unter Zutat des Labes, gerinnend gerührt und gebrochen, herausgeschöpft aus dem Weiß des Kessels, bald abgetropft in löchrigen Formen, ausgebracht auf die Borde; sie liegen in Reihen in Kammern, belüfteten Zonen. Von dort wird er kommen, erfreuend die Gaumen der Menschen. Ich glaube an den reifenden Käse, das Gute von Schimmel und Flor, Gemeinschaft des Laibs mit dem Leib, Verwandlung der Stoffe, Genießen der Gaben und das endliche Leben. 

Amen.