Im Bulli verreisen
Nicht von Swift

Wie wir im Jahr 2014 im Elsass gepinkelt und uns im Burgund vor Vercingetorix verneigt haben. Wie wir im Poitou Kahn gefahren und bei La Rochelle vom Sturm geschüttelt worden sind. Seife und Salz auf der Île de Ré, Cognac in Cognac. Wie wir Höhlen und Horden im Périgord, und Sonderlinge im Languedoc gesehen haben. Wie Sète sich verändert hat. Wie man in der Camargue die Stiere durchs Dorf treibt, wie Jean-Henri Fabre in der Provence Käfer gesammelt hat, und warum Ray Venturas Tout va très bien, Madame la Marquise Frankreichs Nationalhymne werden sollte.


Es ist immer das Gleiche. Wir fallen jedes Mal wieder drauf herein. Sobald wir die Grenze überquert haben, drosseln wir aus lauter Freude, in Frankreich angekommen zu sein, sofort unser Reisetempo und fahren uns fest. Diesmal also im Elsass. Das Land empfängt uns mit ausgedehnten Weingärten, deren schnurgerade und grün berankte Spalierreihen Ebenen und Hänge schraffieren. Immerhin: weiter nördlich, in Lothringen, wächst an solchen Gerüstordnungen, die sich im Vorüberfahren zu schrägen Fluchten auffächern, gar nichts, da sind sie nur die Kreuze von Soldatenfriedhöfen. Verdun, Sedan, Ardennen und Somme: alles zugestickt mit dem Kreuzstich der Gräber. 

Hier hingegen ist überall Wein. Selbst da, wo er nicht wächst, ist er allgegenwärtig: als gemalter kriecht er die Hauswände hinauf, geschnitzt und ausgesägt klimmt er über Fensterläden und Fachwerkbalken, und selbst die Balkone mit ihrem eisernen Schmiedewerk krümmen sich weinstockförmig und treiben metallenes Weinlaub und Beerentrauben aus. Die Dörfer sind alle geschmückt für den Festzug der Bacchanten, aber die Meute ist müde. Soviel Weinkufen, und niemand, der mit seinen Bockshufen darin tanzte. Überall wird der Gott mit dem Thyrsosstab und dem weinbekränzten Haupt beschworen, aber durch die Gassen schieben sich dann doch bloß Herrschaften mit Gehstock und Krücken. Das Achtele zum Essen hat ihnen der Apotheker als bekömmlich empfohlen. So nippt man gesittet und hütet sich, der Gicht wegen, vor aller Ausschweifung.

Es wird hier viel Gewürztraminer gebaut. Die Hecken um Dornröschens Schloss müssen so geduftet haben wie der Wein im Glas; die Essenz aus Rosenblüten, die daraus aufsteigt, hat etwas Betäubendes. Schwenkt man den Wein im Kelch, laufen die Schlieren in zäher Viskosität an der Bauchung herab wie helles Harz oder wie geschmolzener klarer Bernstein. Dornröschen hat sich nicht an einer Spindel gestochen, als die Zeit plötzlich stillestand. Sie ist in einen Bottich mit Gewürztraminer gefallen, der sie über hundert Jahre hinweg konserviert hat. Betäubt von der süßen Blumigkeit des Bouquets, hat sie sich darin so gut erhalten wie nur je ein Insekt, das in flüssigem Harz seinen letzten Flügelschlag tat.

Diese Lasur aus Siegelharz scheint über nicht wenigen der elsässischen Dörfer ausgegossen; jedenfalls wollen sie den Anschein erwecken, als hätte sich seit dem Krieg (und zwar dem von 1870/71) nicht viel geändert. Das stimmt natürlich nicht. Nichts ist hier stehengeblieben und nichts hält still. Dornröschen zappelt wie ein kleines Tier, das sich in den Spinnfäden der Vergangenheit verfangen hat, das man summen und wispern, brummen und knistern hört, während die klebrigen Schnüre es umschlingen. In Riquewihr ist Mordsbetrieb. Soeben hat ein neuer Touristenbus eine Ladung von Greisen ausgewürgt. Das Picken ihrer Stöcke auf dem Pflaster, das Klappern der Pillendöschen und Kleingeldschatullen summiert sich zu einem so hastigen Ticktack, als hätte man die Hemmung aus dem Werk genommen und die Schlagzahl der Sekunden verdoppelt. Dornröschens Hofstaat surrt über den Platz wie überdrehtes Aufziehspielzeug. Der Eindruck täuscht freilich; jeder Einzelne bewegt sich so langsam und gemessen, wie es das Alter von ihm verlangt. In der Summe ergibt sich aber ein Gewimmel, welches das Örtchen, das doch überall Gemütlichkeit und gut abgehangenes Behagen verströmen will, mit Unrast erfüllt. Vom Schloßplatz kommend, sehen wir auf die Rue du Géneral de Gaulle hinunter und schließen uns dem Treck an, der dort hinunterzieht. Auf den ersten Blick, von oben und aus der Fürsten- und Feldherrnperspektive des Schlosses, war das nichts als ein Geschiebe wie von Leuten, die sich einer sicheren Obhut entgegenschleppten. Unwillkürlich meine ich Leiterwagen in dem Menschenstrom zu sehen, darin aufgebeugt die gerettete Habe von Vertriebenen und Flüchtlingen, zusammengerollte Matratzen über dem Familiensilber und einem Pappkarton mit Fotografien; dazwischen Marketenderkarren mit Gerüsten, an denen Schleckereien und Trophäen für eine abgekämpfte Soldateska baumeln, die in den Tross zurückgefallen ist.

In Wahrheit sind die Gerüste nur die Stellagen für die regionalen Spezialitäten und Souvenirs. Vor den Läden aufgereiht: Konfitüren und Riesling, Kraut und geräucherte  Blutwürste. Dazwischen immer wieder Büschel von Plüschstörchen, die das Totemtier des Elsass beschwören, schwarz und weiß und einen grellroten Schnabel, und wie sie da so hängen, in schwarz-weißen Feirefiz-Trauben, erinnern sie dann doch an massenhafte Erhängungen und dutzendweis Stranguliertes.

Die meistverbreitete Marke hier heißt Oncle Hansi. Dieser Onkel ist inzwischen der Patron des guten alten echten Elsass und seiner deftigen Genüsse. Der ursprüngliche Oncle Hansi war Karikaturist und Zeichner, der zur Zeit des Deutschen Reichslands Elsass-Lothringen Postkarten malte, deren nostalgischen Beschwörungen des putzigen elsässischen Dorflebens ein glühender Deutschenhass die Glanzlichter aufgesteckt hat. Oncle Hansi scheint heute der Patron des Landes, und unter seinem Namen werden von Zwetschgenmarmelade bis zu Stopfleber und Topflappen alle touristengängigen Waren vermarktet. Oncle Hansi ist der Illustrator der guten alten Zeit geworden und sein Name verströmt eine behagliche Idyllenseligkeit, obwohl doch aus allen Winkeln seiner Bilder der Hass hervorlodert. Er wird durchaus seine Gründe gehabt haben; ich zweifle nicht, dass sich die Deutschen redlich bemühten, den Hass der Elsässer zu verdienen. Interessant ist darum weniger Hansis Feindseligkeit gegen die Besatzer, sondern dass für den heutigen Betrachter von Hansis Werk die Zeit die Spitzen und Boshaftigkeiten ähnlich getilgt hat wie hierzulande etwa aus dem Spitzwegschen Oeuvre. Dessen Sonderlinge und Soziopathen, die kaktusliebenden Philister und spitznasigen Jungfern, malen das Porträt einer unseligen und lächerlichen Gesellschaft; meine Tanten jedoch hängten sich Spitzwegs Kunstdrucke übers Sofa, um jenen gemütlichen Schimmer in ihre Stube zu zaubern, den auch die Bilder von Oncle Hansi ausstrahlen, warm und heimelig und von allen veloziferischen Teufeln der Moderne unbehelligt.

Wir flüchten schon bald wieder aus Riquewihr; der Ort ist so überlaufen, dass es nicht auszuhalten ist. Das Mittagessen müssen wir woanders einnehmen, ich habe vergessen, wo. Auch dieses Dorf war berankt wie das Schloss Dornröschens, aber die wahre Herausforderung für den zeitgenössischen Ritter, der sich den Zugang erkämpfen muss, sind nicht die Dornenhecken, sondern der Parkplatzmangel. Die Politesse schweift durchs Dorf wie eine schwarze Fee; ihr Zauberstab, mit dem sie kostenpflichtige Verwünschungen ausfertigt, tippt eifrig auf das Display ihres Touchscreens. Früher habe ich die Gepflogenheit der Märchenwelt belächelt, die den Helden nötigte, erst einen goldenen Zweig oder ein Teufelshaar abzuzupfen, bevor er sein Abenteuer erfolgreich zu Ende bringen konnte. Mittlerweile habe ich die triviale Wahrheit hinter der vermeintlich magischen Konvention verstanden; dass Aeneas einen Widder opfern musste, um im Hades unbehelligt zu bleiben, unterscheidet sich kaum von der Pflicht, ein Parkticket zu ziehen, mit dem der Schatten der umherstreifenden Politesse zu besänftigen ist.

Wir schreiten durch einen hohen Toreingang in einen belaubten Innnenhof, in dem ein Restaurant seine Tische aufgeschlagen hat. Dagmar nimmt Baeckeoffe, das sehr schmackhaft ist - allerdings auch nicht so besonders, dass man es zur regionalen Spezialität adeln müsste, ganz als wäre im weiten Erdenrund kein anderes Volk je auf die Idee gekommen, Fleisch, Kartoffeln und Lauch zusammen in einem Topf zu schmoren. 

Doch bin ich glücklich, dass Kalbskopf auf der Karte steht, und noch glücklicher bin ich, als der Teller ankommt und das Gericht darauf nicht in der dekompostierten Form eines fischstäbchenhaften Barrens erscheint, wie er in Deutschland - wenn überhaupt - serviert wird, sondern gleichsam als er selbst. In Deutschland pflegt man das Material zur Unkenntlichkeit zu entstellen und das Kopffleisch zu einer klandestinen Masse zu vermengen, die dann von einer keuschen Panadeburka umhüllt wird. Hier hingegen kommt der Kalbskopf unverschleiert: vom Schädel geschabte Schwartensegmente, Schwabbel, Knorpel, Fett. Das junge Tier muss das Doppelkinn eines frühvollendeten Kalbshonoratioren gehabt haben. Das Fleisch in diesen üppigen Fett- und Schwartenschichten ist rosa vom Pökeln und oft noch ein wenig mit feinen Mimiksehnen verzurrt. Anders als beim reinen Muskelfleisch von Filet oder Braten hat man hier noch die Empfindung einer gewissen Kompliziertheit und Vielfalt. Die Konsistenz geht durch das ganze Spektrum von schmierig über glitschig zu fasrig, von weichknorpelig bis zu schnalzenden Sehnenabschnitten. Mit manchem Stück könnte man auf dem Tisch dribbeltitschen wie mit einem weichen Gummiflummi. Im Mund erfordert diese Elastizität eine gewisse Adapationsleistung; man ist gewohnt, mit solchen Konsistenzen nur Ekelerregendes zu verbinden, wenn es sich nicht grade um Calamares handelt, für die offenbar andere Regeln und andere Kontexte gelten. Sobald man aber weiß, dass es Säugetierfleisch ist, das man zwischen den Zähnen hat, wird den meisten Essern eben jene Textur widrig, die bei Calamares noch lustvoll goutiert wird. Wie verstrickt wir doch in unsere Vorurteile und Erwartungen, in Irrationalitäten und Idiotien sind!

Mit einem Auge versuche ich, nach dem Kellner Ausschau zu halten; mit dem anderen mustere ich die Zeichnungen Oncle Hansis, die die Speisekarte zieren. Der Riesling en pichet, ein knochentrockenes Gesöff ohne jede Fruchtigkeit, geht zur Neige. Zu der süffigen Vinaigrette aus gewiegten Zwiebeln, Gewürzgürkchen und gehacktem Ei verrichtet der Wein hervorragende Begleiterdienste. Wie die Kapern, die keck in die Vinaigrette gestreuselt sind, verleiht er der Schmierigkeit der Kalbsbacken mineralischen Stand und rundet das Essen ab. Es ist wie bei Oncle Hansi, dessen Genrebildchen ohne die Säure seines Deutschenhasses auch nur süßlicher Kitsch wären.

Der Kellner lässt auf sich warten. Er ist ein Schlaks mit Gaunerbärtchen und Gauner-bracelet am Handgelenk; zudem ein Nuschler. Statt j'arrive tout de suite sagt er bestenfalls rive suite, doch mehr noch als an Silben spart er an der Einlösung seiner Versprechungen. Eigentlich streicht er immer nur vorbei, um anzukündigen, dass er gleich da ist, aber dann kommen ihm seine Kolleginnen zuvor und liefern Karte, Gedeck, Essen, während er noch an irgendeinem Tisch steht und dreinschaut wie einer dieser miesen Typen, die Kommisar Maigret immer ganz besonders auf die Nerven gegangen sind.

Jetzt, im Rückblick, erinnert mich sein ganzer Habitus an irgendetwas zwischen Matrosen und Hafenkneipenrausschmeißer; aber diese maritime Assoziation verdankt sich wohl vor allem den famosen Toiletten, mit denen sich das Restaurant geschmückt hat. 

Zum Pinkeln steigt  man über ein Fallreep mit einem Handlauf aus dickem Tau hinunter in eine Art von Nautilus, 20 000 Meilen unter Harn- und Meeresspiegel. Rauschen, Gurgeln, Plätschern rieselt vom Band. An den Wänden sind Netze gespannt, in denen sich Seesterne, Muscheln, große Krabben und allerlei Fischeinlage verfangen haben. Die Pissoirs sind aus Kupferblechen zusammengelötet: große Trichter und Leitungsrohre, wie ein Kulissenbauer sie für eine Jules-Verne-Szenerie verwenden würde; dumm nur, dass mich nach Bereitstellung des zuständigen Körperteils eine Weile die Vorstellung heimsucht, dass ich nun einem Taucher in die Atemleitung pieseln muss. Das beschert mir einige fade Momente der Harnverhaltung, doch dann mischt sich das abstrudelnde Wasser harmonisch mit der plätschernden Klanguntermalung. 

Der Toilettengestalter hat sich sogar für die Waschbecken etwas einfallen lassen. Man muss ein Pedal treten, dessen Gestänge eine kleine Schleuse in dem Aquarium öffnet, das über den Becken als Reservoir aufgebaut ist. Ein langsam ausfahrender Wasserbogen ergießt sich in einer eleganten Kurve über die Hände, dann füllt sich der gläserne Kasten wieder.

Ich bewundere ernsthaft die vollkommene Kontextlosigkeit und hirnrissige Surrealität dieses submarinen Klos in einer Region, die vermutlich weiter ab von jeder Meereswoge liegt als irgendein anderes französisches Departement. Andererseits hat auch Shakespeare Böhmen ans Mittelmeer verlegt, und dem Wintermärchen hat's nicht geschadet. Trotzdem frage ich mich, was die Besitzer bewogen hat, hier ein Refugium zu errichten, das an die Abkehr Kapitän Nemos von der Menschheit erinnert. Nemo hat in der Tiefe des Ozeans einen Bezirk ewiger Ruhe, fernab vom rastlosen Treiben der Menschen, gesucht. Hier ist daraus kein Tiefseeschweigen geworden, sondern bloß ein stilles Örtchen.

Abends halten wir an einem Picknickplatz unweit des Col de la Schlucht. Im Tal kriecht langsam eine graue Riesenschlange aus Dunst über den Fluss, gefräßig voranschleichend wie eine hungrige Made, die Baumwipfel und Hausdächer abweidet.

Wir knabbern Ziegenkäse und trinken alten Riesling dazu (Sauvignon blanc, wenn möglich von der Loire, bleibt aber das Getränk der Wahl dazu, tut mir leid, Alsaciens!) und gehen früh zu Bett: verreisen heißt für mich schon immer, dass ich erstmal vier Stunden früher müde bin als sonst.

Südwärts Richtung Burgund. Am späten Vormittag werden wir von einem Wegweiser überrascht, der Notre Dame de Ronchamp nur ein paar Kilometer entfernt anzeigt. Gestern hatten wir noch von Le Corbusiers Kirche gesprochen, aber sie schien uns zu weit ab vom Schuss. Über Nacht muss sich die Welt irgendwie anders gefaltet und geknüllt haben; jetzt sind es nur ein paar Kilometer.

Vor fünfzehn, zwanzig Jahren waren wir schon einmal dort. Damals lag die Kirche einfach still auf einem verregneten Hügel. Mittlerweile hat man das Gelände mit einem Empfangszentrum und allerlei Gebäuden erweitert. Renzo Piano hat ein paar Betonmäuerchen davor postiert, die den Zugang garnieren. Der Name des großen Architekten veredelt die schlichten Mauern, die mir aber grade in ihrer ausgestellten Einfachheit prätentiös vorkommen. So, wie manche Romane kitschig sind, weil sie mit ganz karger Feder in der dürren Sprache der Nüchternheit geschrieben sind, so erscheinen mir auch diese Mäuerchen kitschig. Die Schlichtheit kippt ins deklamatorische Pathos des Schnörkellosen. Aber vielleicht ist dieser Eindruck nur einem Trupp von Besuchern geschuldet, die in weihevoller Ergriffenheit über vollkommen banale Zinkstreben und Glastüren streichen und dazu Renzo Piano und Jean Nouvel flüstern, als genügten diese kostbaren Silben allein schon, einen mäßig inspirierten Zweckbau zu einem architektonische Kleinod zu erheben. 

Von diesem Adorantentum bereits angewidert, bin ich wild entschlossen, kein gutes Haar an Le Corbusiers Kirche zu lassen. Mein Missmut wird noch durch den Audioguide verstärkt, den uns das Kassenfräulein aufgeschwatzt hat. Kaum ein Museum kommt noch ohne diese lästigen Geräte aus, die oft genug nur dazu führen, dass niemand mehr die Bilder betrachtet, sondern nur noch nach den Details darin fahndet, von denen die Stimme im Kopfhörer gerade spricht. Diesmal ist allerdings nicht die Blicklenkung das Störende, sondern die Fülle an ganz und gar uninteressanten Details zur Geschichte des Baus. Zwar wüsste ich gern einiges dazu, doch bitteschön nicht gleich alles. 

Aber der Audioguide zwingt einem sein Tempo auf; einen Text kann man beim Lesen je nach Interesse stauchen, kürzen, diagonal überfliegen oder sich genießerisch hineinvertiefen. Die auditive Information hingegen ist enervierend unelastisch; sie gewährt einem nicht die Freiheit flexibler Akkomodation, bei der das lesende Auge seine eigene Geschwindigkeit wählt. Man ist dem salbungsvollen Sermon des Audioguide ebenso ausgeliefert wie seiner nutzlosen Nüchternheit, ohne dass man mit ein paar fixen Saccaden über einige Zeilen hinwegspringen könnte - und dabei selbst bei solchen Sprüngen noch erfasst, ob man dabei etwas von möglichem Interesse versäumt. Nach ein paar Versuchen stopfe ich das dumme Ding in die Tasche und betrachte Le Corbusiers Kirche lieber ohne Belehrungen.

Das Bauwerk hat sich gegen den ästhetischen Verschleiß, dem Modernismen besonders ausgesetzt sind, erstaunlich gut gehalten. Nichts altert ja schneller als das Brandneue und Revolutionäre von gestern. Die Avantgarde liegt häufig schon halb krepiert am Wegrand, während der Tross, der behäbig den von der Vorhut markierten Spuren folgt, mit seinen prallen Backen immer noch ganz vital marschiert. Carl Einstein, Marinetti, Raoul Hausman wirken heute wie neurasthenische Verblüffungsartisten, denen das épater le bourgeois die Gehirne überhitzt hat, während Döblin, Broch, Musil von unverwüstlicher Gesundheit sind. 

Auch Ronchamp ist nicht altmodisch geworden. Der Schwung seines Betontollendachs, der spitze Winkel der gegen den herankommenden Betrachter gerichteten Gebäudeecke, die von Fenstern in allen Formaten durchsiebte Seitenmauer sieht immer noch frisch und kühn und eigen aus wie eh und je, und auch die Ausfaltung oder vielmehr gespiegelte Ausstülpung des Kircheninneren nach außen vor die östliche Mauer - Altar, Kanzel, Empore, es ist alles da -, durch die auch Freiluftgottesdienste möglich werden, hat nichts von ihrem Reiz verloren.

Man hat Le Corbusier zu seiner Zeit oft einer kalten Rationalität geziehen; seine Ideen von Wohnmaschinen, sein Funktionalismus und sein Verzicht auf Zierat ließen ihn als Parteigänger einer technokratischen Zurichtung der modernen Welt erscheinen. All das mag seine Richtigkeit haben; doch vor Notre Dame du Haut wird solche Kritik hinfällig. Die Funktionalität ist in einer religiösen Symbolik aufgehoben, die freilich kaum mit den tradierten Attributen operiert, sondern sie aus eigenem Verständnis neu erschafft: das vorkragende Dach - besagte Betontolle - erinnert an einen Pilgerhut, im Innenraum hat man trotz der Massivität des Materials den Eindruck eines Zelttuchs, das leicht durchhängend abgespannt ist. Der kubische Grundkörper wirkt in seiner Weißheit beinah maurisch. Aber das Gebilde sieht von jeder Seite anders aus. Vor der trutzigen Nordseite mag man "Eine feste Burg ist unser Gott" summen, von Südosten mag man in dem Hut des Dachs auch einen Kahn entdecken und "Es kommt ein Schiff geladen bis an den höchsten Bord" anstimmen. Das Gesicht des Baus ist vielfältig wie das Antlitz Gottes: kein Name wird ihm gerecht, er ist immerzu mehr als jede Einzelbestimmung, sondern die beständige Negation seiner selbst. Gott ist ein Vexierbild, das sich nicht in einer festen Form beruhigt, sondern im steten Wandel seiner Aspekte lebt. Und wer weiß - vielleicht maskiert sich Gott bisweilen tatsächlich als der verschmitzte Brigant, der mir bei einem letzten Blick auf den Hügel unter dem Admiralshut des Dachs aus listigen Fensteraugen zuzwinkerte.

Mittagspicknick am Fluss, unten im Dorf Ronchamp. Die unverwüstliche Liebenswürdigkeit Frankreichs erweist sich nicht zuletzt darin, dass es in jedem Städtchen, und sei es noch so klein, einen mit Parkbänken und Picknicktischen möblierten Grünstreifen gibt, der für die Einwohner ebenso offensteht wie für Durchreisende. Die altertümliche Gastfreiheit hat sich in Frankreich in der Sitte erhalten, einen Teil des öffentlichen Raums zu allfälliger Nutzung zur Verfügung zu stellen. Das ist mir hier und da auch als ein Delegieren der Gastfreiheit an die anonyme Körperschaft erschienen; um auf seinem Privatgrund unbehelligt zu bleiben, hat man Bezirke geschaffen, wo das durchreisende Gesindel bleiben mag. Das ist nicht ganz unrichtig; trotzdem hat sich zumeist ein republikanisches Verständnis davon erhalten, dass die Welt - vor ihrem Sturz ins Unheil - niemandem gehörte. Die Worte, die Rousseaus zweiten Diskurs eröffnen, hallen hier immer noch wieder: "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein, und der Leute fand, die einfältig genug waren, es zu glauben, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft." Die offenen Picknickplätze sind die residuale Einrede gegen die Ausschließlichkeit des Privatbesitzes.

Am späten Nachmittag suchen wir einen Platz für die Nacht. Ein Schild weist zu den Riverains de la Saône, ein zweites beschränkt die Zufahrt auf eben die Riverains, die Anlieger. Wir ignorieren die rostige und blassgewordene Aufschrift, aber am Fluss müssen wir einsehen, dass der Weg tatsächlich nur zu einer Art Wochenendhauskolonie führt, also eigentlich auf Privatgrund. Wir wollen schon brav wenden, als uns ein weißhaariger, sehniger Herr in den Weg tritt. Er ist aus seinem Gartentürchen gekommen, und natürlich denken wir als deutsche Deutsche sofort, der Herr sei erschienen, um uns unbefugte Eindringlinge aus seinem Reich zu scheuchen. Aber das Gegenteil ist der Fall: er rät uns - nur für den Fall, sagt er zwinkernd, dass wir einen Übernachtungsplatz suchen sollten - ans Ende des Weges zu fahren, um uns dort gemütlich einzurichten. Es sei so schön an der Saône, das könne man doch gar nicht für sich allein haben wollen.

Nächstentags trübt sich das Wetter ein; die Fahrradtour an malerischen Schleusen und Brücken entlang, die der Mann uns ans Herz gelegt hat, entfällt wegen Niesel. Schauer sprenkeln unseren Weg nach Alesia. 

Zu Mittag kommen wir in Flavigny an, woher die schönen Anis-Dragees stammen, die ich gern auf langen Fahrten lutsche, bis unter dem Zuckermantel der spelzige Aniskern freigelegt ist.

Flavigny ist offiziell eins der schönsten Dörfer Frankreichs. Gott weiß, wie sich der Ort diese Auszeichnung erschlichen hat; in Wahrheit ist er nur ein dunkles Kaff in der France profonde. Die Touristen laufen bloß durch die Gassen, um herauszufinden, wieso um Himmels willen trotz so spärlicher Voraussetzungen ein so ruhmvoller Titel verliehen  wurde. Ratlos schwenken sie die Häupter und finden sich schließlich in der Tenne des Landfrauenverbands ein, um verköstigt zu werden. Die Damen bieten dort wunderbare Kuchen und Quiches an, sowie weniger wunderbares Rinderragout und Kartoffelgratin, danach Kaffee aus der Thermoskanne. Das Publikum steht brav an und nimmt sich ein Tablett und Gläser. Als wir an der Kasse stehen, zahlen wir ebensoviel wie uns das Menu am Ortseingang gekostet hätte, nur dass wir dort bequem bedient worden wären, die Nachtisch-Tarte vermutlich nicht durchgesuppt, das Fleisch nicht übergart und das Gratin nicht von albinohafter Blässe geblieben wäre. Trotzdem ist der Enthusiasmus der Damen belebend; wenn Ken Loach mit ihnen einen Film drehte, würde man im Kinosessel Jawoll! denken, weil die Damen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und dem globalen Kapitalismus eine lokalinitiativ lange Nase drehen. 

Aber Loach würde wahrscheinlich nicht zeigen, wie der Koch am Ortseingang verzweifelt, weil all seine Kunst und Erfahrung nicht helfen, seinen Laden am Laufen zu halten, bloß weil die einfältige Masse zu den vermeintlich urwüchsigen paysannes strebt, die in Wahrheit nur hingepfuschte und überteuerte Hausmannskost feilbieten.

Aber es geht hier ja auch gar nicht um erlesene gourmandise, sondern um Stimmung. Dass die Leute ihr Tablett genauso an der Thekenreling entlangschieben wie bei Ikea vor der Köttbullar-Ausgabe, ändert nichts daran, dass sie sich hier fühlen wie die Gallier auf dem Schlussbild eines jeden Asterix-Comics: unter mächtigen Eichen servieren die Weiber Wildschwein. Feuer, schäumende Humpen, ein geknebelter Barde. Tusch und Schlusswort.

Natürlich sitzen die Gäste hier vorwiegend zu zweien, dreien, vieren an ihren Tischen; aber sie haben atmosphärisch Teil an den zwei langen Bänken in der Tennenmitte, an denen Kegelclubs beim Ausflug lärmende Gemeinschaftsseligkeit entfalten. Es hat etwas von Volksfest. Leute, die im Restaurant nicht im Traum daran denken würden, über Tische hinweg mit Fremden zu palavern, tauschen sich hier geräuschvoll über die Qualität der mousse au chocolat aus oder raten vom Chardonnay eher ab, um stattdessen für den Aligoté zu plädieren. Besichtigungsziele, Restaurantempfehlungen, Wetterprognosen - alles wird lautstark zwischen den Tischen besprochen. Die Köchinnen würzen vielleicht nicht allzu subtil; aber sie scheinen irgendwas ins Essen zu tun, das die üblichen sozialen Schranken der Diskretion niederreißt und die Gästeschaft in eine äußerst familiäre Stimmung versetzt.

Oder ist das schon die Fernwirkung des Vercingetorix-Denkmals, das all diese einzelnen Grüppchen in eine große Familie verwandelt? Sollte der Arverner, der es vermochte, die oft so zerstrittenen gallischen Stämme zum Kampf gegen die Römer zu einen, über die Jahrtausende hinweg immer noch seine einheitsstiftende Kraft verströmen?

Das Monument, keine fünf Kilometer Luftlinie entfernt auf dem Hügel von Alise-Sainte-Reine (alias Alesia) errichtet, verkündet jedenfalls genau das: "La Gaule unie, formant une seule nation, animée d'un même esprit, peut défier l'Univers." Das vereinigte Gallien, eine einzige Nation bildend, vom selben Geist beseelt, kann dem Universum trotzen.

Napoleon III., der das Denkmal errichten ließ, mühte sich redlich um die Einheit der Franzosen, indem er die, welche nicht vom selben Geist beseelt waren, kurzerhand verhaften ließ wie Tocqueville oder außer Landes trieb wie Victor Hugo. Trotzdem gelang es nicht, dem Universum zu trotzen; er scheiterte bereits an Bismarck. Am Sedanstag wurde der sieche Kaiser von preußischen Truppen gefangengenommen.

Die Niederlegung der Waffen des Vercingetorix vor dem siegreichen Cäsar hat durch die millionenfache Reproduktion des Gemäldes von Royer in Schulbüchern Eingang ins französische Bildgedächtnis gefunden: der Gallier erscheint darin trotz der Kapitulation stolz und aufrecht. Auf seinem leuchtenden Schimmel überragt er den Römer um zwei Köpfe. Cäsar sieht aus wie ein verschlagener Clanchef, hinter dem sich eine Schläger-Camarilla von zweifelhaftem Leumund zusammendrängt. Vercingetorix hingegen wirkt selbst in der Niederlage noch heldisch; sein Haupt ist vignettengleich von einem Lichtkranz schwelender Helligkeit eingefasst.

Ob Napoleon, als Bewunderer des Avernerfürsten sicher mit den Legenden vertraut, Bismarck seine Waffen so vor die Füße geworfen hat wie sein Vorbild es tat? Wahrscheinlich hat der schwer von Krankheiten geplagte Kaiser aber nur sein Medizintäschchen vor dem Reichskanzler ausgeleert, Schröpfköpfe und Spritzen, Katheter und Küretten durcheinanderklimpernd auf einem Tischtuch aus Samt.

Wir halten unseren Mittagsschlummer am Parkplatz vor dem Denkmal. Wehrhaftes Eichenlaub hält seine Schilde schützend über uns; der sachte Niesel kann uns nichts anhaben.

Noch etwas benommen von unserem Nickerchen schleichen wir zum Monument hinüber.

"Er sieht überhaupt nicht aus wie Hollande", bemerkt ein junger Mann, und seine Freundin gibt zurück: "Du hast recht. Kommt mir eher vor wie Marine Le Pen, die sich einen Bart angeklebt hat."

Für mich ist vor allem die Differenz zum deutschen Nationaldenkmalspendant Hermann interessant: hält der Cherusker sein Schwert hoch in die Luft, stemmt Vercingetorix es in den Boden. Na gut; der eine hat ja auch gewonnen, während der andere gescheitert ist und seinem Volk die Plagen nicht ersparen konnte, mit denen die römische Kultur nach der Niederlage das Land überzogen hat. Man denke nur an die Thermen, die unausweichlich zur Verweichlichung der Männer führen mussten, während die freien germanischen Mannen sich weiterhin mit ehrbaren Rüstungen aus verkrustetem Schlamm schmückten. Aquädukte, Bodenheizungen, Landbau, Wein, Ovid und Lukrez: wohin man blickt, nichts als Degeneration und Dekadenz. Und selbst wenn man diesen ganzen kulturellen Kokolores beiseitelässt und nur von dem edelsten Gut eines Volkes spricht, der Freiheit, ist sofort evident, dass den Franzosen schon früh das Schicksal des Herrenknechtes zuteil wurde, während der deutsche Mann seit je zum aufrechten Gang des Freien berufen war, wenigstens innerlich. Die Deutschen waren immer frei, was allein schon dadurch bewiesen wird, dass sie im Gegensatz zu den Franzosen eine Revolution wie die von 1789 gar nicht erst nötig hatten.

Eine alte Dame steht mit ihrem Sohn vor dem Denkmal. Er ist sicher über siebzig, sie wankt auf die hundert zu. Sie scheint fast blind; vermutlich sehen ihre Augen nicht mehr als einen hohen Klumpen scheelgrüner Materie dort, wo das Monument sich erhebt. Sie geht krumm, auf ihren Stock gestützt. Der Feldherr über ihr rammt markig sein Schwert in die Erde; sie stochert mit ihrer Krücke eher über die Krume hin, als fürchte sie, dass der Boden sich plötzlich auftun könne und sie in einen sechs Fuß tiefen Schacht stürzen ließe. Der Sohn, selbst bereits mit einer brüchigen Greisenstimme versehen, liest ihr die Inschrift am Denkmalsockel vor, aber sie versteht ihn nicht. Sie ist offenbar sehr schwerhörig, oder einfach dement. Sie fragt nach; der Sohn wiederholt, lauter, Napoleons Parole, aber die alte Frau begreift nach wie vor nichts. Sie fährt sich mit zittriger Hand über die Stirn und bittet ihren Sohn um eine weitere Wiederholung. Jetzt brüllt er beinahe: "La Gaule unie, formant une seule nation, animée d'un même esprit, peut défier l'Univers."

Mir scheint, dass sie auch jetzt kein Wort verstanden hat; aber sie kommentiert in wundersamer Vieldeutigkeit: "J'aime bien l'histoire": Ich mag die Geschichte. Vielleicht klänge das auf englisch noch schöner: I like the story.

Nach dem Museum, das die Geschehnisse der Gallischen Kriege ausgewogen, illustrativ, informativ, reflektiert, didaktisch etc. aufbereitet, kaufen wir im nächsten Ort eine Flasche Wein und eine Terrine. Das Kassenfräulein ist konsterniert, als ich ihr auf den Betrag von 12,58 erst zwanzig Euro hinstrecke, dann, nachdem sie die Summe eingetippt hat, noch zwei Euro sechzig nachreiche. Das ist verwirrend. Die Restgeldanzeige auf ihrem Display war so klar, aber jetzt beginnt das Chaos. Möglicherweise ist es ein Test; ihr Blicke schweifen für einen schnellen Moment umher, vielleicht filmt man sie. Man kann sehen, wie die Zahlen durch ihren Kopf wirbeln wie Streitäxte. Sie kramt mit den Fingern durch die Münzen und flüstert wirre Ziffern vor sich hin. Am liebsten würde sie einfach mit der Hand in ihre Lade langen und mir eine Handvoll Irgendwas rausgeben. Vielleicht könnte sie die Lösung finden, wenn sie nicht durch die Demütigung, nicht sofort in souveräner Rechenmeisterlichkeit reagiert zu haben, nun ganz und gar paralysiert wäre. Deshalb kann sie auch nicht mehr irgendwelche Rechenoperationen vollführen, sondern denkt nur noch: Sie sehen mich an. Sie warten. Sie denken, dass ich eine dumme Trine bin. Ich bin eine dumme Trine, und ich leide mit ihr und weiß nicht, ob ich ihr aus diesem Debakel heraushelfe, wenn ich sage, gib mir einfach zehn zurück, oder ob ich sie dadurch noch tiefer in die Erfahrung ihres Scheiterns stoße.

Vielleicht hätte ich dieses nebensächliche Erlebnis nicht festgehalten, wenn ich in den Tagen darauf nicht noch zwei nahezu identische Erfahrungen gemacht hätte. Einmal bei einem Bäckerburschen, der den Preis für ein Baguette, ein Croissant und eine Chocolatine zusammenzurechnen hatte, und für diese Addition (1 + 1,10 + 1,10) seinen Taschenrechner zu Rate ziehen musste. Ich gab ihm einen Fünfer und zwanzig Cent, und auch für den schwierigen Kalkulus des Rückgelds bemühte er den Taschenrechner. Erst als er mir drei Euro in die Hand drückte, wurde mir klar, dass er irgendwas Grundlegendes genauso wenig verstanden hatte wie das Mädchen im Supermarkt. Gewiss wird die geläufige Verfügung über die Grundrechenarten heute weniger gefordert als vor fünfzig Jahren, und offenbar ist auch die vorauseilende und Kleingeldanhäufung vermeidende Gefälligkeit des Kunden in Frankreich weniger üblich als in Deutschland, sodass die dazu erforderlichen Rechenoperationen nicht routiniert von der Hand gehen. Trotzdem wirken solche Erlebnisse, seit der ökonomische Verfall Frankreichs so unbeirrt voranschreitet, wie Menetekel, die einer verunsicherten Nation Unheil künden.

Auf dem Campingplatz nahe Alesia, also gleich nach der Begegnung mit der dyskalkulischen Kassiererin, sagt das Rezeptionsfräulein, mit dem ansonsten ganz witzig plaudern ist, bald ohne rechten Grund, das Deutsche sei nicht ihr point fort; das Englische freilich auch nicht, wie sie gleich in ungehemmter Lust an der Selbstbezichtigung fortfährt. Dass sie auch nicht rechnen kann und - zu ihrem Nachteil - eine vollkommen verworrene Addition der Posten Platz, Auto, Personen, Strom und Kurtaxe anstellt, bringt mich in Gewissensnöte, aber sie ist selbst über den niedrigen Preis verblüfft und zieht den Taschenrechner zurate. Später grüble ich über ihre komische Rechnerei und entdecke den Fehler: sie hat die ersten Posten addiert, dann aber mittendrin den Posten Zwei Personen abgezogen. Lag da unbewusstes Wohlwollen zugrunde und der Wunsch, uns Nachlass zu gewähren, weil unser Geplauder so nett war, oder doch der Versuch, uns wenigstens symbolisch zu eliminieren?

Im Niesel essen wir unsere Merluns (nach Papier schmeckende, spitznasige Fische), während eine französische Großfamilie Boule spielt und sich dabei Partie um Partie über die Kieswege des Platzes voranarbeitet. Das langsame Voranschreiten mit regelmäßigen Verweilstationen erinnert an eine religiöse Prozession, mit der eine Gemeinde göttlichen Segen über Felder und Fluren herabruft; ich habe den Eindruck, dass sie ein Stationendrama oder einen Kreuzweg aus Kugeln und cochonette zelebrieren. Dabei hat sich doch schon in der Antike das cochon als gallisches Feldzeichen und Wappentier als recht ungeeignet gegen Cäsars Legionen erwiesen; der römische Adler war stärker als der gallische Keiler. Jetzt ist es der Mercedesstern, der den stolzen Peugeot-Löwen davonfegt - abends lese ich in Le Monde die neuesten Hiobsbotschaften aus der französischen Wirtschaft. Es kann einem wirklich bang werden für das geliebte Land.

Am nächsten Tag eine Vormittagsstation in Semur-en-Auxois. Kleines Städtchen, Fachwerk, hübsche Kirche, in der es atemberaubend muffig riecht. In einem Haushaltswarenladen suchen wir nach einem Gemüsehobel. Die französische Mandoline ist ein legendäres Produkt, und seit wir - noch in Deutschland, abends als die einzigen Gäste in einem ambitionierten Restaurant mit dem jungen Koch plaudernd - erfahren haben, dass er die hauchdünnen Scheiben rohen Gemüsefenchels, die nicht einfach nur dünner waren als üblich, sondern auf einer mir bislang unbekannten Stufe von Geschmackshaltigkeit und Finesse standen, mit einer solchen Mandoline schneidet, wollen wir als beflissene Küchenfanatiker auch sowas verfertigen können. Wir fragen in dem Geschäft danach, aber die patronne, die den Laden alleine schmeißen will, ist überfordert. Zehn Kunden wollen alle zugleich etwas von ihr; sie bietet überall ihre Hilfe an und löst sie nirgendwo ein. Andauernd klingelt das Telefon, ein Lieferant kommt auch noch dazwischen. Da ist niemand, der sie entlasten könnte. An Mitarbeitern sparend, richtet sie ihren Laden zugrunde.

Natürlich: es sind Ferien, und auch in Deutschland wird wahrscheinlich in Sparbesetzung gearbeitet, aber dieses Erlebnis wird nicht das einzige der Art bleiben. Wir werden einige Restaurants wieder hungrig verlassen müssen, weil dort (zum Beispiel) ein Kellner nicht nur das Abendessen (und es sind ja meist drei Gänge) für geschätzt vierzig Tische allein servieren, sondern auch noch hinter der Theke Getränke zapfen muss und es verständlicherweise nicht schafft und gar nicht schaffen kann, den Wartenden nach einer halben Stunde auch nur die Karte zu bringen. Dass es nicht mehr Personal gibt, mag an allem Möglichen liegen - aber in einem Land, das unter solcher Arbeitslosigkeit leidet, ist es doch verwunderlich. Eine Wirtin, die wir ein paar Tage darauf danach fragen (jetzt hat sie Zeit, der Mittagsrummel ist vorüber), sagt, sie könne es sich nicht leisten, Leute einzustellen, und schimpft auf die Sozialisten, die ja nur das Beste für die Leute wollten, zugegeben, aber das Beste sei für dieses Gesindel (cette racaille) bloß Gleichheit und Gerechtigkeit, und gerecht sei es offenbar dann, wenn es allen gleich schlecht ginge.

Picknick an einem großen Teich. Angler unter riesigen Sombreros sitzen am Ufer und schauen sich, eins zwei drei vier, in behäbiger Schwarmdummheit nach uns um, als wir an ihnen vorbeifahren. Wir essen geraspelte Möhren und Rote Bete in Vinaigrette, céleri remoulade, Schweineschnauzensalat. Ein Reiher fliegt mit einem mürrischen Schrei ein und hockt dann auf einem Baumstumpf im Weiher, während der Regen fällt.

Vorher hatten wir kurz in Epoisses gehalten. Vielleicht kann ein so wunderbarer Käse nur aus einem so öden Ort kommen. Der Platz im Zentrum ist fast verwaist. Nur ein paar Jugendliche lungern herum und verbreiten eine Aura von unerträglicher Langeweile und aufgestauter Gewalt. Der Epoisse riecht streng, ein wenig nach der Pisse, mit der biestige Säugetiermännchen ihr Revier markieren. Geruch von Schlägereien in Jungsumkleiden, der scharfe Reiz von Dung und Ammoniak. Im Mund verwandelt er sich jedoch zu einer cremigen und fast fruchtigen Süße - ich überlege, ob man daraus nicht eine schöne Parabel à la Mandeville machen könnte: private vice make public benefits. Wie könnte man es nennen? Provinzverzweiflung macht guten Käse? 

Übernachtung an einem Picknickplatz des Canal du Nivernais. Kühe muhen, unweit rauscht eine Schleuse, ein Vogel stößt immerzu den selben schrillen, dummen Laut aus. Von weiter weg tönt eine Rohrdommel, akustisch eine Mischform aus blökendem Esel und muhendem Ochsen. Abendliche Spaziergänger grüßen von der Brücke. Plötzlich knattert ein Quad über den alten Treidelpfad am anderen Ufer und will die steile Brückenböschung hinauf, aber sein Schwung reicht nicht aus. Einen Meter vor dem Scheitelpunkt scheitert er und muss sich rücklings wieder runterfädeln. Es gibt keinen Grund, sich die Schadenfreude über diesen Radaubruder, der den Abendfrieden so lärmend stört, zu verkneifen.

Vormittags bis Charité-sur-Loire. Das Städtchen nennt sich stolz Ville du livre und hat ein gutes Dutzend Antiquariate, was für ein Kaff von 5000 Einwohnern ganz beachtlich ist. Der Kundenandrang hält sich aber in Grenzen. In einem der Läden schläft der bouquiniste, ganz behaglich die Hände über dem Bauch gefaltet. Seine Katze passt auf die Bestände auf. Elegant stolziert sie über die Bücherstapel, schnurrt unter meinen Liebkosungen und reibt ihre Wange so nachdrücklich an einer stockfleckigen Ausgabe der Misèrables, als wolle sie mir partout diesen Band empfehlen. Aber ich nehme lieber zwei Tintins: in einem Nebengelass schlummert ein kleiner Foxterrier, der gar nicht anders heißen kann als Milou.

Weiter.

Die Namen Cher, Indre und Vienne umweht ein starker Zauber. Diese Flüsse bewässern den anmutigen Garten Frankreichs; ihre Ufer sind von berühmten Schlössern gesäumt: Azay-le-Rideau, träumerisch von den Wassern des Indre umplätschert; unweit davon, wo sie bald schon in die Loire strömen, liegt Ussé, in dessen Türmen Perrault das Märchen von der Belle au bois dormant ersonnen haben soll; die Galerie von Chenonceaux, darin Katherina von Medici zu Ehren Pavanen und Gaillarden getanzt wurden, überspannt den Cher, und über die Brücke der Vienne in Chinon wacht heiter und weise das Denkmal Rabelais'. 

Doch der Feenstab dieser Namen reicht nicht hin, um auch den Departements, die nach den Flüssen benannt sind, etwas Liebreiz zu verleihen. Aschenputtel schlüpft erst in ihr glanzvolles Ballkleid, wenn sie sich dem Tal der Loire nähert. Im Berry, das die Departements Cher und Indre umfasst, muss sie noch ihren hässlichen und schmutzigen Dienstmagdkittel tragen.

Die Landschaft ist von peinigender Ödnis, ohne jede markante Eigentümlichkeit, der man einen Reiz abgewinnen könnte. Es gibt Gegenden, denen Weite und Eintönigkeit eine gewisse Erhabenheit verleihen. Das Berry aber ist einfach nur fade. Äcker - jetzt schon abgeerntet -, riesige Weideflächen, auf denen sich kärgliche Kuhtrüppchen verlieren, Straßendörfer, in denen die Hälfte der Häuser verfallen ist. Die Strecke von Charité nach Bourges und von dort aus weiter nach Chateauroux ist eine schnurgerade Schneise durch ein Land, das von Leere starrt. Es mag eine Seligkeit der Provinz geben: dies hier ist ihr Elend. 

Wir essen zu Mittag in einem der rar gewordenen Routiers-Gasthöfe. Die Lastwagenfahrer, für die diese Institution einmal geschaffen wurde, verkehren dort kaum noch; die Autobahnnetze haben diese Klientel gekeschert. Was noch unter dem Siegel der Routiers firmiert, hat heutzutage kommunale Straßenarbeiter, Stromleitungskontrolleure, Windradinspektoren zu Tisch. Überall dort, wo es genug Verkehrsaufkommen gibt, hat die Moderne dem Zunftwesen der Routiers ein Ende gesetzt und den Markt geöffnet. Nur in manchen Totwassern des französischen Verkehrsnetzes halten sich diese Gaststätten mit ihren Vorspeisenbuffets und der knappen Tageskarte noch, freilich auch hier mehr im Elend als im Glanz. Früher sind wir gern dort eingekehrt; wir liebten all diese hors d'oeuvre-Deftigkeiten, den russischen Salat, die Heringe und Pasteten, den celeri remoulade, die carottes rapées, das museau. Kann sein, dass sich unsere Ansprüche geändert haben; aber in der Tat glaube ich eher, dass vieles von dem, was sich vor zwanzig Jahren dort fand, noch zum großen Teil selbst gemacht war, während jetzt überall Saccharin und Geschmacksverstärker spürbar sind. Auch hier hat die malbouffe, wie José Bové einmal den Industriefraß von heute nannte, Einzug gehalten und die Wirtsehefrau aus der Küche verdrängt. Vor zwanzig Jahren gab's zum Nachtisch den üblichen Baba-au-Rhum, die Île flottante, die Mousse au chocolat von Hand aus der großen Schüssel gelöffelt und in Glasschalen serviert. Jetzt steht ein großer Kühlschrank im Speiseraum, aus dem man sich die Plastikbecher von Danone holen kann.

Ich weiss schon nach den ersten Bissen, dass all das Zeug, das die Industrie ihren Zubereitungen zufügt, eine giftige Thermik in meinen Gedärmen anrichten wird, und so kommt es denn auch. Wie soll ich sagen? - Vollgas nach Poitiers.

Im Westen dräut eine tiefschwarze Wolkenfront. Als wir in den Ausläufern von Poitiers anlangen, bricht das Unwetter los - so stark, dass wir nichts mehr sehen als Regen, Regen, Regen. Die Scheibenwischer schaufeln so hastig wie erfolglos durch die schäumenden Wassermassen; ich orientiere mich nur an den Rücklichtern meiner Vorderleute, die in Kolonne der Stadt entgegenkriechen. Der Wolkenbruch dauert zehn Minuten, dann ist der Spuk vorbei. Danach steht das Wasser in den Straßen: die Gullys können die Abflussmenge nicht so schnell aufnehmen.  Auf der Suche nach einem Parkplatz erklimmen wir den Hügel, auf dem das alte Poitiers erbaut ist, und werden durch die Einbahnstraßenführung auch wieder elegant hinabgeleitet, wie ein Ball beim Minigolf, der die Zielkuhle verfehlt hat und die Anhöhe wieder hinunterrollt. Doch wartet in der Gasse, bevor es wieder auf die Ringstraße ginge, eine kaum zu nehmende Hürde: ein Trupp von Anwohnern steht bis über die Kniee im Wasser und pflückt den Abfall, den es die steile Gasse hinuntergeschwemmt hat, von den Abflüssen. Labbrige Pappkartons und zerfleddernde Papierklumpen verstopfen die Gullys; am Rand häuft sich der Unrat, der von dem niederschießenden Wasser mitgerissen wurde. Umgestürzte Abfalltonnen haben ihren Inhalt ergossen; ein Wall von Müll versperrt den Weg auf den Boulevard. Der einzige Weg daran vorbei führt durch ein Gassengewirr, das so eng ist, dass ich nur mit großer Sorgfalt vermeiden kann, dass die Fahrräder am Heck die Blumentöpfe von den Fensterbänken streifen.

Wir finden einen Parkplatz in der Unterstadt und steigen zu Fuß in die cité historique hinauf. 

Notre-Dame-la-Grande, die Kathedrale im Herzen der Stadt, ist eine romanische Schöpfung im Stil der Region, mit Türmen, deren Spitzkegelaufsätze aussehen, als seien sie nicht mit Schindeln gedeckt, sondern als hätte ein Steinschneider dem massiven Sandstein ein Schuppenmuster eingegraben. Die Frontseite ist von Skulpturen und Reliefs fast völlig überwuchert. Ihr Fassadenschmuck scheint mir schon eine Vorstufe zur Gotik: die romanischen Kirchen in anderen Weltgegenden gehen sehr viel sparsamer damit um; erst ein, zwei Jahrhunderte später wird die gotische Baukunst ähnlich verschwenderisch die biblischen Figuren auf den Kirchenfronten aufmarschieren lassen. Doch fehlt dem Bau zur Gotik noch das Aufstrebende und sich Hochreckende. Noch ist alles romanisch gedrungen und massig, die Portalbögen und Figurennischen sind noch ganz rund. Nur bei den beiden Scheinportalen zu Seiten des Haupttors gibt es die ganz zaghafte Andeutung eines Spitzbogens; der ist allerdings so schwach ausgeprägt, dass man dabei eher an die Schlamperei des Baumeisters denn an Absicht denkt. Die Figuren stehen bereits plastisch, aber noch nicht zur Gänze von der Wand gelöst, in ihren Nischen. 

Deren Ornamentik ist reich, aber grobschlächtig. Sie wirken trotz ihrer Regelmäßigkeit weniger wie von Menschen behauener Stein denn wie fossilierte organische Fältelungen und verwitterte Verkrustungen, Überbleibsel von Strukturen, wie sie in solcher Regelmäßigkeit bisweilen auch in der Natur vorkommen - bei den Riefungen mancher Felsformationen, bei Baumrinden und Flußdeltas, Kristallen, in den selbstähnlichen Formen des Blumenkohls oder in den Windungen von Schneckenhäusern. Das lässt die Zierbänder wie erdgeschichtliche Sedimentierungen aussehen, in denen die Heiligen und Propheten eingelassen sind wie in ein Bett aus Schneckenschalen, Ammoniten und versteinerten Farnen, und auch die Säulen mit ihren plumpen Fußsockeln scheinen weniger von antiken Vorbildern inspiriert als von dunklen Vorzeiterinnerungen an die kolossalen Beine von Mammuts und monströsen Elefanten.

Doch so urtümlich und naturwüchsig die Kirche auch von außen aussieht - vor allem heute, da Regen und trübes Licht die Konturen auswaschen und der Bau tropfnass vor uns steht wie eben aus den Tiefen des Ozeans geborgen, ein triefendes Fundstück aus Atlantis - innen macht sie einen fast wohnlichen Eindruck. Die Säulen sind mit ornamentalen Mustern in mannigfaltigen Farben und Mustern bemalt, was dem Ganzen die Anmutung einer mit Wandteppichen bekleideten Höhle verleiht. Das Auge sucht unwillkürlich nach einem Kachelofen, der diese Wohnstatt Gottes mit heimeliger Wärme erfüllen sollte, und irgendwo wird es hier sicherlich Polsterlager geben und Kredenzen für warme Getränke. Bevor wir diese gemütlichen Winkel finden können, werden wir allerdings hinauskomplimentiert. Der Messner geht, mit einem Schlüsselbund klimpernd, die Schiffe entlang und scheucht die Besucher ins Freie. Sperrstunde.

Samstagmorgen; es ist Markt auf dem Platz. Wir füllen die Ziegenkäsevorräte auf, finden Tomaten, deren empfindliche Schalen und weiches Fleisch von Supermärkten gemieden werden, die aber von einer so köstlichen Süße sind, dass man sie eher den Früchten als den Gemüsen zurechnen möchte. Eine Marktfrau bietet gekochte Schweineohren an; das sind wabbelig weiche Trümmer, von denen ich mir nicht gedacht hätte, dass da hauchdünne, rosafarbene Fleischlamellen zwischen imposanten, fingerdicken Fettschichten eingelagert sind. Aber, zugegeben, ich habe mir über die Beschaffenheit von Schweineohren noch nie irgendwelche Gedanken gemacht. Allein ihre Größe verblüfft mich. In der Auslage eines Fischstands hätte ich sie für Rochenflügel oder die Flossen eines riesigen Thunfischs gehalten. Wenn dieser Erdteil dereinst untergehen wird, wie es Atlantis widerfahren ist, werden die Schweine mit kräftigen Schwimmzügen ihrer Ohrenlappen der Katastrophe entrinnen.

Als wir später davon kosten, schabt Dagmar die talgige Haut von den Spitzen ab und kaut nur auf dem Knorpelblatt herum: eine Kindheitserinnerung aus der Zeit, als man in Hamburg noch Snuten un Poten zur Hausmannskost zählte, und es auch nicht verschmähte, Ohren zu kochen.

Mit all unseren Schätzen versehen, kommen wir nachmittags an einen Angelteich am Rand eines Dorfs und installieren uns dort. Nach und nach holen die Angler ihre Gerätschaften ein und fahren nach Hause. Man geht hier sportlich auf Karpfen; niemand bringt irgendeinen zappelnden Fang mit heim in die Küche. Die Karpfen werden geangelt, vom Haken gelöst, gewogen und wieder ins Wasser zurückgeworfen. Es gilt allein, die gewichtigsten, also ältesten, erfahrensten, und am schwierigsten zu ködernden Exemplare herauszufischen. Der derzeitige Rekordhalter hier am Teich hat 35 Kilo Lebendgewicht herausgezogen, wie eine angeschlagene Liste kundtut.

Das Geschäft ist technisch hochgerüstet. Manche kommen mit zwei Stativen, an denen je drei Angeln befestigt sind. Hat ein Karpfen angebissen, piepst ein Sensor und alarmiert den Sportsmann, der nahebei mit seinen Kumpeln Karten spielt. Dann geht er hin und bringt die Sache zu Ende.

Vor Jahren habe ich am portugiesischen Douro einmal einen Angelwettbewerb miterlebt. Seitdem stelle ich mir unter Angeln immer die portugiesische Variante vor: wortkarge Männer, die ihre Ruten stillhalten und auf den Fluss starren. Hier hingegen sitzen hyperaktive Kerle, die unentwegt mit den Knieen zappeln und an ihren Mobiltelefonen daddeln. (Wahrscheinlich wird die Meldung des Sensors dorthin geleitet; eine App zeigt Wassertiefe, Leinenspannung, Widerstandskoeffizienten und Zerramplitude an. Die internationale Karpfenfischer-Community wird via facebook beständig auf dem Laufenden gehalten, GPS inklusive.)

Als die Kerle endlich nach Hause gebraust sind, haben wir den Teich für uns. Ein skalpelldünner Krummsäbel Mond schneidet durch den Wolkenteig. Als der letzte Schein des Tages erloschen ist, wird erst Kristall, dann, je weiter die Nacht voranschreitet, Sternenpuderzucker über den Himmel gesiebt. Kaum Streulicht hier. 

Weiter nach Westen. Wir machen in Niort auf einen Kaffee Station und holen im Touristenbüro Auskünfte über das marais poitevin ein, das sich neben Niort in Richtung Atlantik erstreckt. Die junge Frau am Tresen ist eine milchkaffeebraune Schönheit  und hat etwas oberhalb der Lippe, das ich für ein piercing halte und trotz meiner Abneigung gegen diese Vernagelungen zum ersten Mal tatsächlich apart finde. Ich will es grade Dagmar sagen, als sie mir zuvorkommt und meint, sie würde sich eine solche Warze wegmachen lassen. Wir gehen nicht zurück, um zu erfahren, was das Ding nun wirklich war. Ich glaube immer noch an ein piercing: wahrscheinlich handelt es sich um ein Ablenkungsrequisit, das die Blicke der Männer bannen und so verhindern soll, dass sie in hilflos-stammelnder Anbetung auf die Kniee gehen.

Das Marais, ein ehemaliges Sumpfgebiet, das im Mittelalter von den Mönchen der Abtei trockengelegt wurde, ist von Kanälen durchzogen, zwischen denen Gemüse wächst und Kühe weiden. Heute bringt vor allem das Geschäft mit den Touristen Ertrag, die sich durch dieses Venise verte genannte Gebiet rudern lassen. Die batelière, die uns am nächsten Vormittag hier dahinbefördert, heißt Coralie und ist eine charmant feinherbe, junge Frau in der alten Tracht ihres Berufs: ein blauweiß gestreiftes Leibchen und weitgeschnittene Hosen mit beknopften Zwickeln für die Hosenträger. Wir sind, sie ausgenommen, zu viert im Kahn. Vor uns sitzt eine Mutter mit ihrem etwa zwölfjährigen Sohn. Die beiden wechseln nur verdruckste Worte; sie schämt sich für ihn, er schämt sich für sie - dass sie beide um diese wechselseitige peinliche Empfindung wissen, macht die Sache nicht besser.

Coralie weiht uns in die Geschichte des Marais und der Abtei ein, in deren Schatten die embarcadère gelegen ist. Rabelais soll dort zeitweilig Schutz gefunden haben, nachdem man bei ihm Schriften entdeckt hatte, die protestantischer Ketzerei verdächtig waren. (Es genügte in dieser aufgeheizten Zeit - keine zehn Jahre nach Luthers Thesenanschlag - freilich schon, dass man überhaupt griechische Texte im Original las, um protestantischer Neigungen bezichtigt zu werden, auch wenn es schwer fällt, sich Aristophanes als Geistesverwandten Zwinglis vorzustellen.)

Später auf unserer plätschernden Fahrt zeigt Coralie auf die großen Blätter eines Gewächses, das ich für Rhabarber halte. Coralie nennt die Pflanze badère, ein Ausdruck, der in keinem Nachschlagewerk und Netzwörterbuch zu finden ist. Ich habe alle phonetischen Abwandlungen probiert, doch das Wort bleibt dunkel. Es klingt nach bajadère, par terre, patère, pater... Es ist ein Rätsel. Coralie erklärt, dass die Blätter dieser Pflanze den Leuten früher als Hüte gedient hätten, aber ihrer Weichheit wegen auch oft als Klopapier. Möglicherweise will sie uns einen Bären aufbinden und einen karnevalesken Scherz versuchen, aber sie macht gar nicht den Eindruck, als würde sie Witze reissen. Jedenfalls verspricht sie, in dem Kapitel nachzulesen, in dem das Riesenkind Gargantua seine Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Utensilien zum Hinternwischen auflistet, ob die mysteriöse badère als ein besonders empfehlenswertes Mittel des torche-cul darin Erwähnung findet, vorzuziehen noch den samtenen Frauenhauben oder den zartflaumigen Gänschen, die dem Arschloch ein so wundersames Wollustgefühl vermitteln, dass es bis zum Herzen und sogar ins Gehirn aufsteigt. Wir vertiefen das Gespräch darüber nicht. Der Frau vor uns ist ein Seufzer pädagogischen Widerwillens entschlüpft.

Coralie pflückt mit der Hand einen Flusskrebs aus dem Wasser. Es ist einer der amerikanischen Eindringlinge, die die wohlschmeckenderen heimischen Arten verdrängen. Ganz Patriotin fügt sie hinzu: "C'est un peu comme McDo." 

Katzenfisch-Brut steht oft in wimmelnden Schwarmsphären knapp unter dem Wasserspiegel. Wenn das herannahende Boot sie auseinandergetrieben hat, finden sie sich gleich wieder zusammen, manchmal in kleinen Gruppen, die kaum größer sind als ein Tennisball, manchmal aber auch in einer schwarzen, fußballgroßen Blase. Auch ragondins gibt es hier - es dauert eine Weile, bis wir herausbekommen haben, dass es sich bei diesen Tieren um Bisamratten handelt, die die Ufer untergraben und deshalb auch bejagt werden. In dem Andenkenladen bei der emabarcadère kann man Pastete aus ihrem Fleisch erstehen. Offenbar gibt es im Französischen die wenig attraktive Verbindung des Tiernamens mit der Ratte nicht. Bisamrattenpastete klingt jedenfalls weniger appetitlich als paté de ragondin. 

Coralie führt uns auch ein kleines Spektakel vor: mit dem Ruder wühlt und stochert sie im Schlick, dann zückt sie ihr Feuerzeug und entzündet die aus dem Schlamm gelösten Methanbläschen, die in schnell verpuffenden Flämmchen über das Wasser hinlaufen.

Ob das Methan wohl aus den Eingeweiden der Kühe stammt, die hier schon ertrunken sein sollen und nun ihre postumen Rülpser abgeben? Coralie jedenfalls erzählt, dass früher ab und an Kühe, die sich zu tief ins Wasser gewagt hätten, darin ersoffen seien. Kühe hätten nämlich keinen Schließmuskel, und wenn sie mit ihrem Anus unter den Wasserspiegel gerieten, füllten sich ihre Gedärme mit dem einströmenden Wasser, sodass sie unweigerlich untergingen. Ich schwenke skeptisch mein Haupt, aber Coralie bringt diese Geschichte so ohne jedes Anzeichen von Rabelais'scher Flunkerei vor, dass ich nicht weiter darüber nachdenke. Die merkwürdige Angelegenheit zuhause recherchierend, stelle ich fest, dass die schließmuskellose Kuh offenbar nicht nur durch den französischen, sondern ebenso durch den deutschen urbanen Legendenkorpus geistert. Leider erschöpfen sich diese Legenden von volllaufenden Kühen schnell in der bloßen Skurrilität; da ziehe ich doch die Ammenmärchen von früher vor. Da wäre eine solche ersoffene Kuh wenigstens noch in den Rauhnächten gespenstisch umgegangen, muhend und mondlichtumspült im Dunst über den Wassern, und hätte mit geblähtem Wanst und triefendem Fell den saumseligen Hirten verflucht, der sie nicht vor dem Untergang bewahrte.

La Rochelle.

Es fällt nicht leicht, etwas Prägnantes auszusieben aus dem Gestöber und Gedrängel der Menschen, dem Gewirr der Masten im Hafen, dem Flimmern des Sonnenlichts auf den Wellenspitzen. Das Gewimmel ist zu stark, als dass ich Muße und Ruhe fände, die Eindrücke gemächlich sprießen und Keimblätter austreiben zu lassen. Der Einlass in die Altstadt am Durchgang des Uhrenturms reißt einem schnell die feinen Fibern ab. Man kommt sich bei dieser Passage vor wie in einer Schälmaschine, in der Gemüse durch Reibung an anderem Gemüse abgeschrubbt wird. Danach ist man sauber, wund und taub.

Wir lassen uns durch diesen Durchgang mahlen und sitzen dann, so schnell es geht, beim Aperitiv, um wieder zu uns zu finden. 

La Rochelle muss einmal sehr wohlhabend gewesen sein. Das Hôtel de Ville ist nach einem Brand vor einigen Jahren zwar immer noch in Teilen eingerüstet, aber die Schauseite zum Platz hin ist gereinigt und restauriert. Die Friese strahlen im filigranstem Steinschnitt französischer Klassik. An der Kathedrale in Poitiers sind die Ornamente mit der Mistgabel eingegraben; hier hat man mit dem Silberstift graviert.

In den arkadengesäumten Gassen liegen Läden für ein gehobenes Angebot (Luxus, nicht Notdurft), für das es in Provinzstädten wie Poitiers und Niort offenbar nicht genug Kundschaft gibt. Hier aber streifen ausreichend vermögende Sommerfrischler herum, die nach etwas suchen, was sie nicht schon irgendwoanders längst gekauft haben. 

Es geht aufs Ende der Saison zu; die Händler schieben die Stellagen mit den Sonderangeboten nach draußen. Als wären sie auch welche, beziehen die Bettler zwischen diesen Stellagen Posten. Das hat so seine innere Logik: zwar sind die Bettler zu nichts nütze, aber das sind die Dinge, die hier zu ermäßigten Preisen feilgeboten werden, ja auch nicht. Warum also nicht den Bettlern schenken, was man sonst für irgendwelchen Nippes ausgäbe, der dann auch nur die häuslichen Lager verstopft?

Schon in Niort war mir eine Eigentümlichkeit des französischen Bettlerwesens aufgefallen. Dort hielt ein Obdachloser den Treppenaufgang zur Markthalle besetzt und streckte den Vorüberkommenden seine Mütze entgegen. Wenn ein Passant dem Blickkontakt auszuweichen suchte, wurde er von dem Bettler energisch mit einem Bonjour zur Ordnung gerufen. Wenn er schon kein Almosen bekam, wollte er doch wenigstens als Zeichen des Respekts und der Höflichkeit einen Gruß einfordern. Die Sichtbarkeit des Bettlers ist sein letztes Kapital. Ihn zu ignorieren, heißt nur, ihm auch diesen Rest noch zu nehmen und ihn ganz aus der Gesellschaft zu verbannen.

Abends am Port des Minimes, der an die Südspitze der Bucht gebaut ist. Trotz seines bescheiden minimen Namens ist er der größte Yachthafen der europäischen Atlantikküste. 3000 Boote liegen dort vor Anker. Die navette, mit der wir uns nächstentags in den alten Hafen der Stadt schippern lassen, brummt an den dicht belegten Stegen vorbei. Einzeln betrachtet sind die meisten Boote recht elegante und schön geschnittene Gebilde; so eng aneinandergedrängt und in dieser Masse, wird ihr Anblick so unangenehm wie der Auftrieb von Kandidatinnen für eine Miss-Wahl, die alle nach gleicher Art frisiert, geschminkt, gepudert sind.

Beim Kaffee an der Hafenpromenade haben wir jedoch reichlich Gelegenheit, die entgegengesetzte Variante des Uniformen zu betrachten: die touristische Sommerkluft.

Selbst an einem durchschnittlichen Sommertag wie diesem rüsten sich Leute für ein Stündchen Stadtflanieren aus wie für eine Dschungeldurchquerung: Hosen aus wasserabweisendem Material, die man je nach Wetterlage kurz, knielang oder bis auf den Spann fallend an- oder abzippen kann, und die über eine Unzahl von aufgenähten Taschen verfügen, die sich hervorragend eignen, um hier das Chinin, dort das Teleskop, hier den Kompass und dort die Signalpistole unterzubringen; Notizbuch, Taschenlampe, Testament. Doch die Taschen sind natürlich alle leer bis auf eine - in der befindet sich das Mobiltelefon, das die genannten Funktionen in sich vereinigt. Die Notrufnummer ist heute allemal hilfreicher als Chinin und Signalpistole, und eine Navigations-App etwas weniger umständlich als Kompass und Teleskop.

Aber obwohl diese echten Geräte ihren Sinn ziemlich eingebüßt haben, ist die Zahl der Taschen, die auf Ferienhosen genäht werden, eher gewachsen, ja, man kann sagen, dass die Ferienhosenindustrie umso mehr Taschen aufnäht, je weniger diese gebraucht werden. Die Taschen dienen längst nicht mehr dem Verstauen von Werkzeugen, mit denen man Gefahren begegnen könnte, sondern nur noch der Anzeige, dass man sie als abenteuerlustiger Charakter herbeisehnt. Die Taschen sind Zeichen, die signalisieren, dass man gewappnet ist und zu all jenen Abenteuern bereit, die es schon lange nicht mehr gibt. 

Neben der segmenthaft anzippbaren Hose ist auch in diesem Jahr jene 6/8-Variante en vogue, die unterhalb des Knies mit einer Kordel zusammengezogen werden kann; das hat schon etwas von der culotte des 18. Jahrhunderts, verweist aber weder auf das aristokratische Beinkleid des ancien régime noch auf bäuerliche Tracht, sondern deutlich auf die pittoreske Kniebundhose nach Korsaren-Art. Gern wird sie kombiniert mit wassergängigen Sandalen, und es ist ziemlich egal, dass keiner von denen, die solches Schuhwerk anlegen, gedenkt, wirklich ins Wasser zu steigen, da es doch nur darauf ankommt, der Hafenstadt Reverenz zu erweisen und der Idee des Ozeans, an dessen Gestaden man wandelt. 

Obwohl ich in einem ersten Reflex diese Mode lächerlich und prätentiös finde, rührt sie mich jetzt, bei einigem Sinnieren, doch an. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich - mit elf oder zwölf Jahren - über Monate hinweg eine Häkeltasche mit mir herumschleppte, in der ich all die Utensilien verwahrte, die mir helfen könnten, wenn ich wie die Fünf Freunde von Enid Blyton in ein Abenteuer verstrickt würde und Werkzeuge zu meiner Rettung bräuchte. Die Tasche war nicht sonderlich geeignet: der Schraubenzieher bohrte sich durch die Häkelmaschen, bis er irgendwann im unpassendsten Moment herausfiel, die Klebstofftube lief aus und verpappte das Schnurknäuel, und das Taschenmesser war so stumpf, dass man noch nicht einmal Rinde von einem Ast schälen konnte - aber trotz dieser kleinen Mängel war ich doch beständig von einem Hochgefühl der Imagination erfüllt. Alles war Fiktion; ich war glücklich. Warum sollte ich also an der Aufmachung von Leuten herummäkeln, die ihre Ferientage in Klamotten verbringen möchten, um die ein lauer Hauch von Freibeutertum und Rahenklettererwesen weht? 

Im Tour de la Lanterne besichtigen wir die Räume, die seit dem 17. Jahrhundert als Kerker gedient hatten. Die Gefangenen haben dort eine Unmenge von Zeichnungen in den Stein geritzt. Vielleicht wollten sie sich anfangs mit den Löffeln, aus denen sie sonst ihre Wassersuppe schlürften, nach Art des Grafen von Monte Christo einen Weg ins Freie graben; doch der Stein war zu dick, die Löffel zu weich, und so begnügten sie sich damit, statt einen Durchschlupf in die wirkliche Welt jenseits der Kerkermauern auszuheben, dem Stein eine Bilderwelt einzukratzen, die sie wenigstens ein bisschen darüber hinwegtrösten konnte, dass ihnen die Hoffnung auf Freiheit auf ewig verwehrt war.

Die ersten dort Inhaftierten waren katholische Priester, die irgendwann von den Hugenotten gelyncht wurden. Heute werden die oberen Gelasse des Turms für Kunstausstellungen genutzt. Mir scheint, als folge das einer einheitlichen Idee; als seien das Priester- und das Künstlertum nur unterschiedliche Antworten auf das selbe zugrundeliegende Bewusstsein von Unfreiheit. Man hilft sich über das reale Elend hinweg, indem man imaginäre Welten in die Wände kratzt, Götter, Schiffe, Krakel. Es sind Passagen ins Freie. Vielleicht sind die Belüftungsreißverschlüsse, die in den Outdoor-Jacken etwas Frischluft an die Achseln gelangen lassen, auch nichts anderes; und die Ausschäumung in den Sohlen der Sandalen soll nicht den Marsch über rauhes Kopfsteinpflaster polstern, sondern nur den Absprung in eine Sphäre beflügeln, die das Gefühl allseitiger imaginativer Beweglichkeit noch stärker fördert als jeder noch so luftig aufgeschäumte Schuh.

Mittagessen in einem Bistro neben der Markthalle. Ich lerne die bavette schätzen - ein Stück Fleisch, das wir in den Auslagen der Schlachtereien bislang verschmäht haben, weil es zu sehr nach zähem, langfasrigen Schmorfleisch aussah (wozu es in Deutschland auch oft missbraucht wird). Es wird aus der Dünnung des Rinds geschnitten, also aus der hinteren Bauchregion, und dann in stark angeschrägtem Winkel in Scheiben zerlegt. Es schmeckt vorzüglich und um einiges intensiver als Dagmars faux filet. Als ich der Wirtin mein Kompliment mache, dankt sie geschmeichelt und erklärt mir, dass bei der bavette alles darauf ankäme, das Stück nur aller-retour zu braten. Sei das Stück auch nur ein paar Sekunden zu lang in der Pfanne, werde es trocken und sei kaum noch zu kauen. Es müsse unbedingt blutig serviert werden; dann aber sei es eine Delikatesse. Ihr Blick fällt plötzlich auf ein Fenster in der bel-etage gegenüber. Dort schaut eine Katze heraus, die mit untergeklappten Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt wie eine concièrge das Geschehen auf der Gasse verfolgt. Sie grinst, breit wie die Cheshire-Katze aus Alice im Wunderland.

Diesmal fahren wir für die Nacht an die Küste und finden hinter einer Ansammlung von Austernzüchterbaracken und kleinen Gehöften mit viviers, in denen Hummer und Langusten gehältert werden, einen Parkplatz. Hier stellen die Angler ihre Wagen ab, um mit ihren Utensilien die paar Schritte an die Steilküste zu tun und sich dort für den Tag einzurichten. Die alten Herren haben ein kleines Rund Strandheide niedergetreten, grade groß genug für ihren Hocker, die Tasche, den Eimer. Die Küste fällt hier senkrecht zwanzig, dreißig Meter ab, die Angelleinen sind entsprechend lang. Bald kennen wir das schwirrende Geräusch, mit denen sie hinausgeschleudert werden.

Etwas weiter ragen mit Pfählen und Strebewerk verankerte Hütten über die Uferkante hinaus: von dort aus lässt man mittels eines Seilzugs große, auf Rahmen gespannte Netze ins Wasser hinab, wartet ein wenig und kurbelt sie dann wieder hinauf. Der Fang ist freilich selten ergiebig. Ein einsamer Fisch schlägt matt seinen Leib in der Netzkuhle herum, und der Mann, der ihn herauszukeschern versucht, ist ein reiner Tölpel. Offenbar fischen hier keine Profis, sondern nur Urlauber, die ihren Kindern zeigen wollen, wie das Leben früher ging, oder einfach, dass auch Papa sich manchmal ziemlich doof anstellen kann.

Wir werden bald aus dem Freien unter unsere Markise getrieben. Immer wieder gehen Schauer nieder. Die grau gesättigten Wolkenfronten über dem Meer wechseln sich mit blauen Streifen ab, bis in der Dämmerung Meer und Himmel zu einheitlichen Grau verschmelzen. Wir essen unter Dach die vorhin günstig erstandenen Muscheln; es sind die besten Muscheln, die wir je gekostet haben, fleischig, saftig, beinahe süß, eine mandarinenfarbene Meeresfrucht.

Nachts tobt das Unwetter - ohne mich freilich, denn ich schlafe den abgrundtiefen Schlaf des Biertrinkers; aber Dagmar ist ob des stundenwährenden Schwankens und Schaukelns des Busses beunruhigt und schaut besorgt durch den Vorhangspalt. Immer wieder trifft eine Windbö den Wagen breitseits, und als Dagmar mich doch wachbekommt, biegen sich draußen die schlanken, wie fröstelnd in ihr dichtes Nadelkleid gewickelten Bäume wie Angeln, an denen ein allzu kräftiger Fisch zerrt. Am Morgen dann sind die Feldwege rechts und links der Asphaltstraßen von langen Schlammrillen eingefasst; in die Äcker haben Wind und Regen Schneisen gewühlt, in denen braun der Erdbrei steht.

Wir kehren nach La Rochelle zurück; der Markttag lockt. 

Es gibt Artischocken, die so frisch sind, dass sie sich noch nicht zu einer Kugel aus Blattschindeln geschlossen haben, sondern ihre spitzen Blätter noch auswärts strecken, sodass sie aussehen wie Königskronen aus der Artussage. Sie spitzen heraldisch die Ohren. Ihr Grün ist ohne jede fasrige Eintrübung; keine braune Strieme ist in die strotzend grünen Blätter eingeschossen. 

Es gibt Tomaten aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt als der der nährstoffbeträufelten Zellstoffsubstrate: schrundig, ungleich gefärbt, mit Schmutzspuren, die in der Haut mitgewachsen sind, Narben und Wunden, groben Verholzungen. Aber ihr Duft ist wüst und so sinnlich wie der einer Frau nach abendlicher Gartenarbeit. 

Es gibt Ziegenkäse in enzyklopädischer Vollständigkeit der Dekompositionszustände und Färbungen: Asche, schimmelfleckige Exemplare in Blau und Gelb, karamelbraune, steinharte Münzen.

Es gibt einen Berg von Langustinen. Mit den dornigen Zahnreihen auf Scheren und Schädeln, und den zinnenförmigen Panzerplättchen, die ihren Bauch säumen und zugleich an die Schabracke eines zum Turnier bereiten Ritterpferdes erinnern wie an weitere Zahnreihen, sehen die Tiere aus, als könnten sie nicht nur mit den Scheren beißen, sondern auch ohne Umweg über den Mundraum ihre Beute gleich mit ihrem scharfkantigen Bauchpanzer zerkauen und ihren Gedärmen einverleiben. Sie wirken äußerst wehrhaft. Es sind stachlige und heimtückische Gebilde; Dagmar wird sich später beim Knacken der Panzer einen Dornsplitter in den Finger treiben, der fast zwei Wochen lang dort sein subkutanes Unwesen treibt und erst durch eine scharfe Apothekerlauge nach und nach aus dem Fleisch gezogen werden kann.

Während wir anstehen, haben wir Zeit, einen kleinen Katzenhai zu mustern, der hier auf Eis liegt. Seine Haut ist trocken und samtrauh wie Putzleder, etwas erschlafft obendrein; wenn man mit dem Finger daran hin- und herschiebt, ist die Haut nur lose mit dem Fleisch darunter verbunden; unter dem Druck der Fingerkuppe bleibt lange eine zellulitische Delle.

Wir verfrachten die Langustinen in den Kühlschrank und setzen auf die Île de Ré über. An einer Bucht der Insel braten wir die Tiere, während die Flut langsam ansteigt. Die Muschelsammler ziehen sich aufs feste Land zurück; die heranrollenden Wellen überspülen ihre Spuren im Schlick. Wie eine Spiegelung der grauen Wassermassen unten kommen auch am Himmel die Wolken heran; wir halten Siesta unter der Markise und stellen die Teller nach draußen. Soll doch der Regen den Abwasch machen

Saint-Martin-de-Ré, der Hauptort der Insel, wirkt auf den ersten Blick abweisend. Wagenkolonnen umzingeln das Städtchen, kriechen in Schrittgeschwindigkeit dahin und lauern auf eine Blöße in der Festungsanlage, um dort einzudringen. Auf den Wiesen außerhalb des Mauerrings stehen dicht an dicht die Autos wie in einem gigantischen Heerlager: der Eindruck einer Militäroperation ist vor allem dem schlammigen Grund geschuldet; die Wiesen sind aufgepflügt von Reifen, die im Matsch durchgedreht haben, teilweise auch so überschwemmt, dass sie ungangbar sind; ein paar wohl schon seit Längerem dort abgestellte Wagen stecken bis zu den Felgen im Schlamm, einer ist von einer Böschungskante abgerutscht und steht jetzt im Morast wie kaputtgeschossen.

Es geht ein schroffer, in wüsten Böen losschlagender Wind. Von Zeit zu Zeit prasselt eine scharfe Salve Regen auf die Scheibe ein, und der Bus schwankt von einem Windstoß wie von der Druckwelle einer Detonation. Es würde mich nicht wundern, wenn neben den dahinkriechenden Wagenkolonnen ein Treck von Flüchtlingen einherziehen würde, hochbepackte Leiterwagen, weinende Kinder, Frauen mit Kopftüchern.

Die Vorstellung, in die Randzone eines Kriegs geraten zu sein, wird so stark, dass ich schon bereit bin, esoterischen Ideen wie einer karmischen Aufladung des Orts Gehör zu schenken. Vielleicht ist der Boden hier einmal von Kanonenkugeln aufgewühlt worden oder später von Schrapnellen zereggt - und heute ist der Tag, an dem die Metallsplitter ihre spitzen Kanten aus der Erde heraus aufwärts drehen und Erinnerungen an längst vergangene Gemetzel auswühlen. Vielleicht genügen auch schon die Bollwerke, mit denen Vauban - des Sonnenkönigs höchster Festungsbaumeister - Saint-Martin umgeben hat, um die Luft so mit Schwefel zu sättigen, dass selbst die Wolken über dem Meer von scheelgelben Säumen eingefasst und von grimmigen Lichteruptionen durchzuckt werden: irgendein unabgegoltenes Gewaltpotential scheint hier jedenfalls machtvoll wirksam, eine angespannte, brodelnde Portion Abwehrbereitschaft, die nur wie eine Schale heißes Frittierfett darauf wartet, dass etwas eintaucht, um mit prickligem und zischenden Aufwallen auf diesen Angriff zu reagieren.

In Wahrheit bin ich natürlich nur missmutig, weil wir im Verkehr eingeschnürt sind, weil uns das Wetter seit Wochen so wenig gewogen ist, weil wir einem Lobpreis auf die Insel Glauben geschenkt haben, der von Bekannten stammte, deren - von dem unserem zuverlässig abweichenden - Geschmack wir eigentlich kennen sollten; weil mich bei der Siesta ein befremdlicher Traum heimgesucht hat; weil es schwierig ist, unser Gefährt auf den schlammigen Wiesen abzustellen (die Parkplätze sind mit Baken gegen Wagen von mehr als 1 Meter 90 Höhe gesichert); weil ich pissen muss; weil meine Körperzellen nach Kaffee gieren, und weil der Name Martin seit einem Laternegehen mit sieben oder acht Jahren für mich mit einer solch melancholischen Empfindung erfüllt ist, dass Trauer und Verzweiflung mir manchmal die Kehle zudrücken, sobald ich an die schimmernden Lichter im Nebel denke, in deren Schein arglose Kindergesichter erglänzten, die sangen Sankt Martin war ein guter Mann, obwohl ich wusste, dass Martin kein guter Mann war, und dass es nicht immer ein Akt selbstloser Wohltätigkeit war, wenn er seinen Mantel öffnete.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, auf welchen Wegen wir plötzlich ins Innere der Zitadelle gelangt sind. Draußen bewegten sich die Autos weiter wie Kriechstrom, auf einer knisterigen Spur von surrendem Störungsgeflimmer, doch wir parkten plötzlich unter einem Mimosenbaum, der mit seinen Wedeln zu einem höflichen und feinfiedrigen Willkomm über das Busdach gestrichen hatte. All das stachelige Mauerwerk von Vauban wehrte uns jetzt nicht mehr von außen ab, sondern hielt uns geborgen. Wir waren drin, und siehe, es war gut.

Der Ort: hübsch. Die Häuser sind weißgekalkt, mit schmucken Fensterläden, die stark genug aussehen, um dem Wind und dem Regen zu trotzen. Gassen und Hauswände bilden eine engere Einheit als anderswo, wo sich die Häuser wenigstens durch einen Absatz, eine Schwelle oder schmale Saumsteine von den Gassen abheben und eine Zone des Übergangs markieren. Hier aber sind die glatten Fassaden der Häuser wie Rinnenwände, die dem periodischen Durchstrom von Wasser keinen Anhalt bieten sollen, an denen sich Wirbel und Strudel bilden können. Keine Blumenkästen vor den Fenstern; der Wind würde sie wohl zu oft von den Borden fegen. Es gibt nur Stockrosen, die aus ummörtelten Aussparungen im Kieselbelag sprießen und sich geschmeidig in der Brise wiegen.

Je mehr wir uns dem Hafen nähern, desto höher wird die Ladendichte: Kleider, Schuhe, Dekoration, Schmuck, Kosmetik. Das übliche Angebot für eine gutsituierte Klientel, die sich auf einer solchen Insel schnell langweilt, wenn grade kein Strandwetter ist. Bei Regen sind die Strände leer und die Stadt läuft voll. Ochlo- und Klaustrophobe müssen sich zusammenreißen. Ich versuche, ein strenges und überhebliches Gesicht aufzusetzen, um mir den Pöbel vom Leib zu halten, in den sich die Leute unweigerlich verwandeln, wenn sie zu viele werden und mir allzu dicht auf die Pelle rücken. Unten am Hafen bebe ich vor Beklemmung, Hass und Verachtung; zugleich hasse und verachte ich mich ob dieses Hasses und dieser Verachtung. Ein demi besänftigt mich leidlich; trotzdem schaue ich ungnädig auf die Promenade. Der Ort könnte reizend sein, wenn nur die vielen Leute nicht wären, die das hübsche Stadtbild unter ihrem Gewicht zerdrücken. Indem sie kommen, machen sie den Reiz zunichte, um dessentwillen sie gekommen sind. Wären sie nicht gekommen, hätten sie allen Grund gehabt, zu kommen; da sie aber nun mal da sind, ist auch der Grund dafür verschwunden. Was für ein dummes Paradox!

Im Tierreich gibt es funktionierende Regulative, die die Dichte von Populationen steuern. Je mehr Füchse, desto weniger Hasen pro Fuchs. Je weniger Hasen pro Fuchs, desto weniger Füchse, und je weniger Füchse, desto mehr Hasen, und je mehr Hasen, desto mehr Füchse und immer so weiter. À la longue wird so das Verhältnis von Nahrungsangebot und Verzehrnachfrage in einem dynamischen Gleichgewicht gehalten und pendelt meist um ein erträgliches Mittel. Im Tourismus herrscht nicht die Mitte, hier regiert der Exzess. Die Bedingungsverhältnisse beschränken sich nicht gegenseitig, sondern verstärken sich: je bekannter ein Ort ist, desto mehr Leute wollen dort sein. Und je mehr Leute dort sind, desto bekannter wird der Ort. Und je bekannter ein Ort ist, desto mehr Leute wollen dort sein. Statt limitierender Rückkopplung wirkt eine Exponentialfunktion: strukturell ist das eine Art von Tumorwachstum. 

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem lokalen Handel. In jedem dritten Laden jeden Dorfes werden die immer gleichen Produkte verhökert: Salz und Seife, Seide und Scheiße. Das ist natürlich nachvollziehbar - was sollten die Ansässigen den Touristen auch sonst verkaufen wollen, etwa Sofas oder Flachbildschirme? Trotzdem ist diese Monokultur etwas traurig anzusehen: es ist wie ein eutrophierter Teich, in dem ein Übermaß an Nährstoffen die ursprüngliche Artenvielfalt vernichtet hat. Auch das hat etwas von Krebsgeschwür. 

Auf einer Tafel sehen wir die Vauban'sche Zitadelle im Aufriss, mit all den Künetten, Kronwerken und Tenaillen, den Courtinen und Escarpen und was dergleichen mehr an Festungsbauraffinessen sind. Ich denke an einen explodierenden Stern, der all seine Stacheln nach außen streckt, an den kristallenen Eispalast von Andersens Schneekönigin und an den Spiegelsplitter, der dem kleinen Kai aus dem Märchen in Herz und Auge steckte. Ich sehe in dem vielzackigen Gebilde ein Zahnrad, das einmal bestimmt war, sich in der Militärmaschinerie des Sonnenkönigs klickend und knackend mitzudrehen. Ich sehe einen Schuriken mit vergifteten Spitzen, den Ordensstern eines Generals, eine barocke Windrose. Doch dann weiß ich, mit dem brüsken Gefühl von Richtigkeit, woran mich die Anlage wirklich erinnert: an die schematische Darstellung von Viren, Antikörpern, Leukozyten etc., deren martialische und bizarre Formen hier, von Nanometer auf Kilometer vergrößert, wiederkehren.

Heraklit hatte recht: der Krieg ist der Vater aller Dinge. Auf jeder Ebene des Seins erteilt er die selben Ordern: den Feind abwehren; das Eigene bewahren. Die Stacheln nach außen richten, um das verletzliche Innere zu schützen.

Wir fahren weiter die Insel hinauf. Relief und Vegetation bleiben nichtssagend und blass. Im Nordwesten liegen immerhin einige Salzgärten, denen eine melancholische Stimmung eigener Art eingeprägt ist. Der Leuchtturm an der Westspitze ist dann allerdings nur ein lachhafter Anlass für eine Flaniermeile von hingeschlampten Baracken, in denen, wer hätt's gedacht, Seife, Seide, Salz und Scheiße verhökert wird. Es ist kein Vergleich mit den imponierenden Küsten der Bretagne, die Erhabenheit und Majestät, Einsamkeit und eine wüste Würde ausstrahlen: Größe, Weite, Tiefe in allen Dimensionen. Hier ist alles klein und läppisch; man sollte die Inselorte durch ein Schienennetz im Maßstab H0 miteinander verbinden.

Ich suche schon seit langem nach einer Erklärung, warum Menschen ihre Ferien so gern auf Inseln verbringen. Es ist mir ein Rätsel. Ich kann noch verstehen, warum man vom Meer angezogen wird: der Dreiklang aus Sonne, Meer und Sand ist in seiner Klarheit eine volltönende Harmonie, das prangende C-Dur des Auges. Der Blick auf das Meer gewährt eine Reduktion auf grundlegende Unterschiede in ihrer schlackenlosen Reinheit. Genauer gesagt ist es nicht nur ein Dreiklang, der sich hier aufspannt, sondern die Vierheit von Feuer, Wasser, Luft und Erde. Empedokles ahnte darin die Urstoffe der Welt. Auf der Anhöhe Agrigents wandte er die Augen von der rosafarbenen Blüte der Mandelbäume und von den Eidechsen, die über die Sockel der Tempelsäulen huschten, und schaute in die Weite. Hinter ihm quoll Rauch von den Opferaltären; die Händler schrieen, Volk wimmelte hinter seinem Rücken umher. Vor ihm stand nur die flammende Sonne und die ausgeprägte Stufung von Himmel, Meer und Land: gasförmig, flüssig, fest. Die Klarheit der Sphären und ihre deutliche Scheidung nimmt ihm den Atem: er erkennt die Einheit in der Vielfalt und die Mischung an den Säumen der Elemente: er erkennt die flimmernde Linie, die das Meer vom Himmel trennt und es mit ihm verbindet; er erkennt die schäumenden Wellen, die den Ufersand tränken und aus den Kristallen, die sonst so leicht durch die Finger rieseln, eine feuchte Masse Schlamms machen. Er sieht den Dampf, der von den heißen Felsen aufsteigt, wenn eine hohe Welle sie besprengt hat. Er ahnt die Übergänge des Seins, seine Vermischlichkeit; sein Bestehen im Wandel; er ahnt im Flüchtigen die Ewigkeit: das Eine im Vielen.

Es wäre albern zu glauben, dass den Strandurlaubern, die heute mit Sonnenschirmchen und Melonenschnitzen neben ihren aufblasbaren Krokodilen im Sand liegen, der kosmische Tiefsinn des Empedokles gravitätisch durchs Bewusstsein wogte. Trotzdem meine ich, dass sie zumindest an den Rändern ihres Geistes, wie verworren und dumpf auch immer, und auf jener unbewussten Ebene, die Leibniz die der petites perceptions nannte, Fühlung mit dem Ganzen der Welt aufnehmen. Sie scheinen sich nur mit Sonnencreme einzureiben oder an ihren Bikinibändchen zu zupfen: tief am Grund ihres Bewusstseins wispert - kaum mehr als ein Rascheln unentzifferbarer Silben - ein Widerhall des griechischen Weisen, dass Tod nichts ist als Verwandlung. Etwas in ihnen hört im rauschenden An- und Abschwellen der Wogen ihr eigenes Blut pulsieren. In dem Salz, das sie von ihren Lippen lecken, wird der Niederschlag der Meeresgischt ununterscheidbar von dem Schweiß, den ihre Poren absondern. In ihren Tränen und ihrem Samen, in den Säften ihrer Drüsen und ihrer Nervenbahnen, in ihrer Lymphe und in dem Liquor, der ihre Gehirne bettet wie das Meer eine Insel - überall in ihren Körpern haben sich Spuren des Meers erhalten, dem das Leben einst entstiegen ist. Wie sollten sie diese uralte Verbundenheit und Verwandtschaft nicht in ihren Zellen raunen hören?

Das ist freilich nur eine überschwengliche Spekulation, die vielleicht sogar Schwärmern wie Schelling, Novalis oder Carus ein skeptisches Stirnrunzeln abringen würde. Zudem beantwortet sie die Frage noch nicht, warum es die Leute mehr noch als bloß an die Strände auf die Inseln treibt. 

Der Insel wohnt auf jeden Fall ein gewisses symbolisches Surplus inne, das sie von einem kontinentalen Meeresstrand unterscheidet. Eine Insel zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass der Quotient ihrer Uferlänge zur dahinterliegenden Fläche größer ist als auf dem Festland. Es geht, wie meist, nicht um zählbare Proportionen, sondern um Bedeutungen.

Eine Insel ist, wie der Wortsinn schon zu verstehen gibt, Isolation: herausgehoben aus den üblichen Zusammenhängen, und von den Zwängen und Gebräuchen, die auf dem Festland herrschen, befreit, taugen Inseln als Metaphern des Anderen und Unvertrauten. Von Platons Atlantis über die Utopia des Thomas Morus sind Inseln Orte, an denen die bekannten Gesetze ihre Gültigkeit verloren haben und neuen Regeln offenstehen. Inseln sind Experimentalzonen. Robinson Crusoe probierte hier Bürgertum ohne Mitbürger aus, Darwin verfolgte auf dem Galapagos-Archipel, wie die Begrenztheit des Raums den Erfindungsreichtum der Natur so stimuliert, dass diese die Limitierung der Fläche durch Diversifizierung im Inneren ausgleicht: auf dem Festland wären die Darwinfinken auf der Suche nach den üblichen Nahrungsquellen in die Weite geschwärmt; ihre insuläre Existenz aber nötigte die Art, in den winzigen Nischen nahebei nach Alternativen zu suchen und spezialisierte Fertigkeiten zu entwickeln. Die Natur presst aus Knappheit und Mangel eine unabsehbare Vielfalt von Abwandlungen hervor. In ihrer Gier nach Variation schlüpft sie in jede Pore des Möglichen, sickert in die kleinste sich bietende Lücke und schiebt ihre tastende Zunge noch in die unzugänglichste Kaverne, um auch daraus noch eine Spur nahrhaften Honigs zu saugen. Schnäbel aller Bauart - von der spitzen Pinzette bis zum groben Nüsseknacker - akklamieren ihr dazu.

Eben solcher Besonderheiten wegen verbinde ich mit der Idee einer Insel immer das Abweichende, Niegesehene, Einzigartige. Eine Insel ohne das Präfix Schatz erscheint mir sinnlos und begriffswidrig. Inseln sollten Möglichkeitsschatullen sein, thesaurische Schrullenkammern, Spinnerkabinette, Versuchsküchen: Laboratorien des Neuen, in deren Phiolen und Alambics bekannte Elemente zu unbekannten Kombinationen destilliert werden.

Hier aber scheinen sich nur die immer selben Bestandteile zu wiederholen. Salz, um zu konservieren, Seife, um sich von Schmutz zu reinigen. Die Bestimmung der Insel ist nicht, das Neue auszubrüten, sondern es abzuwehren und abzuwaschen. Hätte ich ein Wappen der Insel zu entwerfen, ich stellte als drittes Zeichen neben Salz und Seife noch die Festung Vaubans: als Emblem der Wehrhaftigkeit und der Selbstbewahrung könnte sie metaphorisch die Insel als Ganze vertreten.

Das nämlich scheint mir der eigentliche Grund, warum Inseln bei Urlaubern so beliebt sind. Es geht nicht um Vielfalt und Fülle, sondern um Einheitlichkeit und Reduktion. Die Maximierung der Meeresnähe ist nur die eine Seite; die andere besteht in der Minimierung des Hinterlands. Inseln sind Kontraktionen und Festigungen eines präzis umgrenzten Territoriums. Keineswegs sind sie die empfindlichen und bedrohten Gebilde, an deren Rändern eine allgewaltige See nagt. Die See stürmt nicht in erhabener Unzähmbarkeit auf die Inseln ein, sie ist nicht das Bild eines übermächtigen und verschlingenden Außen, sondern im Gegenteil der gestalttheoretische Grund, vor dem sich nur um so triumphaler die Figur der sich behauptenden Inselwelt abhebt. Auf Inseln setzt man sich nicht der Vielfalt der Welt aus, sondern genießt das Bild der Abschließung gegen diese. Die Strandsäume sind die Membran, die das Land gegen das Meer abgrenzen, so wie die Bastion Vaubans die Membran gegen feindliche Truppen sind, und die Sonnencreme die Membran gegen die niedersengende Sonne darstellt. Inseln sind Grenzflächen, an denen die Menschen zweierlei spüren: einerseits den monumentalen Sog des Elementaren, den sie im Anbranden der Wellen und in der vierfältigen Staffelung von Feuer, Äther, Wasser, Erde ahnen. Andererseits aber - und bedeutsamer - ist die Abschließung gegen diesen Sog. Strandurlauber sind, obwohl das nicht gleich ins Auge fällt, weil sie diese Verwandtschaft mit Sonnenschirmen, Picknickkörben, Eimerchen und Schäufelchen für die Kleinen tarnen, in Wahrheit Nachfahren des Odysseus, der sich am Mast seines Schiffs anbinden ließ, um dem verführerischen Gesang der Sirenen zu lauschen, seiner tödlichen Lockung aber nicht zu erliegen.

Ich muss zugeben, dass mich diese Überlegungen nicht recht zufriedenstellen. Sie sind ein Teig, der nicht ganz durchgegoren ist, und in dem zuviel tote Mehlklümpchen und übergroße Luftblasen eingelassen sind. Aber das ist mir gleichgültig, wenn ich es nicht sogar begrüße. In Poitiers habe ich Salman Rushdies Satanische Verse zu lesen begonnen, dessen bisweilen harte Fügungen in Komposition und Motivik mich mehr begeistern als manch Anderes, besser Durchgearbeitetes. Es ist ein Buch wie indische Küche: scharf und aromatisch, voller Kontraste und geschmacklichem Wunderdonner; vor allem aber verzichtet Rushdie wie ein indischer Koch darauf, ein Hühnchen sorgfältig von seinen Knochen zu befreien, bevor er es brät. Er hackt es grob mit einem Beil und wirft die Stücke samt den splittrigen Rippen in den Schmortopf, krack, da habt ihr! Er baut sein Buch aus Intuitionen von bewundernswerter Tiefe auf, die er dann in der Ausarbeitung auf so grandios nachlässige Weise hinschmiert wie der späte Tintoretto. Meist verschmäht er den Zobelhaarpinsel und begnügt sich mit dem groben Spachtel; das lässt zwar überall Riefen und Sprünge und Inkohärenzen, das macht aber nichts: im Ganzen gibt das ein krudes und rauhes, von Spreißeln und Splittern starrendes Gebilde: gleichwohl ein Meisterwerk, das seinem Thema gerade dadurch gerecht wird, dass es malerisch gefällige Abrundung gar nicht erst versucht, sondern sich eher bemüht, auch unregelmäßige und inkommensurable Scherben zu einem Mosaik zusammenzukleben. 

Zurück auf fester Landmasse steuern wir Saintes in der Charente an. Die Stadt steht unter Wasser, als wir ankommen. In den Gassen sprillen Wasserzöpfe hastig zum Fluss hinunter, gluckern und gurgeln sprudelnd uferwärts. Saintes ist ein typisches Provinzkaff des Südwestens mit viel Leerstand in den Geschäftsgassen im Zentrum. Studios für Fingernagelpflege, Tatoos und Piercing haben die althergebrachten Läden ersetzt. (Das erste Zeichen der ökonomischen Erholung des Landes wird es sein, wenn in den Hauptstraßen solcher Städtchen Tatoo-Beseitigungs-Institute ihre Pforten öffnen.)

Die Kathedrale ist seltsam proportioniert; sie hat keine anständige Turmspitze, sondern bloß einen Bleitopf, den man ihr stattdessen aufgestülpt hat, sodass der Turm ein wenig an jene Bauerntölpel erinnert, wie man sie im sechzehnten Jahrhundert anwarb, damit sie - statt eines Helms einen Blecheimer auf dem runden Kopf - mit Dreschflegel und Mistgabel die ketzerischen Hugenotten erschlügen. Im Innern ist die Kirche ein Konglomerat von Epochenstilen, die Fluchtlinie vom Portal zum Chor ist schief, und der Altar ist überwölbt von einem Dach, auf dem auf stämmigen und gekrümmten Tentakelbeinen etwas wie ein überdimensionaler Tintenfisch sitzt; es könnte allerdings auch eine Art Erntekrone sein oder der Henkel für einen dieser Glasstürze, wie man sie über Torten stülpt. Dieses Ziborium ist in den Chor gequetscht wie eine Trophäe, die der Bauherr nie erwartet hätte, einmal zu erringen, aber als er sie dann bekam, musste sie irgendwie untergebracht werden, und da steht sie nun, eher weggestellt als würdig präsentiert. Erstaunlich ist nur, dass all diese Unstimmigkeiten, die ein zimperlicher bon goût zu bemängeln fände, überhaupt nicht schaden: der Gesamteindruck ist grade dieser etwas windschiefen Lässigkeit wegen sehr anheimelnd. Dazu kommt, dass das Deckengewölbe des Chors mit Holz beplankt ist: diese von dicken Holzrippen umspannte Bauchung wirkt in all dem Sandstein wie einer jener schlichten Heiligenüberreste, die von einem kostbaren Reliquiar eingefasst werden. Der Stein scheint überhaupt nur aufgeboten, um das einfache Holz gebührend zur Geltung zu bringen. So bildet nicht der Altar den eigentlichen Blickfang der Kirche, sondern die Spanten und Balken des Gewölbes darüber, dessen warmes Braun dem ganzen Raum mit der Anmutung einer etwas rödeligen Bauernscheune tönt. Selbst der merkwürdige Griffaufsatz auf dem Ziborium kommt mir plötzlich vor wie die Hebel einer großen Kelter. Vielleicht misstrauten die Kirchgänger hier den Wundern, die Christus gewirkt haben soll, und dachten sich, es sei allemal besser, eine Traubenpresse in Reserve zu haben, mit der selbst dann noch Wein zu machen wäre, wenn sich Christi Wort einmal nicht so zauberkräftig erweisen sollte wie bei der Hochzeit von Kanaan... Und einmal bei dieser Deutung angelangt, erkenne ich nun auch, woher die Bauweise des Chorgewölbes tatsächlich rührt: seine Planken und Spanten sind nicht anders geformt als die jener Lastkähne, die seit dem Mittelalter flussabwärts nach Rochefort fuhren, um die Fässer aus Cognac zum Weitertransport nach England und Schweden zu schaffen. Die Spitze dieses Kirchenschiffs ist wahrhaftig einem Schiffsbug nachempfunden: diese gabares haben sich darin bewährt, Spirituosen zu befördern. Mag sein, dass sie als Laderaum für den sanctus spiritus ebenso taugen.

Wir gehen in einem kleinen Laden essen. Papa kocht, die Tochter - jeune fille en fleur - bedient. Dazu gibt es Musik aus den 60ern und 70ern, viel Blues und Mann-Frau-Duette, auch einiges Gegniedel aus dieser Zeit, als das Rockgitarrensolo noch eine unverblümt sexuelle Triebkraft hatte. In Deutschland ist diese Musik in der Öffentlichkeit rar geworden;  die gängigen Radiostationen knausern zwar auch nicht mit altbewährten Hits, aber die Auswahl ist merklich moderner und setzt eher in den 80ern ein, als das Klangbild sich schon spürbar gewandelt hatte: ab den 80ern wird die Abmischung crispy, schärfer in den Höhen, überhaupt präziser in der Verteilung der Frequenzen. Man hört, wie die aufgenommene Musik von da an durch elektronische Gerätschaften gefiltert wurde; man hat sie an Schaltkreisen scharfgeschliffen. Der Einsatz von Technik hat sprunghaft zugenommen, nachdem Yamaha den DX7 auf den Markt brachte; seitdem gibt es kaum noch einen radiotauglichen Hit, der nicht eine gehörige Portion Silizium in seinen Adern hätte. Der Sound wird poliert; die erweiterten Möglichkeiten, den Klang aus separat manipulierbaren Spuren aufzubauen, erzeugen oft den Eindruck eines sphärischen Hallraums. Man müht sich um eine kristalline Transparenz, eine Durchhörigkeit, die manchmal von fast klinischer Klarheit ist. Die Musiker scheinen oft weit voneinander entfernt und sternbildhaft verteilt. Ein jeder sitzt in seiner gläsernen Kabine, die es dem Tonmann erlaubt, den jeweiligen Input von allen Beimischungen gereinigt, separat weiterzubehandeln. Isolierung der Bestandteile und ihre freie Rekombination wird das Ideal: die Verfahrensweisen der Popmusikindustrie näherten sich technisch denen der Chemiker an.

Demgegenüber gehört die Musik, die hier gespielt wird, während ich meine Kutteln mampfe, noch der analogen Epoche an, schlampig und rhythmisch verschleppt, im Klangbild verwaschen und unsauber zusammengerührt. Da ist Jacques Dutronc und irgendeine Frau; ein Blues mit einem nicht enden wollenden Gitarrensolo, vielleicht von Savoy Brown; Serge Gainsbourg, Strange Brew von Cream. Janis Joplin fleht Get it while you can, als die jeune fille mit der Käseauswahl kommt. Der Epoisses verströmt seinen intensiven Geruch nach einer vollen Kinderwindel; der Roquefort sieht aus, als würde die Zungenspitze von einem britzelnden Stromstoß durchzuckt, sobald man sie an den blauschimmligen Teig bringt. Der Tomme muss über Monate in einem feuchten Kellergelass vergessen worden sein, wo er geruhsam vergammeln konnte, und der beaschte Pyramidenstumpf eines Ziegenkäses erweist sich als so hart, dass es wahrscheinlich leichter ist, mit einem Meissel einen Splitter von Tut-ench-Amuns Grabstätte zu lösen, als eine Scheibe von diesem Käse auf den Teller zu kriegen.

Solche Käse - und sie schmecken wunderbar - zu den Klängen eines DX7 zu hören, wäre unpassend, wenn nicht frevelhaft. Ein DX7 verlangt nach einem Käse, der in einem Edelstahlbottich angesetzt wurde, geschrubbt, gewienert, von allen bakteriellen Anhaftungen gereinigt. Ein Kessel ohne Bazillendurchtränkung; eine blitzsaubere tabula rasa, auf der jeder Parameter von Menschenhand eingestellt und jede Zutat von einem sterilen Knethaken eingerührt werden kann. Aber der Käse, den wir jetzt bekommen, kann unmöglich aus keimfreien Reinräumen stammen, die man nur in Zellstoffoveralls betreten darf. Diese animalischen Aromen wird er nicht aus solch blitzsauberen, neutralen Umgebungen bezogen haben, sondern nur durch Spuren und Hinterlassenschaften lebendiger Kulturen, die vollgesogen sind mit Leben und Tod, mit Geschichte und einem äonenlang ausgehandelten Equilibrium von Mikrobe und Mensch.

Die Bottiche, in denen diese Käse angesetzt worden sind, waren gewiss aus einem Holz, in dessen Poren, Rissen und Mulden Kolonien von Bakterien hausen, Abkömmlinge von Hefepilzen und Sporen, die vermutlich schon die Achselhöhlen François Villons besiedelt oder unter der Vorhaut von Rabelais gejuckt haben. Das Gewimmel promiskuitiven Austauschs zwischen den winzigen Organismen in den Riefen der Fässer und denen, die von den feuchten Zitzen der Kühe stammen und in der warmen Milch nur darauf warten, einen Nährboden für ihr wildes Fest der Fermentationen zu finden - für diese schmutzige Orgie voller Säfte und Sekrete sind Edelstahl und Silizium nicht die rechte Unterlage, dafür sind Laken vonnöten, die schon einmal mit Speichel und Schweiß und seimigen Lustspuren benässt worden sind. Wahrscheinlich gehört es zu den gut gehüteten Geheimnissen der Käsereien, dass sich als Seihtücher, in denen der Käsebruch abtropft, am besten die ausgedienten Laken von Flitterwochenbetten eignen.

Die aromatische Fülle der Käse jedenfalls hat etwas derart Berauschendes, dass ich mich zusammenreißen muss, um nicht unter dem Tisch nach Dagmars nackten Füßen zu tappen. Plötzlich gelüstet es mich ungeheuer danach, meine Lippen an diese fünf Zehen zu pressen und Dagmar, als seien ihre Zehen die Zapfen eines bislang unentdeckten Instruments, eine Melodie aus Seufzen und Stöhnen einzublasen und oder sie aus ihnen herauszusaugen.

Strange Brew fürwahr; das Cream-Stück kommt zum zweiten Mal, als der Kaffee serviert wird. Ich frage das Mädchen, ob ihr die Musik gefällt, die so gar nicht die ihrer Generation ist. Ist ihr das nicht zu altmodisch, démodé? Ja, sagt sie, aber die Musik tut ihrem Vater gut. Il se sent à l'aise avec. C'est la musique des trente glorieuses. Vous savez...

Da schellt die Küchenklingel. Ein Teller ist servierfertig, sie muss ihre Arbeit tun und lässt den Satz unbeendet, aber ein sachtes Heben der Augenbraue deutet an, dass sie die nostalgischen Vorlieben ihres Vaters nicht teilt. Die trente glorieuses sind die Wachstumsjahre Europas nach dem Krieg, die Jahre des steigenden Wohlstands und einer zunehmenden Produktion - geschöpft aus den Tiefen der Erdöllagerstätten und am Brennen gehalten von einer Energie, die aus einer Vergangenheit von Jahrmillionen gepresst wurde. Es sind die Jahre, in denen Kunststoffe aller Art Einzug in die Haushalte finden, und der alte Traum der Alchimisten, aus Scheiße Gold zu machen, endlich in Erfüllung zu gehen scheint. 1973 enden diese Wunderjahre: die Ölscheichs drehen nicht nur die Förderhähne zu, sondern legen ihre Hände spürbar an die Gurgel der westlichen Wirtschaft. Die Unschuld, mit der man sich angeschickt hatte, die im Erdinnern gesammelten Speicher zu leeren, ist dahin, und mit ihr der Optimismus, der trotz aller sichtbaren Modernisierungen noch hatte glauben lassen, dass man sich in einem kulturellen Kontinuum, einem breitflüssigen Zusammenhang von Natur und Tradition befindet. Das Get it while you can ist bei Janis Joplin noch Flehen und Jubel aus Lebens- und Liebeshunger. Ein paar Jahre später hört man die verzweifelten Töne darin, und ahnt, dass die Party bald ein Ende haben wird. Nicht nur die der Joplin, der bald die Whiskeyflasche aus der Hand fallen sollte. Die Weltwirtschaft, die auf schmalerer Ölflamme kochen muss, ist nicht tot, aber ernüchtert. Kein Wunder, dass in der Folge die 60er als die unbeschwerten Jahre erscheinen, umflort vom Glanz der Unschuld und des Aufbruchs.

Der Wirt jedenfalls hat sich in seiner Musikauswahl ganz in diesen glorreichen Jahren und einem nostalgischen Behagen eingerichtet. Und ich muss zugeben, dass mir diese etwas müffelnde und stockige Atmosphäre, die durch den Ort zieht, nicht unangenehm ist. Es ist die Abseite der Gegenwart - und vielleicht grade darum die Gegenwart selbst.

Auf der anderen Flussseite suchen wir eine Bäckerei; um die Zeit bis zur Öffnung nach der Mittagspause zu überbrücken, nehmen wir einen Kaffee in einer Bar. Ich gehe aufs Klo, das in den mittelalterlichen Tiefengängen des Hauses liegt. Kaum habe ich mein Geschäft verrichtet, geht das Licht aus und lässt sich weder durch Gefuchtel (vielleicht steuert ein Bewegungsmelder die Beleuchtung?) noch durch systematische Suche nach einem Schalter wieder anmachen. Mit heruntergelassenen Hosen und notdürftig gereinigt, tappse ich bis ins Treppenhaus und fasse auf Schaltersuche (es ist ja dunkel) solange in Spinnweben, bis ich bis zu den Ellbogen damit verklebt bin, aber das Licht bleibt aus. Irgendwann geht es ohne offenbaren Grund an; vielleicht hat sich das Wirtspaar des ausbleibenden Gastes erinnert? Aber die Beiden kümmern sich sonst ja auch nicht um ihre Gäste, sondern konzentrieren sich ganz auf ihre ebenso lautstark wie ungeniert ausgetragenen ehelichen Streitigkeiten. Warum sollten sie ihren Toilettengästen mehr Beachtung schenken als denen, die direkt vor ihnen stehen und erfolglos mit einem Zwei-Euro-Stück auf den Tresen pochen, um ihren Zahlungswillen zu signalisieren?

Als auch wir endlich bezahlt haben, geht draußen wie auf Knopfdruck ein ungeheurer Regenguss nieder. Das Wasser stürzt vom Himmel wie aus einem Spülkasten. Ein junger Mann, der seinen Kaffee am Tischchen auf dem Trottoir genommen hat, sucht drinnen Schutz. Obenrum mit einem Sakko leidlich zivil gekleidet, trägt er untenrum nur dünne Boxershorts und lederne Halbschuhe ohne Schnürsenkel; das Wirtspaar übersieht ihn geflissentlich, hält aber, Streit hin oder her, immer ein Auge darauf, dass dieser komische Heilige keine Zeitschrift aus den Auslagen stibitzt.

Die Charente entlang. Es ist ganz reizend, wie der Fluss, der sich in launigen Windungen durch Felder und Weiden schlängelt, immer wieder die Straße berührt und sich dann dem Blick erneut entzieht. Das hat etwas von dem koketten Spiel eines jungen Mädchens, das über die Spitzen eines Zauns blinzelt und sich gleich wieder kichernd dahinter verbirgt, nur um einige Augenblicke darauf von neuem aufzutauchen und die Neckerei weiterzuführen. In Filmen, in denen muntere Degenhelden mit einem Federbusch am Hut in Gasthöfen einkehren und dem Wirt Sätze zurufen wie "Fahr er auf, was Küche und Keller zu bieten haben", gehört immer auch ein munteres Liebchen zum Inventar, eine kecke Magd, die ebenfalls gern solche Spielchen von Locken und Verwehren treibt - zwar das Strumpfband blitzen lässt, dem allzu vorwitzigen Grapscher aber flink eins auf die Pfoten gibt.

Die Dörfer, die wir durchqueren, wirken alle etwas angestaubt: ältlich, nicht alt. Graue Cumulusbänder walken darüberhin und wringen ein paar kräftige Spritzer Wasser aus dem Wolkenteig. Als der Schauer vorüber ist, glänzen die Dächer und die Blumenrabatten am Straßenrand wie bunt angetuscht. Die Wolken, die am Himmel übriggeblieben sind, stehen jetzt proper als frisch aufgeschüttelte Kissen im Blau: die roten Dächer komplettieren das Weiß der Wolken und das Blau des Himmels zu einer prachtvollen Trikolore. Morgen ist Feiertag - quinze aôut. Zwar begeht man hier eigentlich das Gedenken an Mariä Himmelfahrt, aber der Tag ist längst säkularisiert und eher Anlass zu einem Volksfest als zu frommem Gottesdienst. Napoleon Bonaparte hat dem während seiner Kaiserzeit vorgearbeitet, als er dafür sorgte, dass ein (historisch etwas zweifelhafter) Märtyrer des 4. Jahrhunderts namens Napoleon in die Heiligenkalender der katholischen Kirche eingetragen wurde. Im Ersten und Zweiten Kaiserreich beging man also am Tag der Heiligen Jungfrau zugleich die nationale Feier des Heiligen Napoleon. Vom Nationalen ist allerdings nicht viel übrig. Der Tag ist - wie in Deutschland Christi Himmelfahrt - schlicht ein jour fixe für kräftige Besäufnisse und Radau bis spät in die Nacht geworden. Der Rauschlust ist es auch ziemlich egal, ob man nun eine Kokarde in bleu-blanc-rouge um den Glasfuß legt oder es mit den Farben Mariens schmückt.

Wir kehren bei einem Campingplatz am Fluss ein. Die Fähre nebenan bringt Radler, Austragsbauern, Zirkusausrufer über die Charente. Der Zirkuswagen trägt ein Elefantenhaupt aus Kunstharz auf dem Dach. Der Lautsprecher steckt im aufgerissenen Maul des Elefanten und hustet übersteuerte Brocken Krach aus, die wahrscheinlich noch nicht mal von den rundköpfigen Buben verstanden werden, die am Ufer angeln. Sie schauen dem Elefantenrüssel hinterher, der wie ein großes Fragezeichen über den Fluss zieht.

Der Platz ist eine weitläufige Anlage, ohne irgendwelche Heckenunterteilungen, die üblicherweise das jedem Gast zugewiesene Gehege einfassen. Die Offenheit ist vielleicht Programm, vielleicht sind aber auch nur bei der letzten Überschwemmung der Charente-Ufer alle Sträucher und Hecken weggerissen worden.

Die Rezeption sieht aus wie eins jener Wärterhäuschen, die am Canal de Bourgogne oder am Canal de Midi die Schleusen bewachen; blumenumrankt, verwunschen und feenhaft, hütet es den Zugang zum Platz. Nach unserer Ankunft müssen wir klingeln, und warten, bis ein Golfwägelchen heransurrt, das von einer dauerwellengrauen und kittelbeschürzten Rentnerin gesteuert wird. Das ältliche Wesen verjüngt sich allerdings mit jedem Meter, den sie näherkommt; als sie vor uns hält und aus dem Wagen springt, ist sie nur noch vierzig und recht apart. Das graue Haar scheint eine extravagante Idee ihres Friseurs, die Kittelschürze folgt einem Entwurf von Gaultier. Madame wirkt ein klein wenig verlebt und wie einem Maigret-Roman entspungen, wo sie in dem weitem Spektrum der Frauenbilder ihren Platz nahe der alleinlebenden Ladenbesitzerin und der früh verwitweten Wirtin hat: eine Frau, die nur deshalb nicht die Dorfschlampe geworden ist, weil sie dafür zu hochmütig ist und sich, weil ihr die Bauernburschen der Umgebung zu vulgär sind, nur mit durchreisenden Fremden einlässt. Aber auch die müssen nach erfolgtem Akt ihr Bett verlassen und durch den Herbstnebel in den freudlosen Mief ihres Zimmers im Hôtel des Voyageurs zurückkehren.

Dass sie aus meinem Ausweis die Personalien in ihren Computer tippt, gefällt mir; vielleicht leitet sie die Daten gleich an den Quai des Orfèvres weiter.

Als wir am Morgen abfahren, grüßt sie zum Abschied aus dem Fensterrahmen ihres Wärterhäuschens. Es ist ein Königinnenporträt, Bruststück, Halbprofil. Sie ist rasant schick gemacht und trägt eine aufsehenerregende Kette aus roten, orangefarbenen, gelben Kugeln, die wie Herbstfrüchte in einem verzwickt gefalteten Drahtspalier vor ihrer Brust auf einen Pflücker warten. Sie hat sich gestern abend doch noch die Haare gefärbt, extra für Mariä Himmelfahrt. Das flammende Rot sieht aber nicht so aus, als hätte sie's auf den Lebenswandel einer Immaculata abgesehen.

Das Wetter soll jetzt übrigens besser werden. Sie verspricht's.

Cognac. Natürlich wollen wir eins der berühmten Häuser besichtigen und ein paar Probierschlucke nehmen. Aber dafür muss man sich wappnen; eine gute Unterlage wird vonnöten sein. Die spirituelle Unterlage schaffen wir in der Kirche St-Leger - einem Bau aus dem 12. Jahrhundert, der im Lauf der Zeit jedoch immer wieder umgestaltet und dem Zeitgeist angepasst wurde; ein Monsieur Labadier hat Mitte des 19. Jahrhunderts diese architektonische Assemblage dann zu einer durchaus harmonischen Cuvée verschnitten. (Derselbe Mann hat die Kathedrale in Perigeux restauriert und auch Sacre-Coeur in Paris zu verantworten; die Höllenstrafen, die er sich dadurch verdient hat, mögen durch seine guten Taten in Cognac ein wenig gelindert werden.)

Man merkt, dass die Stadt damals wohlhabend war. Ein Jahrzehnt später, als die Reblausplage in Europa ausbrach und bald auch die Weinstöcke der Grande Champagne erreichte, wäre wohl kaum Geld für den reich dekorierten Altar, für die fein geschmiedeten Geländer der Galerie oder für die Flamboyantfenster dagewesen.

Cognac hat die Krise damals besser überstanden als andere Regionen; da Weinbrand ohnehin lange lagern muss und die Keller gut gefüllt waren, konnte man Ernteausfälle von einigen Jahren besser verkraften als die Winzer, die ihren frischen Weißen schnell unter die Leute bringen mussten. Aber reich wirkt die Stadt heute nicht mehr, trotz der klangvollen Namen von Martell, Remy Martin, Hennesy, Camus, Otard. Städtchen wie Beaune im Burgund oder die Champagnerhochburg Epernay wimmeln von einer kaufkräftigen Kundschaft, die nicht nur Weine verkosten, sondern auch sonst nach Gelegenheiten suchen, Geld auszugeben. Gegen solches Luxurieren gehalten, bleibt Cognac ein Provinznest.

Trotzdem gibt es natürlich einigen Genießertourismus. Als wir beim Mittagessen das Polster für die Verkostung schaffen, sitzt ein englisches Pärchen mit einem französischen Schnöselfreund neben uns, alle Ende zwanzig und offenbar auf grand tour. Sie waren schon in der Cognacothèque (die luxuriöse Tüte mit dem Flaschenkarton steht neben ihnen) und sprechen jetzt von Saint-Emilion, der nächsten Etappe auf ihrer Reise. Sie kennen die Namen und wollen sie wie flüssiges Gold von den Lippen träufeln lassen: Pomerol, Sauternes, Mouton-Cadet. Es fühlt sich dann aber dann doch nur an wie Neon-Reklamen im Londoner Nebel. Ihr französischer Cicerone zählt mit ersichtlichem Selbstgenuss Geschmacksnoten von Erdbeerkompott und Backpflaume, Leder und nassem Hund auf; auch seine Lehrlinge sind beeindruckt von seinem offenbar gebildeten Gaumen. Dass sie allerdings meine köstliche Andouilette (mit einem, zugegeben, deutlichen Aroma von Rinderexkrementen) nur angewidert mustern, lässt die Bagage in meiner Achtung gleich wieder sinken. Einen Wein zu loben, weil er nach nassem Hund schmeckt, Pansen hingegen dégoûtant zu finden, scheint mir nicht sonderlich konsequent. Noch weniger konsequent ist der Umstand, dass sie selbst fade Omeletts essen und extra Ketchup zu den Fritten ordern. Der Franzosenschnösel beschmiert sein Steak mit Riesenmengen billigen Amora-Senfs, dass es eine Schande ist. Es fehlt eigentlich nur noch, dass sie sich einen Château Margaux kommen lassen, um damit ihre Cola aufzupeppen. 

Es kann hier nicht verschwiegen werden, dass Dagmar angesichts meiner Kuttelwurst zwar wie immer ihr Gesicht verzieht, ihre sehr intensive Pilzsauce zur bavette jedoch auch einen starken Beiklang von abgestandenem Urin hat: Unterholz und Ammoniak. Als ich (nach kurzem Zögern; ich will ihr ja nicht das Essen verderben) meine Meinung sage, muss sie mir recht geben. Die Sauce riecht allerdings in keiner Weise schlecht, und schmeckt sogar ganz wunderbar; ich bin aber immer wieder verblüfft, wie stark der Geschmackssinn sich doch von Erwartungen, Vorstellungen, Gewohnheiten - und manchmal auch den Kapriolen der Phantasie - leiten lässt. Mehr als die puren Sinnesdaten selbst, bestimmt ihre Einordnung in unsere Kategorien und Werturteile unser Geschmackserlebnis.

Das geht bei der Cognac-Verkostung nach der Führung durch die museale Stille der alten Hallen von Martel nicht anders. Der Barkeeper versieht jede Probe mit einem ganzen Strauß von Geschmacksattributen: den XO beispielsweise mit Waldfrüchten und Cassis, Vanille, weißem Pfeffer und Schokolade. Auch Mahagoni fehlt da nicht, Mandeln, Orange, Kräuter. Und ist da nicht ein Hauch von Lakritze und eine Ahnung von geröstetem Koriander zu spüren?

So ein Glas Cognac muss für den wahren Aficionado ein Aleph sein, wie ihn Borges in der gleichnamigen Erzählung geschildert hat: ein winziger Punkt, der das ganze Universum in sich enthält, multum in parvo, Adler und Destillierkolben, die Weite des Himmels und das facettierte Auge einer Fliege, Hamlets Dolch und die verblichenen Fahrpläne an der Holzwand eines aufgelassenen Bahnhofs, eine Wolke in der idealen Form einer Sonnenblume, elektrische Schaltkreise und marschierende Soldatenkolonnen, das Flimmern eines Lids und der donnernde Flügelschlag von Schmetterlingen - ein Taumel zusammenhangsloser Vielfalt, ein Bildergebräu, in dem alles enthalten ist, was Sein hat, doch das nie als es selbst in seiner eigenständigen Fülle erscheint. Zumindest ist bei einer Verkostung immer nur zu hören: Wiesenblumen, Artischocke, Zitrusfrucht und Thymian, Haselnuss und Karamell, und nur ganz selten sagt einmal jemand, wie das Kind aus dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: das schmeckt ja nach Wein!

Nicht, dass die mannigfachen Aromen, die der garçon gepriesen hat, nicht tatsächlich wahrnehmbar wären. Dennoch ist mein vorherrschender Eindruck nach dem ersten Glas weniger ein gustativer als der einer warmen, weichen Blase, die zart mein Gehirn umfängt und sich in träumerischer Gemächlichkeit ausdehnt, als wabernde und von schillernden Reflexen überspielte Seifenblasenhülle langsam aufsteigt und schließlich in einem sachten Zerspringen meine Schläfenlappen benetzt. Ich sage: "Ça péte dans ma tête" (das knallt) und der junge Mann, plötzlich aus seiner distinguierten Kenner-Rolle fallend, kann sich ein süffisantes Kumpanengrinsen nicht verkneifen. "Je sais dont ce que vous parlez." So haben Auguren gelächelt.

(Doch woher kommt meine Skepsis gegenüber der Verkostungslyrik? In der Literatur geht es doch nicht anders zu: erst im Vergleich und der Metapher werden manchmal die Dinge als sie selbst und in ihrer Eigentümlichkeit sichtbar. Man muss die Dinge aus der Selbstgenügsamkeit ihres einfachen Taufnamens herausnehmen und sie mit einem Vergleich überziehen, um sie zu härten, zu verdichten, ihre Konturen zu schärfen. Das Kantische Diktum, dass Anschauung ohne Begriffe blind ist, trifft auch übertragen zu: das sinnlich Gegebene wird erst zu Etwas - etwas Distinktem - wenn es sich in ein allgemeineres Begriffsraster einfügt; und eben dafür stehen die Vergleiche.)

Mit einem luftigen Cognac-Schwips versehen, gleiten wir zurück an die Charente. Die Kurven fühlen sich an wie damals, als man als Kind mit ausgebreiteten Armen, den Segelflug eines Vogels nachahmend, einem imaginären Slalomparcours folgte. Vormittags, im Vorüberfahren, haben wir reizende Picknickplätze am Ufer des Flusses gesehen, berückende Idyllen, durch deren Pappelsaum die Sonne glitzernde Silberschuppen warf. Jetzt, im stumpferen Schein des Nachmittags, blinken die Wellen nur noch auf, wenn ein Hausboot einen Schweif von flirrendem Lichtscherben aufwirbelt und mit sich zieht. Sie strudeln durcheinander, wobei die Spur der glänzenden Pailletten sich immer mehr verbreitert und ausdünnt, bis ihr hastiges Gezitter endlich gestillt ist und sich zu einem trägen Geschiebe ineinander verlaufender, schillernder Schlieren wandelt.

Später, als die Sonne untergegangen ist, erscheint das Geäst der Baumkronen gegenüber in filigraner Klarheit vor dem Himmel - hier schon kobaltblaues Pastell, dort noch Perlmutt. Ein jedes schwarze Blatt ist wie mit dem Skalpell gezeichnet und als Nichts aus dem Fleisch der Welt ausgeschnitten. Die Welt kehrt sich wie ein Negativ um: die Körper tauchen in schwarzes Nicht-Sein und werden zu schattigen Vertiefungen im massiven Relief des Himmels.

Von fern hören wir die Klänge einer Band, die zur Feier von Mariä Himmelfahrt aufspielt, ab und zu ein Johlen. Irgendwann schrecke ich hoch. Ich bin über meinem Buch eingeschlafen, blinzle jetzt in die Nacht und kann nicht entscheiden, ob ich den Feuerwerkslichtstrauß, der über den Himmel gezogen ist, schon geträumt oder noch gesehen habe. Assomption.

Es ist Samstag. Wir brechen nach Angoulême auf.  Auf dem Weg frühstücken wir an einer kleinen Brücke. Jenseits des Flusses weidet eine bunt aus zehn Rassen zusammengewürfelte Kuhherde. Ein kaum drei Tage altes, braun-weiß geflecktes Kälbchen mit einer verwischten Kreuzzeichnung auf der Stirn, stakselt, immer noch unsicher, neben einer pechschwarzen Kuh einher; offenbar ein Fall boviner Adoption. 

Das Zentrum von Angoulême ist fast ausgestorben; keine Ahnung, ob das an diesem langen Wochenende liegt (Himmelfahrt plus Wochenende), an den letzten Tagen vor der großen rentrée, oder schlicht daran, dass es eine öde Stadt in einem schläfrigen Winkel Frankreichs ist. Jedenfalls hat die Hälfte der Stände in der Markthalle geschlossen, der Buchhändler, der sein Schaufenster mit Fotografien der Geistesgrößen der letzten hundert Jahre von Sartre über Castoriadis, Derrida, Levinas et alii geschmückt hat, ist noch in Ferien. 

Die Kathedrale allerdings - von außen in diesem reizvoll poitevinischen Stil, der mich mit seinen Turmdächern immer an Fischschuppen und Korallenriffe erinnert und ein märchenhaftes Meerjungfrauenbild und eine Ahnung von verwunschenen orientalischen Traumreisen oder verwitterten Mitbringseln aus Byzanz in mir wachruft - scheint eine Vorahnung des Umstands, dass Angoulême einmal zur Hauptstadt der französischen bande dessinée werden würde: die nebeneinandergesetzen Reliefrahmen an der Fassade wirken in ihrer Klarheit wie die Panels von Comicsequenzen: eine romanische ligne claire.

Innen ist die Kirche fade wie die ganze Stadt. Bemerkenswert ist nur, dass das Schiff nicht aus hintereinandergestaffelten Gewölbebögen aufgebaut ist, die sich zum Chor hin orientieren, sondern aus einzelnen Kuppeln, die wie gleichförmige Module aneinandergesetzt sind. Man hätte, egal in welcher Richtung, einfach immer noch eine Kuppel dranbauen können, und dann noch eine und noch eine...  Die Kathedrale hat keine innere Spannung, kein Ziel: man hat nicht versucht, den Vorschein eines jenseitigen Himmelreichs aufzubauen, dem entgegenzustreben wäre. Wie auch?  Denn der Landschaft, die Angoulême umgibt, mangelt es ebenfalls an einer solchen inneren Spannung. Es ist eine ganz und gar unspezifische Gegend ohne besondere Merkmale, ohne jeden Charme. Dem Schöpfer ist hier die Inspiration ausgegangen; er hat sich mit schlampig hingeschluderten Hügeln und banalen Tälern begnügt. Dieses Nutzland aus Wäldern, Äckern und Weiden könnte irgendwo liegen: ein mitteleuropäischer Normalraum mit schlaffem und müde wirkendem Relief, zusammengepfuscht aus der üblichen kontinentalen Konfektionsware. Erst an den Rändern zum Périgord kommt wieder Charakter ins terroir. Konturen und Kontraste werden schärfer: es scheint, als hätte die Erde hier wieder mehr Druck und Formwillen zur Verfügung, um die Landschaft zu kleinteiligeren und detailreicheren Einheiten zu falten. Ernst Jünger würde wohl sagen: hier hat sich tellurische Kraft geballt.

Die Etappe hatte kürzer ausfallen sollen, aber es hält uns hier nicht. Wir nehmen einen Sirup in Nontron - einem Städtchen, das für seine Messer mit Buchsbaumgriff bekannt ist, in den naive Ziermuster eingebrannt sind - und dann sehen wir zu, dass wir weiterkommen. Die hier traditionelle Form des Messerhefts mit seinem runden Knauf am Ende erinnert mich stark an eine Strickliesel; das Ganze wirkt so treuherzig und brav, dass ich es fast als Frevel an der Idee des Messers empfinde. Wie könnte man mit einem solchen Gerät einem Tier die Kehle durchschneiden, geschweige denn es ins Herz eines Mannes stoßen wollen? Mit einem solchen Messer mag man Eierkuchen zerteilen oder seiner Kindheitsliebe zu Ehren ein pfeildurchbohrtes Herz in eine Baumrinde kratzen, vielleicht sogar ein Schiffchen schnitzen, das man in den Fluss setzt, um es in Gedanken auf seiner Reise nach weit, weit fort zu begleiten (und ich kann verstehen, dass man von weiten Reisen träumt, wenn man in diesem Winkel der Welt aufwachsen muss) - aber seine ganze Anmutung ist so pausbäckig und friedfertig, dass der Gedanke, diesen gebleichten Buchs mit Blut zu beflecken, abwegig erscheinen muss.

Am frühen Abend machen wir Halt in Brantôme, bei dem ich mich fast nur noch an ein Mittagessen vor fünfzehn Jahren erinnere, das wir auf einer Terrasse über dem Fluss einnahmen. Das Städtchen, von zwei Armen der Dronne umfasst, nennt sich stolz Venedig des Périgord, aber nichts könnte falscher sein. Venedig besteht aus Stein und seiner Spiegelung im Wasser; seine Kanäle sind lau plätschernde Rinnen, Abwässer, die sich träge wiegen, bevor sie langsam davonschaukeln. In Brantôme hingegen strömt das Wasser frisch und flink dahin, rauscht lautstark schäumend über Staustufen, und in den Becken spiegelt sich das üppige Grün der Wälder, die das Städtchen umgeben. Der Fluss ist wie gemacht für Wasserräder, die lärmende Werke treiben, für Papiermühlen und große Sägen, um die perigordinischen Wälder damit in Planken zu schneiden. Hier ist Kraft, um Schmiedehämmer niedersausen zu lassen, zu walken, zu dengeln, zu klappern - aber all das mag einmal gewesen sein. Der Lärm von heute kommt nur aus den Lautsprechern, die für das abendliche Konzert aufgebaut sind: beim Soundcheck hallt es hart von den Mauern zurück.

Ich erzähle Dagmar von Pierre de Bourdeille, genannt Brantôme, einem Zeitgenossen und Landsmann Montaignes. Er hat sich durch sein "Leben der galanten Damen", in dessen Vorrede er als den größten Heiligen Frankreichs den Heiligen Hahnrei Saint Cocu preist, vielleicht nicht grade in die hohe Literatur, aber in die Geschichte des geilen Klatsches eingeschrieben. Die Frauen erscheinen darin zumeist als unersättliche und begierige Wesen, denen die Männer weniger aus eigener Lust denn aus Höflichkeit und kavalierhafter Gefälligkeit zu Diensten sind. Es wirkt wie ein Kommentar dazu, dass, als wir ankommen, die Feuerwehrmänner gerade ihre Fertigkeiten vorführen. Den dick geschwollenen Schlauch im Anschlag, spritzen die pompiers zur Demonstration ihrer Treffsicherheit eine Galerie von Kunststoffvasen, aus denen stilisierte Flammen schlagen, von einem Mauerbord. O heilige Männlichkeit, seit jeher berufen, die Hitzenöte des vas naturale mulieris zu löschen! 

Nach Trubel steht uns heute nicht der Sinn. Wir finden eine Wiese an der Auvezère, wo ein Vater, der seinen Sprößling in die Kunst des Angelns eingeführt hat, soeben seine Sachen einpackt. Er spricht wie jemand, der von Zeit zu Zeit einen Schluck aus dem Flachmann nimmt, um seinen Pegel zu halten: etwas sehr leutselig und aufgedreht, läuft er geschwätzig zwischen seinem Sohn, der immer noch seine Angel in den Fluss hält, und uns hin und her. Im Eimer liegen drei halbwüchsige Fische, kaum eine Abendmahlzeit. Der Sohn, vielleicht zehn Jahre alt, entzieht sich mürrisch, oder vielmehr peinlich berührt, den Zärtlichkeiten seines Vaters. Wahrscheinlich spürt er, dass ihre Wärme von dem Schnaps herrührt, der in seinem Papa glimmt.

Die beiden sind kaum weg, als zwei Kanus voll junger Leute anlanden. Sie ziehen die Boote ans Ufer, bauen Zelte auf, machen Feuer. Ich bin gerührt. Eine sentimentale Erinnerung an die Lagerfeuer, um die wir uns mit sechzehn, siebzehn Jahren zu versammeln pflegten, steigt in mir auf. Etwas abseits des Feuers gruben wir eine kleine Kuhle in die Erde, an deren Grund wir ein schräg geführtes Bambusrohr einschachteten, dessen Ende knapp aus dem Boden ragte. Daraus rauchten wir das Gras vom letzten Sommer, die einen flach hingestreckt wie bei der Prostration des Pfarrers an Karfreitag, die anderen auf Knien und vornübergebeugt wie die muslimischen Beter, oder seitlich, in zusammengekrümmter Embryonalhaltung, die Lippen an der dampfenden Schnulle. Jeder Zug war gewaltig: die Kuhle war groß geraten, selbst behutsamstes Saugen brachte mehr Rauch in die Lungen, als diese fassen konnten. Es dauerte nicht lange, bis unsere Gedanken so durcheinanderwirbelten wie der Qualm, den wir in die Abendluft bliesen.

Im großen Feuer in der Mitte der Buchenlichtung buken wir Kartoffeln zwischen den Scheiten und verfolgten, wie die Schalen in der Hitze langsam faltig wurden und sich in die Masken merkwürdiger Geister verwandelten. Das Pulsieren der Glut war unerschöpflich für unseren Blick. Die glühenden Äste kochten immer neue Gesichter, Formen, Fratzen und Schönheiten aus; in dem Zauberkessel der Metamorphosen las ein jeder seine eigenen bruchstückhaften Geschichten und die Möglichkeiten, sie zu verbinden. Das Feuer ist vielleicht das urtümlichste Aleph, multum in parvo, totum in uno. Wie sagt doch Heraklit? "Alles ist Austausch des Feuers und das Feuer Austausch von allem, gerade wie für Gold Waren und Waren für Gold eingetauscht wird." 

Wir streuten Gras auf einen glimmenden Scheit und atmeten den scharfen Qualm aus dieser Räucherpfanne. Das Feuer sprach nicht nur zu unseren Augen; sein Knistern, Knacken, Bersten, Brodeln gab uns einen feingestrickten Rhythmus vor, den wir, bald mit den Händen auf den Schenkeln trommelnd, aufnahmen und festigten. Wind kam auf. In den Wipfeln raschelte das Laub, rieben Äste aneinander, ächzte Holz. Die Welt wollte mittun in unserem Klopfen, Schnipsen, Klatschen, auch sie hatte Synkopen beizusteuern, Triolentricks und Kniffe, langes Melodiebögen und schrille Glissandi. Wir hörten hin und taten nach, so wie die Welt auf uns gehört und es uns nachgetan hatte. Jemand warf eine ganze Handvoll Gras ins Feuer; kräutersüß wallte der Rauch auf und hüllte uns ein. Wir waren das Feuer, der Rauch, das Rauschen des Winds, das Rascheln der Blätter, den Geist der Glut  beschwörend und den des Mondes, der silberne Splitter durch das Geäst streute. Neu eingeschobene Äste flammten auf, und die Buchenstämme regten ihre Gliedmaßen im Rhythmus des flackernden Lichts und begannen einen Schleiertanz aus Dunkelheit und Glanz. Unwillkürlich kamen Laute aus unseren Mündern, ein Knacken, Summen, Schnicken, Singen, das zur Melodie wurde. Waldgespenster huschten durch das Unterholz, Ballungen aus Rauch und Schatten, flüchtige Rauschgeschöpfe. C. erhob sich, als hätte ihn die Buche, die sich in ihren Schleiern aus Schimmer und Flackern wiegte, zum Tanz aufgefordert. Die Arme erhoben wie tastende, große Ranken, verschwand er im Gesträuch. Nackt, als Gott der Gärten, kam er wieder, doch er kümmerte sich nicht um uns; er hatte nur Augen für die Buche und klomm an ihr hinauf, angeschmiegt wie Apoll an eine willige Daphne, bis er eine Astgabel fand, die ihm die Schenkel auftat.

Irgendwann saßen wir alle in dem Baum und wippten in den Ästen. Aus unserer Musik war Affengeschrei geworden, ein Grunzen, Bellen, Keuchen, Kreischen. Wer rankam, pflückte Bucheckern, und wurde mit glucksendem Kollern angebettelt, eine Nuss abzugeben. Ich hatte eine Gabelung gefunden, die mich vollkommen umfing: eine breite Kehle, die seitlich von zwei Ästen flankiert war und mich so sicher barg wie eine Kinderwiege. Als die Anderen wieder herabstiegen, um einen letzten Joint zu rauchen, wollte ich in meiner Koje bleiben.

Als ich erwachte, war der Mond verschwunden. Ich war starr vor Kälte. Das Feuer war fast erloschen. Ein blassroter Kern Glut schimmerte noch leicht unter der Ascheschicht, drei Meter unter mir. Nur M. war noch geblieben, mein engster Freund. Er schlief, die Beine in der embryonalen Haltung, in der man in der Steinzeit die Toten bestattet hatten, an die Brust gezogen, der Feuergrube zugewandt.

Die Nacht damals war eine Reise in den Abgrund der Zeit gewesen, ein animistischer Rausch und eine Beschwörung der großen beseelten Mächte des Feuers, des Mondes, des Erde und der Körper. Es war kraftvoll und eindringlich; eine mächtige Erschütterung. Auch von heute aus gesehen ist nichts daran lächerlich. Ich hatte lange nicht mehr daran gedacht. Jetzt, beim Blick auf die jungen Leute, die das Holz zu einem Feuer aufschichten, stieg die Erinnerung wieder auf. Voller Wohlwollen - und auch mit ein bisschen Neid auf die jugendliche Gabe zur Überschreitung - schaue ich hinüber. Ob die All-Seele wohl auch sie heimsuchen wird?

Es ist dann ein wenig ernüchternd. Sie schwärmen, die portables hochhaltend wie profane Wünschelruten, auf der Suche nach Netzempfang aus. Keine Stunde später biegt ein R4 von der Straße ab auf die Wiese und liefert Pizza in Pappkartons. Zeit, den Ghettoblaster anzuschmeissen.

Am nächsten Vormittag nähern wir uns auf eine fast magnetisch-unbewusst wirksame Weise Montignac, dem Ort, in dem man die Tickets für die berühmten Höhlen von Lascaux erstehen muss. Die Straßen führen uns dorthin, obwohl wir uns mehr nach Westen wenden wollten; doch eine Abzweigung verpassen wir, die nächste ist gesperrt, so geraten wir fast ohne unser bewusstes Zutun auf den alten camping à la ferme unweit Montignacs, den wir nun schon seit zwanzig Jahren kennen und seither immer wieder einmal aufsuchen, auch wenn seine Attraktivität in dieser Zeit starken Schwankungen unterworfen war. Als wir das erste Mal dort einkehrten, war der Platz im Stand der Unschuld. Eine Wiese verlief sich, wenn das Abendlicht darüber hinfloss, golden in ein flimmerndes Maisfeld. Sonnenblumen bewachten die Säume des Geländes. Im Schatten des Nussbaums hockte eine Kröte, die tausend Jahre alt schien, und gelassen, in buddhahafter Grandiosität, dem möglichen Angriff eines Hirschhornkäfers entgegensah, der mit seinem schwarz glänzenden Panzer und dem polierten, krummen Sporn auf der Stirn langsam auf die monströs häßliche Gestalt der Kröte zustapfte. In der Dämmerung kamen die Fledermäuse; wenn es dunkel war, wurde ihre zapplige Stenographie durch die weithin tönenden Laute der Käuzchen abgelöst, die langgezogenen Uhu-hus, deren fades Gespenstersignalement von Zeit zu Zeit ein melodiös kollerndes Gurren unterbrach.

Jahre später, als der Bauer älter wurde und die Arbeit weniger werden sollte, machte er das Maisfeld nieder. Die davor gepflanzen Mandelbäume waren zu regelmäßig gesetzt, um noch Garten zu heißen. Die jungen Stämme ragten in der Gradlinigkeit einer Pflanzung vor der wolkenverschatteten Abendsonne auf.

Das Campingterrain wurde nach Norden hin erweitert, in Richtung des Flusses, und obwohl die Vezère einen halben Kilometer entfernt liegt, schienen ihre Wasser den Grund zu tränken: als wir damals ankamen, waren die frisch geschaffenen Stellplätze von Schlammwällen umgeben, der junge Rasen war ein vages Gekritzel über der derben Schraffur von Traktorreifen in einer Erde, die so feucht und matschig war, dass der Patron des Platzes uns nach der ersten Nacht mit seinem Deutz aus dem Dreck ziehen musste.

Ich schreibe Patron, aber in Wahrheit war er nur der Mann und Knecht der Frau, die den Platz eigentlich führte. Sie war eine gebürtige Spanierin, damals vielleicht Mitte, Ende Fünfzig, aber eine Altersangabe hatte schon zu jener Zeit wenig Sinn, weil sie dafür zu viele Altersstufen in sich vereinigte: in ihrem Haar saß - damals wie heute - in Form eines Schmetterlings immer eine Haarspange, die etwas abgründig Kindliches an sich hat: diesmal sind der Klemme zwei Glasperlen auf die Flügel geklebt und die Drahtfühler wippen bei jedem Nicken Mme Roulants mit. Der Lippenstiftschmierer, mit dem sie nach wie vor ihren schmalen Lippen Volumen zu verleihen sucht, wirkte immer schon, als hätte ein Mädchen in die Schminkschatulle seiner Mutter gegriffen. Im Gegensatz zu diesen puella-Attributen waren die Gewänder der Madame stets von fast zeremonieller Großmütterlichkeit: selbst im Sommer trug sie königsblaue Wollkleider mit brokatschweren Schmuckborten und Messingknöpfen, die groß waren wie Broschen. Zu dieser feiertäglichen Gediegenheit bildeten die manchmal übergezogenen Kittelschürzen einen seltsamen Kontrast. Mme Roulant war halb Gör, halb Diva, halb grande dame, halb Putze. Ihr auffälligstes Merkmal aber ist bis heute der tiefschwarze, fettige Lidstrich, der in dem schlanken Schwung zweier sich über ihrer Nasenwurzel küssender Schlangen fast bis zu ihren Schläfen führt und ihr das Aussehen einer ägyptischen Königin verleiht, die ihre Nächte in den Tiefen irgendeiner ägyptischen Grabkammer zubringt und nur tagsüber hier und da einmal aus ihrem Pyramidendunkel hervorsteigt, um der Sonne von gleich zu gleich zu begegnen. Ich wunderte mich jedesmal, dass sie am späten Nachmittag nur den Tauben in ihrem Käfig Futter streute und mit ihnen sprach, statt mit den goldgekrönten und doch unsichtbaren Schlangen, die zu dieser Stunde sicherlich (wenn auch unsichtbar für alle, die nicht E.T.A. Hoffmanns Goldenen Topf kennen) aus den Erdlöchern kriechen, um ihrer Herrscherin Ehre zu erweisen.

Als wir das erste Mal dort waren, kampierte in einiger Entfernung eine junge französische Familie, Proletarier reinsten Wassers, was wir begriffen, als der Mann jeden Abend seine Kinder, statt sie mit behaglichen Ritualen zu ermüden und zu beruhigen, einfach in den Schlaf zu prügeln suchte. Beim Essen gefiel er sich noch darin, den Clownspapa zu geben und die Kinder mit Rippenpieksern und allerlei Klamauk anzustacheln. Doch sobald abgetragen war, sollten die Kleinen von einer Minute auf die andere still sein und friedfertig zu  Bett gehen. Das klappte nie; vor allem, weil er beim ersten Klagewort der Kinder sie sogleich anherrschte, sie möchten jetzt Ruhe geben und schlafen: Taisez-vous! Faites dodo! Seid still! Schlaft! Da die Kinder - immer noch aufgeputscht von den väterlichen Hampeleien beim Abendessen - meinten, das Scherzen und Necken fortsetzen zu dürfen, und keineswegs sofort stillschwiegen, dauerte es nicht lange, bis der Vater seinen verbalen Befehlen Nachdruck durch die erste Ohrfeige verlieh. Die Kinder schrieen daraufhin nur noch lauter, klagten und weinten, aber der Vater fasste das Geheule als Zeichen der Renitenz auf und bestrafte diese Widerborstigkeit mit noch mehr Schlägen. 

Wir saßen jeden Abend vor unserem Bus und lauschten diesem dummem und grausamem drame de coucher, ohne etwas dagegen tun zu können. Jeder Versuch, sich einzumischen, wäre sinnlos gewesen, wir hätten einen solchen Kampf nur verlieren können. Uns blieb nur die dürftige Genugtuung, mitzuerleben, wie sich dieser unerträglich dumme und gemeine Mensch einmal vor seinen Kindern lächerlich machte. 

Die Tochter - vielleicht fünf Jahre alt, während ihr Brüderchen etwa drei war - musste aufs Klo. Auf halbem Weg fiel ihr auf, dass sie das Klopapier vergessen hatte, und sie rief das ihrem Vater zu, der - tagsüber manchmal huldvoll und von Anwandlungen gnädigen Entgegenkommens berührt - zurückrief, sie möge sich nicht zurückbemühen, um die Rolle zu holen, er würde sie ihr zuwerfen. Wahrscheinlich wollte er seinen Kindern nur zeigen, wie famos er zu werfen verstand, denn er war von jener armseligen Sorte, die ihre Kinder dazu benutzen, von ihnen die Bewunderung erlangen, die ihnen sonst niemand gewährt (und warum auch, da es doch vollkommene Idioten sind?). Also holte er die Rolle aus dem Wohnwagen und warf sie, athletisch ausholend, seiner Tochter zu. Was er aber nicht bedacht hatte, war das spezielle Flugverhalten einer unversiegelten und folglich unkompakten Klopapierrolle: schon auf dem ersten Meter zog das dumme Ding einen weiß wehenden Schweif hinter sich her wie eine lang gebleckte Zunge, die immer länger wurde und sich schließlich in den Ästen eines Walnußbaums verfing.

Es ist merkwürdig, dass sich mir dieses Bild so stark eingeprägt hat, dass ich dieses Mal sogar davon träumte. Madame Roulant stand neben dem Baum, durch dessen Äste sich die weißen Papierbahnen wanden wie Girlanden, und sah zu, wie die Bahnen schlängelnd durcheinanderglitten, als bestünden sie nicht einfach aus Papier, sondern seien die abgestreiften Häute großer Schlangen. Plötzlich wusste ich, dass der Baum soeben erst aus der Erde aufgestiegen war, in voller Größe, und das Papier hing an ihm wie die Fetzen einer zerrissenen Fruchtblase. Schon halb erwacht, und in diesem merkwürdigen Zustand, in dem man weiß, dass man träumt und den Fortgang des Traums schon mit Einsprengseln aus dem Wachbewusstsein, Erinnerungen und Assoziationen, anreichern kann, ohne doch schon ganz Herr des Phantasiegeschehens zu sein, sah ich Madame Roulant in den Baum gleichsam eintreten und mit ihm verschmelzen wie Daphne auf ihrer Flucht vor dem geilen Apoll: ihre Arme wurden zu Ästen, ihre Finger verzweigten sich und ihr Haar verflocht sich in die feineren Reiser der Krone. Nach Luft schnappend erwachte ich und grübelte dann einige Zeit über dieses Bild von fast mythischer Abgründigkeit nach. Wotan fiel mir ein, der sein Haupthaar in das Geäst der Weltesche geknüpft hatte und über Wochen dort herabhing, bis er die Gabe der Schrift erlangt hatte, und fragte mich, wie dieser Baum den Weg von dem vulgären Idioten, der seinen Kindern eine Klopapierrolle hinterherwarf, bis zum Bild eines Gottes gefunden hatte. Vielleicht hatte selbst der Gott des Alten Testaments seinen Geschöpfen gar keine steinernen Gesetzestafeln gebracht, sondern bloß Hygieneartikel hinterhergeschmissen.

Schon bei unserer Installation am Platz mache ich Bekanntschaft mit einem Paar von Dauercampern. Wohnwagen, Vorzelt, niedergetretene Grasnarbe: ein Blick auf den vergilbten Wiesensaum um das Zelt genügt, um zu wissen, dass das Ganze seit fünf Wochen dort nicht um einen Milimeter verrückt worden ist. Wir kommen schnell ins Gespräch. Die Frau ist sehr redselig; der Mann bloßes Beiwerk. Er trägt in beiden Ohren Hörgeräte; fünf Minuten Unterhaltung mit der Frau lassen mich begreifen, warum.

Sie - Christine - hat die Ferien schon als junges Mädchen mit ihren Eltern im Périgord verbracht. Jetzt ist sie um die sechzig (ihr Mann, Joël, ist schon verrentet), und sie kommt immer noch hierher. Sie kennt jede Höhle und jede Mammutmalerei darin. Sie weiß, in welchem Dorf es heute einen concours de petanque gibt und wo man das günstigste Entenconfit bekommen kann. Sie hat im letzten Jahr fünfzehn Kilo abgenommen (was proportional nicht sonderlich auffällt), und der Knoblauch, der in den Supermärkten angeboten wird, wird begast, in giftige Laken getunkt, mit Röntgenstrahlen beschossen; sie kauft den ihren bei braven Erzeugern, die gar nicht wissen, was Strahlen überhaupt sind.

An den folgenden Abenden hören wir sie fast immer keifen, obwohl Joël ein durchaus braver und gefügiger Gemahl ist. Er ist es, der abwaschen geht; er putzt den Salat, lädt die Einkäufe aus, serviert den Aperitiv. Sie ist seine feiste Königin.

Am Abend vor unserer Abreise laden die beiden uns ein, noch etwas mit ihnen zu trinken. Als Christine sagt, sie sorge für die Tassen, halte ich das noch für eine flapsige Redewendung, aber in der Tat soll es Tee geben. Gut, dass wir eine grade angebrochene Flasche Wein mitgebracht haben. Wir sitzen in ihrem Wohnwagenvorzelt und lauschen Christines lebhaftem Redestrom, ohne viel beitragen zu müssen. Das Wichtigste ist, dass wir da sind; es kommt nur darauf an, dass sie die Geschichten, die ihr Mann natürlich schon in- und auswendig kennt, anderen Gesichtern erzählen kann. Sind die beiden allein, fällt ihnen nichts anderes ein als zu streiten und sich anzugiften; wir stiften durch unsere bloße Anwesenheit Frieden, und das ist doch auch schon was.

Joëls Hobby ist das Sammeln von kleinen Schnapsflaschen, mignonettes genannt. Wenn er davon erzählt, wird er, der sich ansonsten auf beflissenes Zuhören und zustimmendes Nicken beschränkt - beschränken muss - richtiggehend lebendig; im Bericht über erfolgreiche Jagdzüge, beim Aufstöbern von Sammlungen, deren Besitzer verstorben und deren Witwen die Kostbarkeit der Bestände nicht zu würdigen wissen und sie darum weit unter Wert verschleudern, gewinnen Joëls Redeanteile fast ein wenig Feuer.

Wir selbst sind ohnehin nur Statisten. Unser Französisch mag noch so gelobt werden; vom schäumenden Temperament und Redefluss Christines weggespült, bleibt uns nur ein weggurgelndes Gegluckse.

Eine Radtour zu einem Restaurant, das Table du Terroir heißt, und das wir als gediegen in Erinnerung haben. Eine halbe Stunde fahren wir an der Vezère entlang, dann zwei Stunden unentwegt aufwärts. Die Mühe, die man beim Aufstieg an Dantes Läuterungsberg auf sich nehmen muss, sollte doch durch das Erlebnis des Irdischen Paradieses entgolten werden, das den Büßer am Gipfel erwartet. 

Das Essen im Table ist allerdings mäßig, der Kellner überbeansprucht, die Köchin, die sich einmal aus ihrem Verschlag wälzt, ist ein lebender Warnhinweis für die Nebenwirkungen langdauernder périgordinischer Ernährung. Walzen wogenden Fleisches schwabbeln die Treppe hinab, wo sie eine Kippe raucht.

Das Essen: die guten Produkte setzen sich mit Mühe gegen die schlampige Zubereitung durch. An einem Salat mit Entenmägen kann man nicht viel falsch machen, auch an dem cou farci (mit Entenleber gefülltem Gänsehals) nicht. Selbst die konfierten Entenschlegel sind nicht totzukriegen, auch wenn die dicke Köchin versucht hat, sie in Fett zu ersäufen; ihr reicher Geschmack erhält sich trotz dieser Misshandlung. Wir saufen eine ganze Flasche Pécharmant und fressen uns im Verlauf des Menüs durch den gesamten Geflügelkörper: Hals, Brust, Magen und Leber, Schenkel. So puzzelt man sich ein Tier zusammen. Aber etwas fehlt: Herz und Hirn.

Ein Ausflug nach La Roque-St.Christophe, einer in eine steile Felsklippe gehauenen Troglodytensiedlung, deren Geschichte bis ins Paläolithikum zurückreicht. Der Fels war seither beständig bewohnt, bis man während der Religionskriege im sechzehnten Jahrhundert die dort verschanzten Hugenotten auslöschte und den Ort zerstörte. Von dort oben auf den Fluss hinunterblickend, sehe ich die Felskuppe, auf der wir vor Jahren einmal Picknick gehalten haben. Damals nahm ich sie einfach für einen Ausläufer des Hügels; erst von hier oben zeigt sich die regelmäßig gestufte Form des Blocks, und das scheinbare Stück Natur entpuppt sich als ein planvoll angelegtes Vorwerk der Felsenbastion.

Zuvor hatten wir noch Halt in St-Leon-de-Vezère gemacht, wo es eine wunderbar stilreine romanische Kirche gibt und eine Biegung am Fluss, an der eine Reihe von Picknicktischen steht. Ein paar junge Frauen haben dort einen Laden aufgebaut, in dem sie Salat, Aufschnitt- und Käseplatten anbieten, hübsch hergerichtete Teller mit Früchten und Gebäck, Kaffee und Getränken. Ihre Küche ist eng, alles ist vollgestopft mit Konfitüren und Gläschen mit regionalem Konservenzeug, derbem Landbrot und butterglänzender Patisserie. Der Laden läuft auf Selbstbedienung, was nicht nur besser zu kalkulieren und stoßzeitenunabhängig ist, sondern auch eine interessante Mischnutzung der Uferfläche ermöglicht. Die Mädels erheben keinen exlusiven Anspruch auf die Tische. Wer nur seine mitgebrachten Sandwichs verzehren möchte, darf das gerne tun. Aber vielleicht will er nachher einen Kaffee? Den kann er dann hier bekommen. Es ist eine Zwischenstufe zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Picknick, ein wenig wie es de iure in bayerischen Biergärten zugeht, wo weiterhin das verbriefte Recht besteht, dass ein jeder seine eigene Brotzeit mitbringen kann, obwohl das kaum noch einer tut.

Die Frauen in der Küche sehen jedenfalls alle aus wie aus einem Tavernier-Film: aparte Wesen mit Schweißtröpfchen, die im Oberlippenflaum glänzen, nachlässig aufgesteckten Frisuren und Mehlschmierern im Gesicht. Ihr frischer Schweißduft kitzelt mein Begehren mehr als jede Schminke.

Nach ein paar Tagen beschließen wir, das Périgord zu verlassen. Die Abendkühle setzt jetzt schon früh ein. Sobald die Sonne untergeht, müssen wir uns warm anziehen, wenn wir noch draußen sitzen wollen. Wir müssen allerdings noch bis zum samstäglichen Markt in Sarlat ausharren, wo ich meinen zerschleißenden Panama gegen ein neues Exemplar ersetzen will. Eine Chilenin hat dort einen Stand mit erschwinglichen Stücken von guter Qualität. Wir füllen den Zwischentag mit einem Abstieg in den Schlund von Padirac.

Dieser Gouffre gehört wahrscheinlich zu den besucherstärksten Attraktionen Frankreichs. Wir haben schon zweimal versucht, ihn zu besichtigen, wurden aber jedesmal von den Menschenmassen dort abgeschreckt. Diesmal kommen wir abends an, damit wir gleich nach Kassenöffnung morgens vor Ort sein können. Pünktlich um halb neun finden wir uns ein, da misst die Schlange bereits um die 80 Meter. Wer fünf Minuten nach uns kommt, hat schon 100 zu absolvieren und braucht eine gute Stunde dafür. Als wir gegen elf Uhr vormittags aus dem Höhlendämmer kommen, blinzeln wir über eine Menschenschlange, die sich in engen Serpentinenfaltungen so weit hinzieht, dass die zuletzt Gekommenen vermutlich erst nachmittags um vier eingelassen werden.

Aber am Gouffre sollte man nicht nach Stunden rechnen und kleinlich Minuten zählen: der Schlund führt in das Tiefenreich einer Welt, die sich nicht nach Tagen oder gar Jahren bemisst, sondern nach Jahrtausenden. Zeit träufelt in zerstäubenden Tröpfchen und als gestaltwerdender Dunst aus den feuchten Gewölben in die Äonenzonen hinunter und gerinnt zu plastischen Demonstrationen ewigen Wandels, wandelbarer Ewigkeit.

Unten warten Fährmänner auf die Besucher, um sie einen unterirdischen Fluss entlangzurudern. Nur die Stimmen der bateliers sind zu hören, das Plitschen des Wassers an den Bootswänden und das Geplätscher, das an den Ruderblättern herabläuft und sich in fernem Widerhall verliert. An den Wänden schwillt und quillt die steinerne Masse. Dunkelheit drückt tiefe Gruben in den Fels, presst Kuhlen daraus hervor und wühlt sich in die Stille fossiler Nachgiebigkeit. Die Jahrhunderte blättern daran ab wie dünne Schuppen; hier schilfern sie ab, dort sammeln sie sich an. Die gerundeten Oberflächen, die Buckel und Beulen, die Einbuchtungen und Aufschwellungen, wirken in ihrer vielfältigen Modellierung wie ein riesiges, atmendes Gebilde. Stein - den man bei oberirdischen Bauwerken oder Gebirgen für ein Sinnbild massiver Festigkeit und Stabilität halten mag - zeigt sich hier als Substanz eines lebendigen und wandelbaren Organismus. Wir sind in den Innereien eines gigantischen Tiers, das seine Organe und Membranen im Rhythmus von Jahrhunderten pulsen lässt, sie gemächlich verlagert, zusammenschiebt und auseinandertreibt und sich in Wachstum und Schrumpfung zugleich erhält.

Jenseits des Flusses wartet die große Halle, höher als die Kathedrale von Chartres, in Terrassen und Balkonen abfallend und wieder aufsteigend und immer wieder von Tropfsteintürmen und großen Pilzwucherungen durchsetzt. Solch fossile Pilzgelege, deren Ränder zu fein ziselierten Lamellen und Riefungen gekerbt sind, sieht man nicht oft in Tropfsteinhöhlen: ihre hier so eigentümliche Form ist der großen Höhe der Grotte geschuldet. Das Sickerwasser stürzt von weit oben auf die Kalzitsteine unten, sodass das davonspritzende Wasser eine große Fläche überstäubt; anders als ein Tropfen, der nur einen Meter fällt und, kaum zerstiebend, gemächlich an einem Stalagmiten herabrinnt. Und doch sehen die flacheren Höhlen, deren Charakter von den spitzen Tropfsteinen geprägt ist, soviel dramatischer und stachliger aus; sie lassen an Reißzähne und aufgestelltes Wolfsnackenhaar denken. Das ist aber alles Theater. Wie leicht lässt sich doch der physiognomische Blick foppen! In der großen Halle sind es grade die harmlos scheinenden, schmerbäuchigen und pausbäckigen Formen, die sich dem Wirken starker Gewalten verdanken. Die Staketten stalagmitner Steinspeere, die in den niedrigen Galerien stilettscharf und lanzettenstarrend siedeln, sind dagegen nur Erzeugnisse läppisch rinnender Aussickerungen.

Während der junge Mann, der uns die steilen Treppen der Höhle hinaufführt, seine Zoten über steife Säulen und feuchte Nischen reißt, halte ich in den Wänden Ausschau nach einem Relief, in dem vielleicht, wie vexatorisch auch immer, das Bild Heraklits zu entdecken wäre, der da sprach: "Unsichtbare Harmonie ist stärker als sichtbare."

Für den Weg zurück an die Oberfläche nehmen wir den von einem schwarzen Liftboy geführten Aufzug. Ich suche nach einem anderen Heraklit-Spruch, das mir dunkel im Hinterkopf spukt, komme aber nicht drauf. Erst jetzt habe ich das Gesuchte gefunden: "Es lebt das Feuer der Erde Tod und die Luft lebt des Feuers Tod, das Wasser lebt der Luft Tod, die Erde den des Wassers." Vielleicht hat ein Rätsellöser Gefallen an dem Spruch.

Sarlat. Wie in den anderen nostalgischen Wunderstädten Frankreichs - vor allem in Uzès fällt uns das schon seit Jahren auf und wird uns diesmal ebenfalls wieder auffallen - schreitet auch in Sarlat die touristische Kommerzialisierung unaufhaltsam voran. Wir verfolgen den Prozess seit zwanzig Jahren. Aus den Städten verschwinden die Schuster, die Änderungsschneidereien, die Haushaltswarenläden mit ihrem einst oft so enzyklopädischem Angebot von der Rattenfalle bis zum Goldrandservice. In Uzès sind sogar die Bäcker aus dem Zentrum verschwunden und mussten sich jenseits des Altstadtrings ansiedeln. Es verschwinden Buchhandlungen und die Geschäfte für Damenbekleidung, in denen sich früher die Bauersfrauen aus dem Umland mit Kittelschürzen und Sonntagskostümen versorgt haben. Das ist natürlich ein Trend, der nicht nur diese beliebten Ausflugsziele betrifft, sondern die Zentren der Mittelstädte überhaupt, woran nicht nur der Online-Handel und die grandes surfaces an der Peripherie Schuld tragen, sondern auch die bequemeren Fahrten in die Metropolen: das französische Autobahnnetz ist in den letzten zwanzig Jahren immer enger geknüpft worden; nach Brive oder Montauban führten früher nur Nationalstraßen. Jetzt ist man zügig auf der Autobahn, und für einen zünftigen Einkaufsbummel in Bordeaux muss man nicht mehr - hin und zurück - zehn Stunden rechnen, sondern kaum noch die Hälfte; so wird’s zum Tagesausflug.

All diese Entwicklungen zehren an der autarken Substanz der Provinzstädte; dazu kommt in diesen touristischen Perlen, dass es nicht nur leichter geworden ist, aus ihnen weg-, sondern auch, zu ihnen hinzufahren. Die Zahl der Ausflügler nimmt folglich zu; das Angebot stellt sich darauf ein. Wo früher die Läden für den lokalen Bedarf waren, haben sich jetzt für die Urlauber und Tagesreisende mehr und mehr Geschäfte niedergelassen, die Souvenirs und regionale Spezialitäten feilbieten, Mode, die man im Urlaub kauft (und zuhause dann im Schrank hängen lässt), Läden, die nicht mehr wie ehedem von der Heckenschere bis zum Einweckglas alles für die das Gartenjahr über anfallenden Arbeiten bereithalten, sondern sich auf Jacquard-Tischdecken und Kasserolen mit Entendekor beschränken. In Uzès ist neben dem Überangebot an provençalischem Chichi ein Markt für (durchaus geschmackvolle) Inneneinrichtung gewachsen, der für die wohlhabenden Gäste aus England und Deutschland ergiebiger Jagdgrund ist. Die quincaillerie freilich musste ihre Rollen mit Drahtzaun, das cocotte-Sortiment, die Gartenharken und die Brombeerkämme preisgeben und die Hälfte der Verkaufsfläche einem Laden für schicken Schmuckschickschnack überlassen.

Aber nun. Einige Jahre lang haben wir uns vor dieser Zurichtung ganzer Regionen in Bedürfniserweckungs- und Bedürfnisbefriedigungsanstalten für Urlauber in die France profonde geflüchtet, in der die lokalen Traditionen, die Feste, die Eigentümlichkeiten und der Alltag nicht den Urlaubern zu Gefallen ausgestellt, sondern für die Ansässigen selbst gepflegt werden, und wo der Tourismus nur ein beiherspielendes Schaumkrönchen in dahinplätschernden Rinnsal des täglichen Lebens ist. Wir wollten Normalität; nennen wir es "das echte Leben" oder "das Authentische". Mir ist bewusst, dass diese Begriffe eine Reihe von Problemen aufwerfen, will mich hier aber nicht weiter darüber auslassen. An dieser Stelle soll damit nur ganz oberflächlich eine Atmosphäre und eine Infrastruktur bezeichnet werden, in der die Bewirtschaftung und Behätschelung der Saisongäste ein gewisses Maß am Gesamtvolumen der lokalen Tätigkeit nicht überschreitet. Es ist mir zuwider, wenn die Orte durch und durch für mich und meinesgleichen zurechtgemacht sind. Sie sollen doch so viel Eigenleben bewahrt haben, dass die Einheimischen, nicht die Fremden, seinen Alltag und seinen Charakter prägen, kurz: das Dorf soll bitteschön so aussehen wie es auch aussähe, wenn es nicht alljährlich von Touristen überschwemmt würde. Dummerweise lässt sich dieser Satz einfach transformieren, und er lautet dann so: das Dorf soll bitteschön so aussehen als wenn ich nicht da wäre. 

So stoße ich wieder auf das dumme Paradox, das mir schon in St-Martin-de-Ré begegnet ist: durch meine Anwesenheit zerstöre ich genau das, weshalb ich hierhergekommen bin. Der Tourismus kann einem aber auch wahrhaftig den Tourismus verleiden!

Als wir an den zahllosen Läden mit eingemachten Entenkeulen, Stopfleberdosen, Topflappen und Tischdecken vorüber sind - nicht zu vergessen Walnusskonfekt und Faustkeile aus Plastik, Feigenmarmelade und Töpferware, Aquarelle und Hirschfänger, Säbelzahntiger aus Plüsch und Trüffelhobel - und endlich an der Place de la liberté unseren Apèro nehmen, bin ich zum Missmut geneigt. Eine Passage aus Walter Benjamins Denkbildern kommt mir in den Sinn. Benjamin schildert darin sein frühes Erwachen im Hotel Elephant in Weimar, während draußen auf dem Platz der Markt sich rüstet und die lebenspralle Verheißung, die von den Stimmen der Gemüseweiber ausgeht, bis an sein Fensterbrett hinaufsteigt. Bis er dann allerdings angekleidet und ausgehfertig ist, sind die Verheißungen dort unten schon unter Abfall und zerbrochenen Lattenkisten begraben. Ich habe die Schlusszeilen dieses kurzen Textstücks noch in Erinnerung: "Statt Tanz und Musik nur Tausch und Betrieb." Die merkantile Verwertungslogik hat - so der Gedanke - die Utopie der reinen Lebensfreude zermalmt. Auf der Caféterrasse meinen Kir süffelnd, muss ich hier jedoch eher das Gegenteil feststellen: Tausch und Betrieb sind nicht die desaströsen Verfallsformen von Tanz und Musik, sondern umgekehrt geradezu deren Bedingung.

Bei unseren Erkundungen in der France profonde haben wir genug Dörfer und Landstriche kennengelernt, die vom Tourismus und seiner Geschäftigkeit kaum berührt sind. Das hat unterschiedliche Gründe. Manchmal ist die Landschaft öde, die Dörfer schäbig. Es kommt aber auch vor, dass die Landschaft reizvoll ist und die Dörfer es der Anlage und Substanz nach ebenfalls sein könnten; dennoch kriecht eine Atmosphäre fader und entmutigender Leblosigkeit durch die Gassen - sie rührt daher, dass schlicht zu wenig Publikum da ist, das die schlafenden Steine zum Leben erwecken könnte. 

Durch wieviele Städtchen sind wir schon gestrichen, die im Bann unlösbarer Verödung lagen? Manchmal ist die Hälfte der Läden unter den Arkaden zugemauert; Häuser sind mit Brettern versperrt und von Flatterband in Fesseln geschlagen. An der alten Mairie sind die Fenster zerbrochen, nur manchmal sind notdürftig ein paar Planken davor gesetzt, sodass die Physiognomie des einst stolzen Baus einem verbitterten, mit Augenklappe und Wundpflastern notdürftig verarzteten Veteranen ähnelt. Die Kirche eine gichtbrüchige Ruine, deren Mauern nur noch von ein paar dagegengestemmten Holzstämmen vor dem endgültigen Verfall bewahrt werden; in den Toren der alten Dorfschule - links die filles, rechts die garçons - wachsen Gesträuche; selbst durch das löchrige Dach, auf dessen First vielleicht einmal ein Freiheitsbaum im Trikolorenschmuck prangte, haben sich kümmerliche Triebe gebohrt. In der Bar am Platz wird Bier serviert, das seit Tagen in den Leitungen der Zapfanlage abgestanden ist; man scheut sich nicht, die fade Plörre auszuschenken. Ein einst feudales Palais wird von einem sklerotischen Geflecht von Holzranken stranguliert, die längst schon kein Grün mehr austreiben.

Dahinter muss in irgendeinem lichtlosen Gelass ein greises Dornröschen im ewigen Schlaf seine schweren Atemzüge tun, bleich und altersschwach, die früher goldenen Haare zu weißen Spinnwebfäden ausgeblichen. Man kann den stockigen Mief riechen, der durch die Ritzen der Fensterläden dringt; winzige Larven fressen an den dürren Blättern der Rosenkrone, die als Dornenkranz ums Haupt der siechen Prinzessin liegt.

Und kein Prinz wird kommen, um mit seinem Zauberschwert die Ranken durchzuhauen, von denen das alte Mauerwerk umschlungen wird. Dornröschen wird auf ihrem Lager verdorren wie eine Eidechse, hungrig, still und welk und unerweckt.

Während ich an der Place de la Liberté diesen Gedanken nachhänge und versuche, mich auf die Namen einiger solcher Geisterstädte im Limousin oder der Aquitaine zu besinnen, zieht ein Mann meinen Blick auf sich, der offenbar seinen Auftritt vorbereitet. Er ist ganz in Weiß gekleidet und schminkt nun auch sein Gesicht und den Hals bis hinab zu den Schlüsselbeinen mit einer gipsweißen Paste. Seine Hände gehen mit enormer Präzision über seine Haut, immer wieder gibt es eine Stelle zu glätten oder nachzubessern; besonders seine Ohren weißelt er mit großer Sorgfalt, aber auch die Nasenlöcher, als sei es besonders wichtig, alle Höhlungen seines Gesichts so mit Farbe auszumalen, dass der Gedanke, seine Larve könne auch ein Inneres, einen Weg in dunklere Tiefe haben, gar nicht erst aufkommen kann.

Selbst, wenn man den Blick nur leichthin über das Getümmel am Platz gleiten lässt, fällt der Geschminkte sofort ins Auge. Natürlich sticht das grelle Weiß seiner Gestalt heraus, aber es ist nicht nur dieses Leuchten, weshalb der schweifende Blick sich sogleich bei ihm arretiert, sondern auch der Umstand, dass Vorüberkommende so häufig bei ihm stehenbleiben und kleine gesprächige Menschentrauben ansetzen. Ohne je in seinen Vorbereitungen innezuhalten, spricht er mit allen: sein Bekanntenkreis scheint unendlich, desgleichen seine Fähigkeit, die unterschiedlichsten Kreise miteinander ins Gespräch zu bringen. Er selbst bleibt dabei immer an der selben Stelle vor seinem Schminkspiegel und unterbricht nur für Momente die Arbeit an seiner maquillage. Aber er bildet, wie ein Fels, der in einem Fluß aufragt und in dem ruhigen Dahinströmen des Wassers Strudel und Wirbel erzeugt, eine Art von Ballung und Kristallisationskern: er ist ein Aufhalter. Als mir dieser Begriff in den Sinn kommt, kann ich den Mann fast gar nicht mehr aus den Augen lassen. Der Aufhalter ist der deutsche Name des Katechon, mit dem Paulus erklären wollte, warum der Messias nicht wiederkehrt, um der Welt, wie sie ist, ein Ende zu machen. Carl Schmitt hat den Katechon zur Heilsfigur erklärt: einerseits sorgt er dafür, dass der Antichrist nicht obsiegt, andererseits sorgt er durch seine beständige Gegenwehr gegen das Böse, dass Christus nicht wiederkehren und die Welt erlösen kann. Der Katechon hält so die Welt in einem dauernden Zustand angespannter Gefährdung; er bewahrt sie, indem er die Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse vermeidet und stattdessen unablässig auf dem Wellenkamm der Krise reitet. 

Ich zwinge mich, den Blick von dem Mann zu nehmen und ihn gleichmäßig über den Platz zu führen; aber immer wieder gerate ich in sein Magnetfeld und erliege dem Bann dieser Unregelmäßigkeit, die die homogene Verteilung der Flaneure aufbricht und punktuell verdichtet.

Unser Kir ist beinahe leer, als er schließlich auf einen silbern besprühten Sockel steigt.

Erst da verstehe ich. Bislang hatte ich einen gewieften Akrobaten erwartet, oder einen Yogi, wie wir ihn vor einigen Jahren hier schon einmal gesehen hatten, und der uns ob seiner Gelenkigkeit und Kraft sowie seiner Fähigkeit, die Augäpfel so zu verdrehen, dass nur noch schieres Weiß ohne jeden Pupillenrand zu sehen war, in blankes Staunen versetzte. Dieser kahlgeschorene Wundertäter konnte Steinkugeln in der Luft schweben lassen und sie - den ganzen Leib kopfüber auf einen Arm gestützt - von einer Zehenspitze auf die andere transferieren, ohne ihre Rotation nur für eine Zehntelsekunde zu unterbrechen. Er ließ Planetensysteme auf seinen Zehenkuppen tanzen. Wenn er seine Augen einwärts drehte, beriet er sich wahrscheinlich mit einem Shiva-Avatar, der in Innern seines Schädels, unterhalb der Zirbeldrüse, wohnte, wie er diese Kunststücke vollbringen solle.

Dieser Yogi war eine merkwürdige Figur; aus Spirituellem und Zirzensischem, Versenkung und Ostentation, widersprüchlich zusammengesetzt, zog er für die Viertelstunde seines Auftritts ein riesiges Publikum an. Was er da trieb, erschien schlechthin menschenunmöglich; es war ein Wunder der Körperkontrolle. Seine Beweglichkeit und Kraft, vor allem aber die ganz und gar entkoppelte, separate Motorik seiner Organe ließ eher als an einen Menschen an einen dieser mechanischen Wunderautomaten denken, wie sie die belle époque liebte - doch das waren riesige Aufbauten, an denen unter rasselnder Orchestrionmusik in jeder Nische irgendeine Tanzpuppe sich drehte, ein Kasper seine Salti schlug, Jongleure wirbelten und Vögelchen aus ihren Klappen sprangen. Der Yogi hingegen verströmte eine Aura von fernöstlichem Shaolintum (etwas Übermenschliches, das ganz aus der Stille klösterlicher Meditation geschöpft schien). Und dennoch: seine Schaustellung war trotz des chinesischen Flötengesäusels aus dem Ghettoblaster ein virtuoses Tschingderassabumm voll knalliger Überwältigungseffekte.

Letztlich passte er besser in diese Stadt als es auf den ersten Blick den Anschein haben mochte; Sarlat, dessen würdevolles und ernstes Antlitz wie geschaffen dafür ist, als Kulisse für das blutige Drama der Bartholomäusnacht zu figurieren - hohlwangige Abbés mit Halskrausen, Fackelschein, der über die Schwerter züngelt -, all die Fassaden, die von dem noblen Bürgersinn und der gravitätischen Haltung der Epoche künden, geben heute nur noch den dunklen Fond für die bunte Betriebsamkeit ab, die in den Gassen dahinschäumt.  Auch der Yogi zog einen Gutteil seiner Faszinationskraft aus dem Kontrast von mönchisch anmutender Askese und akrobatischem Tingeltangel.

Der Unterschied zwischen diesem Meister kontrollierter Beweglichkeit und dem weißgeschminkten Mann, der nun auf der Place de la Liberté seinen Sockel bestieg, könnte kaum größer sein. Der Yogi brachte in vollkommener Gemessenheit und fast zeitlupenhafter Sorgfalt eine Choreographie zur Aufführung, die in keinem Zeitpunkt zu absoluter Ruhe kam; irgendetwas an ihm und um ihn drehte und regte sich immer. Das Virtuosentum des weißen Stillstehers hingegen erwies sich grade in seiner vollständigen Reglosigkeit. Er war Marmor; die schneeweiß gefrorene Replik eines erstarrten Moments im Fluss der Zeit. Er hätte der Küchenjunge sein können, den der Koch hundert Jahre lang an den Haaren zieht; der Page, der seinen König grüßt und in devoter Geste innehält; der Haushofmeister, der, in eine gipsweiße Statue verwandelt, seinen Zeremonienstab hebt. Wahrscheinlich war der Stillsteher durch irgendeinen Trick aus Dornröschens verwunschenem Schloss entwischt und präsentierte nun seine dort erworbenen Fertigkeiten der Erstarrung auf dem Platz in Sarlat. Sein Kostüm war gestärkt und spreizte sich überall zu kantigen und spitzen Winkeln: Schultern, Hut, selbst die Schöße seiner Jacke, der aufgestellte Kragen und die ausladenden Aufschläge an Manschette und Brust erinnerten an die Eisschollen, die sich in Caspar David Friedrichs Eismeer-Gemälde zu scharf aufgerissenem Plattenbruch auftürmen. Ohne Zweifel war etwas Gruseliges an ihm. Er war ein eingefrorener Leichnam, steif vor Kälte. Das Leben pausierte in ihm. Schließlich meinte ich an seinem Dreispitz zu erkennen, auf wen er Bezug nahm: er stellte Napoleon dar, auf dem Rückzug vom Russlandfeldzug von einem Schneesturm zu einem menschlichen Eiskristall schockgefrostet.

Schon bevor er den Sockel bestiegen hatte, war eine große Anziehungskraft von ihm ausgegangen, ohne dass er sich darum bemüht hätte. Er benahm sich nicht leutselig, aber erzeugte um sich herum eine Stimmung allgemeiner Leutseligkeit, oder vielleicht besser Zutraulichkeit. Noch während er sich schminkte, war er ein Kristallisationskern, an dem Passanten und Flaneure sich auf ein paar Takte um ihn zusammenschlossen. Doch jetzt, kaum auf dem Sockel, sammelte sich das Volk in Menge um ihn. Mir war vollkommen rätselhaft, warum, aber das lag wahrscheinlich nur daran, dass ich das Metier der Stillsteher nie ernstgenommen habe; dass das Nichtstun und die Verweigerung von Bewegung eine spezifische Leistung sein solle, hatte mir zuvor nie einleuchten wollen. Jetzt bekam ich eine Ahnung davon: von dem Gewimmel der Touristenströme und der allgemeinen Geschäftigkeit erschöpft, empfand ich den Mann nun auch als Bastion des Innehaltens und der Abwehr. Er war eine Festung gegen die allgemeine Umtriebigkeit. Nun unberührt und unberührbar, ragte er auf seinem Piedestal auf wie die Miniatur einer Vaubanschen Festung. Die Winkel und schindelhaft aufgestellen Triangel seiner Montur - Kragenspitzen, gezackte Revers, scharfflossige Manschettenaufschläge - ähnelten den Künetten und Kronwerken, Tenaillen und Ravelins der klassischen Fortifikationskunst, die mir schon in Saint-Martin-de-Ré als so vieldeutig ins Auge gestochen war.

Diese menschliche Festung wurde belagert. Die Menge schob sich darum herum. Kinder unternahmen Ausfälle und stürzten sich todesmutig dem ungerührten Mann entgegen, um ihn aus seiner Reglosigkeit aufzuschrecken; ohne Erfolg. Sie prallten an seinem eisig starren Glacis ab; er rührte sich keinen Milimeter. Nach einer Weile wurde es den Kindern zu blöd und sie gaben ihre Versuche auf. Aber sie blieben, genau wie ihre Eltern. Der Magnetismus des Stillstehers wirkte immer weiter, hielt alle in Bann. Niemand wollte weggehen, bevor dieses Kristall nicht aufgebrochen war. Man wartete. Es war eine Tauromachie ohne Stier: erregte Spannung ohne alle Bewegung, ein fiebriges Verharren, ein Aushalten des Nichtgeschehens.

Auch wir hatten uns jetzt dazugestellt, weniger von dem Stillsteher selbst angezogen als von der Menge, die ihn umlagerte. Die menschliche Skulptur, ungerührt und unbeweglich, bot sich als weiße Fläche dem Publikum dar, offen für allerlei. Da waren Gesichter, die zu erwarten schienen, dass der weiße Mann plötzlich das Wort an die Leute richte, vielleicht eine Predigt hielte, eine Rede an das Volk. In anderen Gesichtern war eine stille Wut zu lesen, irgendeine Verärgerung, und es war nicht leicht zu deuten, ob sie verärgert waren, dass er schwieg, oder dass er überhaupt da war. Unweit von uns standen zwei Pärchen, Anfang dreißig, befreundet. Einer der Männer knüllte ein Papier zu einem Ball zusammen und verkündete, gleich werde er diesen Langweiler lapider (steinigen). Ein älteres Ehepaar daneben war hingegen fasziniert von dem Stillsteher: für sie stand er nicht auf einem Schafott, um den Misshandlungen des Pöbels preisgegeben zu sein; für sie war er eine Art von profanem Säulenheiligem; jemand, der duldet und aushält. Erst als der Papierknüller tatsächlich zum Wurf ansetzen will, hält der ältere Herr ihn am Arm zurück; offenbar - die markante Nase verrät es - ist er der Vater des jungen Mannes. Er lächelt ihn an, weniger begütigend als ironisch, und sagt: On lapide pas un Voltaire - wohl eine Abwandlung von De Gaulles Kommentar zum aufrührerischen Sartre, einen Voltaire stecke man nicht ins Gefängnis.

Die rätselhafte Bemerkung geht mir lange durch den Kopf. Ich weiß, dass De Gaulle damit Sartre in den Jahren des Algerienkriegs vor einer Verhaftung bewahrt hat, aber welcher Zusammenhang zwischen dem politischen Aktivisten Sartre und einem weißgeschminkten Immobilisten bestehen soll, der die Erstarrung zur Virtuosität erhoben hat, erschließt sich mir nicht so ohne Weiteres. Und wie soll ich deuten, dass der Herr, pfiffige Verschmitztheit in jedem Fältchen um seine Augen, einen alten Zwanzig-Franc-Schein aus seiner Brieftasche zutage fördert, den weichen, sepiabraunen Lappen zusammenknüllt und sich durch die Menge schiebt, um diesen Obulus in das Köfferchen zu legen?

Der Kir war kräftig; erst nach einer halben Stunde Spaziergang ist mein Kopf wieder so einigermaßen klar. Wir landen zum Abendessen an einem kleinen Platz und essen schlicht und schlecht, was heute egal ist. Ein Jazztrio spielt am Rand, Bass, Gitarre, Sax. Gitarre und Saxophon tun ihre harmonische Pflicht, der Bass hingegen langt beherzt nach Wahnsinn und Überschreitung, und im Lauf des Sets hat er auch seine Mitspieler soweit, dass sie immer krudere Vorhalte probieren und vor keiner harmonischen Waghalsigkeit mehr zurückschrecken. Irgendwann werfen sie ihren ganzen Ehrgeiz darauf, die eins und die drei so scharf wie möglich zu verpassen, und wenn einer mal für ein paar Takte klar die Zählzeiten markiert, dann nur, um das Publikum wissen zu lassen, wo der Solist grade nicht ist. Synkopen hauen immer mehr Breschen ins rhythmische Geflecht, bis die Hecke sich lichtet und entweder nur noch einzelne Rosenblätter in träumerischer Saumseligkeit heruntertaumeln oder als Geprassel wirrer Cluster herabstürzen. Die Musiker metzeln selbst an Monk-Stücken, die schon von sich aus ziemlich schräg sind, herum und harken die letzten harmonischen Stützen aus seinen Kompositionen. Misterioso mit seiner ohnehin krassen Gegeneinandersetzung von verschrobener Wirrnis und beinah provokant einfältiger Chorus-Gradheit wird ganz und gar zerhäckselt. An manchen Tischen lauscht man angestrengt und wohlwollend, an anderen wird gemurrt. Das hindert allerdings die von den Tischen ausgebüchsten Kinder nicht im Mindesten, auf dem freien Platz vor der Band herumzuhüpfen und halb Tanzen, halb Fangen zu spielen. Das ist okay für sie; sie kennen keine harmonischen Gesetze und müssen nichts verteidigen. Anders als manche der Erwachsenen empfinden sie die schroffen Breaks, die hechelnden und quiekenden Überblasattacken des Saxophons, die Gitarre, die manchmal eher klingt wie die überdehnten Stahlschlingen einer Garotte oder eine Würgespinne mit Drahtbeinen, weder als Entweihung des guten alten Jazz noch als Zerstückelung einer einstmals heilen Harmoniewelt, sondern einfach als eine Menge spaßiger Geräusche; und auch die die wüsten Gewaltorgien des Bassisten, der mit seinem Instrument umgeht wie ein Lustmörder, der im Blutrausch in den gurgelnden Gedärmen seines Opfers wühlt, jagen ihnen nicht den Jammer und den Schrecken ein, den manch Ältere angesichts dieses tonalen Massakers verspüren. Eine Weile denke ich, dass die Kinder in der Musik eine anarchische Entfesselung ahnen, die sie jetzt für die Disziplinierung entschädigt, der sie am Esstisch eben noch bis zum Dessert unterworfen waren, aber als die Jazzer Pause machen und zwei junge Frauen ein paar brav schrummelnde Chansonklassiker zum Besten geben, hopsen die Kleinen nicht anders herum als zu den schrägen Säbeleien der Disharmoniker. Die Kinder nehmen das eine wie das andere willig an; die Tradition ist ihnen genauso willkommen wie ihre Zerstörung. Sie vergleichen nichts, sie messen nicht die Gegenwart an einer vermeintlichen Vergangenheit, sie halten die Realität nicht gegen irgendeine nostalgische Vorstellung davon, wie ich es nur allzuoft tue, wenn ich nach dem echten, dem wahren, dem unverstellten Frankreich suche und dabei die dem touristischen Ausverkauf anheimgefallenen Zonen mit jenen Gegenden vergleiche, die von Urlaubern gemeinhin gemieden werden, und bei diesem Vergleich - aus lauter Verdruss über überlaufene und überkommerzialisierte Städte - gern darüber hinwegsehe, dass diese gemiedenen Städte eben auch langweilig und öde und voller Provinzmiefigkeit sind.

Die Heldin des Märchens ist nicht das schlafende Dornröschen, sondern der Prinz, der durch seine Präsenz den Ort wieder zum Leben erweckt: der junge Mann, der von außen kommt - der Störenfried; der Besucher; der Fremde.

Ohne dieses Ferment, das den Teig einer Stadt durchsäuert und in Gärung bringt, liegt alles lahm da, bleibt verstockt und verhockt, und sackt zu einem pappigen Laib lebloser Materie zusammen. 

Als unser Käse serviert wird, machen die beiden Chansonetten wieder Pause; das Jazzertrio ist von neuem dran. Sie beginnen mit Ornithology von Charlie Parker, mid-tempo, aber man sieht ihnen an, dass sie eigentlich ganz scharf drauf sind, gleich einen Gang höher zu schalten und ein paar rasende Unisono-Skalen runterzubrettern. Doch der Bassist - ohne Zweifel der Bandleader - hat gesehen, dass etwas abseits ein Pärchen zu tanzen angefangen hat. Irgendwie schaffen es die beiden jungen Leute, ihren Fox mit den komischen Läufen des Parker-Stücks zu synchronisieren. Sie drehen und wenden sich, wie es ihnen die französische Tanzschule beigebracht hat, ein bisschen zeremoniös und menuetthaft in den Figuren, aber durchaus geschmeidig in der Ausführung. Der Bassist winkt sie mit den Augenbrauen näher heran, lockt sie in die Mitte des Platzes; die Gerufenen folgen willig, und die Band macht es ihnen jetzt einfacher, indem sie all das Synkopieren und Triolengefoppe eine Weile beiseite lässt und in einen groove gerät, der zuverlässig auf der eins und der drei einen Akzent setzt, und, je länger das Stück geht (es ist längst nicht mehr Ornithology), so sicher kommt wie die Rauchpuffer aus einer dicken Wasserpfeife. Das Spieldosenhafte und Mechanische des Tanzes verliert sich immer mehr; die Hüften und die Glieder des Pärchens sind jetzt beweglich wie grüne Triebe, die sich umeinander winden und schmiegsam umspielen. Saft schießt frisch und feucht in die verholzten Ranken, von denen das ehrwürdige Gemäuer Sarlats umschlossen wird. Die Tänzer sind aufgetaut; gelenkig und wach reagieren sie jetzt auf jeden rhythmischen Stimulus des Basses. Dessen Sechzehntelsalve kontert der Mann mit fixen Trippelschritten, die punktierten Verschleppungen macht die Frau mit einer lasziven Ellipse des Hinterns mit. Die Gitarre schlägt ein Arpeggio vor, und die Tänzer kapieren, was er meint, und legen im nächsten Durchgang taktgenau zu seinem Lauf eine Drehung hin wie geschmiert. Die letzten vier Takte läutet der Bass durch energisches Geschrumme ein: in Quinten klettert er aufwärts, als erklimme ein brünstig brummender Bär in großen Sprüngen den Turm, in dem die Prinzessin liegt, um sie mit seinen großen pelzigen Pranken zu packen und sie aus dem Schlaf zu schütteln, und das Saxophon kräht als triumphierende Fanfare golden und gellend ein Kikeriki dazu.

Der ganze Platz applaudiert; am lautesten - mit scharfen Pfiffen und Falsettgejohle - ein Mann, der seinen Teller unter einem Arkadenbogen gegessen hat, und den ich nur an den weißen Schminkrändern am Haaransatz wiedererkenne.

Nächsten Vormittag bummeln wir über den Markt. Die Chilenin hat immer noch ihren Stand mit Panamas; auch den Jahresvorrat von Eselinnenmilchseife heimsen wir hier ein; zwei Scheiben Pferdesteak, Käse aus dem Cantal, Honig, schwarze, gelbe, grüne Tomaten, Salat, dem die Bitterstoffe noch nicht ausgetrieben wurden; eine Gurke, die in ihrer Krummheit noch obszöner ist als jeder holländisch grade gewachsener Phallus, und mit beinah syphilitischen Papillenpickeln ausgestattet; Paprikas, die ihre Wölbungen nicht drall auswärts blähen, sondern schon frisch geerntet aussehen wie die Schrumpeltrauben, aus denen man Süßwein keltert.

Vor allem aber gibt es an einem Hühnerbratstand poulet fermier, das wenigstens zehn Wochen im Dreck picken durfte, bevor es sein Leben geben musste. Das ist unser letzter Kauf hier: frisch vom Spieß nehmen wir es mit und wickeln es im Bus gleich in die Bettdecke, um es warmzuhalten, bis wir am Ufer der Dordogne einen Platz für Mittagspicknick und Mittagsnickerchen finden.

Noch ist es sonnig; erst als wir am Fluß aufbrechen, kriecht von Nordwesten her eine graue Wolkenfront heran. Im Rückspiegel sehen wir, wie sie das Land in Düsternis versiegelt, während sich der Himmel vor uns immer mehr lichtet. Wir rauschen an Cahors und Montauban vorüber, passieren Toulouse und kehren schließlich vor Carcassonne an einem kleinen camping à la ferme ein, an dem wir im Jahr der großen canicule, die uns damals fünf wolkenlose Wochen beschert hat (und Frankreich einige tausend alleingelassene und in Hitze und Durst krepierte Alte), ein paar Tage verbracht haben.

Der Teich, an dessen Ufer wir unser Lager aufschlagen, liegt in einer Senke der in weiten Wellen den Pyrenäen entgegenstrebenden Landschaft. Von dem Bauernhof aus, der den Campingplatz führt, hat man einen atemberaubenden Blick auf den blauen Kranz der Gebirgszüge. Schade nur, dass die Weizenfelder schon abgeerntet und die Sonnenblumen verblüht sind: das Blond des Weizens und das strahlende Gelb der tournesols wären eine gute Antwort auf das strahlende Licht am Himmel gewesen.

Am Sonntagnachmittag gibt es in einer kleinen Kapelle auf dem Land ein Konzert mit einem Saxophonquartett.  Wir erwarten ein Kirchlein mit einem Dutzend Zuhörern, aber es ist bis auf den letzten Platz besetzt: für die Gemeinden im Umkreis ist ein solches Konzert nicht nur ein musikalisches, sondern vor allem ein gesellschaftliches Ereignis. Neben der Kirche steht schon alles für einen munteren Umtrunk bereit. Im Publikum sitzen vor allem ältere Herrschaften, kräftige Bauern, Honoratioren, Bürgersfrauen, und als das Quartett das Programm mit Mozart-Transkriptionen, Brahms und Berlioz beginnt, können wir noch nicht ahnen, dass der Applaus um so stärker wird, desto moderner die Stücke werden. Bei der ersten Charlie-Parker-Anverwandlung johlt eine etwa Siebzigjährige vor Begeisterung auf, als hätte sie sich in der Pillenschatulle vergriffen und sei versehentlich an die Amphetamine ihrer Enkelin geraten. Als die Soulreißer kommen, gibt's kein Halten mehr. Jede Überblasorgie und jede krasse Disharmonie quittiert sie mit frenetischem Jubel, und sie ist bald nicht mehr die einzige. Greise, von denen ich allenfalls erwartet hätte, dass sie bei manchen Stücken nach ihrem Hörgerät tasten würden, um es abzuschalten, wippen auf den Klappstühlen und klatschen sich die Hände rot. Witwen im Sonntagskostüm schreien encore. Selbst der hinkende Kulturbeauftragte, der die einführenden Worte gesprochen hat, pfeift auf seine schmerzenden Gelenke und wackelt mit den Hüften. Bravo!

Montags nach Mirepoix zum Markt in dieser alten Katharerstadt. Das Renegatentum scheint nie aus dem Ort geschwunden zu sein. Der Philosoph Michel Serres, der unweit von hier aus Agen stammt, erzählt in dem Gesprächsband, den ich später in Montpellier kaufen werde, von seinem Vater und dessen im Kern katharischer Überzeugung, dass die Macht immer verwerflich, ja teuflisch sei. Dieser Geist scheint hier immer noch zu walten; zwar gibt es in Frankreich generell mehr Unangepasste, Aussteiger, Freaks und Späthippies als in Deutschland, viel junge Leute, die mit ihren großen Hunden in den Städten herumlungern (das Wort klingt abschätziger als ich es will, aber es bleibt nun mal das mot juste), komische Vögel, die außerhalb des bürgerlichen Lebens stehen, Käuze und Sonderlinge, aber Mirepoix scheint eine ihrer heimlichen Hauptstädte zu sein. Ich habe selten so viel graubärtige Rastazopfträger, orientalisch Pluderbehoste, Filzköpfe, Marktabfallsammler und Tibetreisende auf einen Haufen gesehen wie hier unter den dicken Holzbalken der Arkaden, selten auch auf den Märkten so viel Räucherstäbchenklimbim, Gebetskugeln und nepalesische Wollkutten. Auf der Barterrasse ist viel Sprachengewirr zu vernehmen, der bäuerliche Akzent des französischen Südwestens mischt sich mit Katalanisch und Okzitanisch, das gibt dem Ganzen noch mehr die Atmosphäre eines Widerstandsnests, das tapfer gegen Einheitlichkeit und Uniformität Stellung hält. (Man braucht aber nur ein wenig durch die Straßen außerhalb des Altstadtrings zu spazieren, um zu erkennen, wie die Buntheit im Zentrum eingeschlossen ist wie in einem Ghetto: draußen schieben die Vorstadthäuser, die Stakettenzäune wehrhaft gespitzt, Wache.) 

Durch die Corbières geht es in Richtung Mittelmeer. Wir kommen am späten Nachmittag in Sète an, grade recht zum Aperitiv. Sète ist immer noch eine etwas rauhe und proletarische Stadt, auch wenn sie sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert hat. Als wir das erste Mal hier waren, konnten wir den Bus noch am alten Fort parken und abends oberhalb der Felshaufenschüttung der Ufermole sitzen, über die im Mondlicht die Ratten huschten. Wir waren zu Fuß in den Fischerhafen hinübergegangen und hatten dort vor einer Kneipe gegessen, während immer noch die Gabelstapler herumrangierten und einen Geruch von Diesel und Fisch hinter sich herzogen. Die Arbeiter am Nebentisch trugen Unterhemd und Goldkettchen; die Tätowierungen auf den Oberarmen waren damals noch ein Attribut, das Seemännern und Ganoven vorbehalten war, bevor Bankangestellte und Schwesternschülerinnen sich wie alle Welt unter die Nadel legten. Die Männer kauten mit offenem Mund, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, und riefen ihre Bestellungen laut ins Lokal hinein. Die Kellnerin sah aus wie eine abgetakelte Ehemalige, verlebt und kodderig, die den Trick raushatte, die Teller zu bringen, ohne dabei die Zigarette aus den Fingern zu lassen. Später am Abend erschien, flankiert von zwei kräftigen jungen Burschen, ein Mann um die sechzig in einem glänzenden, grauen Seidenanzug, mit offenem Hemd, dessen Kragenspitzen wie Haifischflossen über dem Sakkokragen lagen, trug statt Krawatte Brustwolle mit Goldketteneinlage, schritt an den Tresen und parlierte dort jovial mit dem Wirt, während seine Schergen stumm abseits standen. Ich ging grade zum Klo (ein Kapitel für sich), als der Wirt einen Packen Geld über die Theke schob. Mit einem Zungenschnick an den Zähnen wies der Herr seine Garde zum Abmarsch an; das Geldbündel beulte seine Anzugtasche aus. 

Dieser Winkel in Sète ist mittlerweile ziviler geworden. Die Restaurants sind keine Kaschemmen mehr, die nur auf die Frische des Fischs vertrauen, sondern schickgemachte Lokale mit Tischdecken und Kunstdrucken an den Wänden. Auch unsere Kneipe von damals hat inzwischen Holzstühle mit Polstern, Stielgläser und Speisekarten, während es damals nur eine Tafel gab, auf die ein Legastheniker seine Kreidekrakel gemalt hatte. 

Parallel zur, sagen wir, Aufwertung des Viertels, wurde der Zugang zu der schönen Übernachtungsmöglichkeit am Fort gesperrt. Vor ein paar Jahren ist dann auch der lange Strand an der Uferstraße von Sète nach Agde umgewandelt worden. Die Straße hatte direkt am Strand entlanggeführt, mit der Folge, dass der Straßenrand über Kilometer von Wohnmobilisten besiedelt war, die dort ihre Tische und Liegen aufschlugen. All das Einparken und Ausparken, Wenden und Rangieren hatte den Verkehr auf der schmalen Straße immer zu einer Geduldsprobe gemacht, zudem übertönte der Autolärm zu manchen Stunden das beständige Anrauschen der Wellen. Aber trotzdem: das Ganze hatte etwas reizvoll Anarchisches und Familiäres, wenn die Wohnmobil-Matronen ihre Wäsche zum Trocknen anzwickelten, die Väter in den stinkenden Schwaden standen, die vom Grill aufstiegen, und die Leute unter Sonnenschirmen ihr mitgebrachtes Picknick verzehrten. 

Heute ist das ganze Areal für den Verkehr gesperrt. Man hat große Parkplätze eingerichtet, die aber zu weit hinter dem Strand liegen, als dass man noch Kühltaschen, Grills, Geschirr dort hinschleppen wollte. Die Wohnmobile sind ohnehin ganz kaserniert und in ein Ghetto verbannt. (Im Vorbeifahren sahen wir ein Pärchen eingezwängt zwischen diesen großen weißen Kästen sitzen und zu Abend essen, ein Bild zum Erbarmen.) Der Strand hat durch diese Aussperrung des Verkehrs sicher an idyllischen Qualitäten gewonnen; jetzt führt nur noch ein Fahrradweg daran entlang. Aber das charmant Anarchische wird verschwunden sein, wahrscheinlich zu Gunsten der Strandrestaurants, die jetzt erheblich mehr Zulauf haben dürften als zu der Zeit, da man sich vorwiegend aus dem Picknickkorb verpflegte und seine Merguez und Chipolatas selber auf den Grillrost warf.

Im Etang de Thau, dem großen Bassin, das im Rücken Sètes liegt, ist Ebbe: die Gerüste mit den Austernkäfigen tauchen in langen Reihen aus dem Wasser auf, die Pfähle mit den darumgeschlungenen Muschelsäcken. Wir essen in Bouzigues Meeresfrüchte; es passiert mir zum ersten Mal, dass ich die Austern und die rohen Muscheln nur mit Mühe herunterbekomme, obwohl sie ganz frisch sind; heute widert mich das Jodige an; es zieht mir die Mundschleimhäute zusammen, und ich brauche viel Picpoul, um sie wieder freizuspülen.

Aber es ist trotzdem angenehm, dort zu sitzen, den Leuten zuzusehen, die bei jedem Restaurant stehenbleiben, um die Speisekarten zu studieren, obwohl es ohnehin überall die gleiche coquillage gibt und die Preisunterschiede marginal sind. Es ist auch angenehm, nach dem Essen an der Strandpromenade auf einer Bank zu sitzen und auf den Mont St.Claire hinüberzuschauen, der Sète überragt, das Spiel der Lichter zu verfolgen, die auf den Wellen blinzeln, und dem Aufbruch der Boote zuzusehen, die nach dem Essen in die Stadt zurückschippern.

Wir übernachten vor einer Villa aus gallo-romanischer Zeit, die etwas im Hinterland liegt. Es ist die erste laue Nacht auf dieser Reise; wir können noch bis nach Mitternacht draußenbleiben. Plötzlich erstrahlt ein schimmernder Nimbus um den Mont St. Claire. Das Feuerwerk beginnt. Eine halbe Stunde lang zünden immer wieder Lichtsträuße, glitzernde Fächer und Fontänen aus Leuchtkugeln über den Himmel.

Vormittag in Marseillan an der Westspitze des Etang zum Kaffeetrinken. Die Hafenmole ist gesäumt von den typischen Häusern einer Fischergegend. Nur eine Villa ragt daraus hervor, mit blaulackierten, schmiedeeisernen Balkonen und blauen Simsen, ganz im Geschmack des Zweiten Kaiserreichs. Das Gebäude wirkt in dieser Umgebung wie vom Himmel gefallen: der plötzliche Einbruch großbourgeoiser Pracht in ein sonniges Fischernest.

Solchen Fremdkörpern kann man in ganz Frankreich begegnen; selbst in abgelegenen Tälern der France profonde, wo es ansonsten nur geduckte Bauernhäuser und Dörfer aus kaum verputztem Bruchstein gibt, findet sich immer wieder einmal ein solches Exemplar aus dem Baukasten Haussmanns, wahrscheinlich von irgendeinem vermögenden Fabrikanten oder einem zu Wohlstand gekommenen Staatsbeamten dort errichtet, um bei aller Heimatfreude in der Provinz ein Zeichen jener urbanen Eleganz und Geschmackssicherheit zu setzen, die er aus seinen Jahren in der Kapitale mitgebracht hat. In den Seealpen haben sich die in Mexiko reichgewordenen Rückkehrer aus Barcelonnette feudale Villen in diesem Stil bauen lassen; in der Auvergne, im Périgord, in der Bretagne würden diese Aedifizien eigentlich fremd aus den jeweiligen Umgebungen herausstechen, wenn die Zeit diese Fremdheit nicht gleichsam verwischt und vertuscht und mit der Atmosphäre allgemeiner Vergangenheitsseligkeit umkleidet hätte, sodass dem unaufmerksamen Beobachter kaum noch auffällt, dass sie, einem ganz anderem Stil entsprungen, mit ihren verzinkten Dächern und Stukkaturen nur pompöse Importware sind. Das Allochthone an ihnen ist mit der Zeit verwittert; sie sind mit den einheimischen Bildungen zusammengeschmolzen, nicht wegen irgendwelcher äußerlicher Ähnlichkeiten und Anpassungen, sondern nur, weil sich die Kriterien des Betrachters geändert haben, der sie nicht mehr unter unter der Perspektive formaler Attribute beurteilt und stattdessen einfach ihr schlichtes Alter als einheitsstiftendes Moment zugrunde legt.

Meinen Kaffee schlürfend, denke ich an die Kirche in Cognac, die mir in ihrem Stilmix und ihrer métissage so harmonisch erschienen war. Das Cuvée, das die Zeit aus den unterschiedlichen Epochenanteilen zusammengemischt hat, bedarf, um zu gelingen, der Geduld. Man braucht die widersprüchlichsten Elemente nur lange genug nebeneinander liegen zu lassen, damit ein stimmiger Akkord daraus wird. Die Zeit, die große Egge, wird's schon richten.

Montpellier ist eine Stadt, in der diese langsame Einebnung der Epochen nicht mehr der geduldig mahlenden Mühle der Zeit überlassen, sondern unter Laborbedingungen chemisch hergestellt wurde. Die postmoderne Architektur dort ist berühmt; hinter die Altstadt hat man Ende der Siebzigerjahre ein Viertel gebaut, das den zeitgenössischen Funktionalismus mit antiken Versatzstücken aufmöbelte; Säulen, Portikusse, Tympanonzitate. Als wir das vor zehn Jahren ausgiebig besichtigt haben, wurde mein theoriebeflügeltes Wohlwollen freilich enttäuscht. Die Plätze waren zu groß und zu leblos: die Oberflächen waren trotz allen antikisierenden Dekors so glatt, dass sich kein behaglich-schmuddliger Betrieb darauf ansiedeln wollte, die Atmosphäre blieb steril und leer, abweisend gegenüber dem Bakterium Mensch. Diesmal verschlägt es uns gleich in die Altstadt, und der halbbewusste Widerwille, den ich gegen Montpellier von damals her hege, verdampft in den stickigen Gassen und in der Enge der Wege recht schnell. Die Stadt wimmelt von Volk; in den Cafés ist kaum ein Platz zu ergattern. Es scheint, als kämen die Leute, die in jenem postmodernen Antigone-Viertel östlich des Zentrums in den Sozialwohnungen leben, allesamt hierher, um ihre demis und diabolos dort zu trinken, wo die Steine vollgesogen sind mit Vergangenheit, und das verwinkelte Gassengewirr so krumm ist und so reich an Nischen, dass man sich nicht fühlt wie eine Figur auf einem blanken Schachbrett aus exakt bemessenen Quadraten.

Bei einem Sirup schauen wir einem jungen Mann zu, der mit seinem Hund - einer zerzausten Promenadenmischung von so scheckigem Anthrazit, als hätte er sich in einem Kohlenkeller getummelt - ungeniert Zärtlichkeiten austauscht. Sie schlecken sich gegenseitig das Gesicht ab; der Hund wird aber nicht sauberer dadurch. 

Es gibt keinen Stellplatz in der Stadt. Dem Fräulein im Touristenbüro fällt auch, anders als fast all ihren Kolleginnen im ganzen Land, keine einigermaßen taugliche illegale Übernachtungsmöglichkeit ein; also wir fahren nach Palavas-les-Flots, dem Strandbad Montpelliers. Ich habe Palavas aus irgendwelchen Gründen als etwas schläfrigen und unaufgeregten Ort in Erinnerung: altertümliche Kinderkarussels und ein kleiner Jachthafen, in dem ein paar müde Dschunken schaukelten. Aber irgendetwas muss in meinem Gedächtnis durcheinandergeraten sein: Palavas entpuppt sich als Urlaubermoloch. Vor den Stränden erheben sich zehnstöckige Blocks mit Ferienappartements; die Parkplätze bersten aus allen Nähten; das Kinderkarussell, das meine Erinnerung zu einem gemächlich kreisenden Gebilde aus bemalten Holzpferdchen und Schwanenkutschen geschrumpft hat, ist in Wahrheit ein ganzer Vergnügungspark mit rasenden Fahrgeschäften, wo bei 170 bpm und 140 db die Kinder mit 3 g in die Sitze gepresst werden. Wir halten nur an, um in aller Eile einen Fluchtplan zu schmieden und einen Ausgang aus dieser Urlauberhölle zu finden. Dagmar spürt auf der Karte das Zeichen für ein altes Aquädukt auf, eine halbe Stunde entfernt. Unter den alten Steinen, deren Bögen sich grau vor einem kobaltblauen Himmel abheben, essen wir Ziegenkäse, der von dem Hühnerhund, der neugierig herbeischlendert, zwar ausgiebig beschnuppert, aber dann doch verschmäht wird. Da interessiert ihn das Innere des Busses schon mehr; sein Herrchen kann ihn grade noch zurückhalten, unsere Abfalltüte zu inspizieren.

Nächsten Tags weiter nach Aigues-Mortes, Stadt des toten Wassers und des Salzes, ummauerte Bastide. Ludwig der Heilige ist von hier aus zu seinen beiden Kreuzzügen aufgebrochen. Sein Standbild hält heute die Mitte der Stadt besetzt, eine Hand am Schwertgriff; mit dem Zeigefinger der anderen weist er auf das Kreuz, das seine Brünne schmückt. Saint-Louis soll ein Mann von hohen christlichen Tugenden gewesen sein; sein Standbild zeigt indes weniger einen demütigen Friedensfürsten als einen fast noch jugendlichen Raufbold, der sich nach einer Provokation durch einen dieser kackfrechen Araber in eine "Weißt du eigentlich, mit wem du hier sprichst?"-Positur schmeißt. Er scheint nicht so sehr auf das Kreuz zu weisen, das auf seinem Gewand prangt, als mit dem Finger auf seine Brust zu pochen, in der ein stolzes und rachsüchtiges Herz schlägt. Von dem christlichen Büßer, der ein härenes Hemd unter seiner Rüstung trug, keine Spur; sein Gesichtsausdruck und das starke, vorgereckte Kinn sagen ganz deutlich, dass der Kamelficker jetzt gleich was aufs Maul kriegt. Das Standbild aus der Hand Pradiers stammt von 1849. Zwei Jahre zuvor hat Frankreich den Berberfürsten Abd-El-Kader geschlagen, der der Eroberung Nordafrikas durch die Franzosen soviel Widerstand entgegengesetzt hatte. (Frag ruhig, wen ein Denkmal darstellt. Aber dann frag, wer das Denkmal gemacht hat, und wann und warum.) 

Nachmittags durch die Camargue. Jedenfalls müsste es die Camargue sein, so steht es auf der Karte. Nur finden wir nichts von dem, was beim Aussprechen dieser Silben an Vorstellungsbildern in einem aufsteigt: salzgraues Marschland, besät mit orangefarbenen Flamingoblüten; weiße Pferde, deren Mähnen und Schweife sich mit den Wasserschleiern mischen, die unter stampfenden Hufen aufspritzen; Herden von schwarzen Stieren, klein und muskulös, die spitzen Hörner wie Krummdolche gebogen. Das alles fehlt. Stattdessen sehen wir Traktoren und Melonenfelder. Dann auch eine Fähre, die uns über den Rhône-Kanal bringt, nachdem wir lange genug gewartet haben, um einen Kaffee in der Kneipen-Baracke zu nehmen. Ich stehe an der Theke, bemerke, dass es selbst an dieser entlegensten aller Kaschemmen dasselbe Essen gibt wie überall in der Gegend sonst auch (Stierragout vor allem, das in Aigues-Mortes war allerdings unerwarteter Weise großartig), und zu den selben Preisen wie im Epizentrum des Tourismus, im Schatten Ludwigs des Heiligen. Die rustikalen Säufer neben mir entpuppen sich als die Besatzung der Fähre; wahrscheinlich müssen wir nur solange warten, damit sie in Ruhe ihren Amer Picon schlürfen können.

Schließlich landen wir in St-Gilles auf dem Campingplatz; es war ein heißer Tag, und ich giere nach einer Dusche.

Die Wirtin hat uns gleich in Kenntnis gesetzt, dass es heute abend im Ort ein abrivado-bandido gäbe. Der Ort feiert am Wochenende; das war unschwer zu sehen, als wir durch die Hauptstraße kamen: an den Hausmauern lehnten schon die Absperrgitter, die später für die Stierhatz gebraucht würden.

Als wir um fünf zum Eröffnungsdefilé der Dorfjugend gehen, sind die Gatter bereits aufgestellt, die Seitenstraßen bis auf schmale Durchschlupfe abgeriegelt. Für das Wochenende gehört das Dorf den Jungen. Die förmliche Übergabe der Stadtschlüssel durch den Bürgermeister soll heute abend erfolgen. Einstweilen wartet man, von den Bars mit Bierbechern und Rosé versorgt, auf den Beginn des Spektakels. Die jungen Leute bringen sich mit Whisky-Cola in Stimmung, grüppchenweise mit Trikots in unterschiedlichen Farben angetan; Bekannte grüßen sich mit Küsschen; Alte haben sich auf mitgebrachten Klappstühlen in Position begeben. Vor einem Café trinken die beurs Pfefferminztee, ganz ruhig und unter sich, segregiert.

Schließlich beginnt das Defilé. Jede Jugend-Contrade hat ein Gefährt in der Farbe ihres jeweiligenTrikots, die einen einen neongelben Traktor, die anderen einen aufgemotzten Ford Mustang in knallblau, die hier eine alte fourgonette, von der das Dach abgeflext ist, jene eine mit Kartons verkleidete feuerrote Scheese, auf deren Dach eine Bühnenplattform für anderthalb Dutzend ados montiert ist, die mit Rauchwerfern herumfuchteln, aus denen ein fetter, stinkender Qualm quillt, der die Zuschauer in paroxystische Hustenkrämpfe versetzt. Wichtig ist Lärm, Gestank, Qual. Der Mustang ist von kundiger Hand so frisiert, dass er jeden halben Meter eine knallige Fehlzündung herausplatzen lässt; er läuft, im Ersten, auf geschätzt zehntausend Touren, und ist in eine brenzlige Wolke blauer Abgase gehüllt. Der Fahrer der fourgonette versucht mitzuhalten, indem er alle paar Sekunden auskuppelt und bis zum Anschlag Zwischengas gibt. Hauptsache Krach und Dampf und Gift: offenbar darf die Jugend heute all das forcieren und übertrieben ausleben, was man ihr sonst gern zum Vorwurf macht. Heute haben sie die Lizenz zum Tröten, und sie machen reichlich Gebrauch davon.

Als die Karren der Dorfjugend vorüber sind, zockelt noch der der alten Säcke hinterher. Ganz in Orange kommen die Mittdreißiger, Mittvierziger; Boney M. dröhnt von ihrem Traktoranhänger herunter, By the rivers of Babylon; ihre Bierbecher schwenkend bemühen sie sich redlich, die Festfreude der jüngeren Generation zu übertrumpfen, aber es wirkt steif und bemüht. Der Lärm macht ihnen keinen Spaß mehr; eigentlich biedern sie sich nur bei den Jungen an, indem sie so tun, als könne ihnen das Alter nichts anhaben und als teilten sie immer noch die ungehemmte Lust der Zwanzigjährigen an Krach und Krawall. Sie wollen immer noch in die Arena laufen, um den Stier am Schwanz zu zupfen, auch wenn ihre Knochen mittlerweile leichter brechen und der Flugrost längst auf ihren Gelenkpfannen sitzt. 

Jetzt, da ich darüber nachdenke, scheint es mir freilich nicht nur unpassend, sondern sogar ein Frevel am Geist dieser Umzüge, dass die Erwachsenen hier mittun. Solche Saturnalien waren ursprünglich für die Kinder, die Unverheirateten, die Sklaven und die Frauen da. Das Fest war eine Machtübernahme derer, die sonst nichts zu sagen haben: ein Rollentausch; eine Heimsuchung der etablierten Gesellschaft durch jene, die sonst außerhalb der Macht stehen. Die Aushändigung der Stadtschlüssel ist das deutliche Zeichen, dass es um eine zeitweilige Umkehrung der Hierarchie geht, nicht anders als im Karneval, wenn die Narrenkönige das Regiment übernehmen. 

Der Karneval ist nicht das einzige Fest eines solchen bouleversement. Wenn die Tage dunkler werden, zu Herbst und Winter hin (und auch der Karneval beginnt ja im Spätherbst) häufen sich Begängnisse, die diese Grundstruktur immer wieder umspielen, manchmal ganz treuherzig-naiv eingefärbt wie bei Sankt-Martin, wenn die Kinder Laterne gehen und Süßigkeiten fordern, manchmal schon etwas gruseliger, wie an Halloween, wenn die Forderungen der Kinder unverblümt mit Drohungen verbunden werden. Auch Nikolaus und Knecht Ruprecht sind - obgleich sie autoritäre und einschüchternde Züge tragen - vor allem als schenkende Instanzen gegenwärtig, die den Schwachen zu einigen Zuwendungen außer der Reihe verhelfen.  Auch die Rauhnächte gewähren den Ausgestoßenen  und Verfemten - Wiedergängern, Tiermenschen, Waldunholden - weitreichende Freiheiten und Lizenzen, gegen die übliche Ordnung zu verstoßen. (Wer diesen ganzen Themenkomplex vertiefen möchte, sei - neben Bachtins großem Werk - auf den schmalen, doch gehaltvollen Aufsatz von Lévi-Strauss' über den gemarterten Weihnachtsmann (in Nous sommes tous des cannibales) verwiesen. Auch das von Karl Meuli verfasste Rubrum Hulda samt der Querverweise im Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, sowie das Buch des selben Verfassers über Schweizer Masken sind mitreißend abenteuerliche Beispiele einer anthropologischen Spekulation, die den Zusammenhang vertieft.)

Jedenfalls werden solche Lizenzen der Überschreitung und der Umkehrung an diesen Festen alter Sitte gemäß jenen gewährt, die außerhalb des Machtzentrums der Gesellschaft stehen, sei's dass sie noch nicht initiiert sind wie die Kinder, oder sei's, dass sie es nie werden können wie Frauen und Sklaven, Missgestaltete und Narren. Für gewisse, genau bemessene Zeiträume dürfen sie nun die Hand an das Zepter legen und ihre Forderungen erheben. Trick or treat!

Was haben also die Honoratioren des Ortes, die Arrivierten und Maßgeblichen auf einem solchen Wagen zu suchen, der eigentlich dafür bestimmt ist, die Außenseiter und Rechtlosen zu tragen? Wer hier sagen wollte, die Geschäftsleute hätten doch schließlich den ganzen Spaß bezahlt, warum also sollten sie nicht ihren Platz im Zug haben, hätte es verdient, dass man ihm eins mit der Narrenpritsche überzieht. Es ist doch grade der Witz an solchen Bräuchen, dass die Notabeln für die Zeit des Festes beiseitestehen und jenen den Platz überlassen, die sonst die Ränder der Gesellschaft besiedeln. (Und wo, verdammt noch mal, ist der Wagen der Araber?)

Läuft es denn nicht dem Geist dieser Saturnalien zuwider, wenn die Archonten selbst in den Stunden, in denen das Gesellschaftsgebilde einer grellen Travestie anheimfällt, noch einen herausgehobenen Platz auf dem Triumphkarren in Anspruch nehmen, und wenn sie ihren Einfluss und ihren Status behaupten, indem sie sich dazu die Narrenkrone selbst aufsetzen?

Das jedenfalls war mein erster Gedanke, aber ich spüre, dass irgendetwas an dieser beflissen ideologiekritischen Überlegung grundfalsch ist: ass backwards, wie Pynchon sagte.

Gewiss: die Erwachsenen okkupieren in diesem Festzug eine Position, die einmal exklusiv den Ausgeschlossenen vorbehalten war, als könnten sie nicht von ihrer Macht lassen. Aber sie tun es mit einiger Bescheidenheit und folgen den Jugend-Contraden in gehörigem Abstand. Nach dem groben Exzess von Lärm und Gestank, Dampf und Donner, den die Jugend veranstaltet hat, umweht den Festwagen der Älteren beinahe etwas Wehmütiges; es ist nur ein schwacher Abklatsch der brutalen Glorie der Jungen. Hier feuert auch kein harter Techno Stakkato-Salven von 160 beats per minute auf die Zuschauer; stattdessen wiegt man sich zu dem harmlosen Shuffle von Boney M.: By the rivers of Babylon.

Wer hat den Leuten bei der Wahl ihres Stückes wohl die Hand geführt? Haben sie diese alte Nummer nur ausgesucht, weil sie in ihren Tanzschulzeiten dazu die ersten Schritte Disco-Fox gelernt haben? Oder ist es doch der Text, der ihnen aus der Seele spricht? 

By the rivers of Babylon, there we sat down, yeah we wept, when we remembered Zion... Das Psalmwort, auf das diese Zeilen Bezug nehmen, beklagt Entfremdung; ein Verstoßensein, Weggerissensein aus dem wahren Leben. Das Volk Israels ist verschleppt worden, zur Arbeit an fremder Herren Gut gezwungen. Es ist unfrei, unterjocht, fern der Heimat und fern von seinem wahrem Selbst. Wenn die Thesen der Brauchtumskundler und Anthropologen richtig sind, dass bei all diesen Narrenfesten, Totenfesten, Heischefesten jene das Zentrum der Festgemeinschaft besetzen, die sonst marginalisiert und nicht die Herren ihres eigenen Lebens sind, lässt es tief in das Selbstverständnis des hiesigen Bürgertums blicken, wenn sie sich symbolisch in die Riege der Randständigen einreihen, um sich schadlos zu halten für ein Jahr der Fron. Vielleicht fühlen sie sich wirklich, wie das Psalmwort sagt, zu dem sie ihre Hüften wiegen, als Fremde, verschleppt in ein Dasein, das nicht das ihre ist, ausgeliefert einem fremden Despoten, versklavt und verkauft an den großen Leviathan?

Beim ersten Gang der letzten Präsidentenwahl hat der Front National in Saint-Gilles mehr als ein Drittel der Stimmen erhalten. Hollande und Sarkozy lagen jeweils zehn Prozentpunkte hinter Marine Le Pen zurück, die versprach, Frankreich wieder den Franzosen zurückzugeben.

Pünktlich um acht Uhr abends kündigt die Kirchturmglocke den Beginn des Stierspektakels an. Incipit abrivado-bandido.

Seit die Lastwagen mit den Stieren auf der Dorfstraße geparkt wurden, waren weithin die dumpfen Schläge der Stirnen und Hörner gegen die Ladewände zu hören, das Stampfen der Hufe auf den widerhallenden Planken. Jetzt, in Vorbereitung der Schau, kraxeln die Knechte der manade an den Containern hinauf und stochern mit langen Dreizackpiken in die Box, wie die Teufel, die in den Gräben der Malebolge die Betrüger ins brodelnde Pech zurückstoßen. Als ich zum ersten Mal ein abrivado sah, glaubte ich noch, sie wollten die Stiere damit anstacheln und zur Wut aufreizen, damit sie, einmal aus der Box gelassen, umso zorniger die Straße hinuntertobten. Aber ein solches Aufputschen haben die Tiere nicht nötig; hier sollen sie nur in die richtige Position gebracht werden. 

Die Klappe tut sich auf. Der erste Stier erscheint.

Seine Hufe tappen hart klappernd die Rampe hinab. Für einen Moment steht er in unschlüssiger Wut da, berstend vor Kraft und Spannung, ein schwarzes, hautenges Felltrikot um die Muskeln. Man würde sich nicht wundern, wenn er Dampf aus den Nüstern bliese oder gar Flammen daraus schlagen ließe. Die Camargue-Stiere sind nicht groß; ihre Ausstrahlung verdankt sich nicht ihrer Masse, sondern einer Anmutung pantherhafter Geschmeidigkeit. Sie sind schlank und wendig, von vibrierender und gespannter, fast tänzelnder Präsenz. Ihre lyraförmigen Hörner haben nichts von dem harmlosen Idiotentum einer Jeckenkappe; im Gegenteil ist etwas Zuschnappendes, Voranschnellendes daran: man denkt an den Biss von Skorpionen, an das Einbohren eines Dolchs. Die Hörner scheinen, anders als bei den meisten Rinderrassen, weniger Rammwaffen, die nur die stumpfe Fortsetzung der harten Schädelplatte darstellen, als vielmehr Florette, mit denen das Tier einen punktgenauen Stich setzen könnte. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Rinder auf ihren Weiden einfach muhen; vermutlich üben sie tagein tagaus ein taurines en garde.

Kaum ist der erste Stier des Abends aus seinem Gelass gestiegen, schließt sich eine Reiterphalanx vor ihm zusammen, fünf Pferde in eng zusammengedrängter V-Formation. Der Stier bohrt und drängelt; er will sich aus dieser Umzingelung befreien und treibt sich doch nur immer tiefer hinein. Mir war bislang noch nicht bewusst geworden, wie eminent sexuell dieses Spektakel ist. Die Pferde bilden geradezu die Vulva für das phallische Geschiebe des Stiers, sie sind das kontrakte Futteral, das die ungebärdigen Stöße des Viehs auffangen soll, schweißbenetzte Bäuche, zappelnde Kruppen, peitschende Schweife. Die Reiter halten die Zügel knapp; sie zurren die Pferdehälse nach innen, auch ihre Leiber lehnen sich gegen den Stier, um ihn noch dichter einzufassen und ihn am Ausbrechen und Losrennen zu hindern.

Hinter der Kavalkade traben ein paar junge Burschen her. Sie schieben sich in das Gedränge und versuchen, an die Seite des Stiers zu kommen. Wenn es ihnen gelingt, werfen sie sich an seinen Hals und packen ihn an den Hörnern: wie Reiter, die die Zügel straffen, zerren sie das Stierhaupt daran nach hinten. Ziehen sie stark genug, fügt sich der Stier und hält an, um dem Schmerz zu entgehen, den seine Bändiger oder vielmehr Peiniger verursachen, obwohl es ihm ein Leichtes wäre, sie abzuschütteln. Aber in diesem Kampf misst sich nicht Kraft mit Kraft, sondern die tierische Kraft mit dem menschlichen Vermögen, Schmerz zuzufügen.

Es ist, aber ja doch, ein Kampf der Kultur gegen die Urkraft der Natur. Diese jungen Wagehälse müssen zeigen, dass sie eine elementare Macht bezwingen können. Ich vermute, dass diese Aufgabe früher einmal den noch unverheirateten Burschen vorbehalten war - nicht nur, weil die Sache doch nicht ganz ungefährlich ist und Familienväter ihre Unversehrtheit gemeinhin nicht mehr so leichtfertig aufs Spiel setzen wie Ledige, sondern auch, weil mir das Ritual wie eine Initiation vorkommt: eine Prüfung. Doch worauf?

Sicher geht es um Kraft und Mut, um Tugenden also, die man traditionell als männliche bezeichnet (auch wenn sie mir persönlich so ganz und gar abgehen), die aber ebenso einen guten Kampfstier ausmachen. Hier begegnen sich die Kontrahenten auf dem selben Feld, sie teilen Identisches, Mut steht gegen Mut. Doch reicht die Identität noch weiter, in dem Sinn, in dem manche mystisch inspirierte Waidleute von der Identität des Jägers und des Gejagten sprechen. Das Gejagte ist ein Spiegelbild des Jägers, sein Abbild - vielleicht ist er sogar selbst das Vieh, das er niederzuringen hat; oder derjenige, der sich unversehens in der Rolle des Gejagten findet, die eigenen Hunde an der Kehle wie Aktäon, dessen Mythos Giordano Bruno so intensive Zeilen gewidmet hat.

Die Jäger tänzeln, gleich dem Tier, das vor der Rampe steht; sie machen sich bereit, ihre Kraft an ihm zu beweisen. Es sind junge Männer in vollem Saft, Schwanzprotze allesamt, bis zu den Halsschlagadern hormongeflutet und geschwellt; rot erigierte Jünglinge: da ist keiner, der nicht daran dächte, mit seinen Taten ein Mädchen zu beeindrucken.

Als der Stier losläuft und sich in die Vulva aus Pferdeleibern schiebt, rennen die Burschen hinterher und drängen sich zwischen die Schenkel der Phalanx, mitten hinein ins Gereibe der Leiber, hinein in die feuchte Hitze, rangelnd und greifend, sie tappen, keuchen, schwitzen: sie haben Teil an diesem Geschlechtsakt aneinandergepresster Körper, sie dringen ein in diesen Gesamtorganismus, wühlen sich in das Tier mit seinen vielen Rücken.

Das Ziel dieses Aktes ist aber keine orgiastische Klimax; von Entfesselung keine Spur. Die Burschen schwingen sich nicht auf den Stier, um im Triumph einem orgiastischen Höhepunkt entgegenzutoben - ganz das Gegenteil ist der Fall: sie bremsen, halten, zwingen. Sie potenzieren nicht ihre eigene Kraft und Herrlichkeit mit der des Stiers, indem sie ihm als dem animalischen Träger ihrer Lust freie Bahn lassen, sondern ringen ihn nieder, bändigen und zähmen ihn. Was mir zuerst als Geschlechtsakt erschien und als krude Orgie, ist nichts anderes als die Demonstration gelingender Hemmung. Sie drücken den Nacken des Stiers nieder; sie kontrollieren, beugen, domestizieren sein Ungestüm. Sie halten sein geiles Wüten auf, und so stellen sie ihre Fähigkeit zu Disziplin und Selbstzucht unter Beweis. Indem sie das gehörnte Vieh im schwarzen Fell herabdrücken, zeigen sie, dass sie auch imstande sind, das Vieh in sich selbst zu bezähmen. Sie erweisen sich als reif: reif für die Kultur und ihre Institute. Sie sind, kurz, reif für die Ehe. 

Das Fest begann mit lärmenden Signalen der Entfesselung, mit Knallern und Qualm und stinkenden Rauchpuffern; aber das ist alles bloß Theater. Im Kern geht es nicht um Ekstase, sondern um ihre Zähmung. 

Der wahre Fürst des Festes ist keineswegs, wie ich erst dachte, der Narr oder eine andere Figur fröhlichen Überschwangs. Der Patron, dem hier stillschweigend gehuldigt wird, ist das abendländische Urbild der Selbstbeherrschung und der listigen Antizipation selbst: es ist kein anderer als Odysseus - der Mann, der allen Verlockungen, die ihn seine Mission hätten vergessen lassen können, standgehalten und allen unmittelbaren Gelüsten widerstanden hat: Odysseus. Der Vielerfahrene, wie er bei Homer genannt wird, hat sich nicht dem Genuss des Augenblicks oder der unbedachten Stillung seiner Bedürfnisse ausgeliefert - weder bei den Lotophagen dem verlockenden Traum der Drogen, noch dem Hunger angesichts der heiligen Rinder des Helios, und auch nicht der Geilheit auf Zirzes Insel - und er widersteht selbst der süßen und verderblichen Verführung des Sirenengesangs, indem er sich an den Mast seines Schiffes fesseln lässt und so erst seine Mission sichert, bevor er sich einem Genuss hingibt, der sein Leben nicht mehr bedroht. 

Die Lust des Odysseus ist eine vermittelte: er will zugleich den Kitzel der Sinne spüren wie den noch schärferen Kitzel seiner Willenskraft, der sinnlichen Lockung nicht nachzugeben, sondern sie im Zaum zu halten. Die Kreatur in ihm - verlangend nach Lust und bettelnd um Untergang in der Ekstase - mag noch so sehr jaulen; seine Wehklage wandelt sich unmerklich in Triumphgeheul. Er sehnt die Lusterfüllung herbei und erfährt sie gerade, indem er auf ihre spontane, sinnliche Seite verzichtet. Er siegt in der Entsagung. Er unterliegt als Fleisch und siegt als Geist; letztlich verbirgt sich darin das, was Kant das Erhabene nannte. Unser Gefallen an dieser ästhetischen Struktur, so ungefähr der Königsberger Philosoph, rühre daher, dass sie uns erlaube, unsere physische Schwäche zu spüren, uns den Stürmen, dem aufgewühlten Meer, den gewaltigen Mächten der Natur auszusetzen (bebend und unterworfen, die Kehle schutzlos dem Biss des Alls preisgegeben), und doch in diesem erregenden Schwindel des möglichen Untergangs zu wissen, dass wir diesen wüsten Gewalten trotzen können, sei's, indem der Geist das sinnlich Unfassbare doch mathematisch kommensurabel macht, sei's weil wir als moralische Wesen der stumpf tosenden Natur überlegen sind. Und wir fühlen den Triumph unserer Vernunft umso stärker, je schwächer wir als Sinnenwesen sind. 

Kant formuliert hier ästhetisch um, was sein Zeitgenosse Herder zum anthropologischen Befund erhob: der Mensch sei ein Mängelwesen, instinktarm, schutzlos von Natur aus, ohne Hörner, Krallen, Reißzähne, ohne wärmendes Fell und kräftige Instinkte; aber er mache dies alles wett durch die Kraft seiner Besonnenheit, die ihm die Sprache gibt und so die menschliche Kultur: Riten, Künste, Institutionen.

Ist Odysseus nicht der erste moderne Konzertbesucher, wenn er an seinem Mast die Musik der Sirenen so weit temperiert, dass er die tödliche Passage unbeschadet übersteht? Sein Verlangen nach den lockenden Stimmen der Sirenen, seine Gier, ihnen nahe zu sein und sich ihnen auszuliefern, ist leicht als Brunst zu entziffern; der gewaltige Sog des Eros hat ihn ergriffen. Doch er überantwortet sich nicht der Natur, sondern lässt sich von seinen Gefährten an den Pfahl binden. 

Der Mast findet in der Odyssee eine späte Reprise. Als der Held nach Hause kommt und Penelope prüft, ob er wirklich der verschollene Gatte sei, der zu sein er behauptet, bittet sie ihn, das Ehebett zu verrücken. Doch er weiß, dass das unmöglich ist: ein Pfosten des Bettes ist ein tiefwurzelnder Baumstamm, fest verankert in der Heimaterde. Dieser Stamm ist der Quellpunkt des Koordinatensystems, der Ort, in dem sich die Abszisse der Natur und die Ordinate der Kultur treffen, an dem Natur und Kultur ununterscheidbar werden, und an dem die menschliche Natur nichts anderes ist als eben Kultur. Sein Instinkt ist Institution.

Ein homerischer Abend also. Es riecht lau und behaglich nach Menschenschweiß und Rinderkot, Rosé und Whisky-Cola. Die beurs sitzen immer noch beim Pfefferminztee. Ihre Würfel klunkern dumpf über den Filz ihrer Backgammonbretter.

Pasiphä mochte irgendwann einmal unter den Stößen des kretischen Stiers gestöhnt haben; das Wesen, das diesem Akt entsprungen war, irrte jetzt durch die komplizierten Schaltkreise des dädalus'schen Labyrinths. Ein wispernder Nachklang seines Brüllens war in dem elektrischen Knistern zu vernehmen, mit dem die Mücken in blau leuchtenden Fangschirmen verschmorten, in dem Rauschen der Lautsprecher, die auf Stangen montiert die Straße säumten wie auf Pfähle gespießte, abstrakte und ihrer Hörner beraubte Stierschädel.

Das abrivado-bandido ist zu Ende. Wir kommen mit einer Frau ins Gespräch, die gerade ihren Friseursalon zusperrt. Alle Locken sind gelegt; die letzten Aluminiumwickel sind von den Strähnchen genommen. Eben kommt ihr Mann sie abholen. Er erklärt uns, was es mit der Stierhatz auf sich hat.

Abrivado ist das provençalische Wort für Ankunft - die arrivée ist unschwer darin zu erkennen, derweil Bandido sich vom provençalischen Ausdruck für Ausstoßen herleitet (der Bandit ist der Ausgestoßene, er ist einer, der sich wider die Ordnung erhebt. Bandir meint allerdings auch einen Ständer haben, to spring a boner - auch das eine Erhebung, ein Aufbegehren, das Aufrichten des Horns.)

Das Hin und Her der Stiere zwischen den beiden Lastwagen steht stellvertretend für Arena oder Weide. Wurden die Stiere zur Arena getrieben, nannte man das abrivado, ihre Freilassung auf die Weide hieß bandido. Von diesen realen Bereichen aus Sand und Gras ist nichts mehr übriggeblieben bis auf zwei Lastwagen aus der selben Fabrik. Auch das ist Kultur: die große Gabe der Abstraktion. Es gibt kaum noch reale Arenen, und die Weiden liegen zu weit weg, als dass man die Stiere von dort aus in die Städte treiben könnte, also wird die alte Wirklichkeit ersetzt durch eine symbolische Repräsentation. Die aber ist eben nicht nur Zeichen und Verweis auf etwas Abwesendes, Emblem einer Erinnerung und bloß imaginäre Größe, sondern das reale Transportmittel, das die Leiber der Tiere beherbergt: das Symbol schlüpft in die Realität zurück, die Wirklichkeit bemächtigt sich des Symbols. 

Hephaistos, der hinkende Gott an Amboss und Esse, hat bei Homer Bilder in den Schild Achills graviert, nichts anderes; kunstreiche Träumereien der Welt, wie sie war und wie sein soll. Er hat das Schild mit Zeichen versehen. Doch jetzt hat er sich auf den Bau von Lastwagen verlegt, und die sind nicht nur symbolische Behelfe der Imagination, sondern schon reale Transportmittel. Zeichen sind Wegweiser im Reich des Bewusstseins, aber Lastwagen weisen nicht bloß den Weg im Bewusstsein; sie vollziehen ihn in Wirklichkeit. Es sind Symbole, die 12 Tonnen Realität einladen können; sie sind die Zeichen von etwas und zugleich auch dieses Etwas selbst.

So ein Stiertransporter ist genau besehen ein rechter, also inverser, Altar. Sein und Sinn verwandeln sich durch seine Vermittlung ineinander. Durch ein hephaistsches Hokuspokus wird Wort zu Fleisch und Fleisch zu Wort: hoc est corpus meum. Wäre dieser verkrüppelte Gott aus seiner rußigen Werkstatt emporgestiegen, um Zeus vom Thron zu stoßen, hätte das Abendland den gekreuzigten Christus und das Mysterium (oder die Scharlatanerie) der Eucharistie nicht nötig gehabt. Die Leidensgeschichte des Galiläers war ein Umweg. Den Fahrkartenautomat für die direttissima in die Jetztzeit hat der Karrenschmied Hephaistos erfunden.

In der Tat fehlt an diesem homerischen Abend auch ein Hinkender, ein ferner Nachfahr des Schmiedegottes, nicht. Ein ehemaliger gardian steht bei uns und hört wortkarg unserem Gespräch zu. Er hat sich bei einem abrivado die Hüfte und allerlei Knochen gebrochen. Seinen Brotberuf als Automechaniker (die gardians sind fast alle Amateure und Feierabend-passionants) musste er an den Nagel hängen, mit dem man sein zerschmettertes Knie geflickt hat. Jetzt programmiert er Websites. Was sollte Hephaistos heutzutage auch anderes tun?

Später am Abend rüstet man sich für die freie Hatz. Ein Stier wird in die abgesperrte Straße gelassen, auf der sich der wagemutige Teil des Volkes tummelt und vor dem heranstürmenden Tier schnell hinter die Gitter flüchtet oder - für den Fall, dass einer eher tollkühn als bloß wagemutig ist - nur mit einem schnellen Sprung den Hörnern ausweicht. In der klassischen Version der course camarguaise trägt der Stier sogenannte Prämien auf der Stirn und an den Hörnern, die es abzupflücken gilt. Vor einigen Jahren haben wir einmal die Klamaukabwandlung dieses riskanten Spiels miterlebt; das nennt sich dann taureau piscine, bei der der Stier, dessen Hörnerspitzen mit Polstern umwickelt sind, in einer kleinen Arena der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Die Arena wird mit Plastikplanen ausgeschlagen und mit Wasser besprengt. Die Prämie, einst stolz am Haupt des Stiers, ist an seine Schwanzspitze gewandert, und die Jugendlichen, die zu ihm in die schlüpfrige Manege springen, müssen sie von dort abreißen. Der eigentliche Spaß soll aber darin bestehen, dass der Stier, der auf seine Piesacker und Provokateure losstürmt, unentwegt auf der glitschigen Plane ausrutscht und darüber hinschlittert, mit dem Haupt dumm gegen die Strohballen prallt, beim Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, lächerlich strampelt, bis er doch wieder Stand gefunden hat, aber aus diesem seinen Debakel einfach nicht lernt, sich fürderhin ruhig und gemessen über diesen rutschigen Grund zu bewegen, sondern bei der ersten kleinen Aufreizung gleich wieder losrennt und sich zum würdelosen Gegenstand der Schadenfreude der Zuschauer macht. Der Stierkampf als Slapstick.

Ein wenig davon hat auch die Hatz in der Hauptstraße von St-Gilles: der Stier bleibt immer der Gefoppte, der wütend Aufstampfende, der schnaubende Trottel, der auf jede noch so kleine Finte hereinfällt, immer genarrt, immer der Verlierer. Aber dennoch: wenn diese Tiere die Straße hinunterrennen, den Kopf gesenkt, die Hörner gefährliche Waffen trotz ihrer Umwicklungen, strahlen sie eine solche Kraft und Würde aus, dass sie die Witzbolde und Wagehalse unter den Jünglingen auf der Straße damit, wenigstens für Momente, mit einer Großartigkeit beschämen, die ich kaum anders nennen kann als mythisch: wahr und krude. Direkt und dumm und schlechterdings grandios.

Nach dem Stierspektakel verfügt sich das Volk zum Tanz: bis nachts um zwei flackern die Lichter von der Freiluft-Disco über die Silhouette des Dorfs. Als ich am Morgen dann Brot holen gehe und in der Bar schon mal einen Kaffee nehme (Dagmar schläft aus), schleichen die Leute eher müde zur Arbeit; aber nicht etwa, weil sie der Lärm nicht hätte schlafen lassen, sondern weil sie bis zum Schluss mitgefeiert haben. Alle beklagen fröhlich ihre Kopfschmerzen, Küsschen links, Küsschen rechts; trotz ihrer merklich vom Alkohol zerschlissenen Stimmen verströmen sie immer noch festliche Euphorie und eine - vielleicht nur für ein paar Tage haltende - Gemeinschaftlichkeit. Ein piekfein in Anzug und Krawatte steckender Herr parkt auf einen kleinen Plausch am Straßenrand, begrüßt herzlich die Runde - den Straßenkehrer, die Dorfschlampe, einen zahnlosen Alten, den ganzkörpertätowierten Kellner, eine ondulierte Hausfrau - und beschwört noch einmal den Spaß herauf, den sie doch alle gestern abend gehabt hätten und weiter das ganze lange Wochenende haben würden, dann steigt er wieder in seine Limousine und fährt seinen Tagesgeschäften entgegen.

Wir brechen in Richtung Uzès auf, mit einem kleinen Abstecher zu der Imkerei, von der wir unseren Honigvorrat beziehen.

Es war kein gutes Jahr für den Honig; der Frühsommer war kalt und regnerisch, und der Lavendel knauserte mit Nektar. Auch der Hochsommer war zu kühl und zu feucht. Der Vegetation freilich tut das gut. Sonst ist das Gard schon im Juli verdorrt; doch diesmal, Ende August, sind die Weiden noch grün, in den Wein ist noch nicht die kleinste Spur des Herbstes eingeschossen. Als wir fast am Ende der Reise bei unserem Winzer an der Ardèche ankommen, erzählt uns Madame Dorthe, dass sie sonst um diese Zeit schon mit der Lese fertig seien. Jetzt sind die Trauben noch nicht reif und brauchen mindestens noch zwei Wochen gutes Wetter, sonst wird es ein verlorenes Jahr. 

Die zwei Wochen hat sie bekommen; unsere letzten Tage sind heiß und fast wolkenlos.

Wir besuchen das Anwesen Jean-Henri Fabres, der als Entomologe so groß war wie als Schriftsteller, und dramatische Schilderungen von der Mühsal der Pillendreher, dem Treiben der Gottesanbeterin und den Kämpfen ruchloser Hornkäfer überliefert hat. Sein Harmas unweit von Orange ist nun ein Museum. Dankenswerterweise hat man auf großen didaktischen Firlefanz verzichtet und einfach die Räumlichkeiten des Hauses erhalten: provençalisches dix-neuvième mit Samtdeckchen auf dem Esstisch und strohgeflochtenen Kanapees, die wenig gemütlich aussehen: undenkbar, dass man auf solchen Möbeln behaglich einem abendlichen dolce far niente entgegenschlummerte. Hier wacht man spätestens nach einem Viertelstunden-Nickerchen wieder auf und muss sofort die steifen Gliedmaßen lockern, indem man zu einer Runde Skarabäen-Observation aufbricht. Vielleicht ist der bewundernswerte Fleiß so vieler Wissenschaftler nur ihrem Mangel an bequemen Liegemöbeln zu verdanken? Ich sollte ernsthaft über die Abschaffung meiner Chaiselongue nachdenken. Gottfried Keller hat im Grünen Heinrich die verheerende Wirkung geschildert, die ein solches Lotterbettchen, wie er es nennt, auf die Schaffenslust seines Helden ausübt. Sobald ich meine Liege verlassen habe (was demnächst, irgendwann, vielleicht geschieht), werde ich meine Lehren daraus ziehen...

 Die Sammlungen, die Fabre zusammengetragen hat, sind heute grade wegen der verstaubten Vitrinen anrührend, in denen sie präsentiert werden. Der Staub auf dem Glas verleiht den Präparaten etwas so Privates und Häusliches, dass man sofort an eine schürzentragende bonne denken muss, die hier nur saubermacht, sofern sie von keinen anderen Haushaltspflichten in Beschlag genommen wird und nicht grade ein boeuf en gelée für Sonntag verfertigt oder Wadenwickel für die Dame des Hauses rollt. Es liegt etwas so fundamental Familiäres über den Borden, etwas, das mit einer Lebensweise und einem ländlich-bürgerlichen Alltag derart verwoben ist, dass man zu verstehen beginnt, warum Fabres Werk allen szientifischen Abstraktionen abhold ist. Seine vielgerühmte Gabe, die Kämpfe der Käfer als Shakespearesche Dramen zu erzählen, rührt vielleicht schlicht aus seiner Einbettung in ein Hauswesen, in seiner Stellung als pater familias einer ländlichen Hausgemeinschaft. Seine Schilderungen sind so grundsätzlich anthropomporph, dass man hinter den Chitinpanzern der Insekten die Porträts der Menschen zu ahnen glaubt, die seinen Hausstand bilden, und die manchmal zänkisch, ganz auf Lohn oder Privilegien bedacht, mal auch ohne jeden Eigennutz auf das Gedeihen der Brut gerichtet sind. Ich stelle mir vor, wie Fabre das Treppenhaus hinunter auf das Gerumpel der Köchin horcht, die ihre confit-Gläser und eingemachten Früchte in die Speisekammer räumt, und wie er dann über die Pillendreher schreibt, die ihre Scheuern mit nahrhaften Mistkugeln füllen, oder wie er während der Niederschrift über das Gerangel rivalisierender Käfer um eine Kotpille den grimmigen Streit seiner Kinder um das Vorrecht im Ohr hatte, den Brummkreisel zu drehen.

Die Ernte seines langen Sammlerlebens macht dabei einen durchaus bescheidenen Eindruck. Enzyklopädischer Ehrgeiz scheint nicht Fabres hervorstechender Charakterzug gewesen zu sein. Im Vergleich mit Ernst Jünger, der ihm in gewisser Weise ein Geistesverwandter war, begnügte er sich mit Stichproben und den leichten Abwandlungen des Lokalen. Jünger erliegt, bei aller Genauigkeit des phänomenalen Blicks, zu oft der Versuchung einer planetarischen und goetheanisch allgemeinen Spekulation; seine Käferschubladen erinnern dann sehr an die Dossierfächer, mit deren Hilfe eine künftige Weltstaatsadministration ihre metaphysischen Kartographen munitionieren könnte. Fabre bleibt dagegen ganz im Kleinen, Dörflichen, im anschauungsgesättigten Gestalten winziger Dramenstoffe.

Jünger jagte auf der ganzen Welt; Fabre genügte sein Garten. Der Tisch, an dem er sein gewaltiges Werk geschaffen hat, ist ein winziges Möbel, grade groß genug für ein Schreibheft, ein Tintenfass und die Ablage für seine Pfeife.

Wir stöbern lange durch den Garten, der von sympathischer Unaufgeräumtheit ist, und vor allem anderen, wie mir scheint, der Idee der Vielfalt und der Fülle verpflichtet. Wenn dem Ganzen eine Systematik zugrunde liegen sollte, entgeht sie mir. Natürlich hatte ich keine barocken Wandelgänge erwartet und kein gepflanztes Botanikbuch; aber auch nicht diese vollkommene Nonchalance, alles, was wachsen und gedeihen will, auch weitestgehend gedeihen zu lassen, wie es kommt, sich an aller Individualität zu freuen und zu schauen, welche Käfer an dieser oder jener biologischen Nische Gefallen finden könnten.

Unsere Nische für den Abend liegt an einem Feldweg in den Bergen hinter Séguret. Das Dorf schmiegt sich als Häusergürtel um den Bauch eines Hügels, der zu den dentelles de Montmirail gehört, jener montanen Zähnchenreihe, unter der sich die berühmten Lagen des Gigondas, des Rasteau, des Vacqueyras ausbreiten. In Séguret sitzen in jeder Ausbuchtung der Straße, die einen Blick über die Vaucluse-Ebene gewährt, Menschen vor ihren Leinwänden und pinseln das Panorama, als gäbe es von solchen Pinseleien immer noch nicht genug. Eine Frau - Typ Tübinger Studienrätin - fixiert, den Pinsel en garde, eine Sonnenblume. Sie hat dringend einen Friseurbesuch nötig; aber ich fürchte, sie würde den Meister nicht um einen Stufenschnitt bitten, sondern nur darum, ihr mit dem Rasiermesser ein Ohr abzusäbeln.

Dagmar hat auf der Karte einen etwas zweifelhaften Weg entdeckt, der in die Berge führt, und von dem man nicht weiß, ob er nicht irgendwann nur noch für Maulesel oder Geländewagen gangbar ist. In der Tat ist bald Schluss mit Asphalt, dann auch mit geglättetem Kies, und der Weg ähnelt mehr und mehr einem ausgetrocknetem Flussbett, über deren tief ausgewaschene Kerben und Kuhlen wir vorsichtig dahinschaukeln. Aber wir kommen voran, und irgendwann tut sich vor uns ein sanfter Hang mit Weinreben auf; dahinter leuchtet in der Ferne der Mont Ventoux: ein weißer Stein in Krampen respektvoll distanzierter Felsen gefasst, von der sinkenden Sonne bleiweiß angetuscht. Die Schattengrenze schiebt sich langsam nach oben, bis die Bergspitze nur noch ein heller Fingernagelsplitter über grauem Geröll ist.

Der Tag war warm; aber die aufgestaute Hitze wird jetzt vom aufkommenden Mistral schnell verscheucht.

Der Mistral ist ein Hetzhund, der von überallher angreift: er lässt kein Lee, keine windabgewandte Seite, sondern springt einen aus jeder Richtung an. Er geht auch an die Kehle und beißt einem den Atem vor der Lunge fort: schnappt den Happen Luft, den man grade einsaugen will, und reißt ihn weg. Der Mistral kann so stark werden, dass er einem die Haut sandstrahlt; er kann ein Raufbold sein, der sich in dämonischer Unsichtbarkeit vor einem aufbaut und niederzuringen versucht: muskulös verdichtete Luft, strenges, elastisches Glas, zappelig, mit harten Knochen: er ist ein grober Gegner. Die Mistralgeister fuhrwerken schon beim Abendessen um uns herum; kaum ist die Sonne untergegangen, werden sie richtig fuchtig. Wir flüchten in den Bus, aber der Mistral hört nicht auf, gegen das Chassis anzurennen; er schubst und rüttelt den Wagen bis die Sonne aufgeht und ihn zur Milde stimmt.

Kaffee in Malaucène, Markt in Vaison-la-Romaine. Es hilft nichts: dies ist die Provence, wo Studienrätinnen Sonnenblumen malen, Dortmunder Currywurst-Aficionados bei der Verkostung von Olivenöl in Verzückung geraten, Metzgersgattinnen aus Eindhoven Tischdecken mit eingewebten Grillenmotiven kaufen und selbst hartgesottene Veganer mit Ziegenkäse liebäugeln, auf dem ein Lavendelzweig liegt. Dies ist die Provence-Provence: eine Region, die fast zur Gänze zur Repräsentation ihrer Klischees verkommen ist. Man schwelgt in Oliven und van Gogh, tuscht Patina von Pagnol über Öl und Lavendel, freut sich über jede Schweißperle, die von der Nasenspitze tropft, löffelt Tapenade und Stockfischcreme oder irgendwas Knuspriges, von dem man hofft, dass es nicht das in frittiert ist, was unsichtbar von den Bäumen schrillt, ach, die herrlichen Zikaden.

Die Provence reproduziert unaufhörlich all diese Klischees; sie bringt ohne Unterlass die Attribute hervor, die man mit ihrem ehrwürdigen Namen verbindet. Sie quillt über davon. Man merkt die Absicht und ist eigentlich verstimmt. Hilft aber alles nichts: es gelingt diesem scheinbar so übernutzten Landstrich, der überall an den Tourismus und eine industriell agierende Landwirtschaft verkauft scheint, immer wieder Oasen zu kreiieren, die so unmittelbar bezaubern, dass jedes Gemäkel verstummt. 

Ich versuche, mir über die Gründe klar zu werden. Erster Versuch: die Provence ist ein Landstrich, in dem es gelungen ist wie nirgendwo sonst, Kultur und Natur emulgieren zu lassen. Da ist kaum ein Streifen Erde, über den nicht Menschenhand hingegangen ist; und doch sind diese Weinfelder und -hänge so tief in den Boden eingearbeitet, so hineingewirkt, dass es nicht wie das Erzeugnis menschlicher Arbeit erscheint, sondern als kämen die Reben wie von selbst zwischen den Steinen hervor. Manche Dörfer scheinen von weitem wie karge Ausblühungen von Kalk und Sandstein aus einem trockenem Nährgrund, ohne Maurermühe daraus herausgewachsen und nur von der Sonne und von irgendwelchen petrologischen Gesetzmäßigkeiten zu Häusern kondensiert. Das vielgerühmte Licht des Südens - so oft gepriesen, dass man es kaum noch hören kann - ist kein Klischee, sondern unabweisbare Tatsache. Es wird wohl kaum daran liegen, dass die Sonne hier anders am Himmel steht als anderswo; aber die Felsen und die Bäume verarbeiten das Licht auf eine eigentümliche Weise. Die Oberflächen wirken auf eine griffige Weise angerauht, wie von einem zarten Kalkschleier überzogen. Das hat oft eine Textur, über die der Blick nicht einfach hinstreift; sie lädt vielmehr die Augen zum Tasten ein. Mit einem Mal meine ich die spachteligen Flächenaufschilferungen Cezannes und seinen grob verputzten Farbmörtel ebenso zu verstehen wie die Riefen und Krusten, die Van Goghs Farbenteig durchfurchen: die Provence ist von der Sonne ausgedörrt, vom Mistral getrocknet. Der Boden ist von Hitzesprüngen aufgerissen oder in ein bröseliges Granulat zerfallen. 

Im Périgord stieg in der Abenddämmerung der Dunst aus den feuchten Wiesen; am Morgen troffen die Walnussbäume vom Tau. In der Provence hingegen ist das Wasser knapp; die Erde scheint so sehr nach dem Tau zu dürsten, dass sie schon seine geringsten Spuren abends aufzehrt und auch morgens nicht mehr aus ihren Poren lässt. Die Krume, von der Hand zerrieben, bleibt trocken bis ins Innerste. Es ist, als hätte die Schöpfung hier nur die Wahl zwischen den Zuständen trocken und flüssig. Für alles andere dazwischen, von feucht zu schlammig ist kein Platz. Das sorgt für klare Konturen, eine scharfe Umrissenheit der Gestalten, die zwar grade bei Cezanne und Van Gogh nicht als zeichnerische Linie zu finden ist, sich aber in der Rauhigkeit der Textur verwirklicht. Das haptisch Markante beschwört mehr, als es je ein klarer Umriss könnte, die mineralische Dichte und Körnung herauf, die man beim Blick auf diese Reliefs empfindet. Da ist kein Fett in dieser Landschaft; nur Knochen, Muskeln, Sehnen. Alles Weiche und Moelleuse ist abgeschmolzen; nur noch die Anatomie eines athletischen Körpers und seine festen Fibern sind übriggeblieben.

Man möchte immerzu hinfassen. Anderswo, in der Süffigkeit bayrischer Hügel, in den Mittelgebirgstälern und Endmoränenlandschaften Deutschlands oder in den Hügeln der Toskana, imaginiert sich die immer rührige erotische Phantasie weiche Frauenleiber, schmiegsam und rund unter der Hand, voller Wölbungen und gefälliger Kurvaturen. Dies hier aber ist nicht weiblich: wenn ein Landschaftsrelief der Abdruck jener Körper sein sollte, die das Begehren griechischer Götter angestachelt haben, dann haben in der Provence nicht Nymphen, sondern sehnige Jünglinge die Spuren ihrer straffen Glieder hinterlassen. Man kann unter ihrer Haut die Muskelfasern spüren, die harten Knochen, das marmorne Ephebentum ihres Leibes. Die gezackten Grate der dentelles sind nur die eckigen Höcker eines Knabennackens, das Knochenband seiner Wirbelsäule, das sich der sengenden Lust des Sonnengottes entgegenkrümmt.

Aber nicht nur die Formen und Texturen der Natur entflammen hier eine taktile Begierde. Die Augen werden zu Fingerspitzen, die sich an der Rauhigkeit der Oberflächen reiben möchten. Wenn das Licht gegen Mittag grell wird, spürt man seinen korpuskularen Charakter. Am frühen Morgen mag die Sonne noch Helligkeit in langen Wellen verströmen, mild und gemessen; mittags schießen die Lichtteilchen so scharf und prickelnd auf die Netzhaut ein wie die Sandkörner, die an manchen Tagen von der mitraillette des Mistral durch die Luft gefeuert werden.

Ob es an diesem Hagel von Photonen liegt, der so oft über dieser Gegend niedergeht, dass nicht nur die Berghänge, sondern auch die menschlichen Bauten so porös wirken? 

Porös will hier nicht hinfällig und hohl meinen, sondern nur eine bestimmte Art von Unabgeschlossenheit und Durchlässigkeit: etwas, das nicht versiegelt ist.

Ich schaue ins Tal hinunter auf die Dächer des Dorfes. Ein Haus sticht heraus, das nicht mit alten Ziegeln gedeckt ist, sondern mit frischen, auf denen noch die fabrikneue Glasur glänzt. Diese Glätte ist ein Fremdkörper zwischen den Nachbardächern, deren melierte Übergänge von gebleichtem Rosa zu Rostrot, verschossenem Ocker und gebranntem Siena davon zeugen, dass immer wieder im Lauf der Zeiten einzelne gesprungene Ziegel ersetzt worden sind, hier ein Fleck, dort ein Streifen, hier wieder nur zwei, drei Platten. So hat die Zeit ihre Spuren darauf hinterlassen; nicht als einheitliche Schicht von Vergangenheit, die sich darauf abgesetzt hätte, sondern als ein gesprenkeltes Kontinuum der Ausbesserungen, eine Folge von Momenten. Jedes Dach ist zusammengesetzt aus mehreren Generationen von Steinen, was es, mehr als die eintönige Patina bloßen Alters es vermöchte, mit lebendiger Vergangenheit sättigt. Es ist wie das Bild einer Großfamilie, die sich zu einem gemeinsamen Fest zusammengefunden hat, und auf dem die Säuglinge in der Wiege, die Kinder, die Frischverheirateten, die reifen Paare, die Rentner und die Greise das Vergehen der Zeit eindrücklicher darstellen als die verblichenen Sepiaabzüge mit Wellenrand, auf denen die Urgroßeltern in ihren altertümlichen Trachten vor dem Photographen posieren.

Dieses Gesprenkelte macht zweifellos einen Großteil des Charmes aus, den diese Weltgegend so reich verströmt. Das Bemühen, das Alte zu erhalten, solange es geht, und es, wenn es doch einmal endgültig kaputt sein sollte, nach Möglichkeit durch ein anderes, aber noch funktionstüchtiges Altes zu ersetzen, bewahrt den Reiz der Dörfer, auch wenn man so einige Umbequemlichkeiten in Kauf nehmen muss; die verzogene Holztür, die nicht richtig schließt; die abgetretenen Treppenstufen, denen schon mancher Stöckelschuh zum Opfer gefallen ist; der Caféterrassenstuhl, dessen Heimtücke man noch Stunden nach dem Mittagessen im Rücken spürt. Aber soll er ruhig den Rücken schmerzen: Hauptsache, er tut den Augen wohl und reibt beruhigend Schönheitsbalsam auf die Seele.

Der Schutz der guten alten Dinge ist freilich teuer erkauft. Man gibt immer mehr alten Örtchen, die unter der Last des Durchgangsverkehrs gelitten haben, das einstige Marktplatzflair wieder, indem man einen schützenden Asphaltring um sie legt, der den Autoverkehr von ihnen fernhält. So haben in Grignan, in dessen Schloss die Madame de Sevigné so viele Briefe an ihre Tochter geschrieben hat, wieder Fußgänger und Anisette-Süffler den neugepflasterten Platz erobert. Dass dafür neue Straßenschneisen in die Umgebung geschlagen werden mussten, folgt einer zwingenden, aber zerstörerischen Logik. Um das Innere zu verschönern und ein ästhetisches ancien régime zu etablieren, opfert man die Peripherie. Das verleiht der ganzen Operation die etwas bedenkliche Note des Kompensatorischen. Der Versuch, das Zentrum wieder zu seiner ursprünglichen und vormodernen Echtheit zurückzubringen, gelingt nur durch den Verkauf der Ränder an die Moderne. Um das Authentische zu gewinnen, wirft man alle Künstlichkeit in die Waagschale.

(Wahrscheinlich genügt der Begriff des Kompensatorischen nicht, um zu erfassen, was da geschieht. Es ist nicht nur Kompensation als stellvertretende Ersetzung eines verlorenen Gutes, sondern jene Supplementierung, von der Derrida so beredt in der Grammatologie spricht: die Konstruktion dessen, was nie war, und bei der es sich um nichts anderes handelt als das Phantasma eines vermeintlichen Verlusts und das Heimweh nach einer Vollkommenheit, die erst eine geworden ist, nachdem sie zerbrochen war.)

Aber ich will mich nicht schon wieder in abstrakten Räsonnements verirren. Es genügt, sich manche Städtchen anzusehen, um sofort zu erkennen, dass vieles davon, was unter den plus beaux villages de la France rangiert, zu einem Reservat geworden ist, in dem nicht viel mehr als eine nostalgisierende Dekorindustrie blüht, die mit emaillierten Keksdosendeckeln klappert wie ein kostümiertes Tanzäffchen, das gelernt hat, die Zimbeln gegeneinanderzuschlagen. Manchmal wundert man sich, dass die Fassaden tatsächlich aus Stein bestehen und nicht aus bemalter Leinwand, und dass Musik erlaubt ist, die nicht auf dem fröhlichen Scheppern und Tuten eines Orchestrions basiert oder auf den schellackknisternden Chansons von Ray Ventura.

In Vaison habe ich bei einem demi unter den Platanen dessen unsterbliches Tout va très bien Madame la Marquise gehört; das Stück könnte als inoffizielle Hymne Frankreichs in diesen Jahren dienen. Es stammt aus dem Jahr 1936, als die Volksfront unter Léon Blum mit dem schönen Slogan "Brot, Frieden, Freiheit" die Wahlen gewann. Von diesen Versprechen konnte kaum etwas gehalten werden. Man verweigerte sich dem Eingeständnis dessen, was jenseits des Rheins vorbereitet wurde, wähnte sich von der Maginot-Linie (der militärischen Version des oben erwähnten schützenden Asphaltrings um die Ortskerne) hinreichend behütet und richtete sich in einem drolligen Sitzkrieg ein. 1939 hat die Welt längst zu brennen begonnen, aber Frankreich wollte es nicht wahrhaben. Man meinte immer noch, dass dieses knisternde Geräusch, das in der Luft lag, nicht von einer brennenden Lunte, sondern von der Grammophonnadel herrührte, die über Venturas schmissige Aufnahme von 36 kratzte.

Worum geht es? Eine Marquise auf Reisen ruft auf den heimischen Besitzungen an, um zu erfahren, wie die Dinge dort stehen. Sie hat den Diener am Apparat, und er versichert ihr, alles sei bestens: tout va très bien, Madame la Marquise. Bis aus den kleinen Umstand vielleicht, dass die graue Stute des Herrn leider tot sei. Ansonsten aber: tout va très bien. Die Marquise, etwas bestürzt ob des Todes des Pferdes, fragt nach, wie es dazu kommen konnte, und der Diener rückt Strophe um Strophe mit der Wahrheit heraus: die Stute ist tot, weil die Stallungen abgebrannt sind, und die Stallungen haben gebrannt, weil das Feuer vom brennenden Schloss darauf übergegriffen hat, und das Schloss hat gebrannt, weil Monsieur le Marquis versehentlich ein paar Kerzen umgestoßen hat, welche die Vorhänge entzündet haben, und die Kerzen hat der Marquis umgestoßen, weil er kurz zuvor vom Bankrott der Familie erfahren und sich darum eine Kugel in den Kopf gejagt hat. À part de ça, Madame la Marquise, tout va très bien, tout va très bien.

Die Marquise steht vor dem Nichts, doch der Diener wahrt die Fasson und wagt nicht, ihr unverblümt die Wahrheit zu gestehen. Heute schlüpft der Präsident der Republik als der erste Diener des Staates in die Rolle des feigen Lakaien, der sich nicht traut, die Katastrophe zuzugeben, und stattdessen lieber die Illusion am Leben erhält, wie es Blum und Daladier taten, es stünde alles zum Besten bis auf eine alberne Kleinigkeit, une bêtise. Ich will mich gar nicht damit aufhalten, den allzu wohlfeilen Übertrag auf die wirtschaftliche und politische Malaise Frankreichs weiter auszuspinnen. Dass Präsident Hollande seine Untätigkeit schönredet und das Land dabei immer tiefer in die Misere führt, mögen Leute kommentieren, die kundiger sind als ich. Doch Venturas Chanson eignet sich auch von den politischen Parallelen abgesehen als Hymne für ein Land, das allem Unbill zum Trotz an der Idee festhält, das Leben könne so weitergeführt werden wie bisher, und Schicksalsschläge aller Art seien kein Grund, die Laune sinken zu lassen oder Trübsal zu blasen, wenn man doch stattdessen fröhlich in ein Kornett tröten und seine Lebensart über alle Bêtisen der Weltläufte triumphieren lassen kann

Vielleicht hätte man dem Denkmal des Vercingetorix bei Alesia statt eines Schwertes besser ein Kornett und einen Schellenkranz in die Hände gegeben, dass er frisch damit blase und klimpere. Es wäre das wunderbare Monument eines Troubadours oder eines Straßenmusikanten daraus geworden. Ach, wie herrlich wäre er anzusehen gewesen, bekränzt mit Würsten aus der Auvergne, mit Reben aus dem Burgund und mit einer Kette aus crottins de Chavignol behangen... Man hätte ihm Seifenflocken der savon de Marseille übers Haupt gestreuselt wie schneeweiße Blüten, man hätte in seine goldenen Locken elsässisches Sauerkraut eingeflochten und ihm aus den bunten Sardinendosen von der Belle Île die Brünne geschmiedet. Aus überreifem Camembert hätte man seine Epauletten gemacht und die Gelenke seiner Rüstung mit Tapenade gefettet. Und zuletzt hätte man ihn mit fleur de sel aus Nourmoitier, von der Île de Ré, aus der Camargue, gesalzen und als Teigmännchen ausgebacken.

J'aime bien l'histoire: ich mag die Geschichte.